Fenstersturz - Rainer Bressler - E-Book

Fenstersturz E-Book

Rainer Bressler

0,0

Beschreibung

Krimi-Satire Fenstersturz beginnt, wie ein Krimi beginnen kann: Ein junger Mitarbeiter eines Amtes stürzt aus dem fünften Stockwerk des ominösen, soeben erst bezogenen neuen Amtsgebäudes. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Skandal sind vorprogrammiert. Der ermittelnde Detektiv ist gefordert. Die Fabulierlust des Autors brennt ihm beim Erzählen der Geschichte durch. Der Fall driftet auf überraschende und amüsante Weise ins Absurde ab. Die Geschichte bringt schliesslich selbst den Schöpfer dieses Kosmos ganz schön in die Bredouille.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 189

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer Bressler, Jurist im Ruhestand und Schriftsteller, geboren 1945, ist Schweizer und lebt in Zürich. In den Jahren 1980 bis 1993 profilierte er sich als Hörspielautor, dessen Hörspiele von Radio DRS produziert und ausgestrahlt wurden.

Bisherige Veröffentlichungen:

7 Hörspiele (Tom Garner und Jamie Lester, Morgenkonzert, Folgen Sie mir, Madame, Aufruhr in Zürich, Nächst der Sonne, Geliebter / Geliebte, Gaukler der Nacht, Beinahe-Minuten-Krimi), produziert und ausgestrahlt in den Jahren 1979 bis 1993

Geliebter / Geliebte. 8 Hörspiele, Karpos Verlag, Loznica 2008

Privatzeug 1856 bis 2012. Versuch einer Spurensuche, 5 Bände (Spur 1 Reisen, Spur 2 Spielen, Spur 3 Schreiben, Spur 4 Dichten, Spur 5 Weben), BoD Norderstedt 2012 bis 2016

Pink Champagne, satirischer Roman, BoD 2020

Schattenkämpfe, biografischer Roman, BoD 2020

Kraut & Rüben, Kurzgeschichten, BoD 2020

Reise-Impressionen, Erzählungen, BoD 2020

Für Margret und Christian

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

DONNERSTAG 5. FEBRUAR 2015

EXKURS DAS NEUE AMTSHAUS EICHENWALD

DONNERSTAG 5. FEBRUAR 2015

FREITAG 6. FEBRUAR 2015

SAMSTAG 7. FEBRUAR 2015

SONNTAG 8. FEBRUAR 2015

MONTAG 9. FEBRUAR 2015

DIENSTAG 10. FEBRUAR 2015

ZWEITER TEIL

NACHSPIEL

Höllengelächter

Der Racheengel

Applaus Applaus

Geisterzirkus

Die Wiederkunft des Gespen

Zur Feier des Tages

Auch Kultur handelt von Leben und Tod, aber sie tut das in Gestalt von Geschichten und Motiven, die Ungewissheit und Versehrtheit zulassen. Sie ist die Fachreferentin für alle Fragen, die über reine Zahlen hinausgehen.

Daniela Janser, „Den Horizont aufreissen“ in WOZ DIE WOCHENZEITUNG Nr. 20 vom 14. Mai 2020, Titelseite

ERSTER TEIL

Das Spiel der Winde: und da alles fliegt Emporgewirbelt übers Hinterteil Der Welt hinweg in einen Fegekreis, Ein Limbus gross und weit, seither genannt Das Narrenparadies ….

John Milton, Das verlorene Paradies, übersetzt von Hans Heinrich Meier, Reclam 1969, Seite 92

DONNERSTAG 5. FEBRUAR 2015

19 Uhr 13: Leck mich

„Leck mich! Was war DAS?“, schreit der entgeisterte Lenker im Innern seiner Blechdose, nachdem er spontan aufs Bremspedal getreten ist und sein in einer Autokolonne auf der zweispurigen Einbahnstrasse beinahe im Schritttempo dahintuckerndes Gefährt mit Rucken, Zucken und Quietschen zu einem schräg in der Strasse, beide Fahrbahnen versperrenden Stillstand bringt. Er zetert weiter, „In dieser Dunkelheit, bei diesem Dunst, mit den flackernden Scheinwerfern und Bremslichtern, unmöglich etwas genau zu erkennen. Zumindest schneit es nicht.“

„Ich hatte dir anerboten, selber zu fahren“, frotzelt lachend die muntere Mitfahrerin und lässt noch fallen, „Es ging zu schnell. Etwas vors Auto geknallt. Ein Ufo, ein?“

„Ein Irgendetwas, das jetzt … Hätte ich etwas überrollt, hätte der Wagen rumpeln müssen. Wir hätten etwas gespürt. Hast du was gespürt? Ich nicht. Kam eindeutig von oben geflogen. Wutsch und – oder bilde ich mir alles bloss ein. Ich schau nach.“

Behände springt der Mann, der inzwischen seinen Geist wieder unter Kontrolle hat, aus seinem Wagen. Tritt ein, zwei, drei Schritte nach vorne. Erstarrt, wie die im Innern des Wagens sitzende Mitfahrerin mitbekommt, zur Salzsäule. Erblasst gleichzeitig. Gibt das Bild einer stehenden, wächsernen Leiche ab, wo bloss eine leichte Bise ein paar Härchen auf dem Kopf des Mannes bewegt. Die Mitfahrerin im Unglücksauto verfolgt mit neugierig erschrecktem Blick, die Verwandlung des Mannes. Stösst die Türe beim Beifahrersitz heftig auf. Springt mit einem Satz aus dem Wageninnern. Ein, zwei, drei Schritte. Bleibt erstarrt stehen. Hebt beide Hände vor ihr Gesicht, dem schrecklichen Anblick auszuweichen.

Unmittelbar vor den Vorderrädern des auf dem Allmendquai auf der Höhe des Amtshauses Eichenviertel schräg stehenden roten Renault Scenic, dem Fahrzeug, das dem Ereignis am nächsten ist und klar als Unfallfahrzeug vermutet wird, liegt eine Masse Mensch in einer Blutlache, unschwer als wohl vor dem Sturz von oben und vor dem Ereignis hübscher junger Mann erkennbar.

Von der hinter dem Unglücksfahrzeug stehenden Autokolonne setzt ein Hupkonzert ein. Köpfe springen aus heruntergedrehten Seitenfenstern. Es hagelt zusätzlich zu den Huptönen erregte Zurufe, Empörung, Befehle, den Weg endlich frei zu geben, man sei in Eile, Fragen nach dem wie und wo. Allmählich schwillt das Konzert ab, geht über in die Geräusche beim Öffnen und Zuschlagen von Autotüren. Um den Ort des Geschehens bildet sich in sicherer Distanz von rund zwei Metern ein Kreis von staunenden, angeekelten Leuten, denen es bei diesem unerwarteten Anblick schlicht die Sprache verschlägt, den Magen umkehrt und sie erstarren lässt. Eine Frau prescht vor. Bringt Bewegung ins Geschehen.

„Ui, ihn hat es tüchtig erwischt!,“ stellt diese eine Frau, die aus der Runde der Umstehenden ihren Kopf etwas vorstreckt, lakonisch fest. „So schade um den hübschen jungen Mann. Ich glaube, da hilft das, was ich im Erst-Hilfe-Kurs gelernt habe, auch nichts mehr. Tot. Futsch. Mich graust, ihn anzurühren, zu beatmen. Wir müssen die Polizei rufen. Wo sind wir hier?“

Die Frau macht an ihrem Handy rum, während von allen Seiten Kommentare, Ratschläge und was es der guten Worte mehr gibt, um ihren Kopf herum schwirren.

„Keine Ahnung.“

„Vor einem dieser neuen Gebäude. Ein Hohn, wie die Architekten unsere schöne Stadt verschandeln.“

„Hier! Das ist doch diese Schmiererei von diesem Schmierfink am Gebäude. Davon hat man doch gestern oder vorgestern oder wann in der Zeitung gelesen. Jetzt wissen wir, wo diese Schmiererei ist.“

„Auf dem Strassenschild steht Allmendquai. Schon erstaunlich, da fährt man jeden Tag durch, kennt seine Stadt und ahnt nicht, wie wenig man sie kennt.“

„Ja, ja, von einem Auto überfahren. Kommen sie rasch. Der junge Mann, der überfahren wurde ist tot. Tot. Ein schrecklicher Anblick. – Wie haben sie gesagt, heisst die Strasse? …“

„Allmendquai.“

„Allmendquai. Schwerer Unfall am Allmendquai mit einem Toten. Ja.“

„Dann ist das das neue Amtshaus Eichenviertel, in dem, wenn man den Zeitungen glauben darf, der Teufel los ist. Sagen sie, auf dem Allmendquai vor dem Amtshaus Eichenviertel.“

„Auf dem Allmendquai, vor dem Amtshaus Eichenviertel.“

„Gib mir dein Handy, wenn du fertig telefoniert hast. Ich muss diese Schmiererei abfotografieren. Jetzt, wo man endlich weiss, wo sie ist.“

„Gleich, gleich, ich fotografiere zuerst noch den Toten. Schrecklich.“

Die aufgeheizte Stimmung und das Besondere des Geschehens lässt die Leute die Kälte an diesem frühen Abend anfangs Februar vergessen und die Zeit vergeht im Fluge. Eine neue Dynamik setzt erst ein, als ein Cis-Gis-Horn den gedämpften Lärmpegel zerreisst und beim Näherkommen lauter wird. Das Fahrzeug einer Polizeistreife nähert sich in der verbotenen Fahrtrichtung. Stellt sich quer vor den Unglücksort. Zwei Streifenpolizisten bahnen sich einen Weg durch die Umstehenden, die für den freien Durchgang der Ordnungshüter wortlos eine Gasse bilden. Die Streifenpolizisten begutachten mit Kennerblick die blutige Bescherung. Weisen die Umstehenden an, weiter zurückzutreten. Fragen nach der Person, die die Polizei benachrichtigt hat. Nach dem Lenker des Unglücksfahrzeugs. Sie sichern die Unfallstelle ab. Fragen die Umstehenden, wer etwas gesehen hat. Sie erklären in die Runde, dass sie gewöhnliche Streifenpolizisten sind, auf Streife ganz in der Nähe. Der Untersuchungsrichter und die Spurensicherung werde gleich da sein. Augenzeugen müssten warten, bis der Untersuchungsrichter mit seinen Leuten hier sei.

Ein Muskelpaket von Mann kommt dahergelaufen und drängt sich zwischen den Leuten hindurch, um einen guten Blick auf das, was geschehen ist, zu erhaschen. Einer der Polizisten pfeift den Mann zurück und sagt, er möge verschwinden. Er habe hier nichts verloren. Der ausgewachsene Mann mit dem vollmondrunden Kindergesicht, wendet sich, nachdem er offensichtlich gesehen hat, was er sehen wollte, unterwürfig dem Polizisten zu, wackelt mit dem Kopf und nickt aus Verlegenheit, um dann nahe an den Polizisten heranzutreten und ihm kleinlaut, beinahe flüsternd zuzuraunen, „Entschuldigen sie. Ich will mich nicht unnötig aufdrängen. Men Danneisen, meine Name. Sicherheitsbeauftragter des Amtshauses Eichenviertel. Ich habe drinnen mitbekommen, dass da draussen etwas vorgefallen ist. Den Typ – ist er tot, oder? – kenne ich vom Sehen. Ein bunter Vogel, dessen Namen ich nicht kenne, der auf der HoGeRaLa arbeitet.“ Danneisen wendet seinen Blick zum Gebäude. „Dort oben, im fünften Stock, wo noch Licht brennt … Leck mich, dort wo das Fenster offen steht, von dort muss er wohl runtergefallen sein, runterbefördert worden sein, vom Balkon daneben oder aus dem Fenster …“

„Wie bitte, HoGe…?“

„Entschuldigen sie, Hoher Gebirgsrat Langwardia, wenn sie wünschen, kann ich ihnen …“

„Der Untersuchungsrichter wird gleich da sein. Halten sie sich bitte zur Verfügung. Und sie sagen, er soll dort …? Aus dem Fenster gestürzt. Ein Fenstersturz. Eine abenteuerliche Hypothese. Und sie sind sich total sicher, dass er dort arbeitete und von dort gestürzt sein könnte?“

„Ja. Entschuldigen sie, kann ich nochmals kurz zurück in mein Büro gehen? Ich werde auch gleich wieder hierher kommen.“

Die Umstehenden, neugierig und mit gespitzten Ohren dastehend, bekommen mit, was nicht für ihre Ohren bestimmt ist. Ein Gemurmel setzt ein mit Bemerkungen wie, „Ach herrjeh, ist dieses ominöse Amt von diesem, diesem, diesem, wie hiess er gleich, der immer zu allem seinen Senf geben muss ...“, „Plattmann, er ist der Präsident von diesem, diesem weiss-der Kuckuck-was-für-ein-Rat“, „Was sie nicht sagen, und jetzt stürzt just aus diesem Amt – hat man da noch Worte“, „Nein aber auch, das ist ja Sodom und Gomorrha“, „Also, ein Freund von mir ist Parteikollege von Fiedler, dem Regierungsrat, und dieser sagt, was die Medien schreiben, ist masslos übertrieben“, „Dass aber jemand von dort oben nach da unten gestürzt ist, das schleckt keine Geiss weg“, „Und nie sind es die Hohen, die stürzen“, „Ach, dort, dort, beim Eingang des Gebäudes, das sind doch …“, „Ja, die kennt man, vom Fernsehen und von Fotos in der Zeitung …“, „Das sind doch …“, „Plattmann und Fiedler“, „Das muss ich gleich Klärli per WhatsApp melden, jetzt sehe ich doch diese beiden einmal live …“

Das Surren einer Kamera schreckt die Idylle auseinander. Alle Köpfe schnellen in die Richtung, aus der das Surren der Kamera kommt. Einer der Polizisten fährt sogleich dazwischen, fuchtelt mit den Armen wie wild herum und schreit, „Verschwinden sie von hier. Hier haben sie nichts verloren!“. Jemand kreischt, „Das ist doch der Urs Glaubtreu von Tele Langi, wenn ich zufällig ins Bild gekommen bin – und bin nicht beim Frisör gewesen“. Was sich wie ein Gerangel anbahnt, löst sich in Minne auf. Glaubtreu schaltet seine Kamera aus, nimmt sie unter den Arm und grinst den Polizisten an.

„Ich erfülle bloss meinen Auftrag, um die Bevölkerung über das zu informieren, was geschieht. Keine Sorge, wir kennen den Persönlichkeitsschutz.“

Der Polizist schüttelt seinen Kopf. „Wie ihr von Tele Langi es immer schafft, gleich da zu sein.“

„Nicht nur ich. Auch Schönenberger von ALTER KLEISTER ist bereits da. Ja, ja, gewusst wie. Obacht, da ist der Untersuchungsrichter im Anzug. Nein, das ist erst der Polizeidetektiv Pfund.“

„Er dort?“

„Ja. Er dort. Sie brauchen sich nicht auf ihn zu stürzen, er sieht ja, wo … Tschüss. Ich ziehe mich zurück.“

Inzwischen ist 20 Uhr 01. Rückblende.

19 Uhr 21: Wir haben eine Leiche

Ein Handy gibt Geräusche von sich. Sepp Pfund ist fest in seine Gedanken verstrickt. Seine neben ihm sitzende liebe Emmi kann, wenn sie ins Erzählen gerät, endlos plätschern. Ohne zu bemerken, dass das Gegenüber längst nicht mehr zuhört. Sich für das, was sie erzählt nicht im Geringsten interessiert. Was gehen ihn die Befindlichkeiten der besten Freundin von seiner lieben Emmi, Josy Ketterer, an, die immer irgendwelche für normale Menschen gewöhnliche und leicht runterzuschluckende Schwierigkeiten hat. Schliesslich verfügt seine liebe Emmi umgekehrt über die Gabe, ihn, Pfund, sobald er ihr etwas zum Beispiel aus seinem Arbeitsalltag berichten möchte, sogleich mit einer beliebigen Frage zu unterbrechen, nicht ohne ihre Wortmeldung mit, „o so interessant, was du zu berichten hast“, einzuleiten. Dann aber das Gespräch so zu lenken, dass er spürt, wie ihr das Interesse an seinen Geschichten fehlt. Und er sein Interesse, ihr davon zu berichten, verliert. Was dann dazu führt, dass seine liebe Emmi gemeinsamen Freunden gegenüber in seiner Gegenwart fallen lässt, „Sepp erzählt nie etwas von sich. Er ist halt etwas introvertiert und nicht sehr gesprächig.“ Sepp denkt dann jeweils, introvertiert, so ein Quatsch!

Die liebe Emmi unterbricht ihre Erzählung und fragt, „Sepp, willst du den Anruf nicht entgegennehmen!“ Sepp schrickt aus seinen Gedanken auf. Murmelt etwas. Sein Handy gibt tatsächlich Töne von sich. Er berührt das entsprechende Signet und führt sein Handy an sein Ohr.

„Wir haben eine Leiche. Allmendquai 17, gleich vor dem Tor des Amtshauses Eichenviertel. Ein Mitarbeiter des Hohen Gebirgsrats Langwardia. Ein Fenstersturz aus dem fünften Stockwerk. Rausgehupft oder rausgeschubst. Es könnte sich um Mord handeln, meinen die Streifenpolizisten vor Ort. Güldinger, der theoretisch Brandtour hat, ist leider, leider bereits abgesaust an eine internationale Tagung über Datenaustausch im Strafrecht mit Koryphäen aus der ganzen Welt auf irgendeiner Alp, wo mit Bestimmtheit kein Handy-Empfang sei. Güldinger hat aber vollstes Vertrauen, dass du ihn perfekt vertrittst, wird erst am Montag wieder zurück im Büro sein, wir sollen, falls aus deiner Sicht erforderlich, Medienmitteilung machen. Ich werde gleich einen Entwurf der Medienmitteilung machen und ihn dir per Email senden,“ flötet Miriam Stöckli ins Telefon. Pfund versichert Stöckli, dass er sich gleich zum Ort des Geschehens aufmache. Dann gibt Pfund mit Blick in Richtung seiner lieben Emmi durch verdrehte Augen bei wackelndem Kopf vor, wie sehr er es bedauert, nochmals von der Pflicht gerufen zu werden, mitten aus dem gemütlichen Zusammensein heraus.

„Der Güldinger ist nicht da. Ich muss.“

„Du Ärmster. Weit weg?“

„Bloss zum Allmendquai. Ich werde zu Fuss gehen.“

„Allmendquai? Das ist doch dort, wo das neue Amtshaus Eichenviertel steht, das wegen Fiedler, Plattmann & Co. immer wieder ins Gerede kommt. Und vor kurzem noch diese Schmiererei vom Schmierfink beim Eingangsportal. Das ist ja spannend. Wie beneide ich dich, dass du zum Amtshaus Eichenviertel gehen darfst und dort Einiges vernimmst! Glückspilz du! Apropos Amtshaus Eichenwald, Josy hat mir neulich berichtet, dass …“

Pfund schüttelt innerlich seinen Kopf und denkt spontan, was meine liebe Emmi sich vorstellt. Auf die Ehre, an einer Prominentenlokation anzutanzen, könnte ich liebend gerne verzichten. Obwohl ich ein Gemütsmensch mit der besonderen Gabe bin, Vorgänge in meinem Umfeld zu entschleunigen, hätte ich auf diesen Toten am Donnerstagabend verzichten können. Wie ich überhaupt auf die meisten Toten verzichten kann. Zum Glück sind Tötungsdelikte und ausserordentliche Todesfälle in Langwardia selten. An den Anblick von Toten habe ich mich in all den Jahren meiner Berufstätigkeit nie gewöhnen können. Mich graust vor dem Anblick einer zermantschten Leiche nach einem Fenstersturz. Nicht etwa im Sinne des architektonischen Begriffes, der die Oberseite eines Fensters bezeichnet. Aber als Fall aus einem Fenster. Der spontan eine ‚De-Fenstration‘ erahnen lässt, diese Form einer Lynchjustiz. All die historischen Fensterstürze. Prag und so weiter. Obwohl es Fensterstürze gibt, die einfach so geschehen, unerklärlich und rätselhaft. Dann die Selbstmorde, aus Angst, aus seelischer Not - na ja! Zum Lachen, dass es früher einmal, wohl in den 70er Jahren, eine Serie von Fensterstürzen gegeben hatte, als LSD-Schlucker tatsächlich glaubten, fliegen zu können. Haben meine liebe Emmi und ich nicht vor Jahren im Altmarkt Theater dieses Stück von Dario Fo gesehen? ‚Zufälliger Tod eines Anarchisten‘. Wo die Untersuchungsbehörden einen wohl Unschuldigen in den Sprung aus dem Fenster drängen. Womit der Fall für die damaligen italienischen Untersuchungsbehörden 1970 erledigt war. Ich jedoch werde mich heute um die Bescherung zu kümmern haben, die ein Fenstersturz, welcher Art auch immer – das muss sich noch erweisen –, hinterlässt. Der Anblick wird total unappetitlich sein. Dennoch bin ich dem Schicksal für die Wahl des Allmendquais als locus delicti nicht echt böse. Endlich mal dieses neue Amtshaus Eichenviertel, die so genannte Holzbaracke, unter die Lupe zu nehmen ist nicht ohne. Und dabei mit grösster Wahrscheinlichkeit erst noch diesen ominösen Plattmann, der in der Öffentlichkeit so viel schwatzt, ausquetschen zu dürfen, gibt dem überraschenden Abendeinsatz, die notwendige Würze. Womöglich schickt Güldinger mich absichtlich als Frontsau voraus, weil er es mit Herrschenden, zu denen auch Plattmann gehört, unbedingt nicht verderben will. Ich höre Güldinger schon, wie er mir an den Kopf wirft, sei kein Hasenfuss, Arschbacken zusammenklemmen und zeigen, dass du deinen Mann stellen kannst. Los, los, Pfund, du bist selber gross! Na ja, Vorahnungen, das Gedankengeschwrubel, Vorstellungen, Befürchtungen, klar gedachte Erwartungen, kurz, das, was einem vor einem Einsatz durch den Kopf jagt, ist viel farbiger und die damit verbundenen Gefühle sind berauschender, als das, was mich am locus delicti tatsächlich erwartet.

Pfund schreckt aus seinem augenblicklichen Gedankensturz auf. Hört, dass seine liebe Emmi noch immer plappert und plappert. Er hievt seine Kilos aus dem Sessel.

„Ja, ja. Interessant, interessant. Entschuldige. Ich muss dann los! Die Pflicht ruft.“

Grad in der Mitte unsrer Lebensreise Befand ich mich in einem dunklen Walde, Weil ich den rechten Weg verloren hatt. Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen, Der wilde Wald, der harte und gedrängte, Der in Gedanken noch die Angst erneuert. Fast gleichet seine Bitternis dem Tode, Doch um des Guten, das ich dort gefunden Sag ich die andern Dinge, die ich schaute.

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übersetzt von Hermann Gmelin, Reclam 1972, Seite 7

EXKURS DAS NEUE AMTSHAUS EICHENWALD

2011 stösst Albert Watschke, ein journalistisches Urgestein des Tade, Kurzbezeichnung des Tagesverkünders, einer Tageszeitung Transköls, im Amtsblatt von Transköls Hauptstadt Langwardia auf eine ihm ins Auge stechende Ausschreibung eines Neubaus, die das Zeugs zu haben scheint, in der Saure-Gurken-Zeit ihm ein Thema zuzuspielen, das sich zu einem Primeur, einem Scoop, vielleicht sogar einem Skandal aufbauschen lässt, der die Leserschaft für ein paar Tage oder gar Wochen an den Tade bindet. Als alter Mann, der kurz davor steht, in Rente zu gehen, kennt er seine Stadt und seine Pappenheimer. Erst kürzlich war er, flussseits dem Allmendquai entlang schlendernd kurz vor dem verlotterten Mathilden-Schloss gestanden und hatte spontan gedacht, eine Schande, dass dieses Gebäude, ein Wahrzeichen der Geschichte und der Entwicklung von Langwardia so heruntergekommen ist und niemand sich um dessen Renovation zu kümmern scheint. Die Ausschreibung des neuen Hochhauses scheint Watschke das Grundstück des Mathilden-Schlosses zu betreffen. Ein paar Telefonanrufe bestätigen ihm seine Vermutung und liefern ihm zusätzlich Details, die ihm höchst gelegen kommen.

Watschke erfährt die nicht an die Öffentlichkeit gedrungene Hintergrundgeschichte, dass Regierungsrat Krautstädter, der von seiner Partei, der LPT (Liberale Partei Transköl) altershalber zum Rücktritt als Regierungsrat gezwungen wird, obwohl er locker noch ein paar Jährchen hätte wirken wollen, sich ein Denkmal setzen will. Den Krautstätter-Palast. Er schildert seinen Spezis von der Regierung und dem Parlament, wie die alte Börse Langwardias, dieser aufstrebenden Metropole, eine Schande sei. Langwardia unbedingt ein repräsentatives Börsengebäude benötige, das für die Wirtschaft der gesamten Welt zu einem Blick- und Angelpunkt werde. Der Krautstätter-Palast eben. Beinahe-Alt-Regierungsrat Krautstädter schlägt als Standpunkt der Neuen Börse das Grundstück des Mathilden-Schlosses vor. Das Mathilden-Schloss sei in einem erbärmlichen Zustand. Eine Renovation würde zu hohe Kosten verursachen und wenn, wie nicht anders zu erwarten sei, der Denkmalschutz auf einer Wiederherstellung im Originalzustand bestehe, was würde die Stadt als Eignerin des Mathilden-Schlosses mit einem pompösen Prunkpalast aus der Gründerzeit anfangen wollen.

Das Mathildenschloss ist eine Geschichte für sich. Bevor diese Geschichte begann und ihren Lauf nehmen konnte, soll sich in diesem Stadtgebiet das kleine Viertel der Gerber seit dem Mittelalter befunden haben. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert nicht mehr zeitgemässe, halb zerfallene Häuser mit engen Gässchen und stinkenden Kanälen. Hygienische Gründe zwingen die damalige Stadtregierung, sich etwas zur Sanierung dieses nicht mehr bewohnbaren und vor allem nicht mehr zeitgemässen Quartiers einfallen zu lassen. Dem lange anhaltenden Bedenken der Stadtregierung kommt zu pass, dass ein erfolgreichster Maschinen-Tycoon aus Albakasien, der sich in Langwardia vor Jahren niedergelassen und nicht nur die Wirtschaft Langwardias, aber ganz Transköls in Schwung gebracht hat, eine Unsumme aufzuwerfen bereit ist, um einen standesgemässen privaten Wohnsitz zu bauen. So wird das stinkend stickige Gerberviertel flachgewalzt und es entsteht etwas Besonderes, wie Langwardia und auch Transköl es noch nie gesehen hat. Die 1863 erbaute neugotische vom ausländischen Maschinen-Tycoon erbaute Ungeheuerlichkeit wurde sehr zum Entsetzen der Ehefrau und der Kinder im Andenken an seine verstorbene Geliebte Mathilden-Schloss getauft. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner in Langwardia ist stolz darauf, dass in Langwardia ein jeden Betrachter, jede Betrachterin aus den Socken hauender Bau steht. Die Nach-Nachkommen des Maschinen-Tycoons aus Albakasien verlieren beim Spielen, nachdem sie das Mathildenschloss aufs Spiel gesetzt hatten. Der glückliche Gewinner verlumpt. Niemand hat Lust darauf, ein so pompöses Gebäude wie das Mathilden-Schloss zu unterhalten. So fallen das Mathilden-Schloss inklusive Park an den Distrikt Langwardia. Das Mathilden-Schloss büsst im Laufe dieser Jahre und Jahrzehnte an Attraktivität ein, verlottert und wird zum Schandfleck Langwardias. Was jedoch nicht wirklich bemerkt wird. Mit dem Bau des neuen Bahnhofs vor der Jahrhundertwende entwickelt sich ein neues Stadt- und Gewerbezentrum, abseits von Fluss und Allmendquai.

Krautstätter, der gewiefte Politiker, schafft das Glanzstück, seinen Plan mit sanftem Druck an der Öffentlichkeit vorbei durch Regierung und Parlament zu schleusen, so dass im Vorfeld des, wie gewisse Meinungsbildner verkünden, visionären Bauprojekts kein Aufhebens um nichts gemacht und keine der Gruppen, bei denen der Plan auf Widerstand gestossen wäre, aufgeschreckt werden. Doch Krautstätter hatte nicht mit dem findigen Tade-Journalisten Watschke, gerechnet, der auf Mathilden-Schloss und auf Krautstätter-Palast pfeift, aber eine ausbaufähige Story wittert, die sich mit journalistischem Geschick zu einem Skandal des rechten Filzes herrichten lässt und die linken Politiker in Wallung und die Bevölkerung in gierige Sensationslust katapultiert. Er verfasst einen hübschen Artikel über den bürgerlichen Filz, der es einmal mehr schafft, wertvollstes Kulturgut wie das Mathilden-Schloss für den Abbruch freizugeben und anstatt zum Beispiel sozialen Wohnungsbau, an dem es in der Stadt fehlt, auf die Beine zu stellen, ausgerechnet auf Kosten der Steuerzahler ein neues Börsengebäude zu erbauen, wo Langwardia mit seinen Gnomen, die bloss deklaratorisch über alle Zweifel erhaben sind, als Steuerparadies einen für die anständige Bevölkerung peinlichen und zweifelhaften Ruf geniesst.

Watschke mit seiner Spürnase liegt goldrichtig. Er stösst einen Hype an, in dem alles, was Rang und Namen hat in Politik, Wirtschaft, Kultur, Stammtisch und Social Media,