Idiotenbus - Semjon Volkov - E-Book

Idiotenbus E-Book

Semjon Volkov

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Beschreibung

Die Erlebnisse und Abenteuer des jungen Idioten Edwin Poth - der aus Versehen seine Mutter tötet - der von einem Leben als Busfahrer träumt, Apfelsaft liebt und in einer Behindertenwerkstätte "Den" Zimmermann trifft.

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Seitenzahl: 339

Veröffentlichungsjahr: 2016

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© 2008/Semjon Volkov

2. Auflage

978-3-7345-0936-0 )Paperback)

978-3-7345-0937-7 (Hardcover)

978-3-7345-0938-4 (e-Book)

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Semjon Volkov

ROMAN EINES IDIOTEN

oder

goddamn motherfuckers!

Inhaltsverzeichnis

1. Hausaufgabe: Damals

2. Hausaufgabe: Gestalten und werken

3. Hausaufgabe: Sozialkunde

4. Hausaufgabe: Unkraut jäten

5. Hausaufgabe: Holzwürmer

1. Hausaufgabe: Damals

Ich bin - ach so halt, verkehrt. Das heißt, nur deshalb hab ich nichts gemacht und bin still dagesessen. Hab angestrengt nachgedacht. Hab versucht mir einen Reim drauf zu machen, warum Flugzeuge wie die Vögel fliegen, und schneller, viel schneller.

Mutter sagt, wir sin ganz allein, auch wenn Lena da is. Hab ich alles nachgedacht.

Hallo, die Augen auf und da bin ich. Auf Wiedersehen, die Augen zu und ich bin fort, schnell weg, wie niemand und irgendeiner.

Im Schuppen stand mal Vaters Mofa, damit fuhr er immer in die Fabrik zur Arbeit, fuhr eine Stunde oder so. Bis er tot war. Dann fuhr er nicht mehr zur Arbeit und das Moped auch nicht, weil Mutter - der Junge braucht kein Moped - es an einen Herrn verkauft hat.

- Wo gehen wir hin?

Du hast die Gießkanne dabei, Gieß-kanne sagt Lena, und schreibt es aufs Papier. Aber die Gartengeräte sind noch da. Ich hab angestrengt angestrengt nachgedacht. Könnt ich mich verständlich machen, also so richtig, so wie Herr Lämmert, müsste ich sagen: Dennoch haben wir nur ein paar verwilderte Beete hinterm Haus, obwohl die Gartengeräte unter meiner fürsorglichen Hand stets sauber sind und es meiner Zuständigkeit unterliegt, sie ab und zu mit der Wurzelbürste zu schrubben - so oder so ähnlich würde ich sagen.

Hallo und weg, sagt die Uhr. So bin ich jeder und keiner. Mal schnell und hübsch, gebogen, schlau und alt. Wie man sein kann, bin ich dann, und tue es: schwimme esse schlafe rede, lach und sterb’ - kann ich alles.

Aber nicht in unsern Garten. Ich sag, nicht mal da wächst nichts, weil keiner was macht, sondern da ist Dschungel. Machmal jag ich dort trotzdem Bienen.

Böse Stimmen rufen am Tor, böse Kinder, böse Kinderstimmen. Die Wäsche ist weiß, die Bäume mal grün, mal violett, gelb im Herbst wie der Briefkasten am Park, die Sonne rot, ich weis das alles schon, kenn es noch vom Malen im Kindergarten.

- Willst du etwa allein hier wohnen bleiben mit deinen drei, fragt Onkel Ernst. Seine Schuhe sind riesig, Riesenschuhe für Riesenfüße. Die Nüsse haben dort knack gemacht, wenn Tante Jutta zum Basteln und Essen ganze Tüten von zuhause mitbrachte, Walnusstüten mit rauen Walnussgeräuschen.

Nur die Spiegel sind bei uns glatter als die Fensterscheiben, wenn Mutter sie wischt, machen sie quieeeetsch.

- Isabell, Isabelle Mirabelle, darf ich mal auf deinen Bauch fassen?

Wir müssen dir unbedingt die Haare schneiden.

Als Kinder haben wir an Weihnachten immer Figuren für die Fenster gebastelt.

Gestern sind wir zum Fluss geradelt, da war ich fünf Jahre alt, aß Würstchen, und heut werd ich achtzehn. Das stand auf der Torte. Damals.

Aber da war Isabell, Isabelle Frikadelle schon ausgezogen mit ihrem Bauch, in dem schon der-da war. Denn auf einmal ist er da. Nicht der Bauch, sondern das Kind hat sie schlau gemacht, meint Lena.

Wir zeigen uns gegenseitig unsre Nabel, und Vater brüllt, Löwengebrüll.

Ich versteck mich im Schuppen, da ist es wie in der Erde, sagt Hallo zu mir.

So haben sie dich gefunden, dort im Garten, du hattest eine Tüte über dem Kopf. Verschiedene Nüsse machen verschiedene Geräusche, wie verschiedene Tüten. Auf den Friedhof, deinen Vater besuchen, gehen wir, Fried-hof, wie Frieden im Hof, wenn der Ball sich schlafen legt.

Ich nehm’ das Glas mit. Auch dort gibt’s Bienen, wie in der schmalen Sandgasse, durch die man am Zaun übers Feld fährt und nach dem Ausmachen vergessene Kartoffeln liegen, zerquetscht von Radreifen.

Der Mann hinterm Zaun hat viele Bienenhäuser, hat eine Spritze mit Rauch… heut hat Edwin Geburtstag, ich kann nicht singen.

Edwin, unser Sohn, Torfkopf, Bruder Edwin, großer lieber Torfkopf, der in die Schule geht. Aufsatz eins: Kopf gerade. Aufsatz zwei: den Kiefer gerade. Aufsatz drei: Sprich nicht ungefragt, den Finger immer strecken. Blas die Kerzen aus und wünsch dir was! Einen andern Torfkopf vielleicht?

- Wenn Sie wollen, können se ihn ruhig dalassen, bisse fertig sind, sagt der Mann mit dem Goldzahn, wo Lena arbeitet.

Ich hab eine ganze Sammlung von Geräuschen, ich sammle sie und dann schreib ich sie mit Kugelschreiber fein säuberlich und geordnet in ein Notizbuch. Fuß-gänger-zone. Und wo gehen die alle hin?

Bist du still! Ich muss Fahrscheine kaufen, sagt Mama.

Ich hab es gesehen, dich, und wenn ich es so schön in Worte fassen könnt, wie Herr Troll, unser Lehrer auf der Sonderschule, guter Musiker, Klavierspieler. Bach hat er immer gesagt, Bach - spielte mal auf der Schulfeier da-da-dam da-da-dam da-da-dam, Boogie Woogie mit verbundenen Augen, vielleicht auch wie du Lena oder wie Isabelle, aber nicht wie Mama - dann würd’ ich jedem sagen, ich hab gesehen, wie du nackt warst unter deinem Bademantel.

Jens baut Modellflugzeuge - Jens, ihr Mann, großer Mund, Mund voll Torte, ein Tortenmann: - Modellbauflugzeuge! - wenn du willst, kannst du uns ja mal besuchen. Man klebt die Teile, ganz winzig, ganz klein und kriegt ein großes Flugzeug. Wenn ich bloß wüsst’, von was dir immer so die Nase läuft. Blü-ten-staub. Auch da fliegen die Flugzeuge drüber. Wuuuummmm, wie das brummm bei Vaters Moped, das schon lange nicht mehr da ist.

Dieser Mann, Mutter, der da war, hat es mir für seine Tochter gestohlen. Das wollt ich dir mal sagen! Aber das Flugzeuggeräusch, das schreib ich gleich zu den langen Tönen.

- Ein großer Bienenfänger - kommt wir essen.

Er trug einen Anzug, schwang sich auf das Moped und drehte eine Runde. Der Anzug flatterte, er grinste, sein Rücken wurde doppelt so dick. Dann gab er dir das Geld und hat mir das Moped gestohlen. Paff paff… Moment, noch fünfzehn, vierzehn…

- Zeig die Hände! Du warst wieder im Garten. Wir sollen doch nicht in den Garten.

Jeder Tag sind tausend Würfe, die sind erlaubt, das darf ich. Das Geld für den Friseur können wir bei ihm sparen.

Mama hat mir mal einen Tischtennisschläger geschenkt, der ging kaputt vom Ball. Lena eine Wollmütze, die hab ich auf.

Ich spar auch Mama, ich tu alles, was du mir gibst in unsre Kasse. Ma-schi-nen machen immer lange. Die Anzahl der Buchstaben, die ich verwende, stimmt überein mit ihrer gesprochenen Dauer. Das heißt Maschine, Ed, ohne e. Ed bin ich, mit e vorneweg.

Ey, so macht Lena, ich schreib ihren Namen dahinter in großen Druckbuchstaben, denn ich hab sie nackt gesehen. Bssssss, B-I-E-N-E! Biene, ha ha.

- Depp! Depp! Komm raus, Depp, wir warten auf dich! Komm raus aus dem Haus, Depp!

Ich rieche die Sonne. Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend, Opa kommt rein, setzt sich mit ihr.

Aber merk dir, die Kekse sind mir.

Und wer spielt jetzt eigentlich mit meinem Fußball?

Als Vater noch da war, gab es das nicht. Denn Vater ist Rauchmacher. Alles an ihm rauchte, seine Finger, seine Nase, sein Mund. In der Fabrik half er mit, dass die Schornsteine rauchen. Auch dem Moped brachte er das Rauchen bei. Da war Opa neidisch von all dem Rauch, da kommt er nicht mit.

Ojjj, wie das knallt.

Was schreibst du denn da?

Ob die Ge-wehre in Wirklichkeit auch so klingen wie im Fernsehen? Mein Edwin, jetzt wird er achtzehn, blas die Kerzen aus. fffff ffffff.

Nur die Fische sind stumm.

Dieses Jahr war’s eine Musikanlage. Komm, wir baden. Auf dem Mond sind alle Menschen durchsichtig und leuchten wie Laternen, deshalb sieht man sie von unserm Fenster aus nicht, man sieht sie nie.

Als Kinder haben wir oft zusammen gebadet.

Du musst draußen bleiben, Ed, ich bleib draußen, weil Lena sagt, wir sind jetzt keine Kinder mehr.

Brrr brrr macht das Haarschneidegerät. Du bist jetzt bald zwanzig. Putz dir die Nase! Willst du ‘n Bier, Junge? Edwin-Frage, Edwin fragen willst möchtest. Unser Sohn hat eine Lernbehinderung! sagt Vater ungläubig, mit der Faust fast so weiß wie die Wäsche, haut auf den Tisch. Mutters Taschentuch weinte.

Er ist unser Sohn.

Das kann man nicht trennen, hat Lena gesagt, Gewehre trennt man nicht. Menschen? Das weis ich, die trennt man auch nicht, die stehen zusammen, auch vor dem schhhh. Was war das?

Ah da steht’s, M-A-M-A-S F-I-N-G-E-R, Mamas Finger ha ha. Du musst schhhh an Vaters Grab, musst schhhh in der Stadt. Dafür lässt sie deine Hand in Ruh, sonst muss ich wieder ähäh bei EDWIN WILL NICHT wegstreichen. Dann sieht jeder, dass sie mich an der Hand hält, will ich nicht. Willst/möchtest wollen/möchten du/sie…

Ham sie Kekse? Ich weis noch, dort wo jetzt das Neubaugebiet liegt und der große Parkplatz alles grau gemacht und die Kräne das Grün verschlungen haben, war vorher ein Park, in dem ich meinen Fußball verlor. Den muss doch irgendein Kranführer damals gefunden haben.

Es gab eine Zeit, da war ich Luft, noch ohne Namen. Alle waren das, dann atmen wir die Luft. Aber zuletzt holen uns die Steine, so wie Vater, Oma, genauso wie dich, Mama. Auf denen stehen dann die Namen. Und wenn die Steine es erlauben, werden wir zu Osterglocken oder Efeu oder Unkraut.

- Lass das!

- Gib ihm ‘n Spezi, Uwe.

Neuzig Grad Nord bis zehn Grad Süd, Nachbar des Löwen, sichtbar in Mitteleuropa das ganze Jahr. Dort oben am Sternglobus des Nachthimmels zieht der Adler einsam durch den Nebelbrei seine Kreise. Der große Bär wacht daneben. Den hab ich ihm gezeigt, am Fenster, nachts, wenn es ganz still war. Dabei war ich nie veranlagt für die Sterne. Glaub mir, selbst zehntausend Lichtjahre und unendliches Schimmern sind nicht genug, um ganz von vorne zu beginnen. Beginn ich damit: Am Tag haben wir ich-sehe-was-dass-dunicht-sieht und Blindekuh gespielt. Hab dich. Ich weis es, es ist die Regenrinne, Quatsch.

Edwin hatte ein eigenes Zimmer, schon bevor es passierte, und Katrin noch regelmäßig Blumen im Garten setzte und Tomaten zog, ringsum Stangenbohnen, höher als die Mauer ums Pfarrhaus.

Danach mied sie den Garten und verbot jedem von uns, dort etwas zu machen.

Es wird nix mehr dort gesetzt, auch keine Tomaten, verstehst du, nix mehr!

Wer ein Unglück tragen will, braucht mehr Würde, als ein Mädchen von zwölf Jahren aufzubringen vermag, vor allem wenn ihm dann noch der Vater stirbt.

Das Haus in dem du lebst, wird zum Käfig, zur trostlosen Öde. Ich spül’ das Geschirr, du spülst das Geschirr, wir spülten… Nicht mal der Geschirrspüler funktionierte! Katrin: Nach Vaters Tod konnte ich sie mir nur noch mit dieser Trauermiene vorstellen, selbst wenn sie gar nicht trauerte und einen bloß ansah, sah ich dahinter ausschließlich ihr verbohrtes Leid.

Onkel Ernst bezahlt den Stein, sagt er. Eins weniger. Aber was bringt das, wer aufhört zu lachen, kann aufhören zu leben. Sie lacht nicht, Katrin lacht gar nicht mehr.

Der Tennisball lag in meiner Hand. Lena fand den Grund: Vater ist tot. Mir wurde komisch.

Deshalb ging ich vom Hof, wo wir Prellball spielten ins Haus, um die nassen Unterhosen auszuziehen, weil ich erst dachte, ich hätte mich nass gemacht. Doch als ich nachsah, war es die Regel.

Was machst du, Isa? Nix. Mir war komisch, aber ich wusste, was ich mir schuldig war. Jetzt musst du aufhören zu spielen, dachte ich voller Stolz, jetzt bist du eine Frau.

In der Küche hörte ich Opa. Vater und er hatten sich wegen dem Häuschen vor Jahren überworfen und beinahe geprügelt. Ich brülle dich an, du brüllst mich an, wir brüllen uns…. Ganz leise blieb ich stehen im Flur und machte große Ohren. Sein Mantel über mir am Kupferhaken war ein schwarzes dreieckiges Segel. Er machte ihr Vorwürfe.

Du bist allein mit deinen drei, wie willst du das schultern! Ich geb’ nicht auf!

Um was es auch ging, ich musste zu Katrin und ging hinein.

Opa saß mit dem Rücken zu mir, seine Haare waren Fäden aus Eisen. Er schielte her mit seinen angstmachenden Augen, darüber die Brauen, auch wie Eisen, angstmachend, weil so durchdringend, als hätte er einen bei etwas erwischt.

Was ist? meinte Katrin.

Auf dem Küchentisch lag ein Ordner mit einem Haufen Papier.

Kommst du mal, ich muss dir was zeigen, sagte ich. Wir gingen ins Bad und ich zeigte es ihr. Ich wollte ihre Anerkennung, aber sie sagte nur: Das auch noch! Es tat mir weh, dass sie so darüber hinwegging.

Mein Stolz verbündete sich mit mir gegen Katrin. Denn dass es bei mir losging, war für sie nur ein weiteres Problem.

Hier! drückte sie mir lieblos ihre Packung vom Regal in die Hände und ging wieder nach unten, um Opa die Stirn zu bieten.

Von da an waren wir Kinder nur noch der Ausdruck ihres unbeugsamen Willens, und mein Bruder der Mittelpunkt ihres Handelns. Keine fremde Hand sollte ihn anrühren. Sie wollte ihn zuhause, bei sich haben. Am liebsten hätte sie sich meinen Bruder hinten rein gesteckt. Nur zur Schule durfte er, sonst hielt sie ihn wie einen Gefangenen. Wenn der Sonderbus ihn abholte, stand sie daneben, wenn er zurückkam, nahm sie ihn auf der Straße in Empfang.

Alle Liebe, alle Zuneigung und Geborgenheit war für ihn bestimmt, den Gläubiger ihrer Schuld.

Edwin, mein Edwin!

Ich konnte den Namen meines Bruders nicht mehr hören. Es nahm mir den Atem, wie sie ihn vergötterte, ihn ständig drückte, ihm durch die Haare fuhr, als wäre er eine Puppe. Ein armer Dummkopf, mehr war er nicht. Ich probierte es bei ihr, viele male.

Mutter (mir wurde schlecht bei dem Wort, aber ich überwand mich), machen wir zusammen ‘n Ausflug? Wieso gehen wir nicht alle auf die Kerwe?

Nein, ich muss doch auf Edwin aufpassen. Geht ihr nur ihr beiden, viel Spaß.

Mein Vertrauen in sie war endgültig gebrochen. Wie konnte man nur eine so blöde Mutter haben?

Allein auf ihn gab sie etwas, allein um seinetwegen machte sie sich verrückt. Immerhin, sie fand ihren Trick, um das Geschehene zu vergessen, indem sie sich morgens einen nassen eiskalten Waschlappen in den Nacken legte.

Bald war Vater für sie nur noch der Mann, der immer vorm Fernseher gesessen hatte, vor sich ein einziges Glas Bier. Mehr trank er nie, nur dieses eine Glas, dass er nie nachfüllte und das doch nie leer wurde. Die angebrochene Flasche im Kühlschrank hielt bei ihm drei Tage. Er war nur noch der Mann, der abends ewig auf der Couch gesessen, irgendwann sein Glas ausgetrunken hatte und für immer gegangen war. Dafür sorgte der kalte Waschlappen. Um sein Knie zu vergessen, auf dem wir Kinder immer gesessen hatten, versuchte auch ich es damit. Doch es half mir nichts. Erst als ich mit den Jungs auf den Schulgängen anfing zu knutschen, wurde mir leichter.

Ich knutschte mit jedem, der knutschen wollte.

Es wurde mir klar, was ich suchte, konnten mir ihre Arme, ihre begeisterten Gesichter geben - das heißt, wenn sie merkten, dass sie bei mir weiter gehen durften, als bei andern. Und jedes mal raste und flatterte mein Herz in einem irrem Glücksgefühl.

In meinen schwitzenden, ungeschickten Händen wuchs der Kitzel der Aufregung mit jedem neuen Kuss. Ich drückte mich an sie, umschlag ihre Nacken wie eine Kletterstange, unter der der Abgrund lauert. Komm, lass dich fallen, sagte etwas in mir, wenn auch nur für die Dauer weniger Augenblicke.

Das Gewühl von Zungen. Mein Verlangen erwachte. Ich knabbere an deinem Ohr, du knabberst an meinem Ohr, er sie es knabbert an einem Ohr, wir ihr sie… Lass dich gehen, sagten sie, komm, ja. Ich spürte wie mein Unterleib meinen Kopf besiegte, mich jedes mal rum bekam, spürte die Leichtigkeit meiner Herrschaft in ihren gierigen und begeisterten Blicken, da ich ohne viele Worte Dinge mit ihnen tat, an die andere Mädchen sich trotz ihrer Beteuerungen nicht herantrauten. Das war es, ich lebte!

Selbst wenn die andern Mädchen in der Klasse mich offen verachteten. Ihre neiderfüllten und feindseligen Gesichter sprachen eine deutliche Sprache.

Seht, da kommt sie wieder in ihren weißen Stiefeln!

Habt ihr schon gehört, dass sie keine Unterhosen trägt!

Aber ich trug es mit Fassung, ich wusste Ich-sehewas-was-ihr-nicht-seht. Die Jungs auf der Schule wussten bescheid über meine zugängliche Gunst.

Mit fünfzehn blieb ich manchmal über Nacht fort von zuhause. Und wenn ich morgens nach hause kam und Katrin mit meinem Bruder und meiner kleinen Schwester am Küchentisch saß, und ich insgeheim darauf hoffte, sie würde mich schlagen oder wenigstens ausschelten, sagte sie nur: Kind!

Kind, dachte ich. Wahrscheinlich habe ich in dem einen Jahr schon mehr Männer gehabt, als du in deinem ganzen Leben.

Einmal lag im Briefkasten ein offener Brief an mich.

Was tust du nur Kind! sagte Katrin kopfschüttelnd, als sie ihn mir gab.

Dort stand mit Edding geschrieben: Isa, du Schlampe - lass meinen Freund in Ruhe!

Ich belächelte die kindische Eifersucht. Als wenn es mir je darum gegangen wäre, einem Mädchen den Freund auszuspannen. So ging das in der Gesamtschule, auch später in der Schule für Hauswirtschaft und in der Ausbildung. Ich unterhielt mich fast nur mit Männern, kaum mit jungen Frauen. Freitags abends machte ich mich fertig für die Disco. Um von A nach B zu kommen, musste ich nur anrufen.

Ich hatte ein Schmuckkästchen voll mit den Nummern der Typen, die ich neu kennen gelernt hatte. Mitunter vergaß ich, welches Gesicht zu welchem Namen gehörte. Hey, Sven, Antonio, Dirk, kennst du mich noch? Die Friseurin? Klar. Ein Wimpernschlag und sie kamen mit ihren Karren angefahren wie zur Schnäppchenjagd und nahmen mich überallhin mit, wohin ich wollte. Männer von Mitte zwanzig bis vierzig, bereit zum Blindekuh, hielten mich frei.

Es ist überhaupt kein Problem in die Clubs und Discos zu kommen, wenn man die Leute kennt, und ich kannte die meisten, kannte ihr zweideutiges Augenzwinkern.

Bald hatte ich den Spitznamen DIE MAUS. Es ließ mich kalt, sollten sie tuscheln. Was zuhause lief, war mir mittlerweile sowas von scheißegal, es ging eh nur um IHN.

Ich tanzte, ich trank, schmiss Pillen ein und schwitzte auf den Parkplätzen, schwitze in ihren Armen, rieb mich schmierig, strandete an den Wochenenden in fremden Wohnungen, aus denen ich mich sonntags morgens davonstahl oder hinausgeworfen wurde.

Einmal war ich auf der Tanzfläche mit einem Kerl. Wir fummelten und wetzten uns aneinander, als mir plötzlich jemand den Arm fortriss. Im nächsten Moment hatte ich etwas Nasses im Gesicht. Ich stand da, roch und schmeckte die Rum Coco, die mir seine Freundin übergeschüttet hatte.

Auf der Toilette wischte ich mir die zerlaufene Schminke ab. Alles klebte an mir bis runter zum Bauch. Bist nass geworden? Jemand kichert.

Man müsste nackt tanzen dürfen, dann würde sowas nicht passieren.

Ein entwerteter Fahrschein kam mir in den Sinn, ganz kurz nur, wie er zusammengerollt und abgewetzt vom vielen unwillkürlichen Befingern in der Tasche liegt. Das Wasser auf den Klos ist immer so kalt, an den Händen und erst recht auf Schultern und Brust. Und das Papier zu hart und saugt nichts auf, oder es zerfällt beim Reiben.

Dennoch, die Hitze hatte mich.

Allerdings, zwei Dinge tat ich nie. Weder nahm ich Geld, noch weinte ich, wenn sie mich hinterher fortschickten und die Gleichgültigen mimten.

Junge Männer sind eine schlechte Zuflucht, Männer überhaupt, und ich hatte es mit einigen, wie sie auch alle hießen, ich weis es nicht mehr.

Nur an die, denen ich in der Ausbildung die Haare schnitt, erinnere ich mich genau.

Mit sechzehn blieb ich dann regelmäßig fort von zuhause. Aber noch immer kam Katrins: Kind, wo warst du? Kind! sagte sie. Kopfschütteln und Unverständnis, drauf lief unser Verhältnis hinaus.

Sie verstand gar nichts. Dafür meine Schwester.

Du denkst nur an dich.

Ich zuckte die Achseln.

Sie sagte es nie offen, dass sie mich für eine Schlampe hielt, aber ihr Gesicht hatte denselben Zug, wie den der Mädchen in meiner alten Klasse.

Und seit wann qualmst du eigentlich im Bett - wenn du da mal verbrennst, bis du selber schuld.

Ich zuckte die Achseln.

Die Männer liebten mich, dort war mein Erfolg, meine Beachtung, steckte in jedem Spruch.

Du bist ‘ne Nummer! Unglaublich, ich dank dir. Wir telefonieren. Du bist ‘n tolles Mädchen.

Nie brauchte ich einen zu ermuntern, trotz meiner durchschnittlichen Erscheinung. Es war, als würden sie meine Willigkeit riechen. Nur gelang es mir, vor Jens, nie einen zu halten. Ja, Jens, er ist so verrückt auf meine Füße, ich kapier das gar nicht. ‘s is praktisch unfassbar, was er daran findet, und das nimmt nicht ab, das nimmt zu. Wahrscheinlich stimmt es sogar, dass die Füße an mir das beste sein sollen. Sollen. Muss wohl, andernfalls hätt’ ich die Männer automatisch gehalten. Wenn ich schöner wär, würden sie mich lieben, so dachte ich.

Ich-sehe-was-das-du-nicht-siehst, es ist brünett, hat lange Beine, braucht sich nicht im Spiegel zu betrachten, sich nicht mal zu schminken, braucht nur einen Raum zu betreten, mit einem Lächeln behexen und alle liegen…

Mensch, was brauchst du wieder so lang da drin? Lena wummert gegen die Tür.

Warte! Wo war ich? Ach ja: …liegen ihr zu Füßen. Schönes Mädchen heißt es. Zu schön um jemanden zu lieben, trägt es deinen Namen, wird dafür von jedem geliebt und von keinem Mann, überhaupt von niemandem je verlassen. Heb mich, halt mich, lass mich. Ja, Schwesterchen, ist ja gut, ich komm ja schon!

Der Chemiker, der immer in diesem Betrieb gearbeitet, sogar seine Ausbildung hier gemacht hatte, war mit vierundvierzig Jahren gestorben.

Als der Vorarbeiter seinen Spind öffnete um ihn auszuräumen, hatte er mit vielem gerechnet. So großmäulig wie er ihn kannte, mit Nacktbildern, Aufklebern von Sportwagen, allein das Familienfoto überraschte ihn. Es erleichterte ihn, dass er nicht derjenige war, der es der Familie des Chemikers geben musste.

Er packte den unbekannten Schlüssel, den Pullover und das Paar Socken, die der Arbeiter nach der Arbeit stets wechselte in eine Tüte und brachte sie ins Büro zum Sektionsleiter. Schweigend stellte er die Tüte auf einen Stuhl, zog das Foto aus der Gesäßtasche und legte es auf den Schreibtisch. Mit angemessener Miene wechselten sie Blicke und gingen mit einem Räuspern auseinander. Neidisch sah der Sektionsleiter auf den Vorarbeiter, der das Büro verließ, dann aufs Foto, auf dem eine ihm unbekannte Familie zu sehen war.

Nur den Chemiker, der an einer der Anlagen gearbeitet hatte, erkannte er, und schob das Foto ein Stück fort.

Als er hier als Sektionsleiter angefangen hatte, prägte er sich von den knapp hundert Leuten der Sektion H, beim Händeschütteln, die Gesichter ein, auch das des Chemikers.

Dann hatte er ihn für zwei Jahre vergessen.

Der Sektionsleiter stand auf und sah durch die Glasverkleidung des Büros, auf die großen Produktionsanlagen der Halle, in denen Wasserstoff hergestellt wurde. Unten gingen die Mitarbeiter in Blaumännern und weißen Kitteln rege hin und her.

Und ich hab’s am Hacken, dachte er und setzte sich wieder. Er bedauerte nur, dass Menschen keine Maschinen sind.

Mechanisch fiel sein Blick wieder auf das Foto.

Der Sektionsleiter war jung und unerfahren. Bisher hatte er wenig Bekanntschaft gemacht mit den Auswirkungen des Todes auf Hinterbliebene. Ihm selbst waren nur die Großeltern mütterlicherseits gestorben, mit achtzig, in einem Krankenhausbett. Rasch und sauber waren sie abgetreten, ihr Ende für ihn erträglich. Er hatte sie nur einmal besucht, ihnen kurz die Schulter getätschelt, die üblichen Besserungswünsche gemurmelt und sich davongemacht, glücklich das Krankenhaus wieder verlassen zu dürfen.

Das hier machte ihn unsicher.

Aber selbst als er sich für seine Scheu rügte, wurde ihm nicht wohler. Sonst ein Mann von handfesten Entschlüssen, der sich etwas darauf einbildete, in seinem Alter Sektionsleiter der Sektion H zu sein, gefiel ihm die Sache immer weniger. Die Frau auf dem Foto kostete ihn Nerven, bevor er sie überhaupt in ihrer ganzen Wirklichkeit gesehen hatte.

Denn er stellte sich vor, wie ihr Gesicht über den toten Chemiker, der ihr Mann gewesen war, jetzt gerade weinte.

Ja, gestand er sich ein, zu dieser Frau zu gehen und ihr die Sachen zu bringen - dazu bin ich nicht gemacht. Und was soll das eigentlich? Ich bin doch ein praktisch denkender Mann, sonst wäre ich ja nicht Sektionsleiter geworden.

Als der Vorarbeiter vor Dienstschluss wieder ins Büro kam, erteilte der Sektionsleiter seinen Auftrag, übergab die Angelegenheit seinem Vorarbeiter.

Sogar den ganzen nächsten Tag bekam der Vorarbeiter dafür frei.

Der Vorarbeiter zog sich um, schmierte sich die haarigen Achseln frisch mit Deo ein und dachte dabei über die Sache genauso ausführlich nach, wie zuvor der Sektionsleiter.

Warum soll ausgerechnet ich dieser Frau die Sachen bringen? Ich bin schön blöd, dass ich Vorarbeiter geworden bin. Und wieso haben wir überhaupt Herzen in der Brust, die versagen können und keine Druckluftpumpen, dachte er. Ausgerechnet ich.

Dann kam im seine eigene Frau in den Sinn. Eines Tages, vielleicht nie, wird jemand zu ihr kommen, vielleicht einer wie ich und ihr meine liegen gebliebenen Sachen bringen.

Der Vorarbeiter nickte - obwohl er alleine war und er jeden, der alleine gewesen wäre und genickt hätte, für verrückt gehalten hätte.

Bei jedem von uns wird es so sein. Auch beim Sektionsleiter wird jemand vorbeigehen, mindestens aber ein anderer Sektionsleiter. Ja, der Unterschied ist, dass alle gleich sind. Es passt schon zusammen.

Schlagartig beruhigte er sich.

Mutter und Edwin kommen vom Einkaufen die leere, verregnete Straße herunter. Immer kommen sie die nasse, leere Straße herunter. Und unentwegt läuft Edwin die Nase. Er wischt sie mit dem Handrücken, zieht das Bein nach, und trotzdem läuft seine Nase weiter, läuft immer weiter.

- Hey Lena, holst du wieder deinen dummen Bruder ab?

Beladen mit den Einkaufstaschen, schwingt Mutters gedrungene Gestalt, im alten braunen Mantel, steif vorwärts.

Sie bleibt stehen und ruft, wenn er stehen bleibt. Ihr Gesicht ist ein ungeschminkter, blasser Fleck. In seine Steppjacke mit Kapuze gehüllt, vielleicht einen Meter hinter ihr, auf dem Trottoir, glotzt er von neuem in den kahlen Park, auf den Kinderspielplatz mit seiner nassen Rutsche, aufs wild mit Schimpfworten bekritzelten Häuschen, eingeritzt mit Messern oder aufgesprayt von denen, die gar nicht wissen, was sie da geschrieben haben. Der Sand ist nass.

Zwei Finger stell ich über euch beide und ihr seid nicht mehr.

Wie aufrecht stehende Rohrbürsten säumen die entlaubten, schlanken Pappeln die kniehohe, alte, abbröckelnde Mauer aus vollgesaugtem Sandstein.

Wenn es nur funktionieren würde. Nein, man kann sie nicht wegdenken oder in zwei gewöhnliche Menschen verwandeln, das kann man nicht. So erhaben sie sind über jeden Wechsel, gefeit vor der Zeit.

Mutter war wegen ihm vor ein paar Jahren sogar mal in die Frühmesse. Obwohl sie viel zu praktisch ist, um es mit der Religion zu halten, ist sie zum Pfarrer hingegangen. Damals war es der Schön.

Zu ihm ging sie, statt zu einer Beratungsstelle. Nicht mal zum Direktor seiner Sonderschule, um wenigstens den Versuch zu machen, eine weitere Sonderförderung für ihn rauszuschlagen.

Selbst der Pfarrer riet ihr, Experten aufzusuchen.

Wie sie getobt und gejammert hat, ganz das Sinnbild einfältigen Starrsinns.

Und dann? Dann nehmen sie ‘n mir weg, und dann? Alle Liebe reicht nicht, das zu verstehen.

Es war, als hätte sie sämtliche Verbindungen nach außen gekappt, um jeder fremden Einmischung und Hilfe vorzubeugen.

- Hey Lena, dein Bruder ist dumm, stimmt’s!

Die Kette der Schaukel ist verrostet. Dort haben wir häufig geschaukelt. Mehr, mehr, höher!

Edwins schrille Stimme - seit Jahren wie kurz vorm Umkippen, eine zerquetschte Trompete.

Mutters gestrickte Wollmütze sitzt einen halben Kopf tiefer, als Edwins Schirmmütze, die ich ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt habe. Wenn er den Arm ausfährt und sie zustimmend nickt, verschwindet seine Hand komplett in dem langen Ärmel. Dann kramt sie fürsorglich in ihrer Handtasche und geht zu ihm.

In den letzten Monaten hat sich ihre Aufopferung bis ins Unerträgliche gesteigert.

Letzte Woche wollte sie ihn baden. Sie ließ ihm das Wasser ein und legte ihm ein Handtuch bereit. Dann wollte sie ihn ausziehen. Er hat sich gewehrt mit Händen und Füßen, den Unterkiefer vorgeschoben, wie immer wenn er sich bedrängt fühlt und ihr die Zähne gezeigt.

Allein, allein baden!

Oh Edwin, mein Edwin, du liebst mich nicht.

Ich hab den Kopf geschüttelt, bin unsre enge Treppe

runter, hab mir die Jacke geschnappt und bin ab.

Lieber freiwillig arbeiten, als das.

Mutter ist… Sie ist sein Mund, seine Augen, seine vorauseilende Zunge, seine Ohren. Mit ihren eigenen hört sie schon lange nichts mehr.

Ihre Hand mit dem Taschentuch fährt ihm unter die Kapuze. Daraufhin geht sie ein paar Schritte voraus, ihre Lippen bewegen sich, sie winkt, damit er ihr folgt. Edwin schnäuzt sich. Sie lebt, weil er lebt.

Ich frage mich, was passiert, wenn einer von ihnen sterben sollte.

Für einen Moment schließe ich die Augen.

- Hey Lena, hey. Holst du wieder deinen dummen Bruder ab?

Wieder Timo, diesmal im Bus, zwei Reihen hinter mir, auf dem Außensitz.

In der stickigen Luft die sauren Ausdünstungen beginnender Geschlechtsreife. Alle hatten es mitgekriegt, alle aus der 6A, die auch sonst immer mit uns fuhren.

Die Taschen schlugen auf den Boden, Geplärre, wie üblich auf der Heimfahrt, wenn ein ganzes Schulzentrum um dieselbe Uhrzeit aus hat und Scharen von Halbwüchsigen die Haltestellen verstopfen.

Laura, meine Banknachbarin, saß neben mir.

Sie hatten spitzgekriegt, dass Edwin auf der Sonderschule war. Wahrscheinlich hatte Vanessa Schäfer gequatscht. Eine Sekunde lang oder so, betrachtete ich noch mein Handgelenk, in das der Riemen meines Turnbeutels einschnitt, dann stand ich auf, drehte mich zu ihm, hielt mich am Griff, weil der Bus wankte. Ringsum sahen sie mich an, die Leute aus meiner Klasse.

Der Junge war nicht hässlich, dunkle Haare, ein Entenschnabel, Markenklamotten, eher schüchtern. Er sagte es nicht mal, um sich vor seinen drei Freunden hinter und neben ihm wichtig zu machen, nur, weil ihm nichts besseres einfiel um mich anzureden, da wir sonst nie miteinander redeten. Ich konnte ihn sogar leiden mit seinen Witzen gegen die Lehrer, seiner Albernheit, seinen Späßen - aber das ging zu weit. Ich hab dich gewarnt. Einen Knoten in der Zunge, sah er mich bloß ungläubig an. Vermutlich hatte er mich noch nie so gesehen, so geladen. Ich sah sein Gesicht und das meines Bruders, er gesund und mein Bruder… Da schlug ich ihm so fest ich konnte mit der Faust blindlings mitten rein. Ich schlug ihm nicht nur mitten ins Gesicht, ich brach ihm die Nase.

Argggg machte er, ein langgedehntes arggg, und hielt sich mit beiden Händen die Nase. Eben hab ihm die Nase gebrochen, dachte ich. Ich war nicht erschrocken, nicht mitgerissen, nur erstaunt darüber, dass ihm die Augen feucht wurden und er sich die Nase hielt.

Bist du verrückt? Du bist ja nicht ganz dicht, hörte ich seine Freunde, während ich mich wieder neben Laura setzte. Eben hab ich Timo die Nase gebrochen, sagte ich, eben hab ich sie ihm gebrochen.

Von der hinteren Reihe kam nichts mehr, keine Hetzte, keine Vergeltungsrufe, keine lauten Stimmen, gar nichts mehr. Und ich vermied es, mich noch einmal umzudrehen, unglücklich wie ich mir jetzt vorkam. Warum hast du das gemacht, warum hast du das gemacht, das hätt nicht sein müssen, du hättest… vergiss es. Wenn man anfängt sowas zu ignorieren, kommt es noch doller. Was hatte er gesagt, was genau.

- Holst du wieder deinen dummen Bruder… eine Gemeinheit, ich hol’ ihn ja gar nicht ab, ein paarmal nur hab ich ihn abgeholt, weil deine Mutter angerufen wurde, weil sie sonst keinen fanden im Supermarkt für an die Kasse und der Bus auf deinem Schulweg sowieso an Edwins Schule anhielt - deshalb hab’ ich ihm die Nase gebrochen, statt ihn, so wie ich es ein halbes Jahr vorher noch vorgehabt hatte, zu fragen, ob er mit mir gehen will.

Wohin? Zu ihm, nicht zu mir. Nicht mal als ich meine Sachen nahm und erst im letzten Moment aufstand und ausstieg, drehte ich mich um. Auf dem Heimweg begann ich mich erst richtig schuldig zu fühlen.

Was ist? Du zitterst da.

Mutter musste mir angesehen haben, wie unglücklich ich mich hinsetzte und mir die Gabel mit den Kaiserschmarren zitterte. Ich erzählte es ihr, kleinlaut, auf alles mögliche gefasst. Dann brüllte sie, das erste mal überhaupt, eine Frau, die sonst stets gutmütig und freundlich und schlicht am Hinplappern war und nun auf hundertachtzig lief.

Mein Bruder erschrak wie ein junger Hund, hielt sich an der Tischkante, der arme Kerl. Das gibt’s doch nich! Das is ja…

Sie brüllte immer weiter, und auf einmal merkte ich, dass sie gar nicht mich meinte.

Wie heißt der, der das gesagt hat? Erzähl mir das nochma, alles!

Ich erzählte es ihr und sie beruhigte sich.

Zuletzt lobte sie mich sogar dafür und forderte mich auf, es wieder zu tun, wenn jemand so abfällig über meinen Bruder sprechen sollte. Ich begriff gar nichts mehr. Aber Mutter hatte mir nicht umsonst den Rücken gestärkt. Am nächsten Tag in der Schule fehlte Timo, doch kam mein Klassenlehrer, Herr Scholl. Er spielte den Entrüsteten, vorgerecktes Kinn, die Arme hinterm Rücken, der Kragen offen - typisch Lehrer.

Er wollte mich ins Gebet nehmen. Umsonst. Ihm sei zu Ohren gekommen… und wie unglaublich es sei, dass ich so gewalttätig wäre und er: nie hätte ich von dir erwartet… Jedenfalls hätten Timos Eltern bereits ihren Anwalt verständigt und bestünden auf einem Gespräch in Anwesenheit unsres Rektors August Hoffmann. Die ganze Zeit dachte ich an Mutter und ihre Reaktion. Als er zum Schluss meinte, er wolle sie noch heute sprechen und mir die Uhrzeit sagte, freute ich mich. Diesmal war ich drauf gefasst, was kommen würde. Ihre aschblonden kurz geschnittenen Haare bebten im Nacken vor Zorn. Ich krieg schon Angst, dass sie gleich explodiert.

Auf einmal sieht sie mich an und stemmt die Arme in die Hüften. Ha! macht sie, als hätte sie etwas völlig neues festgestellt und schnauft. DIE können was erleben das passt mir grad komm gehen wir Ha! DIE kriegen jetzt mal den Marsch geblasen. Ha! Mutter schnappt Edwin bei der Hand und wir fahren zum Schulzentrum, einem asbestverseuchten, hellrot gestrichenen Betonquader, daneben ein alter Bunker, besetzt mit Moos. Was wird jetzt wohl passieren, denk ich, und gleichzeitig, wie sieht das denn aus. Edwin, fünfzehn, größer als sie an ihrem Arm. Mutter schleift uns gnadenlos hinterher, lässt sich von mir den Weg sagen. Wohin? Wir marschieren die Längsseite des Lernquaders entlang, zum Haupteingang. Da rein? Wir stehen im Vorraum. Wo jetzt? Wir laufen über den stillen Nachmittagsgang direkt zum Sekretariat. Links dahinter liegt das Lehrerzimmer, rechts Direktor Hoffmann Büro. Hier, ja? Mutter reißt die Tür auf.

Das Sekretariat ist unbesetzt. Ich klopfe bei Rektor Hoffman. Er ist ein scharfer Hund, deshalb bin ich beim Öffnen vorsichtig.

Da steht er, wie immer im Anzug, seine Kette mit dem Davidstern um den Hals, obwohl er gar kein Jude ist. Die kleine Gießkanne in seiner Hand dreht sich von den Grünpflanzen auf dem Fensterbrett in meine Richtung. Was er sieht, ist ein Kindergesicht. Man klopft an, wenn man… Er schielt nach der Tür, erkennt, dass da noch jemand ist. Ich kann ihr Erstaunen verstehen, Hoffmann. Deine Entschuldigung, ich meinte, ihre Schärfe gilt nur denen unter eins fünfzig, mit den Eltern raspelst du, raspeln sie sonst immer Süßholz, wenn man wegen einer Verlängerung seines Schülerausweises zufällig im Sekretariat steht und miterlebt, wie du, sie die Erwachsenen lächelnd empfängst, empfangen. Aber geben sie sich keine Mühe, so wie Mutter heut drauf ist, wird es ihnen kaum gelingen, ihr Honig ums Maul zu schmieren. DIE können was erleben.

Jetzt erleben sie mal was, Rektor Hoffmann, sie Schnösel, sie Kontrolleur der Mädchentoiletten, sie Falschparker direkt vorm Schuleingang, sie Großsprecher der Schulfeste, der tut, als wäre alles sein, und nichts als sein Werk!

Aber Mutter drängt mich jetzt von hinten, deshalb mach ich die Tür ganz auf.

Tag, Poth heiß ich, ich bin die Mutter, meint Mutter unmissverständlich. Hoffmann kommt von seinem Erstaunen endlich aus der Knete. Für uns Halbwüchsige hat er gar keinen Blick, seine ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Mutter.

Guten Tag, Frau Poth, ich freue mich sie kennen zu lernen. Sie sind noch etwas früh, aber setzten sie sich doch. Er deutet auf die beiden Sessel vor seinem Schreibtisch.

Danke. Ihr Gesicht ist finster. Sie und Edwin sitzen. Ich stehe, stehe weiterhin am Küchenfenster. Aber sie sind nicht mehr da, sie sind schon unten durch, vor unserm zwei Meter hohen Tor von dem Vaters weiße Beschichtung abblättert.

Möchten sie Kaffee oder Tee?

Ham sie Kekse? schießt Edwins zerquetschte Trompete Direktor Hoffmann umgehend entgegen. Der bleibt gelassen.

Nein danke, meint Mutter für alle, ich komm nur her, weil mich Lenas Klassenlehrer herbestellt hat.

Herr Scholl, werfe ich ein.

Ich weis bescheid, sagt Hoffmann und nimmt hinter seinem Schreibtisch Platz.

Herr Scholl wird bald kommen. Er merkt, dass Mutter Wut im Bauch hat. Ich blinzle, ganz kurz nur.

Wenn Sie erlauben - er hält die Hand vor seine schmale Brust und steht auf - werde ich mir einen Tee machen. Mutter nickt. Im Vorbeigehen mustert er ihren braunen Mantel. Was er sieht, kann ihm nicht gefallen, dafür ist allein die Spanne der Kleidungspreise zu groß. Meinem Bruder läuft wieder hemmungslos die Rotznase. Der arme Kerl weis gar nichts, aber an seiner geduckten Haltung kann ich sehen, dass ihm die unbekannte Umgebung nicht gefällt.

Hoffmann kommt zurück, setzt sich wieder und sieht zu Mutter.

Tja Frau Poth, eine ernste Sache, die hier vorgefallen ist. Ihre Tochter soll angeblich einen Mitschüler geschlagen haben. Draußen im Sekretariat beginnt inzwischen der Wasserkocher zu brodeln.

Warten wir, sagt Mutter.

Direktor Hoffmann räuspert sich. Schweigend steht er wieder auf und gießt seinen Tee auf.

Die Zeit vergeht.

Dann kommen sie.

Herr Scholl vorneweg. Ihm folgen Timos Eltern, gut gekleidete Leute, Leute mit Geld. Dahinter Timo, kaum zu erkennen. Mit der Maske sieht er aus wie Zorro, nur ist die Maske starr und weiß. Er sieht mich nicht an, sieht niemanden an, blickt nur zu Boden.

Tag. Tag. Tag.

Also, meint Mutter. Sie ist aufgestanden und hat Edwin am Ärmel vom Sessel gezogen.

Herr Scholl, meint Hoffmann.

Alle stehen.

Lena, weshalb hast du Timo geschlagen?

Bin ich gefragt? denke ich. Eltern, Lehrer, was soll das? Das will ich nicht sagen, sag ich. Plötzlich hebt Timo den Kopf zu seiner Mutter.

Mir ist schlecht, sagt er.

Aber es muss doch einen Grund geben? sagt Herr Scholl. Hab ich nicht Recht - Lena.

Ich nicke. Draußen schlägt das Tor. Immer wirft sie es mit Gewalt zu, damit es knallt.

Bamm! ruft Edwin. Ich höre wie Mutter abschließt. Ich seufze. Herr Scholl seufzt. Einer von euch muss es sagen, meldet sich Direktor Hoffmann zu Wort.

Sag’s! meint Mutter nun zu mir. Aber ich sage nichts, kann nicht. Timos Vater wird laut.

Das gibt’s doch nicht! Du sagst nichts, sie sagt nichts… das ist Körperverletzung.

Herr Scholl versucht zu beschwichtigen: Herr Heise. Kuckuck, Lena! Edwin is da.

Ich erklär Ihnen, was los ist, zieht Mutter in einem einzigen Atemzug vom Leder. Sehen Sie meinen Sohn hier? Der-da? Wie zum Beweis zeigt sie dabei auf ihn, der seine wie zum Beweis von ihr nicht abgeputzte Rotznase wischt und sich mit mulmiger Miene umsieht. Nich der-da, der-da is nich da, Edwin.

Er will weg weil über ihn gesprochen wird, ich weis es. Mutter auch, aber es muss sein. Damit er nicht die Beherrschung verliert und zum Zitteraal wird, hält sie ihn am Arm. Ihre erbitterte Energie überrollt Hoffmanns Büro.

Der ist geistig behindert und geht auf die Heine-Schule. Sie schmettert es heraus wie aus der Rückhand, so richtig mit Genugtuung.

Wissen Sie überhaupt, was das als Mutter heißt? Noch dazu wenn man allein drei Kinder großziehn muss! Und wenn meine Tochter deshalb gehänselt wird, dann kann sowas schon dabei rauskommen, schließt sie.

Betretene Gesichter.

Ich und Timo, wir schämen uns wahrscheinlich am meisten. Ich öffne die Augen. Vom Tisch ist die Sache. Warum hast du noch nicht den Tisch gerichtet, fragt Mutter und stellt die nass gewordenen Taschen ab. Unten drin sind Flaschen. Apfelsaft für Edwin.

Als Junge liebte ich den Geruch der Chemikalien, die man überall zur Reinigung und zum Einfärben verwendete, die Lauge der Waschschüsseln. Ich liebte den Gestank unserer Fabrikstadt! Kein Wunder, bedenkt man, woher ich komme. Ich stamme von hier.

Durch synthetisch sauber hergestellte Farbstoffe, entstand hier alles, was geschmacklos und bunt und chemisch angereichert, ein Menschenalter lang in die Welt getragen wurde. Sauber? Ja, sauber! Ja, ganz Deutschland bekam Farbe durch unsre Farben. Farbe für Plastik, in das man Geschenke packt. Farbe für-Wachsmalstifte, mit denen Kleinkinder das erste mal auf Papier PAPA MAMA und ICH kritzeln. Farbe für Spraydosen, mit denen Graffiti Sprayer ihr rechtschaffenes und glorreiches, ihr unverwechselbares, wahrhaftiges und herrliches

goddamn motherfuckers!

für jeden sichtbar hinterlassen.

Denn seht, in Farbe, so steht’s zu lesen: auf Hausmauern und Brückenpfeilern, als Zeugnis einer heillosen Wahrheit. Und wisst: WIR, ihr und ich - wir alle sind nichts anderes als:

goddamn motherfuckers!

Denn WIR, die Industrie, tun nichts anderes, als euch:

goddamn motherfuckers!

Spielsachen zu geben!

Damit ihr die Erde, damit ihr die Welt, damit ihr Gott mit eurem Ego in den Arsch ficken könnt.

Woher glaubt ihr, kommt der Sprit?

Woher, glaubt ihr, kommt der Lack?

Woher, glaubt ihr, kommt der schöne Schein?

Woher, glaubt ihr, kommen Wünsche und Träume?

Woher, glaubt ihr, kommt das Glück?

Wisst, das sind alles Spielsachen.