Fiat Lux - James G. McCarthy - E-Book

Fiat Lux E-Book

James G. McCarthy

0,0

Beschreibung

Das Buch von Jim McCarthy behandelt das Spannungsverhältnis von Erwählung und Vorherbestimmung einerseits und der Verantwortung des Menschen auf der anderen Seite. Dem Autor gelingt es, diese schwierige Thematik für jeden Leser verständlich zu machen. Er wählt dazu die Form eines Romans. Dessen Handlung ist so überaus fesselnd entfaltet, dass man das Buch kaum aus der Hand legen wird, und gipfelt in einer verblüffenden Lösung. Doch Spannung allein wäre zu wenig. Die Ausführungen sind zudem außerordentlich lehrreich und zeigen als Nebeneffekt, wie ein theologisches Problem auf biblische Weise gelöst werden kann. McCarthys Werk gehört – ohne Übertreibung – zu den besten Büchern, die ich je in meinem Leben gelesen habe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 569

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



James G. McCarthy

FIAT LUX

Buch

Dieses Buch ist fiktiv. Namen, Orte, Firmen, Organisationen werden rein fiktiv gebraucht. Alle Charaktere sind erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Bibelverse wurden folgenden Übersetzungen entnommen: Revidierte Elberfelder (1993), Schlachter (2003), Einheitsübersetzung (1980), Luther (1912).

Besuchen Sie viele der Schauplätze von Fiat Lux online http://www.berkeley.edu/tour/

Auf dieser Website finden Sie viele der in diesem Roman genannten Orte. Mit der Hilfe der interaktiven Karte können Sie an einer virtuellen Tour über das Universitätsgelände teilnehmen und das Studentenleben live über verschiedene Webcams auf dem Campus verfolgen Dort finden Sie auch Bilder der Sproul Plaza, des Sather Tors, des Campaniles und von anderen, in diesem Buch erwähnten Sehenswürdigkeiten.

Autor

Jim McCarthy lebt mit seiner Frau und drei Töchtern in San José, Californien. Er hat an fünf unterschiedlichen Universitäten in christlichen Werken mitgearbeitet, unter anderem auch an der Universität von Californien, Berkeley, wo die Handlung dieses Romans stattfindet. Fiat Lux ist sein viertes Buch und erster Roman.

James G. McCarthy

FIAT LUX

Können die Studenten der University Christian Fellowship ein Rätsel lösen, das Theologen seit Jahrhunderten zur Verzweiflung treibt?

Roman

Bibelzitate werden überwiegend aus den beiden folgenden Bibelübersetzungen wiedergegeben: Revidierte Elberfelder Übersetzung, Copyright © 1993 R. Brockhaus Verlag Wuppertal Schlachter 2000, Copyright © 2002 Genfer Bibelgesellschaft, Genf Copyright © 2006 by James G. McCarthy Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Christlicher Mediendienst Hünfeld GmbH — CMD Mackenzeller Str. 12 D-36088 Hünfeld Tel: (06652) 91 81 87 Fax: (06652) 91 81 89 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.mediendienst.org Übersetzt aus dem Amerikanischen von Svenja Tröps, Siegen E-Book-Erstellung: Digital Design Deubler, Neckargemünd

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

Fußnoten

1. Kapitel

»Und wen haben wir hier?«, fragte die Dame im Studentensekretariat.

»Alex Kim.«

Sie drehte sich zu ihrem Computer-Bildschirm. »Hast du einen Termin?«

»Ich wollte nur unsere Studentenvereinigung für das Herbstsemester zurückmelden. University Christian Fellowship.«

Sie reichte ihm ein Formular und nickte in Richtung zweier Stühle an der Wand.

»Danke«, sagte Alex. Er setzte sich und füllte das Formular aus. Als er an die Stelle kam, wo die Namen der Leiter eingetragen werden mussten, zögerte er. Obwohl er während seiner High-School-Zeit schon in vielen Organisationen mitgearbeitet hatte, war das hier doch etwas anderes. Dies war die Universität von Californien, auch liebevoll ›Cal‹ genannt, und UCF war eine christliche Studentenvereinigung mit hohen Standards und geistlichen Zielen. Als er im letzten Semester von den anderen Mitgliedern gewählt worden war, hatte er die Wahl angenommen und versprochen, sein Bestes zu geben. Jetzt fragte er sich, ob er nicht einen Fehler begangen hatte. Im Stillen betete er, dann trug er seinen Namen in die Spalte ein, unter der VORSITZENDER stand.

»Te quiero, Mamá.« Angela León und ihre Mutter nahmen sich fest in den Arm.

»Du bist Thanksgiving wieder da?«, fragte ihre Mutter ebenfalls auf Spanisch.

»Ich nehme den ersten Flug.«

»Kommst du mit deinem Geld hin?«

»Ja, Mama.«

»Ruf an, sobald du angekommen bist.«

»Ich werde mich jeden Tag melden. Jetzt will ich Papá noch schnell auf Wiedersehen sagen.«

»Lieber nicht.«

»Ich kann doch nicht einfach gehen.«

»Er ist zu aufgewühlt.«

»Ich muss, Mama.«

Angela lief hoch zum Schlafzimmer ihrer Eltern. »Ich wollte mich verabschieden, Papá.« Verunsichert wartete sie im Türrahmen. Ihr Vater stand am Waschbecken des angrenzenden Badezimmers. Er ignorierte sie. »Ich fahr jetzt, Papá. Thanksgiving bin ich wieder da.«

»Es wird keine Verabschiedung geben«, antwortete er, den Blick unverwandt auf sein Spiegelbild gerichtet.

»Aber ich —«

»Du hast deine Wahl getroffen. Und jetzt raus hier!«

Sie wandte sich langsam ab, in der Hoffnung, er würde es sich doch noch einmal anders überlegen.

»Und komm nicht mehr zurück.«

Rod Sutherland arbeitete an seinem Schreibtisch. Endlich hatte er das gesuchte Zitat gefunden. Es stand auf Seite 619 von Johannes Calvins Institutio. Er tippte es in das Formular, das auf seinem Rechner gerade geöffnet war — UNTER VORBESTIMMUNG VERSTEHEN WIR GOTTES EWIGE ANORDNUNG, VERMÖGE DEREN ER BEI SICH BESCHLOSS, WAS NACH SEINEM WILLEN AUS JEDEM EINZELNEN MENSCHEN WERDEN SOLLTE! DENN DIE MENSCHEN WERDEN NICHT ALLE MIT DER GLEICHEN BESTIMMUNG ERSCHAFFEN, SONDERN DEN EINEN WIRD DAS EWIGE LEBEN, DEN ANDERN DIE EWIGE VERDAMMNIS VORHER ZUGEORDNET. Jetzt endlich war seine Anmeldung für das Westminster Theological Seminary fertig. Rod druckte die Papiere aus, unterschrieb und steckte sie in einen wattierten Umschlag. Wenn alles nach Plan verlief, würde er im kommenden Mai seinen Abschluss in Berkeley machen und dann im folgenden September seine theologische Ausbildung an dieser theologischen Fakultät anfangen. Er verschloss den Umschlag und machte sich auf den Weg zur Post.

Im People’s Park, drei Blocks südlich vom Cal Campus, saß Jacob Coleman, ein vergammelt aussehender Mann von 32 Jahren, im Gras. Er betrachtete einen Baum in der Mitte des Rasens. Zuerst waberte der Baum bedächtig hin und her. Dann knickte er im Zeitlupentempo langsam ein und zerschmolz schließlich wie eine regenbogenfarbene Kerze in der Sonne. Coleman lehnte sich zurück und legte seinen Kopf auf einen speckigen Rucksack. Verfilzte Locken hingen über seine schweißnasse Stirn und verdeckten seine geschlossenen Augen. Sein Körper fühlte sich schwerelos an, sein Bewusstsein wand sich in Schwindel erregenden Spiralen nach oben. Er fühlte die winzige Tablette unter seiner Zunge. Sie war schon fast aufgelöst und sein Bewusstsein ebenso. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er kämpfte dagegen an und richtete sich auf. Sein Herz raste. Wie verrückt kratze er an dem Schorf, mit dem sein ganzer linker Unterarm verkrustet war. Das war gar nicht so einfach, denn er sah mehrere Arme gleichzeitig. Er ließ sich zurück ins Gras sinken. Vergebens versuchte er nur still dazuliegen. Schließlich kam er wieder auf die Beine und wandte sich in Richtung Sproul Plaza auf dem Campus der UC Berkeley.

2. Kapitel

Coleman tauchte wie aus dem Nichts auf. Er beschimpfte die beiden Studenten hinter dem Büchertisch von University Christian Fellowship und sprang plötzlich mitten auf den Tisch. Mit den Füßen auf den Büchern verharrte er ein paar Sekunden mit ausgestreckten Armen und schrie wie von Sinnen. Wie ein Surfer auf dem Wellenberg glitt er auf dem zusammenbrechenden Tisch zu Boden. Das den Tisch umgebende Banner zerriss. Die Vorbeigehenden blieben erschrocken stehen.

»Was machst du da?«, rief Alex. Vor ihm stand Coleman, ein vollkommen Verrückter, den er nur zu gut kannte, aber den er bisher immer nur aus sicherer Distanz gesehen hatte. Er kannte auch seinen Namen, jedoch hatte keinerder versammelten Christen es je gewagt, Coleman anzusprechen. »Die Bücher kosten Geld.«

Coleman gab keine Antwort. Seine glasigen Augen waren hinter den vor Schmutz starrenden Haaren fast nicht zu sehen. Sein Gesicht wirkte viel älter als er wirklich war, seine Haut war von Wind und Wetter gegerbt. Er drehte sich um und wollte gehen.

Joe Fiori, ein anderer Student der UCF, packte ihn an der Schulter. »Wo willst du hin?«

Coleman stieß Fioris Arm von sich. »Nimm deine Hände weg!« Fiori schlug ihm kräftig mit seiner offenen Hand gegen die Brust. Coleman flog gegen den Baumstamm, der hinter den Trümmern des Büchertisches stand. Fiori setzte nach und verbaute Coleman mit seiner hünenhaften Gestalt den Fluchtweg.

Alex’ Wut wandelte sich sofort in Sorge. Die Kombination von Coleman und Fiori war hochexplosiv. Fiori war zwar Christ, aber noch jung im Glauben. Bis vor kurzem hatte er seine Wochenenden meistens auf Partys und mit Prügeleien verbracht. Groß, kräftig, streitlustig und ein Diskuswerfer der Leichtathletik-Mannschaft — kein Mensch mit klarem Verstand hätte sich ihm in den Weg gestellt.

Coleman jedoch hatte keinen klaren Verstand — ein Gammler, der sich jeden Tag auf der Sproul Plaza herumtrieb und als wütender Unruhestifter galt. Gerüchten zufolge war er ein Informatikstudent, der sein Studium abgebrochen und sein Gehirn mit Halluzinogen verbrutzelt hatte. Die Leute der UCF kannten sonst niemanden, der so verkommen, so wild und bösartig war. Einige fragten sich ernsthaft, ob er vielleicht besessen war. Wenn er um die Ecke kam, verkrampften sie sich innerlich und fingen an zu beten. Heute hatte ihn jedoch niemand kommen sehen.

Alex legte seine Hand auf Joes Arm. »Ich mach das«, beruhigte er ihn. Er wandte sich an Coleman. »Ich bin Alex Kim, der Vorsitzende von University Christian Fellowship. Du kannst ruhig anderer Meinung sein, aber unsere Sachen lassen wir uns nicht beschädigen.« Alex war drahtig und ungefähr so groß wie der Angreifer, ein intelligenter und gut aussehender junger Mann, mit markanten koreanischen Gesichtszügen. Auf die meisten Menschen machte er immer einen guten ersten Eindruck.

Für Coleman jedoch hatte so etwas keine Bedeutung. Er verfluchte Alex. Er verfluchte die Menschenmenge, die sich mittlerweile um sie gebildet hatte.

Alex wich nicht zurück. Zu seiner Rechten und genau zwischen Fiori und Coleman stellte sich Jamie, der Sekretär und Schatzmeister der Gruppe. Braungebrannt, sonnengebleichte Haare, zerschlissene Jeans und Flip-Flops an den Füßen, hätte man ihn eher am Strand vermutet als an einer Uni.

Rod, der zweite Vorsitzende der Studentenvereinigung, stellte sich ebenso in Position. Mit seinen breiten Schultern und seinem kantigen Gesicht sah er eigentlich schon eher aus wie jemand, der einen Kampf verhindern könnte. Jedoch war er in Wirklichkeit ein fleißiger Rhetorik-Student, der einmal Pastor werden wollte und daher besser auf einem Rednerpult aufgehoben war als inmitten eines Straßenkampfes. Falls Coleman und Fiori tatsächlich loslegen sollten, war es fraglich, ob er von großer Hilfe wäre.

Alex wollte das lieber erst gar nicht herausfinden. »Wir wollen keinen Ärger«, sagte er.

Coleman starrte ihn finster an.

»Wenn es nicht anders geht, rufen wir die Polizei«, sagte Alex. Einen Moment lang sah Coleman ihm direkt ihn die Augen. Alex war seltsam berührt, so als ob er Coleman das erste Mal wirklich sehen würde. Coleman murmelte etwas und ließ Alex, Rod, Jamie und Joe einfach stehen und ging.

»Auf Nimmerwiedersehen«, sagte Rod, als er weg war.

»Glaubst du, dass wir richtig gehandelt haben?«, wollte Alex wissen.

»Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?«, trällerte Jamie. »Der erste Tag des Wintersemesters und wir haben den hiesigen Kinderschreck erfolgreich in die Schranken gewiesen.«

»Nachdem er unseren Tisch zertrümmert hat«, sagte Rod. Alex spürte, wie sein Kinn zitterte und hielt es mit einer Hand fest.

»Bist du okay?«, fragte Jamie.

»Ja, klar, hab mir unseren Anfang nur nicht so vorgestellt«, sagte Alex.

»Was, wenn er zurückkommt?«

»Darüber denken wir nach, wenn er da ist«, sagte Jamie.

»Hast Recht«, sagte Alex.

3. Kapitel

Nur wenige Studenten hatten den Angriff auf den UCF-Büchertisch bemerkt. Sproul Plaza ist ein Ort, an dem immer etwas passiert. Der Schauplatz aller Demos, Sitzstreiks und Protestkundgebungen hat mit seinem berühmten Vermächtnis studentischer Widerstände einen Ruf zu verteidigen. An seinem südlichen Ende liegt der Haupteingang der Universität. Jeden Tag durchlaufen ihn 20 000 Studenten, von der Telegraph Avenue und dem Bancroft Way kommend. Zwei Straßen, die wiederum ihren eigenen Ruf haben. Zwei Kolonnaden mit grün belaubten London-Platanen geleiten die Studenten durch die Plaza und vorbei an den vielen Tischen, die von den zahlreichen studentischen Initiativen zwecks Rekrutierung neuer Mitglieder aufgestellt werden. Am nördlichen Ende der Plaza werden die Studenten durch das Sather Tor geschleust. Der verschnörkelte Bogen trägt das lateinische Motto der Uni, Fiat Lux, ›Es werde Licht‹. Hinter dem Tor führt die Sather Brücke die Studierenden zu den 400 Gebäuden der Universität, die zu den besten der Welt gehört. Dort sitzen die jungen Leute zu Füßen von Gelehrten, Autoren und Nobelpreisträgern. Der Zwischenfall hatte dort stattgefunden, am nördlichen Ende der Plaza, unter dem letzen Baum auf der Ostseite, kurz vor dem Sather Tor. Die Trümmer des Büchertischs der UCF erinnerten noch daran.

»Lasst uns hier aufräumen«, beauftragte Alex die anderen. »Werft den Tisch in den Müll. Die meisten Bücher sind noch okay. Packt sie in die Kisten. Danach treffen wir uns an unserem üblichen Treffpunkt.«

Einige UCF-Studenten warfen die Bruchstücke in den nächsten Müllcontainer. Andere halfen Alex, die Literatur zu verpacken. Zu ihnen gehörte Preston, ein BWL-ler im dritten Studienjahr und seit Beginn seines Studiums Mitglied der UCF. Auch Angela war da, eine Englisch-Studentin. Sie gehörte erst seit kurzem zur Gruppe und hatte vorher an einem Junior-College in Los Angeles studiert.

»Wer war denn der Typ?«, fragte Angela.

»Coleman«, antwortete Preston. »Einer von der Straße.«

»Der sah völlig durchgeknallt aus«, sagte ein Erstsemestler.

»Scheint übel dran zu sein«, meinte Angela. »Wir müssen für ihn beten.«

»Wir sollten lieber für uns selber beten«, sagte Rod. »Der Typ ist das personifizierte Böse.«

»Hier geht’s in jedem Jahr verrückter zu«, sagte Jamie und hob eine schwere Bücherkiste auf.

»Hey Preston, im nächsten Jahr sind vielleicht wir beide für UCF verantwortlich und müssen so ’nen Kram dann alleine meistern. Schon mal drüber nachgedacht?«

»Der Herr wird uns beistehen«, antwortete Preston höflich. Aus Bombay stammend, sprach er mit einem indisch-britischen Akzent. »Ich denke, wir werden zurechtkommen.« Er lächelte Jamie an, bis dieser zurückgrinste.

»Das werden wir wohl«, sagte Jamie.

4. Kapitel

Nachdem sie fertig aufgeräumt hatten, sammelten sich die UCF-Studenten an einem Ort, den sie einfach ›die Redwoods‹ nannten. Neben dem Strawberry Creek im Osten des Sather Tors befand sich eine Anordnung dieser Mammutbäume. Die massiven Stämme mit ihrer rötlich-braunen Rinde formten eine Art natürliche Kathedrale, in deren Innerem es erfrischend kühl war und angenehm nach Wald roch. Im Zentrum befand sich eine Bank, die aus einem umgestürzten Baum geschnitzt worden war. Eine Gedenktafel wies sie als ein Geschenk des Abschlussjahrgangs von 1954 aus. Sichtgeschützt und ohne besondere Wegweiser, kannten nur wenige Studenten diesen Ort. Die Mitglieder der UCF meinten, dass Gott diesen Platz für sie als Zufluchtstätte reserviert hätte, wo sie ungestört ihre Mitgliederversammlungen abhalten konnten und in seiner Gegenwart erfrischt wurden.

Alex wartete auf ein paar Nachzügler und betrachtete währenddessen die ungefähr 20 anwesenden Studenten. Einige saßen auf der Bank, andere standen. Der Rest saß auf den am Boden liegenden Reedwood-Nadeln. Die jungen Leute erneuerten alte Freundschaften und knüpften neue. Viele berichteten angeregt über ihre missionarischen Erlebnisse des heutigen Tages. In dieser ersten Woche des Herbstsemesters war jeder noch ausgeruht und voller Tatendrang. Alex wusste, dass das nicht so bleiben würde. Im Laufe des Semesters würde es ermüdend werden, den Anforderungen der Uni und ihres missionarischen Dienstes gerecht zu werden. Es würde Anfechtungen geben. Widerstand. Sie rechneten fest damit, denn sie verfolgten ein sehr hohes Ziel: die Studenten der Cal für Christus zu gewinnen. Sein Job als Vorsitzender würde es sein, die Mitglieder ihrer Gruppe zu ermutigen und ihre Bemühungen zu koordinieren. Das erste Treffen dieses Semesters würde das Tempo des restlichen Jahres bestimmen. Deshalb war es sehr wichtig, dass es gut verlief.

»Lasst uns anfangen«, sagte Alex. »Ich bin Alex Kim, Vorsitzender der UCF. Ich möchte anfangen, indem ich euch im Team willkommen heiße und mich für den Ärger am Büchertisch entschuldige.« Ihm war aufgefallen, dass einige Studenten doch sehr besorgt ausschauten. »Die meisten dieser Obdachlosen sind harmlos. Ihr werdet euch schon an sie gewöhnen.«

»Wer war der Kerl?”, fragte jemand.

»Sein Name ist Coleman. Er läuft hier schon seit Jahren rum. Normalerweise macht er nur viel Lärm, sonst nichts.«

»Was sagt die Polizei dazu?«, fragte eine junge Frau.

»Das hier ist Berkeley«, sagte Jamie. »Erwarte nichts von den Cops.«

»Der Kerl ist plemplem«, meinte ein anderer Student.

»Warte, bis du ihn näher kennen lernst«, sagte Jamie. »Der ist mehr als plemplem.«

»Wir wollen uns wegen ihm keinen Kopf machen«, sagte Alex. »Ich möchte euch die anderen offiziellen Vertreter unserer Studentenvereinigung vorstellen. Das hier ist Rod Sutherland, der stellvertretende Vorsitzende. Neben ihm seht ihr Jamie Alfano, unseren Schatzmeister und Sekretär. Wir drei sind die offiziellen Leiter der UCF. Damit dieser Dienst aber erfolgreich laufen kann, müssen wir alle zusammenarbeiten. Wir sind hier, weil wir den anderen Studenten von Christus erzählen wollen. Vergesst dieses Ziel nie und glaubt nicht, das wäre so einfach. Wir versuchen die zu erreichen, die die Nase voll von Religion und Gott schon abgeschrieben haben. Wundert euch also nicht, wenn wir auf Widerstand stoßen.«

»Warum sollen wir denen überhaupt nachgehen?«, wollte ein Student wissen. »Hat Jesus nicht hauptsächlich mit denen gearbeitet, die seine Hilfe auch wollten?«

»Es gibt viele christliche Studentenwerke auf diesem Campus«, sagte Alex. »Sie tun ein gutes Werk unter den schon gläubigen Studenten und helfen denen, die Interesse am christlichen Glauben haben. Wir sind hier, um die anderen zu erreichen.«

»Auch wenn sie gar nicht wollen?«, fragte ein Junge, der neu war.

»So könnte man sagen.«

»Einige wollen Hilfe«, sagte Jamie. »Sie haben das nur noch nicht realisiert.«

»Jeden Donnerstag haben wir zwischen zehn und drei Uhr einen Büchertisch am nördlichen Ende von Sproul Plaza«, sagte Alex. »Wir brauchen zwei oder drei Leute, die dort stehen. Der Rest von uns wird sich paarweise aufteilen und mit Studenten reden, die sich auf dem Campus aufhalten. Wir haben viele guten Bücher, die wir weitergeben können. Wir wenden außerdem auch gerne eine religiöse Meinungsumfrage an. Das ist eine gute Methode, Studenten und ihre Denkweisen kennen zu lernen. Ihr werdet merken, dass so mancher, der erst sagt, ihn interessiere Gott nicht, doch viele Fragen zu geistlichen Dingen hat. Einige sind sogar richtig offen.« Alex bemerkte, dass zwei Studentinnen, die neu an der Cal waren, gehen wollten. »Das funktioniert eigentlich ziemlich gut«, erklärte er der Gruppe. »Wir haben selten Ärger.« Die Mädchen gingen weiter, ohne sich umzudrehen. »Habt ihr heute schon gute Gespräche mit Kommilitonen gehabt?«, fragte er in die Runde.

»Sharon und ich haben ungefähr eine Stunde mit jemandem geredet«, sagte Preston. »Er erzählte uns, er glaube nicht an Absolutes. Er meint, alle Religionen gehören zu der gleichen kosmischen Realität.«

»Oder Ir-Realität«, sagte Jamie. »Wenn es keine absoluten Wahrheiten gibt, was macht er dann hier?«

»Er studiert Physik«, sagte Preston.

Rod schüttelte den Kopf. »Ein Physiker, der nicht an Absolutheiten glaubt — Willkommen im Berkeley des 21. Jahrhunderts.«

»Er erzählte uns, er habe einen Traum gehabt, in dem er ein Schmetterling gewesen sei«, sagte Sharon, eine Kunsthistorik-Studentin, die schon seit zwei Jahren zu UCF gehörte. »Seitdem fragt er sich, ob er ein Mensch ist, der geträumt hat, ein Schmetterling zu sein oder ein Schmetterling, der träumt, er sei ein Mensch.«

»Der hat doch bloß Descartes gelesen«, meinte Rod.

»Zhuângzi«, sagte Elliot, ein Mathematik-Student, der gerade seinen Doktor machte. »Chinesischer Philosoph … viertes Jahrhundert vor Christus … Taoist.«

»Wo auch immer der das aufgeschnappt hat«, schnaubte Jamie. »Er sollte lieber herausfinden, ob er Mensch oder Schmetterling ist, bevor er seine Diplomarbeit anfängt. Was soll ein Schmetterling mit einem Physik-Diplom anfangen?«

Einige lachten.

»Ich habe einen muslimischen Studenten aus Bahrain getroffen«, sagte Nick, Alex’ WG-Mitbewohner, der wie Alex ebenfalls Elektrotechnik studierte. »Er sagte, früher habe er den islamischen Glauben praktiziert. Ich habe ihm ein Johannes-Evangelium geschenkt. Ich glaube, er ist auf der Suche.«

Viele erzählten von ihren Gesprächen mit anderen Studenten. Die meisten Angesprochenen reagierten eher gelangweilt, einer wurde wütend, zwei zeigten Interesse.

»Ich habe mit einer jungen Frau namens Susan Dan gesprochen«, sagte Angela. »Sie ist aus Singapur. Sie strebt einen Abschluss in Biostatistik an. Ich werde mich nächste Woche wieder mit ihr treffen.”

»Das ist toll«, sagte Alex. »Ausländische Studenten sind meistens offener.«

Die Gruppe betete. Sie dankten Gott für seine Hilfe während ihres ersten Tages zurück an der Uni und dafür, dass er den Jungs bei der Konfrontation mit Coleman beigestanden hatte. Obwohl eine fröhliche Stimmung vorherrschte, war ihnen doch klar, dass ihr Dienst eigentlich eine ernste Angelegenheit war. Seelen standen auf dem Spiel.

»Ich möchte euch nur kurz erklären, wie wir vorgehen und was für Aktivitäten wir sonst noch anbieten«, erklärte Alex der Gruppe, als sie ihre Gebetsgemeinschaft beendet hatten. »Donnerstags machen wir unseren Büchertisch hier am Campus. Wir wollen, dass alle, die mitmachen, sich immer zur vollen Stunde wieder am Büchertisch einfinden. Dann hören die meisten Veranstaltungen auf und die Plaza wimmelt nur so von Studenten. Einer unserer Jungs wird eine kurze Botschaft sagen, in der der christliche Glaube vorgestellt wird. Wir brauchen dann jede Unterstützung.«

»Wundert euch nicht, wenn es einige Randalierer gibt«, sagte Jamie. »Sie pöbeln gerne rum, sind ansonsten aber harmlos. Anfangs bekommt man ein bisschen Bammel, irgendwann gewöhnt man sich dran.«

»Wir werden unsere Kurz-Predigten auch graphisch unterstützen. Wenn sich also jemand ein bisschen mit so was auskennt, möchte er mich doch bitte ansprechen."

»Hören viele zu?«, frage Angela.

»Das ändert sich immer mal. So zwischen 5 und 15, das weiß man vorher nie genau. Wenn wir viele Randalierer haben, kann die Zuhörerschaft auch schnell wachsen. Wichtig ist, dass wir nicht vergessen, dass unser Redner nur ungefähr fünf Minuten Zeit hat. Er zieht die Menschen an. Danach müssen wir anderen übernehmen. Sobald er also fertig ist, dreh dich zur nächst besten Person um und frag sie, was sie von seiner Rede gehalten hat. Wir haben herausgefunden, dass man so am besten ins Gespräch kommt. Noch Fragen?« Es gab keine. »Gut. Jeden Donnerstag um drei treffen wir uns dann hier, sprechen über den Tag und beten. Rod wird euch jetzt von unserem Bibelkreis erzählen.«

»Wir treffen uns jeden Freitagabend und studieren zusammen die Bibel«, sagte Rod. Er verteilte grüne Flyer. »Dort wollen wir mehr über Gott lernen, für unseren Dienst beten und miteinander Gemeinschaft haben. Wir treffen uns im Apartment von Preston und Elliot auf der College Avenue. Die Adresse steht hier unten.«

»Morgen Abend um acht«, sagte Alex. Er entließ die Gruppe und begrüßte so viele Studenten wie möglich, bevor sie weggingen. Bald waren nur noch Rod, Joe und er übrig.

»Das mit Coleman hast du gut gemacht«, sagte Rod zu Alex.

»Danke.«

»Hätt’ den Kerl fast zu Brei gehauen«, gab Joe zu. »Bin froh, dass ihr zwei dazwischen getreten seid.«

»Danke, dass du helfen wolltest«, sagte Alex.

»Joe und ich wollten dir noch gerne etwas zeigen«, sagte Rod. Alex sah in Rods Gesicht. Er konnte sehen, dass es etwas Ernstes sein musste. »Sicher.«

»Es ist nur ein paar Minuten von hier, den Hügel rauf. Besser, du siehst es mit eigenen Augen.«

5. Kapitel

Alex folgte Rod und Joe den South Drive hoch mitten durch das Herz des riesigen Universitätsgeländes. Rod ging voraus und schlug dabei ein flottes Tempo an. Sie stiegen die Stufen zur Campanile Esplanade hoch, eine im klassischen Stil mit Backsteinen und Granit gestaltete Plaza. Hier und da gibt es kleine Grasflächen und in symmetrischen Reihen gepflanzte Zier-Bäumchen. Den Blickpunkt bildet der Campanile, ein dreißig Stockwerke hoher Glockenturm mit einer Uhr, der dem Markusturm in San Marco in Venedig nachgebaut war. Er ist das weithin sichtbares Wahrzeichen von Berkeley. Jeden Mittag läutet das aus einundsechzig Teilen bestehende Glockenspiel und gibt ein kleines Konzert zum Besten, das man überall am Campus hören kann.

»Da hinten«, sagte Joe und wies auf eine kleine Holzbank in der Nähe des Turms. »Taylor, der Neue, und ich haben heute Morgen hier die Umfrage gemacht.« Sie näherten sich der Bank. »Hier saß ein Mädel, eine Studentin aus Peru. Ich habe ihr ein paar Standard-Fragen gestellt. Ihre Antworten waren voll typisch, also habe ich Dankeschön gesagt und ihr ein JohannesEvangelium geschenkt. Wir waren eigentlich schon fertig, als Taylor die plötzlich fragte, was mit ihr passieren würde, wenn sie sterben würde.«

»Ziemlich direkt«, sagte Alex.

»Sie meinte, das wüsste sie nicht. Dann hat er sie mit noch mehr Fragen gelöchert.«

»Taylor hätte nicht die Gesprächsleitung an sich reißen sollen«, sagte Rod.

»Heute war sein erster Tag und plötzlich dreht er sein eigenes Ding.«

»Wir werden noch viele Mitarbeiter-Schulungen machen. Ihr könnt Taylor keinen Vorwurf machen.«

»Es geht noch weiter«, sagte Rod.

»Der hat sie plötzlich unter Druck gesetzt«, erzählte Joe weiter. »Die zeigte zwar Interesse, aber mehr so aus Höflichkeit. Was macht der? Der holt seine Bibel raus und liest ihr Verse vor. Alles Verse, dass Sünder in die Hölle kommen.«

»Hält scheinbar nicht viel von Diplomatie«, sagte Alex.

»Dann hat der ihr alle möglichen Fragen gestellt, wie in so ’nem FernsehKreuzverhör. Hast du jemals gelogen? Hast du gestohlen? Hast du jemanden umgebracht? Ich meine, die ist noch keine vierundzwanzig und der tut so, als ob sie ein Kettensägen-Mörder wäre oder so was.«

»Und sie hat sich das gefallen lassen?«, fragte Alex.

»Was hätte die denn machen sollen? Der hatte die völlig in die Ecke gedrängt. Dann fragt der die, ob sie jemals Ehebruch begangen habe. Ich hätte dem fast aufs Maul gehauen.«

»Das hat er wirklich gefragt?«

»Ey, das war ihr voll peinlich. Fing die auf einmal an zu erzählen, dass sie mit ihrem Freund zusammenlebt, irgend ’nem Typen namens Paco, und plötzlich fängt die an zu plärren. Vermutet, dass ihr feiner Freund auch noch irgendwo ’ne Ehefrau mit Kindern hat und das macht sie echt fertig, hat voll das schlechte Gewissen deswegen.«

»Sie hat geweint?«, fragte Alex.

»Ja, die hat sich total mies gefühlt, aber anstatt die mal zu trösten oder so, sagt Taylor ihr nur, sie müsse Buße tun, bevor es zu spät sei.«

»Das hat er gesagt?«

»Dann hat die ihm alles gebeichtet; alles, was die jemals gemacht hat. Einen ganzen Haufen Mist. Die ist mit allen möglichen Kerlen ins Bett gestiegen, hat ihre Eltern belogen, sich am Wochenende voll laufen lassen, die ganze Bandbreite. Dann ist die vollends ausgetickt und hat nur noch Spanisch gelabert. Und Taylor — als ob der es verstehen würde — warnt die, dass die mit ihrem Freund unbedingt Schluss macht. Hey, die ist noch gar nicht gläubig und der fängt schon an, ihr Leben umzukrempeln.«

Einige Studenten liefen an ihnen vorbei. Alex wartete, bis sie außer Hörweite waren und setzte dann das Gespräch fort. »Wir werden MitarbeiterSchulungen durchführen.«

»Schulungen! Der Kerl braucht einen Schlag auf den Hinterkopf«, sagte Joe. »Der war so was von abgebrüht.«

»Wie ging es weiter?«, fragte Alex.

»Taylor schlug 1. Korinther 6,9 auf, du weißt schon, diese Verse über Unzüchtige, die nicht in den Himmel kommen werden und knallt ihr das vor den Bug. Du wirst nicht glauben, was dann passiert ist.«

»Vielleicht will ich’s lieber gar nicht wissen . . .«

»Taylor erklärt der, sie solle sich lieber hinknien und zu Gott rufen, dass der sie erretten möge.«

»Hier?« Joe deutete auf einen Flecken Gras. »Genau hier.«

»Was hat sie gemacht?«

»Die hat sich hingekniet und wie verrückt auf Spanisch gebetet.«

»Im Ernst?«

»Ja! Ich mein, ich hab mich nur umgeschaut und gedacht: Mann, was werden die Leute denken? Dann hat die noch lauter geheult, so gejammert und gezetert, wie die Leute im Mittleren Osten, wenn da ein Baby gestorben ist oder so was.«

Alex musste schlucken.

»Sie also weiter auf Spanisch«, sagte Joe. »Taylor betet stumm mit geschlossenen Augen, so wie in der Kirche. Ich denke: Oh Mann, gleich kommt der ihr Freund und macht aus uns Hackfleisch. Da drüben saß ein ganzer Haufen Studenten, die haben uns angestarrt, als hätten wir sie nicht mehr alle, und ich denk nur, wo soll das bloß enden?«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Alex.

»Ich weiß zwar nicht, wo der junge Mann herkommt«, sagte Rod, »aber was denkt der eigentlich, wer er ist? Johannes der Täufer?«

»Ich kenne ihn auch nicht so gut.«

»Glaubt er, sie käme in den Himmel, nur weil sie ihr Leben aufräumt?«, fragte Rod.

»Ich habe ihn auch gerade erst kennen gelernt. Ich kenne nur seinen Bruder und der ist in Ordnung«, sagte Alex.

»Ey, hör mal: Ich hab auch versucht, mein Leben allein aufzuräumen, bevor ich mich bekehrt habe«, sagte Joe. »Das läuft nicht.«

»Glaubst du, dass es das war, was Taylor ihr begreiflich machen wollte?«

»Weiß nicht, was ich glauben soll. Auf einmal merkt die, dass ihre Vorlesung schon angefangen hat und läuft davon. Taylor hat die nie nach ihrem Namen gefragt. Was sollen wir jetzt bitteschön machen?«

»Das Problem erstreckt sich nicht nur auf Taylor«, sagte Rod. »Wir haben viele neue Studenten. Bei vielen sind die Grundlagenkenntnisse recht dürftig. Ich bezweifle nicht, dass sie Christen sind, aber sie haben kein Fundament.«

»Wir werden Schulungen durchführen«, sagte Alex.

»Einige kommen aus echt abgefahrenen Gemeinden«, sagte Joe. »Wer kann schon sagen, was die glauben?«

»Es wird seine Zeit dauern, aber wir werden das schon in den Griff bekommen«, sagte Alex. »So ist das doch immer am Anfang.«

»Die Zeiten ändern sich, Alex.« Rod setzte sich auf dieselbe Bank, auf der das peruanische Mädchen gesessen hatte. »Jede Sekte der Welt schwirrt hier auf dem Campus herum. Immer wieder schießen neue Bewegungen aus dem Boden. Wir müssen vorsichtig sein. Hier draußen laufen wirklich seltsame Gestalten herum.« Er deutete Alex an, sich zu ihm zu setzen.

»Ich weiß«, sagte Alex und ließ sich neben ihm nieder.

»Ich habe mich in den Sommerferien auf mein Studium am Westminster Seminar vorbereitet. Pastor Shelton gab mir eine ganze Liste von Büchern, die ich lesen sollte. Das waren richtige Augenöffner, Alex.«

»Ich hab auch eins gelesen«, sagte Joe. »War wirklich gut.«

»Danach musste ich viel darüber nachdenken, was wir hier draußen eigentlich machen«, sagte Rod.

»Was soll das heißen?«

»Ich glaube, dass wir uns etwas geschlossener halten sollten, etwas sorgsamer vorgehen. Man kann heute nicht mehr alles unbesehen glauben.«

»Meinst du etwas Bestimmtes?«

»Wie viele machen bei uns mit, Alex? Dreißig, vierzig oder mehr, wenn mal alles läuft?«

»Ungefähr.«

»Unten am Büchertisch können wir sie im Auge behalten, aber was ist hier oben? Sie repräsentieren UCF, und du und ich tragen die Verantwortung.«

»Was schlägst du vor?«

»Jeder muss sich an gewisse Grundsätze halten«, sagte Rod. »Das ist vernünftig.«

»Wir brauchen gewisse Richtlinien und Regeln.«

»Okay.«

»Etwas in schriftlicher Form.«

»Wir haben doch die Bibel.«

»Ist ’n bisschen lang«, sagte Joe.

»Wir brauchen etwas Prägnanteres«, sagte Rod, »es muss kurz und präzise sein. Zum Beispiel ein Positionspapier, in dem wir unsere Doktrin festhalten, so was in der Art.«

»Vielleicht haben wir so was ja schon”, meinte Alex. »Kirk gab mir einen Aktenordner, bevor er letztes Frühjahr die Uni verließ. Da ist wahrscheinlich schon was drin. Wenn nicht, dann gibt es vielleicht eins in der Akte der UCF im Studentensekretariat.«

»Mir ist noch nie ein Positionspapier unter die Augen gekommen«, sagte Rod.

»Mir auch nicht«, sagte Joe.

»Vielleicht ist das ja genau das Problem«, sagte Rod. »Wenn niemand es gesehen hat, wer soll dann wissen, wo wir überhaupt stehen?«

»Ich kümmere mich darum«, sagte Alex. »Das dürfte kein Problem sein.«

6. Kapitel

Zorn. Oder doch Terror? Schwer zu sagen. Sie klickte mit ihrer Maus auf ein Lupen-Icon und fuhr mit dem Cursor über das Gesicht des Studenten. Drei weitere Klicks vergrößerten ihn um 400 %. Terror. Definitiv Terror. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Wer war das? Versuchten sie, ihn mit Gewalt zu einem Sekten-Mitglied zu machen? Oder gehörte er zu ihnen? Wollten sie ihn zwingen, an einer ihrer zwielichtigen Unternehmungen teilzunehmen? Hatte er gegen eine ihrer Regeln verstoßen?

Sie öffnete das zweite Foto. Es war ungefähr fünf Sekunden später mit einem Weitwinkel-Objektiv aufgenommen worden. Vier Männer umzingelten ihn, drei Weiße und ein Asiat. Er stand mit dem Rücken zu einem Baum und konnte nirgendwohin fliehen. Eine größere Menschenmenge umgab die Männer. Sie konnte sechzehn Personen auf dem Bild zählen, fünf männliche, neun weibliche. Sie schienen ihm zu drohen. Aber warum? Was hatte er getan? Oder auch nicht getan? Oder wollte er nicht tun?

Sie hatte nur den letzten Schlag gesehen, ein Stoß gegen die Brust, ausgeführt von dem Hünen. Das männliche Objekt, die Panik deutlich ins Gesicht geschrieben, war gegen den Baum geknallt. Das hatte die Aufmerksamkeit ihres geübten Reporter-Auges gefangen genommen und die Fotoserie ausgelöst.

Sie verließ ihren Schreibtisch und blickte aus ihrem Büro-Fenster im sechsten Geschoss der Eshleman Hall. Dort drüben konnte man gerade noch die untere Sproul Plaza in Richtung des Sather Tors erspähen. Es war nach Mitternacht und der Campus lag in Dunkelheit gehüllt. Sie bemühte sich, den Schauplatz des Kampfes zu erkennen, aber abgesehen von der Schwärze der Nacht versperrte die Ecke eines anderen Gebäudes ihre Sicht. Waren sie sauer auf ihn? Sollte es eine Warnung sein? Es musste schon etwas Wichtiges sein, sonst hätten sie ihn nicht in aller Öffentlichkeit gestellt.

»Das ist der Hammer«, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass sie der einzige Mensch in den dunklen Büros des Daily Californians war. Das einzige Licht warf ihre verchromte Schreibtischlampe. »Der Ober-Hammer!«

Sie kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück und untersuchte die Foto-Galerie auf ihrem Computer-Bildschirm. Sie hatte 46 Bilder von dem Zwischenfall machen können. Davon hatte sie schon 16 zur genaueren Untersuchung ausgesucht und sie an den Anfang des Verzeichnisses verschoben. Sie überprüfte noch einmal ihre Auswahl. Dies waren definitiv die Besten; das eine von dem jungen Mann mit den vor Panik geweiteten Augen war bei weitem das aussagekräftigste Foto. Sie war sich sicher, dass es gut auf die Titelseite passen würde, wenn sie nur herausfinden könnte, was eigentlich los gewesen war.

Sie klickte auf das Thumbnail des dritten Fotos und öffnete es. Laut Zeitanzeige hatte sie es 58 Sekunden nach dem ersten Foto aufgenommen. Der asiatische Kerl gab Befehle an den Rest der Gruppe, die unterwürfig zuhörte. Er schien sie komplett unter seiner Fuchtel zu haben. Das war ein deutliches Kennzeichen einer Sekte und das Ergebnis gründlicher Gehirnwäsche. Das hatte sie schon öfters gesehen.

Sie sah sich das vierte Bild an, auch mit einem Weitwinkel-Objektiv geschossen. Die Sektenmitglieder warfen etwas in den Müll. Sorna entleerte den Inhalt eines schwarzen Plastik-Müllbeutels auf ihren Schreibtisch. Zutage kamen drei Gegenstände, die sie eine Stunde nach dem Zwischenfall aus dem Abfallcontainer gefischt hatte. Sie untersuchte sie sorgfältig. Es waren Teile eines Tisches. Nur unter Aufwendung erheblicher Gewalt hatte man den zerstören können.

Sie griff in den Beutel und holte zwei Bücher hervor, die sie ebenfalls im Müll gefunden hatte. Das erste hieß: Darwins Blackbox: Wie die Biochemie die Evolution in Frage stellt. Ein schmutziger Fußabdruck zierte den zerfledderten Umschlag. Das zweite Buch war eine Bibel. Der Umschlag war zerrissen, die Seiten völlig hinüber. Hatten sie ihn gezwungen, diese Bibel zu schänden? War das eine ihrer Gehirnwäsche-Methoden? Ein Initiations-Ritus? Oder war sie bei dem Handgemenge beschädigt worden? Unmöglich zu sagen. Sie brauchte mehr Informationen. Sie entschloss sich, noch in dieser Nacht wieder zum Container zu gehen und nach mehr Beweisen zu suchen. Wenn sie den Morgen abwartete, könnten sie schon verschwunden sein.

Sie nahm ein Haargummi aus ihrem Schreibtisch und band ihre Haare zusammen. Im Müll zu graben war schmutzige Arbeit, besonders nachts, aber das machte ihr nichts aus. Sie hatte schon ihre Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht, als sie eine andere Gruppe untersucht hatte: ›die Brüder‹, auch bekannt als ›die Brüder und Schwestern‹, alias ›die Robert-Gruppe‹, alias ›die Müll-Fresser‹. Eine nomadische Sekte, eine religiöse Untergrundbewegung, die durch das Land zog und leichtgläubige Jugendliche rekrutierte. Sie lebten von abgelaufenen Nahrungsmitteln, die sie nachts aus den MüllContainern hinter Supermärkten fischten. Ihre preisgekrönte Berichterstattung über die Gruppe hatte ihr diesen Job als Enthüllungsjournalistin beim Daily Californian beschert.

Sie klickte das fünfte Bild an. Sie hatte es aus zehn Metern Entfernung aufgenommen. Näher hatte sie sich nicht herangetraut, als das geheime Treffen der Gruppe auf einer kleinen Lichtung auf dem Wäldchen am Universitäts-Gelände stattgefunden hatte. Schlaue Burschen. Kannte die Ecke selbst nicht.

Auch hier hatte der Asiat das Sagen. Sie hatte viele Aufnahmen von dem Treffen, aber nur wenige waren wirklich tauglich. Die Bäume hatten einfach die Sicht zu sehr verdeckt. Vier Bilder waren aber ganz gut geworden.

Auf dem ersten war ein dämlich aussehender Grünschnabel zu sehen. Sie vergrößerte das Bild. Er war blass, trug einen Topfschnitt, der so aussah, als hätte er ihn sich selbst verpasst, und eine riesige altmodische Brille, die ihm immer von der Nase rutschte. Er sah aus wie ein Erstsemestler. Wahrscheinlich haben sie den direkt an seinem ersten Tag im Studentenwohnheim gekascht. Das zweite Bild zeigte eine weibliche Person. Hispanisch, dunkles, schulterlanges Haar, zarte Figur und hübsch, aber mit einem rechthaberischen Gesichtsausdruck. Auf dem dritten Bild waren zwei Mädchen, die das Treffen direkt am Anfang wieder verlassen hatten. Sie hatte die beiden angesprochen und um ein Statement gebeten. »Die glauben, sie seien Gottes Sturmtruppen«, hatte das erste Mädchen ihr erzählt. »Irgend ’ne Sekte«, meinte die zweite. Die Aussagen waren kurz, aber unbezahlbar und bestätigten ihren Verdacht. Sie gratulierte sich, dass sie wieder einmal zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Eine Begabung, die alle großen Reporter teilten; das konnte man nicht lernen, damit musste man geboren werden, da war sie sich sicher.

Das vierte Bild war eine Weitwinkelaufnahme der ganzen Gruppe nach ihrer Zusammenkunft. »Das nenne ich interessant!«, murmelte sie und beugte sich weiter zum Bildschirm vor. Einige der Studenten hielten einen grünen Zettel in der Hand. Nachdem sie sich noch einmal den Abfallcontainer vorgenommen hatte, würde sie die Lichtung absuchen. Vielleicht war ein Zettel unabsichtlich dort liegen geblieben. Sie würde eine Taschenlampe brauchen. Sie öffnete ihre untere Schreibtischschublade und holte eine heraus.

Das nächste Foto war eine Nahaufnahme von dem Asiaten, dem Hünen und einem anderen, etwas untersetzten Typen, als sie den South Drive hoch liefen. Sie hatte es aus hundert Meter Entfernung geschossen. Die Verfolgung der Dreier-Gruppe hatte sich extrem schwierig gestaltet, da ihre kurzen Beine mit den langen Beinen der jungen Männer kaum hatten mithalten können. Außerdem war sie immer von Versteck zu Versteck gesprungen, um nicht gesehen zu werden, und musste dann wieder rennen, um nicht abgehängt zu werden. Das Foto war nicht brauchbar, man konnte die drei nur von hinten sehen. Ihr fiel jedoch auf, dass der Untersetzte die beiden anderen führte. War er vielleicht der Anführer dieser Sekte?

Sie klickte wieder zur Foto-Galerie und suchte nach einer besseren Aufnahme von ihm. Da war ja eine. Die hatte sie gemacht, als die drei jungen Männer bei der Campanile Esplanade gestoppt hatten. Er hatte ein kantiges Gesicht und einen eckigen Kopf, der durch den Bürstenhaarschnitt nur noch betont wurde. Er sah sehr wütend aus, zu allem entschlossen, keiner, dem man sich in den Weg stellen wollte, definitiv der Anführer.

Sie bewegte den Cursor auf das nächste Bild. Es zeigte den Asiaten, den Hünen und ihren Anführer in der Nähe des Glockenturms. Der Große zeigte auf einen Flecken Gras am Fuße des Turms. Sie vergrößerte das Bild. Das war nichts. Komisch. Was machten die da? Wollten sie dort etwas ablegen? Einen Sprengkörper vergraben? Sie stellte sich vor, wie der hundert Meter hohe Turm zusammenstürzte und welchen Schaden das verursachen würde. Mann, das wäre mal wirklich eine öffentlichkeitswirksame Erklärung!

Die nächsten sechs Bilder gehörten zu einer Serie von Aufnahmen, die sie von dem Anführer und dem Asiaten gemacht hatte. Sie waren den Hügel wieder runter gelaufen, über die Sproul Plaza, die Stufen runter zur Unteren Sproul Plaza, dann fast direkt an ihrem Büro im Eshleman-Hall-Gebäude vorbei, runter den Bancroft Way und bis zur Dana Street. Dort trennten sich die beiden. Sie war dem Asiaten gefolgt. Das war ein Fehler gewesen, wie sie im Nachhinein erkannte. Sie hätte dem Anführer nachgehen sollen. Aber egal, das Verhalten des Asiaten war auch interessant. Er hatte sie sechs Blocks die Dana Street runter bis zur Parker Street geführt, wo er sich nach links gewendet hatte und wieder vier Blocks zurück zur Benvenue Avenue gegangen war. Dort hatte er ein kleines, zweigeschossiges Mietshaus betreten. Warum der Umweg? Er hätte in der Hälfte der Zeit dort sein können, wenn er den direkten Weg gewählt hätte. Vermutete er, dass er verfolgt wurde?

Sie betrachtete ein Foto, das sie von dem Gebäude gemacht hatte, das er betreten hatte. Es bestand aus sechs Wohneinheiten und war mit dunklen Holzschindeln bedeckt. Jede Wohnung hatte einen kleinen Balkon. Nichts Besonderes. Moment mal! Sie beugte sich vor. Benvenue Avenue? Konnte es wahr sein?

Sie holte eine Akte aus ihrem Schreibtisch. In ihr waren zwei Dokumente, die eine entscheidende Rolle bei ihrer Berufswahl als Enthüllungsjournalistin gespielt hatten. Sie stammten aus der Original FBI-Akte von einem der größten Kidnapping-Fälle in der amerikanischen Geschichte. Sie hatte sie aus dem Justizministerium bekommen, weil sie sich auf das Gesetz über die Auskunftspflicht öffentlicher Einrichtungen berufen hatte. Leider waren es nur Fotokopien, aber trotzdem durchfuhr sie jedes Mal ein Schauer, wenn sie sie in die Hand nahm.

Das erste Dokument war der Original FBI-Bericht, der einen Tag nach der Entführung aufgenommen worden war. Der mit dem Fall betraute Agent hatte ihn verfasst. Sie las ihn schnell, auf der Suche nach dem Namen des Tatorts.

Um ungefähr 21.38 Uhr am Abend des 4. Februars 1974 ist Patricia Hearst, alter ungefähr 21 Jahre, Tochter von Randolph A. Hearst, Präsident der San Francisco Examiner Zeitung, mit Waffengewalt aus ihrer Wohnung in Berkeley, Californien, entführt worden. Täter waren eine Weiße und zwei Farbige. Bei Miss Hearst, Studentin an der Universität von Californien in Berkeley und wohnhaft in App. Nummer 5, 2603 Benvenue, Californien, hatte es an der Tür geklingelt.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sie vergessen hatte, die genaue Adresse des Gebäudes, in dem der Asiat lebte, zu notieren. Sie überflog den Rest des FBIBerichts und suchte nach anderen Details über den Tatort.

Eine weibliche, weiße Person gab vor, eine Autopanne zu haben und bat, das Telefon benutzen zu dürfen. Als Miss Hearst die Tür öffnete, drangen zwei männliche, farbige Personen mit automatikwaffen ein. Sie eröffneten das Feuer und schlugen auf Mr. Stephen Weed, den Verlobten von Miss Hearst, ein, der ebenfalls zugegen war. Sie verschleppten Miss Hearst. Die eltern des Opfers informierten die örtlichen Polizeibehörden und verlangten das sofortige Einschalten des FBIs.

Nichts Brauchbares.

Sie öffnete Google Maps auf ihrem Rechner, gab die Adresse ein und klickte auf »Search«. Die sich öffnende Landkarte zeigte ein Gebäude in der Nähe der Ecke Benvenue und Parker. Es war ungefähr dort, bis wohin sie den Asiaten verfolgt hatte. Sie klickte auf »Satellite«. Ein Luftbild des Gebietes öffnete sich. Ist das etwas das gleiche Gebäude? Die Auflösung war zu schlecht, um eine sichere Aussage machen zu können. Sie klickte auf ein Symbol, das einen Bilderrahmen zeigte und öffnete die Google Bildersuche. Sie gab die Adresse ein. Thumbnails von sechs Bildern des Gebäudes öffneten sich. Das ist es! Der Asiat lebte in dem gleichen Apartment-Komplex, aus dem Patty Hearst 1974 entführt worden war. Bestimmt kein Zufall.

Welches Apartment? Auf zwei Bildern waren Kugeleinschläge in der Außenwand des Gebäudes zu erkennen, sie stammten von den Kidnappern. Ein weiteres zeigte den Balkon der Wohnung. Es war die gleiche Einheit. Sie war sich ziemlich sicher.

Sie untersuchte das zweite FBI-Dokument, mehr um sich inspirieren zu lassen und nicht wegen des Inhalts. Es war eine Kopie der ersten Verlautbarung der Täter. Sie hatten sie damals an die KPFA-Radiostation gesandt, die Rundfunkstimme der Berkeley Gegenkultur während dieser bedeutsamen Jahre. Eine Stimme aus einer Ära, die nun schon längst vergangen war.

Symbionese Liberation Army, Erwachsenen-Einheit der westlichen Region, Kommuniqué Nr. 3, 4. Februar 1974. Betreff: Kriegsgefangene Patricia Campbell Hearst, Tochter von Randolph A. Hearst, gemeinsamer Feind des Volkes. Der Haftbefehl befugt: Arrest und Schutzgewahrsam, bei Widerstand Hinrichtung. Der Haftbefehl wurde von dem Gerichtshof des Volkes ausgestellt.

Sie stand auf und lief lesend vor ihrem Schreibtisch auf und ab.

An dem genannten Datum führten Kampfeinheiten der United Federated Forces der Symbionese Liberation Army den Haftbefehl gegen Patricia Campbell Hearst aus. Ausgerüstet war die Truppe mit Cyanid gefüllten Waffen. Dieses Gericht verfügt, dass die genannte Person von der Kampfeinheit verhaftet und in Sicherheitsverwahrung genommen werden soll. Sollte von den Behörden der Versuch unternommen werden, die Gefangene zu befreien oder sollte ein Mitglied der SLA verhaftet oder verletzt werden, wird die Gefangene hingerichtet.

Aus dem Rest des Briefes ging hervor, dass man den Befehl gegeben hatte, eine »Schießen um zu Töten«-Politik zu betreiben. Man verlangte, die beiderseitige Kommunikation in allen Medien zu veröffentlichen. »BEI NICHTBEACHTUNG DIESER REGELN WIRD DIE SICHERHEIT DER GEFANGENEN GEFÄHRDET.« Es gab keine Lösegeld- oder sonstigen Forderungen, sondern nur das Versprechen: »WEITERE ANWEISUNGEN WERDEN FOLGEN.« Unterschrieben war das Ganze mit »SLA.« und dem Nachsatz: »TOD DEM FASCHISTISCHEN INSEKT, DAS JAGD AUF DAS LEBEN DER MENSCHEN MACHT.«

Sie ballte ihre Hand zur Faust und rief: «ARGHHH! Wenn ich damals schon gelebt hätte!«

Sie setzte sich wieder an den Schreibtisch, stütze den Kopf auf die Hände und starrte auf ihren Bildschirm. Jetzt weht ein anderer Wind in Berkeley, so was passiert hier nicht mehr. Die drei männlichen Personen vor dem Campanile starrten sie an.

Vielleicht doch.

Sie machte das Licht aus und wandte sich zur Tür. Jetzt war keine Zeit für sentimentale Gefühlsduselei. Sie hatte noch eine Menge Arbeit vor sich.

7. Kapitel

Das dreistöckige Mietshaus, in dem Preston und Elliot lebten, war wie geschaffen für den Bibelkreis der UCF. Das innen und außen weiß gestrichene Gebäude verfügte über geräumige Zimmer mit großen Fenstern und hohen Decken. Es gab keinen Aufzug. Eine breite, mit Teppich ausgelegte Treppe wand sich in der Mitte des Mietshauses nach oben. Die Wohnungen verfügten zwar nicht über eine Klimaanlage, aber normalerweise war auch keine nötig. Die kühle Seeluft, die aus der Bucht von San Francisco herüberwehte, segnete Berkeley mit angenehmen Temperaturen. Wenn sich die Wohnung von Preston und Elliot im zweiten Geschoss jedoch mit Studenten füllte, entwickelte sie ihr eigenes Mikroklima. Kirk, der frühere Vorsitzende der UCF, der damals seinen Doktor in Physik machte, hatte einmal ausgerechnet, dass 12 Kühe genügend Wärme ausstoßen würden, um ein norwegisches Bauernhaus bequem durch den Winter zu bringen. Laut seiner Rechnung würden 68 Studenten die gleiche Wirkung erzielen. Egal, ob man die Gleichung verstand oder nicht, jeder wusste, dass freitagabends unbedingt die Fenster und Türen geöffnet bleiben mussten, ansonsten wurde die Wohnung zur Sauna. Ein vorbeifahrender Bus verkomplizierte die Angelegenheit ein bisschen, weil sein dröhnender Motor jegliche Konversation unmöglich machte. Also hatte jemand die Aufgabe, das vordere Fenster ungefähr alle 20 Minuten kurz zu schließen.

Neben dem Problem des Buslärms gab es noch ein anderes oder jedenfalls hätte es eigentlich eins geben müssen — die Lautstärke der Gruppe selbst. Der Bibelkreis begann mit circa 30-minütigem Gesang. Zwei bis drei Gitarrenspieler, je nachdem, wer da war, sorgten für musikalische Unterstützung. Oft brachte auch jemand ein Cajon mit oder eine Djembe oder irgendwelche anderen Rhythmusinstrumente. Durch die offenen Fenstern und Türen konnte man das Singen durchs ganze Haus hören. Während der folgenden Bibelarbeit wurde fröhlich diskutiert und im Anschluss daran blieben die Studenten oft bis weit nach Mitternacht und schwatzten miteinander. Warum sich noch keiner der anderen Mieter beschwert hatte, war ihnen allen ein Rätsel.

Auch wenn die Tür hauptsächlich offen stand, um Frischluft hereinzulassen, so sagte das doch auch etwas über UCF aus. Alle waren willkommen, Christen und Nicht-Christen, Christen jeder Couleur, Angehörige anderer Religionen, Agnostiker, Atheisten. Jeder war willkommen und nichts geschah im Verborgenen. Die Anwesenden sagten, was sie dachten.

An diesem ersten Freitag im Herbstsemester hatten sich bis zwanzig Uhr 28 Studenten eingefunden. Die meisten saßen im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerteppich, andere saßen auf bunt zusammengewürfelten Flohmarkt-Möbeln, die gegen die Wände geschoben worden waren. Bald würde der Raum voll sein und Nachzügler würden ins Esszimmer, in den Flur oder sonst wohin verbannt werden; eine regelmäßige Praxis, die niemanden zu stören schien.

Taylor leitete den Gesang an diesem ersten Freitag der Vorlesungszeit. Obwohl er neu war, hatte Alex ihn darum gebeten, denn Taylor war ein erstklassiger Gitarrenspieler mit einer besonderen Ausstrahlung. Als das Singen vorüber war, arbeitete Alex sich nach vorne vor.

»Wir sind heute Abend hergekommen, um von Gott zu lernen und herauszufinden, was er über das Leben, über Errettung und, besonders wichtig, über sich selbst zu sagen hat. Bei uns gibt es drei Regeln. Erstens: Alle müssen sich beteiligen. Man kann eine Frage stellen oder seine Meinung sagen, aber man muss etwas sagen. Zweitens: Man darf seine Meinung sagen, aber wenn man ernst genommen werden will, dann muss man sie anhand der Bibel begründen. Drittens: Man darf niemanden kritisieren, keine Kirchen oder Gemeinden oder ihre Vorgehensweisen. Wir sind hier, um über die Bibel zu sprechen und nicht, um andere Leute zu richten.« Er holte einige Bibeln vom Regal hinter sich und verteilte sie an alle, die keine mitgebracht hatten. »Wir machen da weiter, wo wir letztes Semester aufgehört haben. Jamie, Rod und ich werden uns bei der Gesprächsleitung abwechseln. Preston, würdest du den Abschnitt des heutigen Abends bitte vorlesen? Wir befinden uns in Johannes 6, Verse 27 bis 40.«

Während Preston vorlas, suchte Alex sich einen Platz auf dem Boden. Er ordnete seine Notizen und sammelte seine Gedanken. Obwohl er auch schon im letzten Jahr ein paar Mal den Bibelkreis geleitet hatte, war dies doch das erste Mal, dass er als Vorsitzender des UCF lehrte und er spürte, wie sein ganzer Körper angespannt war.

»Danke Preston«, sagte Alex, als der Text fertig vorgelesen war. »Schauen wir uns einmal die ersten beiden Verse an. Jesus sagt hier: ›Wirket nicht für die Speise, die vergeht, sondern für die Speise, die da bleibt ins ewige Leben, die der Sohn des Menschen euch geben wird. Denn diesen hat der Vater, Gott, beglaubigt.‹« Alex legte seine Bibel auf den Schoß und sah die Gruppe an. »Was meint Jesus hier?«

»Er vergleicht den Wert von normalem Essen mit geistlicher Nahrung«, sagte Sharon. »Das eine ernährt den Körper, das andere die Seele.«

»Gut, Sharon«, sagte Alex. »Wo bekommt man diese ewige Speise laut diesem Abschnitt her?«

»Von Jesus«, antwortete Nick.

»Das stimmt«, sagte Alex. »Würde jemand den nächsten Vers übernehmen.«

Vers für Vers leitete Alex die Gruppe durch den Abschnitt und stellte Fragen, kommentierte die Antworten und half den Studenten, den Bibeltext zu verstehen. Das Gespräch lief gut und Alex entspannte sich.

Als sie zu Johannes 6,35 kamen, beteiligte sich Joe: »›Ich bin das Brot des Lebens: Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.‹«

»Wie kann man Jesus als das Brot des Lebens zu sich nehmen?«, fragte Alex.

»Indem man zu ihm kommt«, antwortete Jamie. »Jesus sprach zu ihnen: ›Wer zu mir kommt, wird nicht hungern.‹«

»In dem Vers sagt er auch: ›Wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten‹«, sagte Alex. »Was stimmt denn dann? Nehmen wir Christus an, indem wir zu ihm kommen oder indem wir an ihn glauben?«

»Durch beides«, antwortete Angela. »Die beiden Worte sind synonymisch gebraucht.«

»Ich glaube, dass da schon ein Unterschied besteht«, sagte Leesha, eine Theologiestudentin. »Kommen und glauben sind zwei ganz unterschiedliche Handlungen.«

»Was meint ihr anderen denn?«, fragte Alex. »Das Gleiche oder Unterschiedliches?« Es gab einiges Gemurmel, Seitenrascheln, fragende Gesichter, aber niemand antwortete. »Also, ich wusste es selbst nicht. Deshalb habe ich Michael gefragt.«

Viele der Studenten kannten Michael noch von vergangenen Semestern UCF-Arbeit. Einige hatten ihn auch gerade erst letztes Wochenende kennen gelernt, als er ein Seminar für sie abgehalten hatte, in dem es um verschiedene Bibelstudien-Methoden gegangen war. Alex erklärte, dass Michael ein Doktorant aus Deutschland war, der donnerstags oft am Büchertisch mithalf. Er arbeitete gerade im Nah-Ost-Institut an seiner Doktorarbeit und war eine großartige Quelle, wenn es um Bibelwissen, die jüdische Kultur und die Sprachen der ursprünglichen Bibeltexte ging. Man erkannte ihn leicht an seinem starken deutschen Akzent, seinen rot-blonden Haaren, seinem Ziegenbärtchen und seiner kleinen, rechteckigen randlosen Brille.

»Michael hat mir erklärt, dass man in unserer westlichen Welt mit Silben reimt, im Mittleren Osten aber mit gedanklichen Verbindungen. Man wiederholt eine Aussage mit einer ähnlichen Satzstruktur. Genau das begegnet uns in unserem Bibelabschnitt. Hört euch mal den Reim an: ›Wer zu mir kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten‹. Der gleiche Gedanke, aber mit unterschiedlichen Worten ausgedrückt. Für einen Juden hätte es poetisch geklungen. Ist das für euch nachvollziehbar?«

»Also bedeutet zu Jesus kommen und an ihn glauben im Grunde genommen das Gleiche«, sagte Leesha.

»Stimmt«, sagte Alex. »Michael nannte es Parallelismus membrorum, Parallelität der Satzglieder. Er meinte, das sei das Hauptmerkmal jüdischer Dichtkunst. Leuchtet das jedem ein?« Viele Studenten nickten. »Gut. Dann lies jemand den nächsten Vers.«

Sharon meldete sich freiwillig. »›Aber ich habe euch gesagt, dass ihr mich auch gesehen habt und nicht glaubt.‹«

»Wie verstehst du diesen Vers?«, fragte Alex.

»Am Anfang dieses Kapitels hat Jesus 5 000 Menschen mit zwei Fischen und fünf Broten gesättigt«, antwortete sie, »aber trotzdem glaubten einige immer noch nicht, dass er der jüdische Messias sei.«

»Das stimmt«, sagte Alex. »Sie sahen die Wunder, aber trotzdem glaubten sie nicht. Angela, würdest du den nächsten Vers übernehmen? Johannes 6, Vers 37.«

»›Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen, und wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus stoßen‹«, sagte Angela.

Während er zuhörte, wie Angela den Vers vorlas, bemerkte Alex etwas im ersten Satz, das ihm bei seiner Vorbereitung auf den Abend entgangen war. Er las es noch einmal für sich: ›Alles, was mir der Vater gibt, wird zu mir kommen.‹ Er dachte einen kurzen Augenblick nach, dann fragte er: »Was lehrt Jesus hier?« Dieses Mal war sich Alex selbst nicht sicher.

Joe meldete sich als Erster. »Gott der Vater muss einem den Glauben an Jesus geben. Wenn er das nicht tut, glaubt man nicht.«

»Das ist eine Sichtweise«, sagte Alex, der sich immer noch nicht sicher war, was der Vers eigentlich bedeutete. »Was meinen die anderen?«

»Man muss den Vers im Licht der ganzen Bibel sehen«, sagte Jamie. »Die Bibel lehrt, dass jeder Mensch selber entscheidet, ob er glauben will oder nicht.«

»Ich stimme Jamie zu«, sagte Angela. »Der Glaube ist nicht etwas, was Gott einem gibt oder auch nicht. Glaube ist ein persönlicher Entschluss, eine Willensentscheidung.«

»Wenn wir aber die Aussage dieses Verses nehmen, hätte dann nicht Joe Recht?«, fragte Rod. »Ich sehe das auch so«, sagte Sharon. »Der Vers scheint auszusagen, dass Gott manchen Leuten den Glauben gibt und anderen nicht.«

»Okay, tja, vielleicht sollten wir uns ein anderes Mal tiefgehender mit dieser Frage beschäftigen«, sagte Alex. »Weil wir heute Abend noch einige Verse vor uns haben, wollen wir jetzt weiter machen.«

»Warum müssen wir uns damit tiefgehender beschäftigen?«, fragte Rod. »Hier steht doch schon alles.«

Es wurde still. Jeder, auch Alex, erkannte, dass Joe und Rod Recht hatten.

»Es ist wie mit diesen Dummköpfen an der Uni. Sie sind ja alle ach-soschlau, aber wie viele von denen kapieren, was wir ihnen sagen wollen?«, fragte Joe.

»Es gibt viele Gründe, warum Menschen nicht glauben«, sagte Alex.

»Ja, aber letztlich läuft alles darauf hinaus, ob Gott einem den Glauben gibt oder nicht. Gestern habe ich —«

»Danke Joe, wir müssen weitermachen.«

»Ich wollt’ nur sagen, dass ich gestern mit neun Studenten gesprochen habe. Keiner von denen hatte auch nur einen Funken Glauben. Die ham nich ein Wort von dem verstanden, was ich ihnen erzählt hab. Und in diesem Vers steht, warum.«

»Okay, danke für deinen Input«, sagte Alex. Er beeilte sich, den Rest des Abschnitts hinter sich zu bringen und stellte nur noch wenige Fragen. Die meisten Studenten machten noch mit, aber Alex spürte, dass viele über das nachdachten, was Joe gesagt hatte.

»Normalerweise schließen wir immer mit einer Illustration«, sagte Alex, nachdem er den Bibeltext zu Ende erklärt hatte, »aber die, die ich für heute Abend vorbereitet hatte, passt doch nicht so gut, wie ich eigentlich gedacht hatte, also überspringen wir den Teil.« Er bat Jamie, zum Abschluss zu beten.

Sobald Jamie Amen gesagt hatte, kehrten alle Gespräche zum Thema des Abends zurück. Alex flüchtete in die Küche. Er war innerlich aufgewühlt, weil er den Bibeltext nicht hatte besser erklären können und er nun diese Kontroverse verschuldet hatte.

8. Kapitel

Als die Uhr des Glockenturms Elf schlug, strömten die Studenten aus den Gebäuden und auf die Wege des Campus. Für die Mitglieder von University Christian Fellowship bedeutete es, dass sie wieder zurück am Büchertisch sein sollten, wo Preston zum ersten Mal in seinem Leben eine kurze Botschaft weitergeben würde. In der Kurzpredigt würde er den christlichen Glauben vorstellen. Alex und Jamie verteilten immer noch Literatur vor Dwinelle Hall, als sie die Glocken hörten. Sie liefen sofort zurück zur Sproul Plaza. Von Norden her kommend, konnten sie schon von weitem sehen, dass sich eine ungewöhnlich große Menschentraube um den Büchertisch versammelt hatte.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Jamie zu Alex.

»Hoffentlich nicht schon wieder Coleman«, antwortete Alex.

Sie beschleunigten ihren Gang. Als sie ein Stück näher gekommen waren, konnten sie den Grund des Auflaufs sehen. Zwei Randalierer verhöhnten Preston.

»Niemand hier wird euch diesen Müll abkaufen«, rief ein grobschlächtiger Bursche am Kopf der Menge. Er sah aus wie ein Gewichtheber. Ein schwarzer Bart ließ ihn nur noch grimmiger erscheinen.

»Jesus ist seit 2 000 Jahren tot. Kapiert das endlich«, rief ein zweiter Student neben ihm. Er sprach mit einem Bostoner Akzent und sah ebenso aus, als ob er mit Hanteln in der Hand spazieren gehe. »Das Ganze ist nur ein Mythos.«

»Man kann nicht alles glauben, was man liest«, brüllte der Typ mit dem Bart.

Preston ignorierte die beiden Randalierer und sprach weiter zu den Menschen, jetzt ungefähr 40 an der Zahl. »Im Neuen Testament lesen wir verschiedene Augenzeugenberichte, die die Auferstehung Christi bestätigen«, sagte Preston. »Die gleichen Leute, die ihn am Kreuz sterben sahen, sagten nun, dass er lebt.«

»Das hier ist eine Uni«, rief der Bärtige. »Erspar uns deine Märchen.«

»Die Auferstehung Christi ist kein Märchen«, betonte Preston in seinem höflichen indisch-britischen Akzent. »Und genauso wenig eine Sage. Es ist eine historische Tatsache. Es gibt viele ernstzunehmende Beweise, die diese Behauptung untermauern. Darum haben die Christen durch all die Jahrhunderte daran festgehalten, dass Er der Sohn Gottes und der Retter der Welt ist.«

»Ich bin keiner von denen«, rief der Bostoner.

»Vielleicht würdest du ja gerne einer werden?«, fragte Preston.

»Auf gar keinen Fall.«

»Ich hoffe, du wirst es dir wenigstens fairerweise anhören?«, erwiderte Preston.

»Ich habe Wichtigeres zu tun«, antwortete der Bostoner.

»Was könnte wichtiger sein?«, fragte Preston. »Die Behauptung, dass Jesus lebt, ist entweder die wichtigste Wahrheit oder die dickste Lüge, die jemals erzählt wurde.«

»Es ist die dickste Lüge«, rief der Typ mit dem Bart. »Wann wacht ihr endlich auf?«

»Die Kirche hat uns Jahrhunderte lang mit ihren Lügen an der Nase herumgeführt«, rief der Bostoner.

Preston ignorierte die beiden nun und machte mit seiner Kurzpredigt weiter. Er sprach über die Beweise der Auferstehung Christi und versuchte, die Aufmerksamkeit der mittlerweile 80 oder mehr Menschen auf sich zu ziehen, aber die beiden Radaubrüder brüllten immer wieder dazwischen.

»Meinst du, Preston kommt klar?«

»Werden wir wohl gleich herausfinden. Wir können jetzt nicht mehr eingreifen.«

»Wenn Jesus lebt, dann ist er der, für den er sich ausgegeben hat«, erklärte Preston der Menge. »Er ist der Sohn Gottes, der jüdische Messias.«

»Er ist tot«, krakelte der Bostoner, »laaaaaange tot.« Er und sein Freund lachten.

»Es ist eine Lüge«, brüllte der Bärtige. »Ihr seid drauf reingefallen und kapiert es noch nicht einmal.«

Die Gaffer lachten.

»Wenn Jesus tot ist, dann war er ein Betrüger«, erklärte Preston der Menge. »Wenn Jesus tot ist, dann ist das Christentum eine Lüge.«

»Langsam begreift er es«, rief der Bostoner. »Das Ganze ist ein riesiger Witz; ein bescheuerter Witz, den nur ein Blödmann nicht durchschauen würde.«

»Wer lässt euch Idioten eigentlich auf den Campus?«, rief sein Freund. Das Gelächter der anderen heizte den Radaubrüdern nur noch mehr ein. Ihr Spott wurde lauter und aggressiver.

Preston hievte einen großen Plakatkarton auf eine Staffelei neben dem UCF-Büchertisch. Es war eine Art Flussdiagramm der logischen Konsequenzen der Auferstehung Jesu. Ganz oben stand in Großbuchstaben: JESUS LEBT! Eine kleine Linie ging nach unten und verzweigte sich dann nach links und rechts. Auf der linken Seite stand RICHTIG, auf der rechten FALSCH.

»Seht euch mal dieses Diagramm an«, bat Preston die Menschenmenge.

»Die Jünger Jesu behaupteten, dass Jesus lebt. Ihre Behauptung war entweder richtig oder falsch. Da gibt es keine andere Möglichkeit.«