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Die erste Geschichte ist eine Farce. Sie handelt von einem Geflügelzüchter, dessen Hühner plötzlich keine Eier mehr legen. Die zweite Geschichte ist eine Verwechslungskomödie. Sie handelt von einer Baufirma, die im falschen Haus landet. Die dritte Gesichte ist eine Gesellschaftssatire. Sie handelt von zwei Nachbarsfamilien, die im Clinch liegen. Die vierte Geschichte ist eine Kriminalstory. Sie handelt von einem Hausarzt, der bei seinen Abrechnungen betrügt. Die fünfte Geschichte ist ein Figurenmonolog und handelt von einem stummen Jungen, der Fische verkauft.
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2022
© 2022 Semjon Volkov
ISBN Softcover: 978-3-347-55446-7
ISBN Softcover: 978-3-347-64845-6
ISBN Hardcover: 978-3-347-55448-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-64857-9
ISBN E-Book: 978-3-347-55449-8
ISBN E-Book: 978-3-347-64859-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
INHALT
ZERBROCHENE EIER
SCHWER
DER ZAUN
DOKTOR MASUDI
FISCHMAUL
ZERBROCHENE EIER
„Du Drecksack, du hast mir lesbische Hennen angedreht! Zwölf Stück! Glaubst du, du kannst mich verarschen?“
Der fette Ertel guckt hoch, wirkt erst verdutzt. Bis er erkennt, wer -
„Die Dreckviecher gehen sich gegenseitig hinterher. Un hopp, hocken sie sich aufeinander drauf und machen sich gegenseitig geil. Ich kann’s beweisen, hab’s selber gesehen.“
Wer den alten Rommel kennt, weiss womit er es zu tun hat: der Alte ist in der Umgegend ein berüchtigter Choleriker, macht anderen das Leben sauer. Ein böses, kleines altes Männlein mit altmodischer Brille, vor dem nichts und niemand sicher ist. Vor allem nicht die Hühner, die er sich hält. Der Alte hat ein ganzen Campingwagen voller Hühner. Dazu einen Hahn, einen kleinen, schwarzen Teufel, so herrisch und unberechenbar wie er selbst. Darauf ist der Alte besonders stolz, wie ein Vater auf den eigenen Sohn.
Überhaupt sind die Hühner sein ganzer Stolz. Der Alte hat zuhause mehrere hiesige Urkunden und Medaillen: ‚Gerhard Rommel: 1. Preis für herausragende Leistung als Geflügelzüchter. - Goldmedaille für die beste Legehenne. - Zweimal hintereinander 1. Platz für die beste Bruthenne.’ Das soll ihm erst mal einer nachmachen. Und jetzt hat ihm der fette Ertel Bruthennen verkauft, die plötzlich … Seit zwei Wochen wartet er vergeblich, dass endlich das erste Ei gelegt wird, die erste Eischale aufbricht, das erste Küken in diesem Sommer schlüpft. Aber nix, Pustekuchen.
Der Blick des Alten sagt alles. Betrug! Verarsche! Und das bei einem Mann wie ihm!
Der fette Ertel schnauft. Da kann man nix machen. Der Alte ist ein schwieriger Kunde. Es ist immer besser ihn von hinten zu sehen; am besten man sieht und vor allem hört ihn überhaupt nichts. Da vermeidet man jede Menge Reibereien und Stress. Außer man hat es mit Federvieh, betreibt den Verkauf im örtlichen Verein für Kleintier- und Geflügelzucht. Dann ist der Kontakt mit Privatzüchtern unumgänglich, und man ist solchen Leuten wie dem alten Rommel praktisch ausgeliefert.
Erst neulich ist der Alte im Vereinshaus aufgetaucht und hat wegen der neuen Futtermischung einen mordsmäßigen Aufstand gemacht.
- Sag ma, was verkaufst du mir da für ’n Dreck!
- Was heißt ‘n hier Dreck? Was is ’n eigentlich los?
- Dein Futter!
Kommt immer wie der Teufel aus der Kiste, fährt aus der Haut und spuckt Gift und Galle - ob ein anderer was dafür kann oder nicht. Steht dann mit der rechten Faust in der Tasche, als hätte er ein verstecktes Messer. Und jetzt hat ihn der Dicke schon wieder auf dem Hals, schwitzt, sieht verstört aus.
„Äh, also … stottert der fette Ertel los. Er wirkt ängstlich, sieht in die gereizte Visage des Alten.
Obwohl er zwei Köpfe größer ist als das alte Männlein und ungefähr doppelt so schwer, geht ihm die Flatter. Seine Hände schwitzen, streichen hilflos über seinen Schmerbauch. Der Alte ist schließlich unberechenbar, wer weiss … In solchen Augenblicken hasst er seine Arbeit.
„Also … Sauerei! Unglaublich! Das gibt’s doch nicht. Aber bist du sicher, sind die wirklich … ich meine, tastet sich der fette Ertel vorsichtig ran. „Vielleicht ist ja auch der Hahn … “ „Der Hahn? Hast du se nicht mehr alle? Soll ich dir mal auf den Arsch treten, du Schwabbel?“
Der fette Ertel macht ein verblüfftes Gesicht, während der Alte nur stocksauer ist. Nichts gegen seinen Hahn. Da wird er erst recht wild. Sein Hahn ist über jeden Zweifel erhaben. Der versteht sein Handwerk, der scharrt und pickt und kräht. Der greift an, der zeigt den Hühnern wo’s langgeht. Der bringt die Hennen, die aus der Reihe tanzen, auf Vordermann. Der ist ein Steher, ein Champion, ein Stecher. Der kann immer, der kann …
„Also, was quatschst du da für ein Blech!“ krächzt der Alte aufgebracht weiter. „Was kann denn der Hahn dafür, wenn sich diese dummen Hennen nicht besteigen lassen, hm?“
Der Alte steht da in seinen breiten braunen Arbeitshosen, die er immer anhat. Darauf einen Gürtel, an dem man einen Ochsen hätte aufhängen können. Sein Jähzorn hat an den Hosen deutliche Spuren hinterlassen. Die rechte Hosentasche ist eingerissen von der Faust, die immer heftig in die Hosentasche stößt. Die Tasche ist wieder und wieder doppelt vernäht. Jetzt geht der Alte auf Tuchfühlung: „Ich will von dir Ersatz, neue Hühner. Sechs Stück, jawoll.“ Er ist zornig und droht. Er kann so zornig und bedrohlich werden, dass sein Hals rot wird und anschwillt - wie der Kamm bei seinem kleinen, schwarzen Prachtgockels.
Der fette Ertel seufzt. Sein Schmerbauch im bunten Trainingsanzug aus Ballonseide hebt sich beim Seufzen an. Warum hat er auch nicht sein Maul gehalten. Anderseits, der Alte geht ja sowieso bei jedem Furz sofort an die Decke.
Der Schmerbauch hängt einen Moment in der Luft.
Nein, da kann man nix machen. Eigentlich will er nur eine ruhige Kugel schieben. So wie fast immer, seit er für die Gemeinde den Zuchtverein leitet. Zweihundert blanke Mäuse im Monat fürs Nichtstun. Keine Aufregung, kein Stress. Aber damit ist es jetzt wieder mal Essig. Immer wird man irgendwo reingezogen. Warum lassen einen die Leute denn nicht einfach in Ruhe? Nein, da kann man wirklich nix machen. Da hilft nur auf Durchzug stellen, und heute Abend gibt es eine halbe Flasche Obstler. Mindestens. Mann, da wird die Mutti wieder jammern. Aber Muttis sind ja praktisch gemacht, um zu jammern. Bringt nix, bringt alles nix. Also, scheiß drauf! Der Schmerbauch sinkt zurück.
„Was is jetzt?!“
„Alles klar, zwölf neue Hennen. Machen wir doch. Überhaupt kein Ding. Warte, ich hol nur die Käfige.“
Unwillig und schwerfällig macht sich der fette Ertel ins Lager, holt zwei große Handkäfige. Kurz darauf trottet er vor dem alten Rommel ins Hühnergehege. Seine resignierte Visage sagt alles, und aus seinen zusammengepressten Lippen kommt ein leises Murmeln: „Scheiß Hühner.“
2
Die Käfige mit den zusammengepferchten Ersatzhennen sind unterwegs, rumpeln auf der Ladefläche von Fett-Ertels Pickup - von der baufälligen Siedlung am Ortsrand mitten ins
Kaff. Dort haben die beiden Alten ein kleines, halb verfallenes und freistehendes Haus mit großflächigem Grundstück. Der alte Rommel geht voraus. Der Hof ist gepflastert mit dicken Steinplatten. Hinterm Haus liegen Seite an Seite der Gemüsegarten mit den Gurkenbeeten. Daneben das weiträumige Hühnergehege mit dem ausgemusterten Campingwagen, der als Hühnerstall fungiert. Der Campingwagen ist gesprenkelt von Generationen an Hühnerscheiße. Zwischen den Beeten bewegen sich unermüdlich ein Paar schwere Arbeitsschuhe. Die alte Rommel kniet, bearbeitet mit besessenem Eifer ihre Beete mit einer kurzen Hacke. Die kniende Arbeit mit der kurzen Hacke krümmt sie wie die Witterung die Gurken. Einen Moment hebt sich der verblasste Stoffhut. Die Alte wechselt die Stellung, ächzt dabei leise. Dann kriecht sie weiter durch die Beete. Auf allen vieren. Ihr alter Knochenarsch kennt keine Pausen.
Sind die Gurken krumm? Macht nix. Hauptsache sie faulen nicht. Fangen sie an zu faulen? Abschneiden und ab damit über die Mauer. Geht der Rücken kaputt? Macht nix. Hauptsache die Gurken faulen nicht. Salat ist auch nicht schlecht, aber da hat man dauernd die Schnecken an Hals, muss Gift kaufen. Ne ne, das kostet viel zu viel.
„Los, mir nach!“ kommandiert der Alte den fetten Ertel, öffnet mit einem Tritt das Gatter zum Gehege. Das Gatter quietscht, fliegt gegen den Drahtzaun. Der verblasste Stoffhut hebt sich.
„Un lass dir diesmal nix andrehen“, blökt die Alte quer übers Grundstück.
„Halt dein Maul!“ blökt der Alte noch lauter zurück.
Der Alte und die Alte harmonisieren exzellent miteinander, sind ein Herz und eine Seelenqual. Die Nachbarn sind leidensfähig, da leidgeprüft, bekommen einiges mit und ab vom Treiben der Alten. Gegacker, Geblöke, den Geruch vom nassem Mist, wenn der Wind ungünstig steht. Und faule Gurken. Mit wachsender Ungeduld wünschen sie die beiden Alten regelmäßig gegenseitig in den Schlund.
- Vierzig Jahre im Farbenbau der Chemiebetriebe der Stadt.
Und sie?
- Weiss nicht genau. Irgendwas an Fließband.
- Am Fließband? Muss wohl bei beiden mit der Zeit aufs Hirn gegangen sein. Aber voll.
Der abrupte Besuch und das aufgeregte Gekrächze der Neuankömmlinge versetzen auch die heimischen Hühner in Aufregung. Alles, was Federn hat gackert und krächzt, zieht den Kopf ein, weicht zurück vor dem fremden Gekrächze und den Beinen der beiden Eindringlinge.
Nur vom Hahn ist nichts zu sehen.
„Stell ab. Dahin!“
Der fette Ertel stellt die beiden Handkäfig ab. Jeder Schritt ist anstrengend, der Käfig mit den Hühnern schwer. Er schwitzt, wischt sich die Stirn und sieht zu, wie der Alte direkt zum Misthaufen steuert. Direkt dahinter murmelt leise ein keiner Bachlauf. Dort hockt der Hahn und macht keinen Mucks, ein zusammengekauertes Bündel schwarzer Federn. Es sieht aus, als würde er sich verstecken. Als der Schatten des Alten über ihn fällt, reagiert er kaum, dreht nur langsam und unbeteiligt den Kopf. Die Visage des Alten wirkt besorgt. Normalerweise müsste der Hahn umher stolzieren und das Gehege bewachen, die Hennen zurechtweisen und jeden Eindringling sofort angreifen. Manchmal greift er ja sogar die Alte oder ihn selbst an - da gluckst der Alte dann regelrecht vor Wonne. Aber das hier? Stattdessen lässt das Vieh ständig die Flügel hängen, hockt nur noch von morgens bis abends allein hinterm Misthaufen. Das Vieh hat sogar aufgehört mit dem Scharren, schafft es gerade noch morgens aus dem Campingwagen zu trapsen, auf den Misthaufen zu steigen und mühsam ein klägliches Krächzen auszustoßen. Bevor die Hennen auftauchen und das Gehege in Besitz nehmen, hat sich der Hahn längst wie ein Feigling hinter den Misthaufen verzogen.
So geht das schon seit zwei Wochen, und die Sorgen des Alten wachsen von Tag zu Tag.
Was für ein elender Anblick. Ein Hahn ohne Schneid, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Der Alte hat keine Kosten und Mühen gescheut und sofort sämtliche Hebel in Gang gesetzt. Letzte Woche hat er komplett das Futter des Hahns gewechselt. Nichts. Gestern ist der Veterinär gekommen und hat den Hahn gründlich untersucht.
Nichts.
Je umso mögliche Ursache ausscheiden, umso mehr ist der Alte bestätigt. Längst glaubt er zu wissen, was das Verhalten des Hahns so drastisch verändert hat. Die Sache wird immer klarer. Hat er es nicht von Anfang an gesagt? Schuld ist nur diese Saubande von Hühnern. Was ist nur in diese dämlichen Hennen gefahren? Hat sein Hahn vielleicht die Pest? Da hat er extra neue Bruthennen gekauft, um eine neue Zucht anzufangen und diese blöden Hennen lassen sich nicht besteigen. Jedes mal, wenn der Hahn ran will, haben sie ihn nicht nur abgeschüttelt, sondern sich sogar zu mehreren verbündet und sind gegen ihn gegangen. Sie beschimpfen und zwicken ihn, bis er die Flucht ergreift. Kein Wunder, dass der Hahn davon ein Trauma kriegt, zum Feigling und Weichei wird.
Aber jetzt ist damit Schluss. Jetzt wird die Saubande ausgetauscht. Dann sind die alten Verhältnisse endlich wieder hergestellt und alles wird wieder so, wie es immer war. Die neuen Hennen werden keine Zicken mehr machen, der Hahn wieder den Ton angeben und im Gehege für Ordnung sorgen. Der fette Ertel steht noch immer zwischen den beiden abgestellten Handkäfigen. Er gähnt, wartet. Mann, ist das geil hier. Vor allem der direkte Ausblick auf den Knochenarsch der alten Rommel. Und auf seinen Gummistiefeln, erst gestern mit dem Schlauch abgespritzt, klebt auch schon wieder Hühnerscheiße … super, hervorragend.
Die Hühner haben sich von ihrer ersten Aufregung erholt, umkreisen und beäugen den fetten Ertel jetzt misstrauisch, gackern untereinander. Ratlos kratzt sich der fette Ertel im Nacken, sieht von den zusammenpferchten Hühnern in den beiden Handkäfigen auf die ganzen freilaufenden Hühner. Oh je, das wird nicht einfach werden. Im nächsten Moment beginnt er zu grinsen: „Und Manne, welche von denen sind denn jetzt lesbisch?“
3
Der alte Rommel steht in seinem gepflasterten Hof und hört, wie der Hahn kräht. Aber wieso kräht der Hahn, jetzt am Mittag, fragt sich der Alte und sieht zum Himmel. Und während der Alte sich noch wundert, kräht der Hahn zum zweiten mal. Und wieso ist der Himmel eigentlich rot, jetzt am Mittag? Was soll denn der Quatsch! Da hört der Alte bereits das dritte Krähen, und … Was zum?
Aus dem roten Himmel fallen kleine, ovale Objekte. Die Hühnereier fallen, ein Regen von Hühnereiern zur Erde. Das heißt, die Eier fallen nicht, sie sinken. In Zeitlupe sinken die Eier, ein Regen von Hühnereiern sinkt nahezu schwerelos, wie unter verzögerter Schwerkraft, auf den Hof.
Ach so, reimt sich der Alte zusammen: auffangen, ja. Die Eier auffangen, bevor sie auf den Boden aufschlagen und zerbrechen, das ist die Aufgabe. So langsam wie die Eier fallen - die sammelt er zehnmal aus der Luft. Das ist doch das reinste Kinderspiel, ein Klacks.
Der Alte wartet, bis das erste Eier auf Kopfhöhe sinkt, hebt seinen Arm, greift zu. Aber das Ei zerbricht, sowie er es berührt. Das Ei zerbricht geräuschlos, noch mitten in der Luft. Die Schale zerbricht wie in Zeitlupe, lässt Eigelb und Eiklar mit quälender Langsamkeit vortreten. Eigelb und Eiklar steigen aus der zerbrochenen Schale, eine schleimige Masse, die unter zeitlicher Verzögerung bizarre Formen bildet. Sekundenlang stehen dicht gedrängte Tümpel und gedehnte Fäden in der Luft, zerfließen so zäh wie dickflüssiges Sirup. Die Fäden ziehen an den Tümpeln. Unendlich langsam strömt die schleimige Masse im Sinken in verschiedene Richtungen auseinander. Und alles unter dem entsetzen Blick des Alten, der reine Hilflosigkeit ausdrückt.
Das Ganze ist umso seltsamer, da der Alte selbst nicht im geringsten von der Verzögerung eingeschränkt wird. Er kann sich in gewohnter Art und gänzlich ungehindert hin und her bewegen.
Schon kommt das nächste Ei, sinkt in Griffweite. Diesmal wartet der Alte, bis es auf Brusthöhe ist, bevor er beide Hände ausstreckt. Aber das Ei, sowie es auf seinen offenen Handflächen auftrifft, zerbricht wieder, explodiert förmlich bei der geringsten Berührung. Das Nächste genauso. Und wieder. Egal wie er es anstellt, egal wie behutsam er danach greift. Die Eier zerbrechen, sowie er sie berührt. Sie zerbrechen als wäre ihr Fallen nicht verzögert, sondern ungebremst. Und es kommen nun immer mehr Eier. In Zeitlupe sinken sie zur Erde, ganz langsam und behutsam. Aber so langsam sie auch sinken, sie klatschen trotzdem auf die Betonplatten im Hof oder zerbrechen unter der geringsten Berührung des Alten. Alle Eier gehen kaputt, ausnahmslos, ganz unabhängig von ihrer seltsam abgebremsten Fallgeschwindigkeit.
In panischer Hast rennt der Alte umher, versucht die fallenden Eier zu retten. Sein Entsetzen über dieses absurde Schauspiel, das vor ihm abläuft, steigert sich bis ins Unerträgliche; mit jedem zerbrochenen Ei wächst seine Angst. Vor allem, als er selbst feststellt, das ihn die Verzögerung nicht einschränkt und er jede Bewegung im üblichen Tempo ausführen kann. Wenn er nur ein einziges Ei retten könnte. Aber er kann kein einziges Eier retten. Und endlich völlig hilflos und gelähmt vor Angst steht er reglos und sieht zu, wie sämtliche Eier, die der Himmel schickt, auf die Steinplatten in seinem Hof klatschen und beim Aufprall zerschmettern.
Der alte Rommel schreckt hoch aus seinem Schlaf. Er ist schlagartig wach, stützt sich im Bett auf seine Ellbogen. Vier Uhr. Während er angespannt ins Dunkel starrt, lauscht er einen Moment reglos. Die Alte neben ihm schnarcht, wie üblich. Dahinter ist nur die Stille. Dann ist die verdrängte Ahnung, von der er in dieser Nacht geträumt hat, zurück und packt ihn. Die Stille ist die verdächtige Nahrung seiner Ahnung, zerrt den Alten aus seinem Bett. Der Zwang zur Gewissheit ruft, erteilt der Gewohnheit Befehle: aufstehen, anziehen, raus, nachsehen.
Draußen ist es noch dunkel. Im frischen Herbstmorgen schlurft der Alte durch den dunklen Garten zum Gehege. Er wirkt wie ein Verurteilter, der seine Strafe resigniert hinnimmt und widerstandslos Folge leistet. Er schlurft vorbei am Misthaufen, sieht.
Seine Ahnung hat sich bestätigt. Der Hahn ist tot. Ertrunken. Der Alte braucht überhaupt nicht zu suchen. Er findet ihn hinterm Misthaufen, ertrunken in der knöcheltiefen Pfütze von Bachlauf. Ein durchnässtes Bündel schwarzer Federn in unnatürlicher Stellung, die Krallen sind verdreht, der Kopf weit zurückgeneigt. Was für ein elender und bitterer Witz! Was für eine hundsgemeine Schmach!
Mit finsterer Visage zieht der Alte den toten und aufgeweichten Kadaver aus dem Wasser. Ursache und Motiv stehen für den Alten fest: Selbstmord aus Verzweiflung. Was sonst? Das musste, das konnte wohl nur so kommen. Der Ärmste hat sich abgerackert, um die Hennen zu beeindrucken, erst die Alten, dann die Neuen. Vergeblich. Er hat sich abgeplagt, um die Hennen zu besteigen, die Alten wie die Neuen. Umsonst. Keine der Hennen wollte noch was von ihm wissen. Das war kein stolzer und kampflustiger Hahn mehr, nur noch ein Häufchen Elend, das von sämtliche Hennen missachtet und geschnitten wurde. Klaglos und äußerlich gefasst geht der Alte in den Geräteschuppen, holt den Spaten. Seine Ahnung hat sich nur bestätigt. Aber im Hirn des Alten beginnt es gewaltig zu brodeln. Seine Gedanken kreisen zwischen Trauer und Erbitterung, stoßen auf die Selbstanklage und kommen doch immer wieder zum gleichen Ergebnis. Im Grund musste es so kommen. Hat er es nicht geahnt? Jetzt hat er die Quittung. Wie unnötig. Machst es dir einfach, alter Trottel. Tauscht die Hühner aus und schwuppdiewupp soll alles einfach wieder im Lot sein? Dummkopf. Aber so läuft das nicht. Und trotzdem. Auch wenn es so kommen musste … die Sache darf nicht ungestraft bleiben. Die Schuldigen werden dafür bezahlen, und wenn er sämtliche Hühner metzelt.
In aller Stille gräbt der alte Rommel in der hintersten Mauerecke ein Loch für den Kadaver, schaufelt das Loch zu, tritt die Erde fest. Noch einen Moment steht er wie versteinert, sinniert. Bis seine Faust in der Hosentasche seiner Latzhosen eigenwillig zuckt.
Der tote Hahn und die Tatsache, dass er einen neuen Hahn braucht, sind nur ein weiterer Teil des Problems, das Anfang der Woche aufgetaucht ist. Die Legehennen verweigern ihren Dienst und legen nicht mehr. Seit Anfang der Woche greift der Alte ständig ins Leere, kein einziges Ei mehr in einem der Gelege. Ein Gutes oder einen Trost hat das Ganze immerhin. Der Urheber des gesamten Übels ist endlich ausgemacht.
Mit teilnahmsloser Visage Alte stellt der Alte den Spaten zurück in den Schuppen. Er weiss jetzt, was zu tun ist. Seine Faust in der Hosentasche hat ein deutliches Signal übermittelt.
4
„Ich muss was anzeigen.“
Der Schalterbeamte vom Hauptrevier sieht durch seinen Glaskasten im Foyer auf einen kleinen, verschrumpelten Greis in abgearbeiteten Latzhosen. Das alte Männlein mit seiner zerschundenen Visage passt überhaupt nicht hierher. Es sieht aus wie aus der Zeit gefallen, eine verwitterte Vogelscheuche, die eigentlich aufs Feld gehört. Aber wie auch immer. Auch Vogelscheuchen besitzen schließlich Rechte und dürfen Anzeige erstatten, genau wie jeder vornehme Pinkel, jede übergeschnappte Tunte oder sonst irgendein Spinner - das heißt, sofern die betreffende Person zuvor ihre Identität nachweisen kann.
„Eine Anzeige“, bestätigt der Beamte mit gleichgültiger Routine, greift nach einem Formular. „Haben Sie ihren Personalausweis dabei? Dann legen Sie ihren Personalausweis bitte in die Schale vor ihnen.“
Das alte Männlein fummelt umständlich an seinen Latzhosen, fischt ein uraltes Portemonnaie hervor. Während der Beamte die Schale zu sich dreht, fasst er nach einem Klemmbrett. Dann nimmt er den verbogenen Ausweis des Alten, klemmt ihn zum Formular und überträgt die Personaldaten.
„Nun noch der Grund Ihrer Anzeige, Herr Rommel?“
„Ja, ich komme natürlich wegen meinen Tieren. Wieso auch sonst?“
„Okay, also Tierquälerei.“
„Ja, genau, meine Tiere werden gequält. Und ob. Das muss aufhören. Dafür muss endlich jemand sorgen. Und den Schaden sollen die gefälligst auch bezahlen“, ereifert sich der Alte schlagartig.
Aber seine Verärgerung prallt nur gegen den neutralen und reservierten Blick des Beamten, der mit einer kurzen Geste auf die Tür verweist. „Durch die Tür und direkt nach links. Dort ist der Warteraum. Sie werden abgeholt.“ Während der Summer ertönt, verstummt der Alte, folgt mit zerknirschtem Ausdruck wortlos den Anweisungen.
Im leeren und fensterlosen Warteraum sind zwei festgeschraubte Bänke mit Schalensitzen. Aber der Alte will sich nicht setzen. Er bleibt stehen, starrt auf die Fußleiste hält stur seine linke Faust in der Hosentasche. Dass er für die Anzeige überhaupt extra hierher in die Stadt kommen muss, geht ihm massiv gegen den Strich. Schon für den ganzen Aufwand und scheußlichen Anblick dieser Stadt sollte man entschädigt werden. Bei dem ganzen offiziellen Mist wird vermutlich sowieso nichts rauskommen, dass ihm wirklich hilft. Am Ende muss er die Sache garantiert wieder alleine richten.
„Herr Rommel?“
Der Alte dreht sich um, präsentiert seine zerknirschte Visage und nickt. Mit gebeugtem Rücken folgt er dem neuen Beamten über den Korridor in eine der Schreibstuben. Dort setzt man sich.
„Sie möchten eine Anzeige erstatten. Hier steht wegen Tierquälerei. Worum handelt es sich da?“
„Meine Hühner.“
Der Alte spricht knapp und ebenso unwillig, wie er dem Beamten nun gegenübersitzt. Warum ist er eigentlich hierher gekommen. Er überlegt, kann sich nicht erinnern, was er sich dabei gedacht hat.
Um einem Milchbart sein Herz auszuschütten? Bestimmt nicht.
„Ihre Hühner? Okay“, erwidert der Beamte ratlos und erwartet geduldig weitere Erklärungen, während seine Hände ruhig auf dem Schreibtisch liegen. Ein mürrischer alter Mensch braucht seine Zeit. Da hilft kein Druck und keine Eile.
„Meine Hühner legen nicht mehr“, streift der unwillige Blick des Alten nun das Gesicht des Beamten. Seine Stimme schwankt zwischen einem Knurren und Seufzen, seine Faust in der Hosentasche zuckt. Dann spannt sich sein Brustkorb. Der Alte hat es geahnt. Jetzt muss er doch noch einen kompletten Roman erzählen und den ganzen Mist ausführlich erklären. Hilft nichts.
Der Alte holt tief Luft, sein Blick wird messerscharf, während er den Beamte fixiert.
„Die Kirchenglocken bei uns im Ort sind zu laut. Genau deshalb legen die Hühner nicht mehr. Genau deshalb brüten auch die Hennen nicht mehr. Und genau deshalb hat sich auch der Hahn umgebracht, mein Hahn. Früher waren die Kirchenglocken leiser. Dann haben die an den Glocken was verändert. Das war so ungefähr vor zwei Monaten. Da war an der Kirche sogar ein Gerüst aufgebaut und die haben die Schwengel ausgetauscht. Das kann ich beweisen, das stimmt. Jedenfalls scheppern und dröhnen die Glocken jetzt sehr laut. Das ist ein Krach!“ krächzt der Alte. Seine Stimme und seine Schultern beben vor Erregung. „Das merkt man erst, wenn man in der Nähe wohnt. Mir selber macht das nix, aber die Tiere - die Tiere werden verrückt. Davon geht mir die ganze Zucht kaputt. Kein einziges Huhn legt mehr, und Küken gibts auch keine mehr. Ja, so sieht das aus“, schließt der Alte abrupt seinen Vortrag und nickt selbstgewiss. Seine Erregung gleitet über in eine stummen Erwartung.
Einen Moment herrscht in der Schreibstube ein merkwürdig betretenes Schweigen. Mit einem Räuspern kommt der Beamte zur Besinnung, sucht den bestmöglichen Einstieg.
„Sie sind dort gewesen, nicht wahr? Was hat man ihnen denn dort gesagt?“
Der Alte hebt den erbitterten Blick.
„Nix. Die haben nich mal zugehört, die Tür vor der Nase haben die mir zugemacht, haben gesagt, dass sie keine Zeit haben oder haben mich stehen lassen. Ich war bei der Kirche, also bei der Pfarrei. Und ich war auch bei der Gemeinde, also im Gemeindehaus. Machen Sie einen Termin, haben die im Gemeindehaus gesagt. Ich hab einen Termin gemacht und bin hin. Und die haben gesagt: Tut uns leid, aber mit den Glocken müssen sie sich abfinden. Die Kirche und die Gemeinde haben das so vereinbart. Das steht in einem Vertrag. Sie können gern klagen, aber - deshalb bin ich ja hierher gekommen. Damit alles seine Ordnung hat. Vor dem Gesetz“, betont der Alte.
„Das haben sie auch richtig gemacht. Aber leider gibt es keine gesetzliche Vorgabe für die Lautstärke von Kirchenglocken. Das regeln die Gemeinden selbst.“
„Den Tieren sind die Regeln und Gesetze aber wurscht. Die verrecken einfach nur.“
„Um Anzeige zu erstatten, muss leider ein Tatbestand vorliegen. Sonst hat Ihre Anzeige eine Chance. Lautes Glockengeläut ist keinen strafbare Handlung. Das ist Sache ihrer Gemeinde. Was Sie noch tun können vor der Gemeindeverwaltung Klage einreichen oder sich einen Anwalt nehmen. Vielleicht interessiert sich ja auch die Zeitung für Ihre Sache“ erklärt der Beamte.
„Sie machen also nix?“
„Nicht in dieser Sache, tut mir leid für Sie.“
„Ja, danke, sicher,“ sagt der Alte leise und resigniert, sieht mit erbittertem Ausdruck auf seine eigenen Knie. Dann steht er steht langsam und ruhig auf, zieht die Schultern zusammen, steht seitlich zum Schreibtisch und wendet den Blick ab. „Pech für mich.“ Er wirkt nun gekränkt, sieht mit vorwurfsvollem Ausdruck und unterdrückter Wut nur kurz über die Schulter zum Schreibtisch: „Was glauben Sie? Dass ich hier einen verpfeife, bevor ich wenigstens versucht hab mit ihm zu reden?“ Seine Stimmte und seine Schultern beben wieder. „Nein, nein. Bei mir kriegt jeder seine Chance. Nein, nein“. Unter sichtlicher Empörung verlässt der Alte die Schreibstube. Der beleidigte Stolz des Missachteten begleiten ihn aus dem Hauptrevier. Klage einreichen? Jammerlappen! Anwälte? Geier! Zeitung? Schmierfinken! Seine Überzeugung von der Ungerechtigkeit dieser Welt hat sich nur einmal mehr bestätigt. Der Alte geht gemessen, sein Rücken ist krumm, sein Schritt ist langsam. Die Spange an seinen Latzhosen quietscht. Die finstere Verachtung in seinem gereckten Kinn und seinem verbitterten Blick sammeln sich in seiner verkrampften Faust, die ein unsichtbares Messer hält. Am Ausgang wächst jäh sein Schatten aus dem Boden, folgt ihm und holt ihn ein. Erst geht sein Schatten zaghaft neben ihm her. Dann legt er dem Alten den Arm um die Schulter.
- Was hattest du dort drinnen eigentlich verloren, Manne? War sein Besuch denn völlig vergeblich? Bestimmt nicht. Die Polizei weiss jetzt bescheid. Er hat ihnen alles erzählt, er hat seine Pflicht erfüllt. Und das war wichtig. So kann sich später keiner rausreden und behaupten .
- Wenn andere nun mal nichts dagegen tun, ist die Sache ganz alleine dein Problem. Dann musst du mit dem Problem auch ganz alleine fertigwerden - genau wie die letzten einundachtzig Jahre.
Das ist richtig. Ein Mann muss für sich selbst einstehen. Warum sollte es damit jetzt plötzlich anders sein? Immerhin weiss er jetzt wieder, woran er ist.
- Recht muss Recht bleiben. Aber wer hört dir zu? Keiner. Nur ich dir selbst.
„Verdammt richtig. Und ob.“
5
Gottesdienst, sonntags, neun Uhr. Also, dann eben so.
Der schwere Türflügel sackt mit einem leisen Knacken in den Türrahmen. Der alte Stein riecht muffig. Die letzte Bankreihe ist leer. Ein Paar abgetragene, dunkelgrüne und schmutzige Gummistiefel treten lautlos und zögerlich in den Mittelgang und bleiben abrupt stehen.
Der Gottesdienst neigt sich gerade dem Ende. Von der Kanzel predigt Pfarrer Freimuth: Brille, leicht übergewichtig, mit speckigen und sauber rasierten Wangen, gerötet von der Rasur. Dazu im grünen Sonntagsornat. Wer für Höheres als den eigenen Geldbeutel eintritt, muss überzeugen.
Mit raschen und schleichenden Schritten schwenken die schmutzigen Gummistiefel nun unauffällig über den Steinboden in die letzte Bankreihe, verharren Seite an Seite.
Pfarrer Freimuth ist in der ganzen Umgegend bekannt als Muster an Solidarität und ausgesprochener Menschenfreund. Regelmäßig organisiert er kleine Bazare und Flohmärkte, Handwerks- und Bastelkurse: Seife schnitzen, mit der Laubsäge arbeiten, töpfern. Das macht der Pfarrer alles. Der freiwillige Dienst am Nächsten ist Pflicht. Nöte lindern, Sozialkontakte stärken und Mitteilungsbedürfnisse stillen sind eine unvermeidliche Mission. Gemeinnützigkeit duldet keinen Aufschub. Die Liste der Hilfsbedürftigen ist lang, und die Zweifler an einer besseren Welt für alle liegen immer auf der Lauer.
Auf den abgetragenen Gummistiefeln kleben Reste von Mist und Hühnerdreck. Ihre Absätze beginnen nun zu wippen. Jajaja,im Himmel werden wir alle belohnt für unsere Leiden. Schnapp sie dir. Weiter. Jaja, wir wissen, da oben ist das Gras immer grün und jeder hat seine Wohnung. Krasser Scheiss!
In seiner Freizeit sammelt Pfarrer Freimuth sogar persönlich Spenden für notleitende Familien und kirchliche Hilfsprogramme. Umso fremde wirkt der Pfarrer auf der Kanzel und im Ornat. Denn üblicherweise trägt er Turnschuhe und Freizeitklamotten. In Zeiten, da spirituelle Angebote allerorts wie Pilze aus dem Boden schießen, muss man sich schon aktiv engagieren, mit gutem Beispiel vorangehen und seinen Mitgliedern etwas bieten. Sonst wenden sie sich ab und glauben am Ende noch falschen Versprechungen.
Kurz, Pfarrer Freimuth gilt als volksnaher, jederzeit hilfsbereiter und umgänglicher Mann zum Anfassen. Zwar verwandelt er hauptberuflich auch Leitungswasser in Weihwasser, aber sonst kann er kein Wässerchen trüben.
Die Absätze der Gummistiefel wippen ununterbrochen und immer heftiger.
Mensch, wie lange dauert das denn eigentlich noch? Drecksack, der hat ja seinen Hahn! Sogar ganz oben auf seinem Kirchturm und dazu aus Eisen.
Bei seiner Gemeine ist Pfarrer Freimuth jedenfalls beliebt, hält sich bei seinen Gottesdiensten und offiziellen Anlässen im Allgemeinen kurz und entlässt seine Herde meist eine Viertelstunde früher.
Der Kerl hat ja Nerven, stellt sich hin und will den Leuten sagen, wie sie es richtig machen sollen. Aber warte, dir Bastard zieh ich gleich den Zahn.
Auch heute enttäuscht Pfarrer Freimuth seine Gemeinde in keiner Weise. Der Gottesdienst endet eine Viertelstunde früher. Etwa hundert verschwitzte Hintern heben sich in schleppender Einigkeit von den Holzbänken und streben langsam zum geöffneten Ausgang. Dort steht bereits Pfarrer Freimuth, verabschiedet seine Herde. Er steht eisern, neben dem Holzkeil, den er persönlich unter den schweren Türflügel geschoben hat. Er steht immer bis zum letzten Mann. Und immer wirkt er dabei leicht verlegen und wie ein Kind, das kurz zuvor etwas ausgefressen hat.
Erst von Angesicht zu Angesicht entfaltet Pfarrer Freimuth seinen ganz besonderen Scham.
Das schmutzige Paar Gummistiefel wartet, bis die Gemeinde raus ist, tritt als letztes
„Sie sind hier der Pfarrer, richtig?“
„Hallo, ich bin der Thomas und betreue diese Gemeinde, richtig. Kann ich ihnen helfen?“
Pfarrer Freimuth blickt aufgeschlossen in die verwitterte und mürrische Visage des kleinen, alten Mannes, der in schäbigen Latzhosen und Miststiefeln vor ihm steht. Der Blick, der ihm begegnet ist geladen und feindselig, die Haltung ablehnend. Und die krächzende Stimme, die sofort lautstarke Anklage erhebt, vervollständig nur den ersten und heftigen Eindruck.
„Hören Sie zu, ihre Glocken machen meine Tiere verrückt. Meine Hühner legen keine Eier mehr. Und alles nur, weil ihre Kirchenglocken so laut sind, dass meine Tiere verrückt spielen“, krächzt der alte Rommel und hält mühsam seine linke Faust in seiner Hosentasche an der Kandare.
„Kirchenglocken? Sie sprechen von unseren Kirchenglocken?“ fragt Pfarrer Freimuth zurück.
Er ist zwar überrumpelt, aber verhält sich nun gar nicht mehr ungeschickt.
„Allerdings, genau die mein ich.“
„Also, ich denke, dass wir … “ setzt der Pfarrer salopp an, bekommt aber sofort das Wort abgeschnitten.
„Sag dem Kerl, der die Glocken läutet, er soll sie nicht mehr so knallen lassen. Das macht mir die Tiere verrückt. Der Hahn ist schon tot“, wird der Alte hitzig, seine Haltung immer bedrohlicher. „Die Hühner brüten nicht mehr und legen keine Eier mehr. Und das schon seit Monaten … seit ihr an den Glocken rumgemacht und was verändert habt. Und jetzt fressen sie sogar nicht mal mehr. Und alles wegen deinen verdammten Glocken! Hör auf, die Glocken so zu knallen oder mach das wieder so, wie’s vorher war. Hast du das kapiert, ja?! Lass es bleiben“, wird die Wut des Alten plötzlich kalt, seine Stimme gefährlich leise.
„Ich verstehe. Nun, ich bin mir sicher wir werden eine gemeinsame Lösung …“
Pfarrer Freimuth ist erneut überrumpelt, nur ist sein Gesicht nun fassungslos, sein unbefangenes Entgegenkommen schlagartig weggewischt. Kann das sein? Tatsächlich, dieser fremde Greis hat ihm soeben eine schallende Ohrfeige verpasst.
„Macht sich lustig über dich, der Heuchler. Machst dich lustig über mich, du Heuchler, wie?“ antwortet sich der alte Rommel selbst, schaltet um und hebt im Vorbeigehen den Zeigefinger: „Pass auf, du weist jetzt bescheid.“
Pfarrer Freimuth braucht einen Moment, um sich zu fangen. Wie gelähmt steht er am leeren, schweren Türflügel, sieht tatenlos zu, wie der fremde Greis, gebeugt vom Alter, entschlossen davongeht.
In seinem Hirn wiederholt sich bereits die Szene, läuft längst die analytische Suche nach greifbaren Zusammenhängen, Möglichkeiten und Ursachen für das Verhalten des alten Mannes. Aber was nützen unendlich viele Fragen, wenn man dafür keinen vernünftigen Ausgangspunkt hat? Was am Ende bleibt sind immer nur zwei Möglichkeiten, wie bei allem: Aktion oder Reaktion. Entweder man reagiert auf eine bestimmte Handlung oder man lässt es bleiben. Das einfachste ist meist auch das naheliegende. Der alte Mann ist verwirrt oder verbittert und verwirrt, hat jemanden gesucht, um Dampf abzulassen. Sonst nichts, beruhigt sich Freimuth. Und sonst ist nichts passiert, und kein anderer weiss es. Wenn das nicht verzeihlich ist … wozu also Wind machen und gequälte Hunde noch mehr quälen? Wenn er Anzeige erstattet, zerreißt sich seine Gemeinde nur das Maul. Das ist die schlechteste Werbung, die man für seine Sache machen kann.
Noch das Ziehen der Ohrfeige auf der Backe, beschließt Freimuth den Vorfall auf sich beruhen zu lassen. Soll Gras über die Sache wachsen. Amen.