marder zu mardern - Semjon Volkov - E-Book

marder zu mardern E-Book

Semjon Volkov

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Beschreibung

In einem Provinznest gehen vier angesehene Bürger gemeinsam auf Jagd. Der Bürgermeister, ein Bauunternehmer, der Besitzer der örtlichen Gaststätte und eine Pferdezüchterin. Durch die angespannten Verhältnisse der vier Jagdteilnehmer kommt es zur Katastrophe.

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Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2016

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marder

zu

mardern

roman

Für Sergej Garin und Margarita Tschekedanova Sergej

Semjon Volkov

marder

zu

mardern

roman

© Semjon Volkov 2009-2010

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

978-3-7345-1188-2 (Paperback)

978-3-7345-1189-9 (Hardcover)

978-3-7345-1190-5 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

sonntag

montag

dienstag

mittwoch

donnerstag

freitag

samstag

sonntag

sonntag

In dicke Winterkleidung gemummt, saß Seibold auf seinem Hochsitz und beobachtete durchs Fernglas den gegenüberliegenden Waldrand. Noch war es dunkel, noch hinter den Bergspitzen die Sonne, deren Zacken aussahen wie das Schneideblatt einer Stichsäge. Aber Seibold konnte schon einzelne Tannenstämme erkennen, zwischen denen die angefrorene Suhle lag. Bis auf den Wind, der leise durch die frostige Talsenke strich, war es völlig still.

Seibold ließ wieder das Fernglas hängen. Er holte die Thermoskanne aus seiner Tasche auf der Sitzbank, schraubte auf und nahm den Becheraufsatz zwischen die Knie, während er den dampfenden Tee eingoss. Er fühlte den warmen Tee zwischen seinen Knien und durch die Wollhandschuhe und hielt ihn ein paar Minuten lang. Dann zog er den Schal vom Mund, trank den Tee in einem Wurf, fummelte den gestrickten Schal wieder über seine Nasenspitze, fast bis zum Brillenrand, und packte die Kanne weg. Das Gewehr quer auf seinem Schoß, verharrte Seibold mit verschränkten Armen regungslos wie eine sitzende Statur. Nur hin und wieder zwinkerte er, bewegte unterm Schal die Backenmuskeln, streifte den Handschuh zurück, sah nach der Uhr und nahm das Fernglas auf. Die dichten Tannenäste wankten schwächer. Eine Viertelstunde verging, eine halbe, während die schlappe Novembersonne sich langsam hinterm Berg vorkroch, das Licht von seinem blauen Ton in einen helleren überging. Dann hörte der Wind ganz auf. Die frostbedeckten Stellen im steifen, kniehohen Gras glitzerte. Und Seibold kam hoch aus seiner Starre.

Sie waren da, drüben am Waldrand. Er nahm die Mauser von seinem Schoß und machte sich bereit. Die Schweine wanderten argwöhnisch um die Suhle. Zuerst waren sie verschwommen, ein Haufen blinder Umrisse, bis er am Fernrohr drehte. Die Rotte bestand aus etwa fünfzehn Tieren, ein paar Bachen und Frischlingen, das meiste waren halbwüchsige Überläufer.

Seibold wartete. Die Schweine wanderten noch um die Furchen der Suhle, in denen das angefrorene Wasser stand, schnüffelten, mussten erst zur Ruhe kommen. Seibold legte das Gewehr wieder auf die Knie, zog den rechten Handschuh aus und ballte mehrmals seine taube, spröde Hand zur Faust. Er hatte es jetzt sehr eilig, legte den Sicherheitshebel der Mauser um, visierte einen der Überläufer an, hielt den Atem an, griff nach dem Abzug, der kälter war, als sein Zeigefinger. Der Lauf der Mauser lag starr und fast lotrecht auf dem runden, moosigen Geländer. Vorgebeugt und die Ellbogen auf den Knien, saß er still. Seine rote Hand griff. Der Schuss krachte durch die Stille und schallte durchs kleinere Osttal, über die unebene Wiese und in den Tannenwald, wo sein echo erst verhallte, als Seibold den Gewehrkolben auf seinem Knie absetzte und wieder zu atmen anfing. Kurz darauf hatte er bereits das Gewehr zerlegt und in den Kasten gepackt. Er zog den Reißverschluss der Tasche zu, warf sich Gewehrkasten und Tasche über die Schulter, kletterte vom Hochsitz und umwanderte die freistehenden Stämme aus Buchen und Tannen. Unter seinen Stiefeln knackten der trockene, hellgelbe Nadelteppich, das kältesteife, ausgeblichene und eingerollte Laub krachte. Der Wald wurde dichter, die Stämme kamen ihm enger entgegen. Seibolds neonorangene Winterjacke leuchtete durchs trübe Unterholz, als er auf dem ausgetretenen Pfad über den Erdhügel stieg. Da war der kleine Hang, die Stelle. Mit abgebremsten Schritten, unter denen das zuwachsende Moos wieder aufriss, stemmte er sich gegen das Gefälle. Dann schnellte er den letzten Meter auf den Weg hinunter. Der Jeep, der dort mit der Fahrerseite zum Pfad stand, nahm zwei Drittel seiner Breite ein. Der Pfad war schmal und dunkel. Fast lückenlos säumten ihn die Tannen. Die beiden ausgefahrenen Kuhlen mit den Reifenspuren waren kaum zu erkennen.

Seibold öffnete den Kofferraum, schwang den Rucksack ab und warf ihn durch den Kofferraum, hinter den Fahrersitz, bevor er die Fahrertür öffnete. Den Gewehrkasten legte er auf den Beifahrersitz und setzte sich hinters Steuer, wischte über die Frontscheibe und fuhr aus dem Waldstück. Der Jeep tauchte vom Pfad in die offene Talsenke ein, hoppelte durch die unebene Wiese und walzte auf seinem Weg zur Suhle vor der Kühlerhaube das kniehohe Gras nieder. Die alten Sommerreifen griffen schlecht als der Untergrund anstieg, rutschten mehrmals, suchten Halt, und das Getriebe krachte beim Schalten. Erst im dritten Anlauf quälte sich der Jeep an die Suhle. Seibold fasste in die Jackentasche, ließ den Motor laufen und stieg aus.

Sein Atem dampfte in der trockenen Kälte. Er sah die kleine Einschussstelle im Fell der Sau. Eiswasser an der dreckigen Schnauze, lag sie an Ort und Stelle zusammengebrochen direkt über einer der Furchen. Seibold nahm die Hand aus der Jackentasche, ging in die Hocke und schürzte die Lippen. Er hatte knapp am Blatt vorbeigezogen. Eine Weile betrachtete er sie, fasste mit leicht zitternder Hand nach dem Einschussloch und schien nachzudenken. Unregelmäßig wie ein Rinnsal aus Wassertropen auf einer Fensterscheibe war das ausgetretenen Blut ein paar Zentimeter durch die grauen Borsten geflossen und kurz vorm Boden versiegt, weil nichts mehr nachkam. Die Borsten waren voller feiner Erde. Die Borsten, die Pinsel, die Schnauze, die ganze Sau war dreckig.

Seibold hörte wieder, wie hinter ihm der Jeep grummelte. Er stand auf, ging hin und öffnete den Kofferraum. Die Handschuhe stopfte er in die Jackentasche zur Pistole, bevor er mit beiden Händen die angewinkelten Hinterläufe der Sau packte und sie zum Kofferraum zog. Mit verbissenem Gesicht, packte er sie unter den Schultern, hob und schob und drückte sie unter Keuchen auf den Rahmen. Vor Anstrengung beschlug seine verrutschte Brille, seine speckigen, blassen Backen wurden rot, während er einen Stiefel auf die Stoßstange stellte und ihr Gewicht mit dem Knie stützte. So konnte er sie seitlich über ihren eigenen Kamm rollen. Die Sau bekam Übergewicht. Mit einem klatschenden Geräusch schlug sie um in die Wanne. Seibold warf den Kofferraum zu. Seine Nase war ausgetrocknet, er spürte wie innen die Härchen rissen, wie er unter der Wollmütze schwitzte, schnäuzte sich. Einen Moment später rollte der Jeep von der Wiese zurück in die Tannen. Bis zum geschotterten Weg, der das Osttal mit dem Westtal verband, war die Fahrt im ersten Gang ein einziges Ruckeln über Schlaglöcher und abgefallene Zweige. Hin und her baumelte das vergilbte Duftbäumchen am Rückspiegel. Seibold saß so dicht hinterm Lenkrad, dass es bei jeder Kurve seinen Bauch unter der Jacke streifte. Die Zweige kratzten an der Frontscheibe und übers Dach entlang und teilten sich hundert Meter weiter zur verzweigten Lichtung, an der auf einer kahlen Eiche die farbigen Striche die Rundwanderwege anzeigte. Am Stamm der Buche, wo er herauskam, hing das angenagelte Schild: Jagdrevier, Betreten verboten. Ohne anzuhalten schotterte der Jeep über die Lichtung zum Hauptweg.

Es wurde immer heller, die Bäume spärlicher. Die sandigen Reifen liefen runder und endlich glatt über den Beton. Und dann war er raus aus dem Wald. Das größere Westtal, das einen Teil des Dorfes einfasste, wurde von der Betonstraße, einem Rundweg, umspannt wie ein ovaler Ring um eine ovale Pfanne. In der Ferne guckten vom Regen abgeschliffene Felsbrocken aus Sandstein, umrahmt von Nadelwald in seiner frostigen Morgensuppe. Aber das Ruckeln des Jeeps war nur kurz unterbrochen, die Betonstraße hinter der Abzweigung zum Steinbruch rissig und kaum breiter als der Waldpfad. Links von ihr stieg der hecken- und grasbewachsene Kamm an, eine stufenloser Buckel, übersichtlich und ohne Bäume, nur am Wegrand, während auf der rechten Seite der Hang wellenartig abfiel, eine geschwungene Welle, die alles kreuz und quer ins Tal geschwemmt hatte. Die Gegenstraße lag viel tiefer. Unten standen vereinzelte windschiefe Hütten und selbstgezimmerte Holzschober, abgezäunte Gemüsegärten, manche unter Folie abgedeckt, daneben ein Bachgraben. Vor allem jedoch Grasflächen. Dann fing oberhalb schon der lang gestreckte Zaun an. Der Buckel ging über in mehrere Stufen und bildete Plateaus, auf denen Seibold im Novemberdunst beim Hinaufblicken die Pferdekoppeln sah. Im Tal fingen die Häuser an. Die Dächer waren weiß um die Ziegeln. Jedes Haus hatte mindestens ein Stück Garten, groß genug für einen Rasenmäher. In manchen brannte Licht. Die Auffahrt zum Reitstall kam in Sicht, eine geteerte Kurve, die von der Betonstraße abzweigte und von Hecken gesäumt war. Das offene Gelände oberhalb hörte auf und der Wald fing wieder an. Vor dem Jeep tauchten plötzlich zwei Lichter auf, wurden größer. Seibold fuhr direkt darauf zu, er grummelte verärgert, schaltete herunter und bremste langsam ab, genau wie der schwarze Pick-up, in dem zwei Leute saßen. Kühlerhaube an Kühlerhaube kamen sie zum Stehen. Die Motoren brummten. Seibold wartete, was passieren würde. Der Weg zurück zum Anfang der Betonstraße war kürzer, als der zur Auffahrt zum Reitstall.

Gleich darauf hupte der Pick-up. Seibold grummelte, hörte wie der Pick-up noch einmal hupte. Diesmal gab er sogar noch Lichtsignal. Er wusste wer darin saß, ohne die Gesichter zu sehen. Kopfschüttelnd legte er den Rückwärtsgang ein, warf den Arm über den Beifahrersitz, verdrehte den Nacken und stieß etwa achtzig Meter zurück. Der Pick-up folgte ihm die ganze Strecke, stets dicht vor ihm, als würde er den Jeep fort drücken. Zwischen den Stoßstangen blieb kein Meter Platz. Erst an der Auffahrt lösten sie sich voneinander. Seibold bremste und beobachtete wie der Pick-up vor ihm einschwenkte und seine Rücklichter hinter der Kurve verschwanden. Noch einen Moment lang stand er da und sah nach der leeren Kurve. Dann murmelte er einen Fluch und fuhr wieder vorwärts, schneller als zuvor. Der Jeep verließ den Rundweg. Die rissige Betonstraße wurde breiter. Seibold fuhr an einer stillgelegten Schuhfabrik vorbei, mitten ins Dorf. Auf den Stufen vor der Kirche stand eine Gruppe von Leuten in Sonntagskleidern, mit umgeschnallten Fotoapparaten. Hinter dem Gebäude, in dem bis vor einem Jahr Post und Bank gewesen waren, bog der Jeep in eine ansteigende Seitenstraße. Seibold hielt vor einem der sauberen Häuser mit seinem sauber rausgeputzten Vorgarten, in dem niedriger Buchs wuchs. Er parkte, stieg aus und klingelte am Eisengatter. Sein Atem qualmte. An der Haustür mit seinem aufgehängten Kranz aus Tannenzweigen waren noch die verwischten Kreidezeichen von letztem Januar zu sehen.

„Morgen, Walter. Kalt heut”, gähnte der Tierarzt und wischte sich die Augen. Er trug einen Morgenmantel aus rotem Frotté, Wollsocken und Pantoffeln. Seine mageren Waden waren bläulich und blass wie die Tageszeit.

„Un Doktor?” nickte Seibold.

„Soweit. -” Braun kam ans Gatter geschlurft, öffnete. Sein heller Vollbart war wie das Polster in einem Spatzennest. „Und was bringen Sie mir wieder?”

Er folgte Seibold zum Kofferraum.

„Ham Sie nicht bald alle Säue abgeknallt in ihrem Revier?”

„Im Gegenteil. Seit letztem Jahr haben se wieder geworfen wie verrückt. Oben bei Lampings ham se letzte Woche die ganzen jungen Birken angefressen”, berichtete Seibold. „Alles im Arsch. Un beim Wanderverein ham se auch die Faxen dicke. Überall sin die Wege umgepflügt wie mit ‘m Traktor.”

„Moment.”

Während Braun ins Haus schlurfte, um seine Sachen zu holen, betrachtete Seibold die Sau. Dann sah er dem Tierarzt zu. Der klappte das mitgebrachte Mäppchen auf, griff eine der Spritzen und nahm der Sau Blut ab, bevor er einen Schnitt machte, mit der Pinzette ein paar Fleischfasern ausriss und in ein Röhrchen schob.

„Kommen Sie.”

Seibold ging hinter ihm ins Haus, durch den Seitengang in die teilweise geflieste Garage. Braun wischte im Gehen über den Lichtschalter. „Und, wie geht es Ihnen?” fragte Braun beiläufig und begann zu hantieren. Da war der Tisch, das Waschbecken. Auf dem Tisch stand das Mikroskop. Er hockte sich und untersuchte die Proben.

„Gut Doktor, sehr gut”, nickte Seibold, stellte sich neben den Tisch und fummelte den Schal unter sein Kinn. „In letzter Zeit überleg ich nur immer wieder, ob ich mich nicht erschießen soll?”

Mit spöttischer Miene sah Braun kurz auf. Sein Vollbart war wie das Polster in einem Spatzennest.

“So, oder so”, meinte Seibold und deutete mit seinem Zeigefinger erst auf seinen offenen Mund, dann auf seine Schläfe.

„Wenn Sie dazu einen medizinischen Rat wollen, schießen Sie sich in den Pons, ins Stammhirn, das wirkt totsicher”, entgegnete Braun, kniff wieder das Auge zu. Aus seinem vorgeschobenen Nacken reckte sich der oberste Halswirbel. „Aber vielleicht sollten Sie vorher doch überlegen, ob ihnen das weiterhelfen würde.”

Seibold schüttelte den Kopf. Er hatte die Wollmütze aufbehalten, nur die Handschuhe ausgezogen und besah sich seine Knöchel mit ihrer spröden Haut.

„Nein, nichts würd’ irgendwas helfen und ändern würd’ es genauso wenig. Außer dass meine Mutter dann den Laden übernehmen würd. Aber kein halbes Jahr und sie hätt’ alles durchgebracht. Wenn sie nicht schon alles zur Beerdigung rauschmeißen würd’. Ehrlich, man darf ihr keine fünfzig Euro in die Hand geben. Es ist als würd’ das Geld bei ihr in Rauch aufgehen”, erzählte er gleichmütig und machte auf einmal mit seinen Armen eine ausladende Bewegung. „Puff - und weg ist es.”

Braun auf dem Stuhl nahm sich jetzt die Fleischprobe vor. Sein Bart streifte beim Blick auf Seibold über den Frotté seiner Schulter.

„Na, dann schlage ich vor, Sie bleiben vorläufig doch besser am Leben.” Er glotze wie eine schläfrigen Eule, lächelte.

„So gesehen ja. Und statt mich selbst, könnt ich ja auch einen andern abknallen. Überlegen Sie, Doktor, Säue bei denen sich’s lohnt, gibt’s ja immer genug.”

“Ihr Wort in Gottes Ohr”, murmelte Braun. “So schindet man Zeit.” Abrupt stand er auf und wusch sich am Waschbecken die Hände. „Übrigens Ihre Sau, Walter, ist gesund wie ein Fisch im Wasser.”

“Das wusste ich.”

Seibold wartete bis ihn Braun nach draußen brachte. Am Gatter drehte er sich um, zog am Reißverschluss seiner Jacke und holte unentschlossen das Portemonnaie heraus.

„Wie viel?”, fragte er, während Braun seine Hände unbeteiligt in die Taschen schob.

„Tun sie bloß das Geld weg, sonst krieg ich ‘n Hustenanfall.”

Seibold steckte das Portemonnaie wieder weg und zog am Reißverschluss.

„Ihr Tisch ist wie immer reserviert, Doktor.”

Er gab Braun die Hand und ging zum Jeep.

„Wiedersehen, Walter.”

„Bis dann, Doktor. Ich seh Sie zum Wildbraten, Sie und ihre Frau und wen sie auch sonst mitbringen wollen.”

Der Jeep fuhr los, wieder vorbei an der Kirche, vor der niemand mehr stand, die Straße hinauf, bis zum Fußballplatz, der zur Gaststätte gehörte. Ein einzelner Wagen stand davor. Der Hinterhof mit seinem geräumigen, gemauerten Schuppen war gepflastert, der Fußballplatz aus Sand. Seibold parkte im Hinterhof, er schnallte den Gewehrkasten über und betrat den Hintereingang der Gaststätte. Es war offen und drinnen warm, als er in die Küche kam. Er knipste das Licht an, sah sich um, knipste aus. Dann ging er zur Treppe, stellte den Kasten gegen das Geländer, stopfte Mütze und Handschuhe in die Jackentaschen und ging in den Speisesaal, in dem Wände und Decke verkleidet waren mit dunklen Holzpaneelen. Das Ganze im ländlichen Jagdstil. An jeder Wand hingen etliche Jagdtrophäen, Hirschköpfe mit Geweihen, Keilerköpfe. Hoschi, der Koch hockte an einem der langen, massiven Tische und las Bildzeitung. Vor ihm stand eine leere Kaffeetasse voller angetrockneter Nasen.

„Jow, bist aber früh.”

„Un?”

Seibold stellte sich hinter den Tresen, zog am Jackenreißverschluss und schraubte an der Kaffeemaschine. Unter der Jacke trug er einen Pullunder mit einem Muster aus grünen Streifen.

“Heut ist doch die Firmung von den Meins ihrer Kleinen.”

„Ja? A-so, Firmung”, meinte Seibold zerstreut und massierte seine linke Hand, ehe er auffuhr. „Ich kümmre mich um die Sau. Wen hast du eingeteilt?” Er schlürfte den Espresso und schmatzte.

Hoschi legte die Zeitung beiseite und kam zum Tresen. Als Arbeitskleidung trug er nur einen faltigen Vorbinder. Sein Gesicht mit dem gestutzten Backenbart und den fleischigen Ohren erinnerte an einen Schimpansen.

„Die Margit, die Andrea und die andre, die Kleine da, die die die Dings da…”, er schnippte, „na… die Schneider angebracht hat, die von den Hartmanns.”

„Die Rote mit dem langen Zopf?”, meinte Seibold gleichmütig und glotzte ins Espressotässchen.

„Genau die. Die ist erst sechzehn. Hast du das gewusst?”

Seibold stellte das Tässchen in die Spüle. “Nein.”

„Und hat schon so große Euter. Bei der will man direkt Stallknecht spielen”, lachte Hoschi.

„Nicht so schweinisch!”, fuhr Seibold herum und sah ihn an, so nachdrücklich und ernsthaft, dass Hoschi verlegen wurde: „Macht ja nichts.”

Dann runzelte er die Stirn: „Oder denkst du, die weis es nicht selbst.”

Mit schelmischer Freude fuhr er fort. “Die weis das ganz genau, und ob.”

„Hör auf, jetzt!”, meinte Seibold scharf, aber weder gekränkt, noch herausfordernd, und ohne jede Spur von Wut, es klang, als würde er nur auf einer Überzeugung beharren.

Hoschi war beschämt: „Is ja gut. Mannmann, regst dich gleich auf wie ’ne Betschwester.”

Er blickte zur Seite und stützte sich auf den Tresen.

„Ach, is mir doch scheißegal”, verwarf Seibold und setzte sich in Bewegung. „Ich nehm mal die Sau aus”, murmelte er und nickte. Wieder lauter, gab er mit fuchtelndem Zeigefinger Anweisung: „Pass auf, dass die zwei richtig bedienen. Und fangt rechtzeitig an. Sonst fangen die gleich wieder an bei der Rechnung von wegen Rabatt.”

„Mach ich, mach ich, Chefchen.”

Hoschi wurde wieder unbefangen.

“Hast ganz Recht. Bloß weil der Kerl Bürgermeister is, denkter er kann uns abzocken”, ging er dem kleineren Seibold bis zur Küche hinterher und ereiferte sich: „So wie’s letzte mal, als seine Kleine Kommunion oder sowas gehabt hat.”

„Na, dann pass ja gut auf.” Seibold knipste das Küchenlicht an. Sein Gesicht war gleichmütig.

„Ich nehm dann mal die Sau aus.”

Er ließ Hoschi stehen und wühlte saumselig in einer Schublade, dann nahm er den Ausbeiner und fuhr mit dem Daumen seitlich über die Klinge. Nochmals griff er in die Schublade und nahm den Wetzstahl heraus, während es in der Küche lebhaft wurde, Hoschi eifrig die Kühlhaustür aufriss, zuwarf, vorbereitete, Töpfe aufstellte, Küchengeräte anschloss.

Ausbeiner und Wetzstahl in der Hand latschte Seibold nun hinüber zum Schuppen und verschwand in der Seitentür. Dabei dampfte er, als käme er aus der heißen Wanne. Schließlich fuhr er den Jeep rein und machte hinter sich wieder zu. Etwa eine halbe Stunde verging, ehe er wieder herauskam, noch dampfender, noch mehr am schwitzen, über dem Pullunder jetzt in einer langen Gummischürze, auf der Blutspritzer klebten. Schweigend holte er aus der Küche die Bürste und ließ den Putzeimer volllaufen mit heißem Wasser. Hoschi war noch allein, aber in den Töpfen brutzelte schon das Essen für die Kommuniongäste. Noch einmal verschwand er eine Weile im Schuppen. Die Aushilfen für den Tag waren schon da, als er, diesmal in seiner neonorangenen Winterjacke mitsamt Tasche zurückkam. Er hörte sie in der Küche reden, ging aber nicht rein. Stattdessen nahm er vorsichtig, um jedes Geräusch zu vermeiden den am Geländer abgestellten Gewehrkasten auf und stieg seufzend die Treppe rauf. Dort zog er die Stiefel aus. Hinter der Wohnungstür mit ihrer altertümlichen facettenartigen Einfassung aus gelbem Zierglas, brannte Licht. Einen Moment verharrte er, ehe er den steckenden Schlüssel umso schneller drehte, die Tür aufriss und sich gleich darauf selbst gegenüberstand. Ohne darauf zu achten, drehte er sich am Spiegel zur Seite und glitt mit einem flüchtigen Blick auf seine Gestalt daran vorbei. Alles war still, so still, dass er die Standuhr im Wohnzimmer ticken hörte. Er blieb stehen, lauschte und sah durch den Gang, worauf er mit leisen Schritten die Tür schräg gegenüber der Wohnungstür ansteuerte.

Vorsichtig drückte er die Klinke durch. Er ließ die Tür einen Augenblick offen, ging in seinen dreckigen Wollsocken durchs Zimmer zum Schrank und verstaute darin den Kasten. Die Einrichtung bestand aus alten Möbeln und erinnerte mit seinem überholten Globus neben dem Schreibtisch und dem Klappsekretär zum Teil an sein früheres Jugendzimmer. Kein Stück war jünger als dreißig Jahren, fast so alt wie Seibold selbst oder auch noch älter, etwa so alt wie die dicke Frau, die plötzlich in der Türöffnung stand. Graue Locken, schwarzer Wollpullover, lange beige Hosen. Seine Mutter. Sie hatten das selbe schwabblige Doppelkinn, den selben kurzen Hals. Nur sah man vom Wollpullover die Nähte. Sie trug ihn verkehrt herum.

“Morgen, Walter. Und, war‘s denn schön in der Schule?”

“Ja.”

Seibold nahm die Brille ab, blinzelte, rieb sich die Augen und die Dellen am Nasenrücken. Noch immer trug er die Jacke. “Du weist doch, ich bin immer fleißig am lernen” fügte er hinzu. “Aber warum bis du wach?”

Er drehte sich von ihr fort, legte seine Brille ins aufgeklappte Etui auf dem Schreibtisch und begann die Gegenstände darauf hin und her zu rücken, während sie starr auf der Türschwelle zum Zimmer stand, so als traue sie sich nicht weiter rein.

“Walter?”

Ihre Stimme klang bittend, und Seibold warf ihr mit den Armen auf den Tisch gestützt einen vergrämten Blick über die Schulter zu.

“Was is?”

“Willst du was Heißes, ne Suppe oder so, ‘s kann dauern bis dein Vater heute heim kommt.”

Sie fasste nach ihrem Ellbogen, betastete ihn und redete auf ihn ein. “Du hast nicht mal Pausenbrot mitgenommen, dass ich dir gemacht hab für deine Tabletten.”

“Is gut.”

“Is gut? Du mit deinem schwachen Herz - du kannst die Tabletten doch nicht so nehmen.”

“Is gut, is alles gut, Mutti.”

Mit gleichmütigem Nicken ging er auf sie zu und griff nach der Tür. Er schürzte die Lippen und sah ihr ins Gesicht: “Ich mach meine Hausaufgaben und leg mich dann hin.”

Langsam, sodass sie von selbst zurückwich, schloss er die Zimmertür. “Bis später.”

Seibold drehte den Schlüssel.

Endlich zog er die Jacke aus, hängte sie an einem Bügel in den Kleiderschrank. Es war vollkommen still. Durchs Fenster fiel trübes Novemberlicht, das unscharfe Schatten um die Gegenstände warf und nicht mehr viel heller werden würde. Ganz kurz knarrten die Matratzenfedern, rieb die Bettdecke, dann lag Seibold bis auf die Stiefel und Jacke seitlich im Bett. Eine Weile machte er keine Bewegung. Seine Augen waren offen. Schließlich fasste er unter der Decke in seine Hosentasche und führte das Ding vor seine Augen, Ausgiebig befühlte er den Keilerzahn. An der Tür klopfte es.

“Walter.”

Seine Mutter wartete einen Moment auf Antwort. “Walter willst du Kaffee und Kuchen?”

“Nö.”

Seibold nahm den Zahn in seine Faust.

“Lass mich.”

“Es is noch vom Bienenstich da von gestern, oder soll ich dir Plattgeschmelzte machen?”

“Jetzt, um die Uhrzeit!” rief Seibold verärgert. “Nein!“ Dann kam nichts mehr.

Noch einmal knarrte es, als er den Zahn wieder in die Hosentasche steckte, seine Beine anzog, das zweite Kopfkissen vor seiner Brust zurechtlegte und umarmte.

Draußen vor der Gaststätte hörte er Stimmen, Gemurmel, Gelächter, Kindergekreische. Die Taufgesellschaft war eingetroffen. Seibold schloss die Augen und fing an zu flennen.

Herausgeputzt stand die alte schwere Flak oben am Seitenausgang des Museums. Ihr faustdickes Kanonenrohr zeigte in freier Sicht schräg über die geteerte, zweispurige Landstraße auf die hügeligen, dürren Weiden.

Falk Golz ging hin und her unter der Mündung - das Handy am Ohr und das Zigarillo in der Hand, wippte im Oberkörper, redete lebhaft, lachte und sah nach seinem Handgelenk.

Darauf steckte er das Handy zurück in seinem langen, grauen Übermantel.

Die Krawatte über seinem faltigen, weißen Kragenhemd hatte einen schlampigen Knoten.

Noch einmal zog er am Zigarillo, kam dabei die Steintreppe runter und schnippte sie in den Busch.

Das Museum an der Kreuzung war hellrot, dreistöckig, aus viereckigen Sandsteinblöcken. Es gab nur ein einzelnes Nachbarhaus, gegenüber, zu dem ein riesiger Garten gehörte.

Golz sah hinüber, dann an der Fassade des Museums zu seinem Vater hinauf, der mit eingehängtem Eimer auf der Leiter stand und das Schild überm Eingang wischte. Es tropfte auf die Türstufe. Der Alte streckte sich, stieg eine Sprosse tiefer, quietschte mit dem Schwamm übers Schild.

Sein Atem dampfte.

“‘n alter Herr wie du, sollt nicht mehr so hoch hinaus wollen, vor allem am Tag des Herrn.”

“Arggg, halt die Klappe!” raunzte der Alte und drehte ihm kurz den Kopf zu, auf dem er eine alte Wehrmachtskappe mit aufgenähtem Museumsschild trug. “Wer macht’s denn sonst? Duuu!”

Golz grinste.

“Un, wo bleibt denn dein Kollege?” meinte der Alte und drückte den Schwamm aus.

“Der kommt gleich.”

Golz hörte einen Wagen und drehte sich um.

“Wenn man vom Teufel spricht.”

Die Limousine fuhr auf den vorm Museum auf den Streifen aus Rollsplitt und parkte.

Ein Mann im Anzug, um die fünfzig, stieg aus, und Falk riss zum Gruß den Arm hoch.

“Ihr seid schwer zu finden!” rief der Mann im Näherkommen und hielt Golz die Hand entgegen, der sie ihm kräftig schüttelte.

“Hugo”, zeigte er auf den Alten, “das is mein alter Herr - heißt es wenigstens.”

“Tag, Eppler is mein Name.”

Der Alte musterte den Fremden einen Moment von der Leiter, dann schnellte seine Hand zur Mütze und er machte er einen nachlässigen Militärgruß.

Noch verwundert, sah Eppler, dass Golz ihm zuzwinkerte.

“Fahren wir?” fragte er Golz.

“Ihr Geschäftsleute, immer auf ‘m Sprung was, und kommt nicht zur Ruh” rief der Alte. “Falk!”

“Wir sehn uns später, Paps.”

“Das is der Fluch, Herr Golz”, entgegnete Eppler und trat vor dem plätschernden Strahl, der nun das Schild herunterkam, einen Schritt zurück.

“Fluch?”

Der Alte tat, als höre er das Wort zum ersten mal, worauf er nickte. “Ach so.”

Golz nahm Eppler beim Arm.

“So isses, und jetzt ab, sonst fangen die ohne uns an.”

“Hey?”

“Nein, lass den stehen, wir fahren mit dem hier.” Golz zeigte auf den Landrover seines Vaters. “Oder meinst du ich hab Bock drauf anzuschieben?”

Er stieg ein, warf Drahtrolle und Drahtschere vom Beifahrersitz auf den Rücksitz und wartete, bis Eppler saß. Dann fuhren sie los.

Im Seitenspiegel beobachtete Eppler wie der Alte auf seiner Leiter kleiner wurde und um die Ecke verschwand.

Die Straße bildete den Übergang von den Wiesen zum Wald. Den ganzen rechten Straßenrand entlang war vom einen zum andern Katzenauge Drahtschnur gespannt, an der in gleichmäßigen Abständen CDs baumelten.

Eppler leckte seine Lippen, setzte an, und fragte: “Wie lange macht sie das schon?”

“Mit den Gäulen?”

“Ja.”

Der Landrover rauschte am Wald vorbei, während die kurvige Landstraße den Blick auf eine Streuobstwiese freimachte, hinter der das gelbe Ortsschild, begleitet von alten Häusern auftauchte. Am Straßenrand stand eine verfallene Mühle.

Golz erzählte: “Seit sie hergekommen is. Das werden jetzt so zehn Jahre sein. Da hinten” , fuhr er vor Epplers Gesicht den Arm aus und zeigte über den Bach zum bewaldeten Hügel, “fängt die Koppel an. Hat gleich angefangen zu bauen, als sie herkam, aus Westfalen glaub ich. Der Quadratmeter war billig. Hat gleich ‘n schönes Stück abbekommen. Seitdem hat sie mindestens sechs, sieben Leuten die angrenzenden Parzellen abgekauft und sich ausgedehnt. Die Bäume lässt sie rausmachen für neue Weiden. Da wird das Ding immer größer. Mittlerweile hat se mehrere Koppeln, frag mich wie viel, ich war bisher nur zweimal oben. Die Scheune is ‘n mordsmäßiger Bau. Nur hat sie’s jetzt, wo ihr schon fast der ganze Hang überm Tal gehört, nich mehr so einfach.”

Die geschwungene, abfallende Straße, tauchte mitsamt dem Landrover ins Dorf ab. Wie senkrecht in die Erde gerammt, erschienen die neu gebauten Häuser den Hang hinauf. Aus manchen Schornsteinen stieg Rauch.

“Die Leute lassen sich nich mehr so leicht abspeisen. Die wissen, dass sie das Land unbedingt haben will, und fordern natürlich ihre Preise. Auch wenn auf den Parzellen nur ‘n paar vertrocknete Tanne stehen, in denen der Borkenkäfer sitzt. Aber die Zucht is ziemlich bekannt. Die braucht gar keine Werbung zu machen. Sie is ziemlich clever, weist du. Die Leute kommen auch so alle paar Jahre von überall, um sich ‘n Gaul anzuschaffen. Meinetwegen, jedem das seine. So, genug erklärt. Wirst’s ja gleich sehen”, warf 34Eppler einen ironischen Blick zu und bog in die holprige Betonstraße mit der alten Fabrik ein. “Dich schlepp ich ja auch mit.”

Golz griff in seinen Mantel, holte einen Flachmann vor und nahm einen Wurf.

Der Wagen holperte jetzt stark. Durch die Erschütterungen hatte er Mühe zu trinken und den Verschluss zuzuschrauben.

“Is bloß zur Auffrischung, sonst benehm’ ich mich vielleicht daneben. Und außerdem wird mir vom Quatschen der Hals trocken. Auch?”

Eppler schüttelte den Kopf.

“Is nich so deine Welt, was?”

“Keinen Meter, Blaublütige und Neureiche und so, die, die mit schnellen Spekulationen ’n Haufen Kohle machen und den Trotteln von Kleinaktionären einreden, sie könnten alle Millionäre werden. Bestimmt auch ’n paar verirrte Akademiker. Du weist, was das heißt. Guck mich an, ich bin vielleicht ‘n Großkotz und Prolet, aber ich versuch nich vorzutäuschen, was Besseres zu sein. Ich bin was ich bin, aber nich, was andre gern hätten, dass ich bin. Aber in deren Kreisen frisst man sogar, um zu sparen, das angebissene Pausenbrot von andern und erzählt seinesgleichen vom Nobelfraß im Vier-Sterne-Restaurant. Geschenkt, Mann! Das Schlimme is nur, dass diese Leute von sich denken, sie sind normal und es wär normal, dass man so tut, als hätt’ man die Weisheit mit Löffeln gefressen. Wer nich dazugehört is bei denen ‘n armes Schwein. So sieht’s nämlich aus. Jedenfalls, ich hab dir’s versprochen, also bring ich dich hin. Sein Geld wird man ja so und so los. Hoffentlich hast du auch genug dabei. Frau Baronin hat nämlich gesalzene Preise, die nimmt es garantiert nur in bar. Aber dafür is sie adlig”, bemerkte Golz.

Beide lachten.

“Und ‘nem gekauften Gaul, guckt man schon mal gern ins Maul” merkte Eppler an und klopfte sich auf den Brustkorb.

“‘n Schaukelpferd käm dich bestimmt billiger, Hugo.”

“Schon, nur sag das ma meiner Tochter. Die reißt mir die Rübe runter.”

“Kenn ich. Mein Sohn is genauso. Der will und will, achtzehn Jahre alt und teufelt mich wie mein eigener alter Herr. Tja, wir ham unsre Kinder wohl zu arg verwöhnt. Andrerseits, wozu sollen wir alten Trottel sonst gut sein, als den Geldbeutel aufzumachen. Wenn wir schon verdienen”, lachte Golz.

Vor der Frontscheibe kam die Auffahrt in Sicht.

Am Wegrand, bedeckt mit zerkleinerten Tonscherben, stand ein Aufsteller: „Zum Reitstall“, dazu der Pfeil - soviel konnte Eppler noch sehen, bevor Golz in die anfangs flache die Kurve ging.

Es schotterte und ruckelte, noch mehr als auf der Betonstraße. Mit wankenden Köpfen schossen sie, von Hecken und kahlen Ästen gestreift, über das flache Stück um die lang gestreckte, bananenförmige Kurve. Und dann hörte der Tonschotter auf, es wurde steil, und Golz trat plötzlich scharf auf die Bremse.

“Hä!” grunzte er schadenfroh. “Siehst du, genau das mein ich. Keine Ahnung von Tuten und Blasen.”

Der Sportwagen vor ihnen mit seinem Kennzeichen aus München stand auf der Stelle, die Reifen in den Fahrrillen. Sie konnten durch die Heckscheibe die beiden Leute sehen, den Fahrer, einen Mann und daneben eine Frau. Die Steigung war rutschig vom Frost, und die aufgebrochenen Fahrrillen hatten den rutschigen Untergrund in Schlamm verwandelt. Der Mann gestikulierte. Offenbar stritten sie sich. Wieder setzte der Fahrer an, der Sportwagen brummte auf, schlitterte auf dem rutschigen Untergrund, während er nach hinten Dreck aufwarf, zur Seite und schmierte ab. Der Fahrer schlug aufs Lenkrad und schüttelte den Kopf. Golz hupte und stieg aus.

Der Untergrund an der Stelle war ein einziger zäher, schwarzer Brei, der über die Ränder seiner Halbschuhe quoll. Er winkte, hob eine Hand an den Mund und rief: “Hey, wollt ihr da unbedingt rauf?”

Der Fahrer ließ das Fenster runter und streckte seinen Kopf mit der in Haar gesteckten Sonnenbrille heraus.

“Aber immer, klar!”

Die Frau auf dem Beifahrersitz hockte da wie eine frisierte Puppe.

“Ich hab ’n Seil. Wenn ihr wollt?”

Der Fahrer nickte. “Wenn’s klappt.”

Der Sportwagen sprang an.

“Gut, ’n Stück zurück, bis runter. Wir hängen euch ran. Lass einfach rollen, wir fahren zurück”, dirigierte Golz, stieg ein und stieß Eppler, der die Arme verschränkt hielt und die Stirn runzelte, sachte mit dem Ellbogen an. Mit summendem Motor stieß Golz zurück durch die Kurve, während das Heck des Sportwagens so dicht herankam, dass Eppler den Aufkleber vom Tennisclub lesen konnte.

Der Auspuff züngelte.

Unten am Übergang zwischen Betonstraße und Auffahrt wurde es breiter. Golz lenkte rüber, damit der Sportwagen vorbeikam.

Der Fahrer hatte es eilig.

Als er im Rückwärtsgang an ihnen entlang schoss und abbremste, blieb zwischen den Autos kaum eine Handbreit Platz.

Eppler, der sich bislang unbeteiligt gehalten hatte, schüttelte den Kopf, während der Sportwagen hinter sie fuhr.

Golz ließ den Motor laufen und stieg aus. Eppler fasste nach dem warmen Gebläse, dann nach seinem Mantelkragen. Durch die geöffnete Kofferraumklappe kroch ihm die Kälte in den Nacken. Er hörte und spürte das Hantieren am Wagenheck. Am Seitenspiegel beobachtete er, wie der ebenso lange wie breite und kräftig gebaute Golz das Seil an der Stoßstange des Sportwagens einhakte.

Während die Leute darin regungslos verharrten, kniff Golz aufmunternd die Augen zusammen und hob zum Abschluss den Daumen. Dann ließ er sich wieder neben ihn in den Sitz plumpsen, sah zurück und fuhr an, bis das Seil sich von den Tonscherben hob, zu straffen anfing und er den Widerstand spürte, es aufhörte nachzuschwingen, so wie ein gespanntes Gummi nachschwingt. Im Schritttempo, wobei sie den knirschenden Untergrund hörten, kroch der Landrover durch die Kurve.

Der Motor des Sportwagens lief noch immer.

“Hatter Angst, dass ihm die Stoßstange abreißt?” meinte Eppler und kramte in seinem Mantel nach den Handschuhen.

“Sieht ganz so aus. Vor allem wohl aber Schiss, dass er sich die Schühchen dreckig macht.” Sie kamen zur Steigung, aber der Geländewagen zog ohne Probleme weiter.

Rechts vom Weg stand noch Wald, auf der linken Seite verschwanden die Büsche und die dürren, frostdurchzogenen Wiesen mit einer der Holzkoppeln am Hang wurden sichtbar. Sie waren fast schon oben auf dem ersten Hügel. Ganz weit oben, auf dem Kamm, schlossen die Tannenzacken mit dem hellgrauen Himmel ab, durch den ein paar Wolkenfetzen jagten.

Eppler witzelte jetzt: Jeden Tag ‘ne gute Tat, wie?”

“Und ob Hugo, und ob! Hängter noch dran?”

Sie lachten.

Dann wurde es eben, und auf einmal wuchs vor ihnen die geteerten Straße aus dem Boden, doppelt so breit wie der Weg, mitsamt dem roten Ziegeldach des großen Reitstalls, zu dem sie sich schlängelte und dabei leicht ablief. Denn der Reitstall lag etwas tiefer, in einer Mulde. Erst dahinter fing der zweite Hügel an. Golz stoppte. Er war noch nicht ausgestiegen, als der Fahrer schon das Seil loshakte. Eppler sah wie er den Seilhacken in der Hand hielt und drauflosredete, während Golz noch auf ihn zuging und schon das Seilende entgegengehalten bekam. Im nächsten Augenblick saß er bereits hinterm Steuer.

Mit versonnener Miene verfolgte Eppler wie der Sportwagen an ihnen vorbei rauschte. Golz schlug den Kofferraum zu.

Gleich darauf fuhr der Landrover durch das brusthohe Eisengatter auf den betonierten Hof des gemauerten und weißgetünchten Reitstalls, auf dem sich ein ganzer Fuhrpark angesammelt hatte; mehr als ein Dutzend Autos aus ganz Deutschland parkten dort kreuz und quer. Sogar zwei Kennzeichen aus Holland waren dabei. Es gab kein Durchkommen. Eppler stieg aus, zog seine Krawatte zurecht und sah über die feuchten Autodächer zum Eisenzaun, der nur an einer Stelle unterbrochen vom Seitentor, dass auf die Weiden führte, rings um den Reitstall verlief.

“Ganz schön voll”, meint er und zog unterm Mantel die Schultern zusammen. Ihm war kalt.

Golz reckte sich, gähnte und schmatzte.

Aus seinem Mund stieg dünner Dampf.

“Ich riech schon den Pferdemist”, steckte er sich ein Zigarillo an, warf Eppler einen müden Blick zu und trat, damit der grobe Dreck von seinen Schuhsohlen fiel mit seinen Schuhspitzen abwechselnd gegen den Vorderreifen des Wagens.

Sein geschorener Kopf deutete auf den Reitstall.

“Komm.”

Mit harten Schritten gingen sie zwischen den Autos durch. Der dunkle Beton war verdreckt von schlammigen Reifenspuren und aus dem Profil abgefallenen Erdbrocken, die sie unter ihren Schuhen platt traten.

Golz fasste den kalten runden Türknauf, drückte die angelehnte Tür auf und tauchte ein in den Stallgeruch und das leise Gemurmel von Stimmen.

Doch viel wärmer war es auch hier nicht.

Er blickte von der Mauer geradeaus in den hohen viereckigen Durchgang. Der glattgerechte Sand der Reithalle schimmerte gelb in der Beleuchtung, wie ein unbelebtes Stück Strand in der Sonne.

Im selben Moment nickte ihm von rechts jemand zu, ein schlaksiger, junger Mann in Stiefeln, Blazer und Reitmütze, ausstaffiert wie ein Springreiter.

Nur ihn sah er sofort. Die Goldknöpfe auf dem dunkelblauen Stoff blitzten im Licht der Decklampe, auch seine gewienerten Reitstiefel.

Er stand nicht umsonst an der unverputzten Mauer direkt am Eingang im Vorraum, hielt nicht umsonst die Hände hinterm Rücken. Ohne sich aufzuhalten meinte Golz: “Servus, dich kenn ich doch, du bist Augustin, oder? Sag, wie läuft ‘n das hier ab?”

Der junge Mann lächelte und wippte auf den Stiefelspitzen: “Lassen Sie mich raten, Sie sind dieser Golz nicht wahr?”

“Stimmt, und wie läuft das hier so ab? Ich will ein Pferd kaufen.”

“Da sind Sie hier richtig. Die Auktion fängt, ja so in zehn Minuten an. Um sich die Pferde da richtig anzusehen, ist zwar kaum noch Zeit, aber Sie können ja vorab einen Blick riskieren. Da hinten”, er zeigte geradeaus den Gang hinunter, ehe er den Arm wieder hinter den Rücken nahm, “sind unsere Ställe.”

“Wir riskieren ’s. Dank dir, Großer.”

Golz drehte sich rasch zu Eppler und fasst ihn im Fortlaufen am Ellbogen.

“Falls Sie hungrig sind oder etwas trinken möchten - wir haben drinnen ein Buffet.”

“Alles klar”, tönte Golz, während er mit Eppler durch den schmalen Gang in Richtung der Stimmen marschierte, und hob, ohne sich nach Augustin umzusehen, den Arm.

Der Beton war sauber gefegt, ohne eine Spur von Pferdedreck oder verklumptem Stroh, nur gezeichnet von einzelnen, frischen Schuhabsätzen.

Rechts von ihnen begannen die Ställe, eine gerade Reihe aus etwa zwanzig brusthohen Boxen, unten aus Holz, oben offen. Davor schritten einzelne Käufer umher. Einer kaute.

Eppler blinzelte. Von der hohen Decke strahlten kahle Neonröhren. Ganz hinten, bei der Stallwand, stand eine mehrköpfige Gruppe vor einer offenen Box, darunter der Fahrer des Sportwagens. Manche hielten Stielgläser in den Händen.

Golz blieb stehen und wies auf die erste Box.

Die Pferde schnaubten.

“Da hast du deine Gäule.”

Eppler hielt an, legte die Hände auf den Rücken und trat an die Box. Mit interessierter Miene betrachtete er das Pferd, schritt behäbig weiter zum nächsten, beäugte.

“Das hier is nich schlecht - glaub ich”, meinte er und sah zu Golz, der die Arme vor der Brust verschränkt hielt und nur mit den Schultern zuckte.

Eppler rieb sich kurz den Nacken und schritt unschlüssig weiter. Gegen die Mauer gelehnt, beobachtete Golz ein paar Minuten lang, wie die Interessenten die Pferde beäugten.

Schließlich stieß er sich mit der Schulter von der Mauer und ging geradewegs zu einer der Boxen.

“Naaa, werden Sie’s kaufen?”

Die Frau erschrak, drehte sich um und runzelte einen Augenblick die Stirn, bis sie ihn erkannte.

Sie war höchstens Anfang zwanzig, anderthalb Köpfe kleiner als er, trug noch immer die Sonnenbrille.

“Ich? Ich versteh nichts von Pferden.”

Ihr braunes glattes Haar sah aus als hätte ihr jemand einen Blumentopf aufgesetzt und ringsum abgeschnitten.

Golz grinste, trat neben sie und stützte sich aufs Gatter der Box und sah auf das Pferd.

“Ich auch nicht.”

“Und was machen Sie dann hier?”

“Dasselbe wie Sie. Man hat mich mitgeschleppt, nein, eingespannt. Aber das kommt ja aufs Gleiche raus.”

“Machen Sie das eigentlich öfter?”

“Was?”

“Na das”, zog sie mit der linken Hand an ihrem rechten Zeigefinger. “Abschleppen.”

“Sicher” meinte Golz, ohne sie anzusehen, “ich tu überhaupt nichts andres.”

Sie lachte matt.

“Ich meins ernst. Und sie lachen.”

Golz sah sie an. Ihr Gesicht wurde wieder reserviert.

“Mein Bruder - ”, seufzte sie, und drehte sich kurz zur Gruppe um. “Er ist ein echter Freak. Pferde, Golf, Segeln…”

Sie machte eine unruhige Bewegung, wie um fortzugehen.

“Ich kapier. Aber Sie nicht. Und Sie müssen auf ihn aufpassen, damit er nicht über die Stränge schlägt.”

“Das ist schon öfter passiert”, sah wieder nach der Gruppe. “Und es wird immer wieder passieren.”

“Aber man glaubt Ihnen nicht. Und ihre Eltern - ”

“ - vertrauen ihm nicht”, wendete sie den Blick zu Golz.

“Und Ihnen?” meinte Golz und blickte von ihrem Gesicht zu Eppler. “Wird Ihnen vertraut?”

“Schon. Aber entschuldigen Sie, ich muss…”

Golz hob die Hand und blickte ihr nach, als sie wieder zur Gruppe ging.

Mit gelangweiltem Ausdruck schlenderte er zurück zu seinem alten Platz an der Mauer, lehnte sich dagegen und sah zu, wie sich Eppler von Neuem den Nacken rieb und zur nächsten Box schlenderte.

Gerade als er beim dritten Pferd stand, hörte er den Aufruf einer Frau und drehte sich um.

Alles strömte hinaus in die Halle.

Kurz darauf schlenderte die plaudernde Gruppe an ihm vorbei. Vorne am Eingang stand Augustin in seinen Reitstiefeln, stand einen Moment kerzengerade da, gerade lange genug um gesehen zu werden, ehe er wieder verschwand.

Golz stieß sich mit der Schulter von der Mauer, fasste in seine Manteltasche, kramte und zog einen Kaugummi heraus. Mechanisch packte er den Kaugummi aus der blitzenden Folie.

Sein Blick folgte der Gruppe.

Die Baronin führte sie an. Sie trug grüne Gummistiefel. Ihre Blicke begegneten sich.

“… bin ich überzeugt heute das passende zu finden”, hörte er, wie sich im Vorbeigehen ein Mann mit gelber Schirmmütze, auf der Reitclub, e.V. stand, mit einem anderen unterhielt.

Eppler sah wie Golz zum Zeichen das Kinn reckte.

Wortlos schlossen sie sich an.

Augustin stand neben der Stalltür, nun zusammen mit drei anderen Leuten in Reitmontur, die warteten, bis alle Besucher die Ställe verlassen hatten.

Er stand völlig aufrecht und regungslos, wie ein sauber ins Holz geschlagener Nagel, nur einmal vom Hammer getroffen, gerade so, dass er feststeckt. Allein die Reitgerte in seiner herabhängenden Hand war neu an seinem unveränderlich förmlichen Auftreten.

Die Arme vor der Brust verschränkt, stieg Golz über den Türrahmen. Er versuchte gleichmütig zu wirken. Trotzdem war er gelangweilt.

Als er Augustin sah, lächelte er und zwinkerte ihm zu. Aber Augustins Gesicht blieb ausdruckslos. Allein seine Brauen runzelten sich unwillkürlich, ohne dass er sie kontrollieren konnte.

Im Schlepptau der Gruppe betraten Eppler und Golz die Reithalle.

Der Sand war weich wie am Strand, knirschte und gab unter den Schuhsohlen nach. Im Vorübergehen sahen sie das aufgebaute Buffet, die schwarz gekleidete Servicekraft mit ihrem weißen Vorbinder, die gerade die Platten abdeckte.

Einige Leute aus der Gruppe stellten ihre Gläser ab, andere griffen noch hastig nach einem Häppchen.

In einer Linie, fast an der Außenwand standen vier lange Klappbänke. Daneben ein Campingtischchen, samt Schreibkram und zwei Campingstühle.

Die Baronin wies mit ausgestrecktem Arm auf die Klappbänke. Eppler rieb seine Hände.

Es war kühl.

Er und Golz setzten sich ganz nach außen.

Die Leute schwatzten noch.

Dann stand die Baronin vor der Gruppe.

“Liebe Freunde des Reitsports, liebe Gäste - Sie können mich alle hören? Die Akustik ist ausreichend? Schön. Ich glaube, ich brauche Ihnen über die Zucht und meine Person nichts zu erzählen. Sie kennen mich und wissen, welchen Wert ich einem Reitpferd beimesse”, meinte sie, während Augustin in die Halle kam und hinter ihr zum Tisch trat. “Außerdem haben Sie alle unsre Pferde persönlich in Augenschein genommen - und vielleicht bereits ihre Wahl getroffen. Kurze Rede, langer Sinn”, klopfte sie sich auf die Oberschenkel, “lassen sie uns zur Tat schreiten.”

Die Baronin stellte sich vor den Campingtisch, sah nach dem Eingang zur Reithalle und wartete.

Als erstes kam ein Schecke. Ein älterer Mann mit Wollmütze führte das Pferd im Schritt an den Bänken entlang. Es schnaubte, warf den Schweif.

Die Baronin erläuterte kurz und knapp: “Rubikon, ein Zweijähriger, Thrakener. Der Preis ist angesetzt auf sechzehntauend.”

Sie nickte dem Reiter zu, worauf sich das Pferd in Trab setzte und zweimal im Bogen durch die Halle lief.

Golz lehnte sich vor und sah an den Interessenten vorbei, erst zur Frau mit der Sonnenbrille, dann zum Tisch, an dem jetzt Augustin saß, den Schreibkram und die Unterlagen sortierte und von der Baronin leise Anweisungen bekam. Inzwischen ließ der Reiter das Pferd einzelne Dressurübungen ausführen.

“Siebzehn“, rief der Mann mit der gelben Schirmmütze, wobei er sich stellte.

Das Pferd blieb unter den Zügeln seines Reiters vor den Interessenten stehen und zeigte sein Profil.

Aus seinem Maul stob heißer Atem.

“Achtzehn”, rief ein anderer und stellte sich ebenfalls.

“Zwanzig”, rief wieder der mit der Schirmmütze. “Legen Sie sich ins Zeug, Doktor”, forderte er seinen Konkurrenten auf.

“Nein, da passe ich.”

Der Doktor setzte sich.

“Herr Meier bietet zwanzig”, vermerkte die Baronin. “Zum ersten, zweiten.”

Sie klatschte einmal in die Hände. “Verkauft.”

Herr Meier setzte sich wieder. Pferd und Reiter verließen im Schritt die Halle.

Das nächste Pferd erschien, diesmal gleich im Trab. Die langen Haare des Mädchens, das darauf saß, hüpften unter dem Reithelm.

“Sappho, eine zweijährige Stute, Holsteiner. Vater Hyperion, Mutter Penelope. Wir fangen an bei vierzehntauend.“

Eppler hielt die Hand vor, beugte sich zu Golz und flüsterte: “Hübsches Mädchen.”

“Hm, das ist ihre Tochter”, entgegnete Golz leise und sah zur Reiterin, die Runde um Runde drehte. “Aber wenn du mich fragst, geschenkt. Ein verwöhntes Püppchen, das sieht man. Rennen alle zu Mutti, wenn ihnen der Boden zu heiß wird.”

“Fünfzehn!” blökte Eppler und schoss dabei in die Höhe, so unvermittelt, dass Golz überrascht zurückfuhr.

“Fünfzehn sind geboten.”

Die Baronin wartete einen Moment, ehe sie die Reiterin heran winkte, um den Fuchs nochmals direkt vor dem Interessenten anzuhalten.

“Fünfzehn zum ersten, zweiten…”

Sie klatschte in ihre großen, roten Hände und wies auf Eppler. “Erworben vom Herrn mit der roten Krawatte. Ein gutes Geschäft.”

Die Versteigerung ging noch eine halbe Stunde weiter.

Anschließend reihte sich Eppler in die Schlange der Käufer ein. Einige Leute verließen die Halle. Die Baronin saß nun im Campingstuhl an dem Tischchen und kümmerte sich um die Verträge. Gewissenhaft erledigte sie die Formalitäten, stand danach jedes mal auf und gab dem Käufer ihre große, rote Hand.

Im anderen Campingstuhl hockte Augustin.

Er hatte keine Beschäftigung, streckte seine langen Beine in den glänzenden Stiefeln aus, bohrte die Absätze in den Sand und betrachtete seine Goldknöpfe. Die Reitgerte steckte unter seiner Achsel.

Eppler unterschrieb, gab der Baronin die Hand und sah sich nach Golz um, der am Eingang zur Halle zusammen mit einer Frau stand. Sie trennten sich kurz bevor er dazukam. Er sah noch wie sie die Schultern zuckte und hörte wie Golz sagte: “… na dann.”

“War das nicht die von vorhin?”

“Ja” meinte Golz trocken.

Sein Blick ging über Epplers Schulter.

“Hallo Falk. Nanu, bist du unter die Reiter gegangen?” fragte die Baronin.

Eppler drehte sich um.

Die Baronin hielt die Verträge, zum Rohr gerollt, in ihrer großen Hand. Ihre Hände waren eigentlich viel zu groß für sie, zu groß für ihre ansonsten sportliche Figur.

“Nein, bestimmt nicht”, erwiderte Golz kopfschüttelnd. “Ich bin ja manchmal schon froh, wenn ich nicht vom Stuhl fall.”

“Hätte mich auch gewundert, wenn du damit angefangen hättest. Es passt nicht zu dir, du brauchst den Geruch von Maschinen”, fuhrwerkte die Baronin mit dem Papierrohr.

“Und von Öl und Qualm. Jaaaa, das ist meins.”

“Nun, wenigstens weis ich jetzt, dass du ein Ritter bist.”

“Tatsächlich?”

Epplers Blick pendelte zwischen Golz und der Baronin. Irgendetwas Vertrauliches stand zwischen beiden.

“Ja. Deine Rettungsaktion vorhin. Sibylle hat mir alles erzählt.”

“Nichtigkeit”, wehrte Golz ab.

“Immerhin scheint dein Bekannter etwas für gute Reitpferde übrig zu haben.”

“Eppler heiß ich, nochmals angenehm”, mischte sich Eppler ein und gab der Baronin abermals die Hand.

“Van Rug.”

“Aber nicht ich. Meine Tochter.”

“Kluges Mädchen”, meinte die Baronin mit einem Blick auf Golz, der seine Hände in die Manteltaschen vergrub. “Trotzdem nett von dir, mal vorbeizusehen.”

Unvermittelt wendete sie sich an Eppler: “Sie müssen wissen, Herr Eppler, Falk ist zwar ein grober Glotz, aber immerhin besitzt er eine eigene Meinung. Das ist mittlerweile selten. Vor allem, da man gleichzeitig noch gut mit ihm auskommt. Wenn nur seine LKWs nicht immer so durchs Tal donnern und er sich endlich seine Zigarillos abgewöhnen würde.“

Golz machte ein verschmitztes Gesicht und räusperte sich: “Tja.”

“Sie bleiben doch noch etwas, ja? Wir haben einen kleinen Stehempfang vorbereitet. Da können wir noch in aller Ruhe über alle möglichen belanglose Dinge plaudern.”

“Danke…”

“Dank dir, aber wir müssen los”, warf Golz ein. Er hob die Manteltaschen an. “Ich hab dringend noch ‘n paar Sachen zu regeln, heute, nachher.”

“Schade”, meinte van Rug ernsthaft. “Wenigstens sagst du nicht, dass es dir leid tut. Da sehen Sie es, Herr Eppler - grob, aber verträglich. Wann möchten Sie ihre Stute denn gerne abholen?”

“Pffff, wie passt Ihnen Diensttag.”

“Wenn Sie zwischen neun und neun Uhr kommen - ich verbringe mittlerweile den halben Tag hier oben. Die Zucht ist fast meine ganze Freude. Selbstverständlich umso mehr, da sie mir noch Geld einbringt.”

“Einverstanden, Dienstag also. Auf Wiedersehen, Frau van Rug oder lieber Baronin?” gab ihr Eppler zum dritten mal die Hand. Nur ließ er sie diesmal, nach dem Händedruck, nicht gleich los, sondern bog sie zurecht und beugte sich vor zum Handkuss.

Van Rug ließ ihn gewähren, wenngleich mit widerwilliger Miene.

“Nicht Baronin. Van Rug oder Silvia, mein Mann war zwar Flame, aber ich bevorzuge es direkter”, sah sie Eppler, der ihre Hand losließ, nun direkt in die Augen. Durch die verzogenen Strichbrauen wurde ihr Gesicht einen Moment lang streng. “Falk.”

Golz nickte. “Wir sehen uns.”

Ganz langsam drehte er sich um.

“Auf Wiedersehen.”

“Auf Wiedersehen.”

Eppler und Holz verließen die Halle.

Erst als sie im Wagen saßen, fing Golz zu reden an. Vorher nahm er allerdings noch einen Wurf aus seinem Flachmann.

“Tut mir leid, wenn ich dir die Tour vermasselt hab.”

“Du wolltest nicht bleiben.”

Golz warf den Motor an, drehte das Gebläse auf und steckte sich ein Zigarillo an. “Nein.”

Im Schritttempo lenkte er den Landrover vom Gestüt.

“Also auf mich hat die Frau schon freundlich gewirkt. Sah übrigens auch richtig gut aus.”

Golz lachte auf. “Was hast du erwartet? ‘ne alte Krähe?”

“Nein, wo denkst du hin! Aber nachdem, was du erzählt hast…”

Der Wagen ruckelte die Steigung hinunter.

“Hat dich beeindruckt, wie?” grinste Golz und schob sich das Zigarillo in den Mund, um beidhändig zu lenken. Die abstehende Asche fiel ihm achtlos auf den Mantel.

“Dich nicht? Die scheint richtig was los zu haben.”

Golz nahm das Zigarillo aus dem Mund. “Hat sie, aber du kennst sie nicht.”

“Und du?”

“Vielleicht, ein kleines bisschen jedenfalls.”

Das Wasser gurgelte durch den Abfluss und nahm den Schaum mit den Bartstoppeln mit.

Noch einmal drehte er es auf, ließ seine Hände volllaufen und wusch sich, die Armbanduhr am Handgelenk, das Gesicht. Er nahm das bereitgelegte, brettharte, raue Handtuch, wischte damit sein Gesicht trocken und betrachte sich ausgiebig im Spiegel.

Sein scharf rasiertes Kinnbärtchen war kaum größer als eine Motte. Doch er nahm zwei Ladungen Rasierwasser, eine davon nur fürs Bärtchen, ehe er das Trägerunterhemd überstreifte, nach dem Kleiderbügel griff und das weiße Kragenhemd anzog.

Das prasselnde Wasser hinter ihm in der Dusche gurgelte in den Abfluss. Durch den Spiegel sah er, mit einem kurzen Seitenblick, wie seine Frau aus der Dusche stieg. Ihr breiter und stämmiger Körper mit den großen Hängebrüsten glänzte und dampfte aus jeder Speckfalte.

Eilig begann sie sich abzutrocknen.

Während er von der Ablage überm Waschbecken die versilberten Manschettenknöpfe aus der Schatulle kramte, warf er immer wieder prüfende Blicke zu ihr.

Als sie fertig war, sich das Handtuch über ihren Brüsten umband und den Scheibenabzieher nahm, kümmerten ihn nur noch die Manschettenknöpfe. Er steckte sie fest, drehte die Ärmel, zupfte.

Seine Frau ließ das Handtuch fallen und zog die Unterhose an.

Er schnappte ihr Handtuch vom Boden, öffnete die Badezimmertür und drehte sich halb im Hinausgehen um.

“Mach hin. Schatzi.”

Sie nickte.

Meins zog die Tür zu und ging im Kragenhemd hinüber ins Schlafzimmer. Er trug nur enge kleine Unterhosen, an den Füßen Tennissocken und Hausschuhe.

Die Schanktür quietschte. Die Wahl seiner Anzugsfarbe war für ihn einfach. Er hatte nur taubenblau. Einen davon zog er an, schloss die Schranktür und betrachtete von Neuem seine schmächtige Gestalt im Spiegel.

Schließlich schritt er gemessen die Treppe hinunter, wobei er mit dem nassen Handtuch übers Geländer fuhr. Aus der Küche drang das Rumoren der Kinder, sie brabbelten, zankten, klapperten, aber er ließ sich nicht davon abbringen, das Handtuch unten, neben der Maschine, sorgfältig auf den Wäscheständer zu hängen.

Dann betrat er die Küche.

Alle drei hockten auf ihren Plätzen um den Küchentisch, hatten Frühstücksschalen vor sich und waren eifrig am Löffeln. Pia, die ein Lätzen trug, hing die Milch am Kinn und sie stocherte ungeschickt in der Schale, in dem aufgetürmten Haufen Cornflakes.

Alle drei trugen Festkleidung, die Mädchen weiße Kleider mit Spitzen. Der Junge, eine weiße Plastiknelke im Revers, sah aus wie ein kleiner Bestattungsunternehmer. Meins ging zum Tisch. Die Platte war voller verschütteter Zuckerkörner.

“Wieso haut ihr euch jetzt Cornflakes rein?” fing er an. “Ich hab euch doch gesagt, dass wir nach der Kirche gleich essen gehen.”

Die Kinder ließen die Löffel in den Schalen, nahmen die Hände unter den Tisch und sahen beschämt auf Meins. Mitten auf dem Tisch standen die leere Flasche Frischmilch, die aufgeschraubte Zuckerdose aus Porzellan und eine aufgerissene Packung Cornflakes.

“Jan, was hab ich vorhin gesagt? Was hab ich gesagt?”

Jan, sein Ältester, zehn Jahre alt, guckte ihn schweigend an.

“Was hab ich gesagt?” wurde Meins’ Stimme lauter.

“Wir haben Hunger gehabt.”

“Interessiert mich nicht. Was ich gesagt hab. Was?”

“Wir sollen nichts essen, hast du gesagt, weil wir gleich nach der Taufe Essen gehen.”

“Eben, das hab ich gesagt. Und was macht ihr?”

Den Mund wütend verzogen, betrachtete Meins nacheinander die betretenen Kindergesichter und ließ seine Faust auf die Tischplatte fallen, dass die Löffel in den Schalen klapperten.

“Hört mir hier denn überhaupt keiner mehr zu”, schnaufte er. “Eure Mutter nickt bloß und ihr glotzt mich an. Los, Johannes, Lina, Pia”, griff er die leere Pappschachel und die Flasche, “Abräumen! Aber zack zack!”

Die Stühle um den Tisch knarrten, als die Kinder ungestüm aufsprangen und ihre Schüsseln schnappten.

Meins trug die Flasche zur Spüle, spülte sie aus und schraubte den Deckel auf.

“Hey”, wehrte er den Ältesten ab, der die Cornflakes in den Mülleimer unter der Spüle leeren wollte, “dir geht’s wohl zu gut, was! Da wird nichts weggeschmissen. Stellt eure Schüsseln gefälligst in den Kühlschrank. Das könnt ihr heut Mittag noch mampfen. Jetzt geht’s erst mal zur Taufe.”

Er trocknete seine Hände am Handtuch und schob den Siegelring an seinem linken Mittelfinger etwas hinauf, damit er an die feuchte Stelle kam.

“Aber dann schmecken die nicht mehr”, hielt Lina dagegen und sah zu ihrem Vater.

“Euer Problem.” Meins ließ das Handtuch fahren. “Sag mir lieber, ob du die 10 Gebote noch kennst.”

Das Mädchen nahm ihrer Schwester die Schale ab und schob sie in den Kühlschrank. Die mit kleinen, bunten Magneten am Kühlschrank befestigten Familienfotos hielten gleichmäßig voneinander Abstand.

“Und? Ich höre”, legte Meins den Zeigefinger an sein Ohr.

“Die kenn’ ich”, erwiderte Lina.

“Ich höre.”

Lina wurde bockig: “Ich sag doch, die kenn’ ich!”

“Gut, wenn du meinst”, lenkte Meins ein, zerriss die Cornflakesschachtel, stopfte sie aber nicht in den Müll, sondern trug sie ins Nebenzimmer. Dort stand der Holzofen. Er stopfte die Pappstücke in den Bastkorb, der mit seinem Papier und der Pappe zum Anfeuern diente, knipste das Licht an und rief nach Pia, die sofort angesprungen kam. Darauf ging er in die Hocke und fasste die Kleine bei den Schultern.

“Zeig mal her, mein Goldstück. Wieder eingesaut?” Das Kind lutschte am Daumen und schüttelte den Kopf. “Wundert mich.” Er lächelte, quietschte auf und stahl ihr die Nase, ehe er die Kleine umdrehte, ihr auf den Hintern klopfte und sie lossprang. “Ab jetzt. Geh und guck, was die Mama macht.”

Gleich drauf öffnete Meins im Flur den großen Garderobenschrank und zog seinen akkuraten Trenchcoat über. Ordentlich wie im Schuhladen reihten sich die Schuhpaare, allesamt geputzt, mit der Spitze nach vorne und die Schnürsenkel nach innen gekehrt, auf zwei Brettern über dem Innenboden.

Grüblerisch fasste Meins nun oben in die Kommode und zog die handgroße, hellgraue, unförmige Tasche heraus. Mit ihrer dünnen Schlaufe fürs Handgelenk, die an einen Schwanz erinnerte, ähnelte sie einer abgemagerten Ratte. Zügig öffnete er den Reißverschluss. Die Brieftasche darin war dünn wie ein zusammengequetschter Fladen, an den Kanten verbogen und abgestoßen. Eng vor der Brust, führte er sie fast bis zu seiner Nase. Noch grüblerisch steckte er sie wieder in die Tasche und fuhr mit dem linken Handgelenk in die Schlaufe. Er schnallte seinen Trenchcoat, rief: “Jaaan, Lina, Piiia!”, und zog dabei die guten Kinderjacken von den Bügeln.

“Anziehen, los!” kommandierte Meins und stöhnte auf. Gleichzeitig strich er sich übers Kinnbärtchen. “Wo ist eure Mutter? Wo ist die Mama mit Ruth?”

Die Tasche baumelte an der Schlinge um sein Handgelenk wie eine erschlagene Ratte.

Pia blökte und ließ sich hopsend die Jacke anziehen: “Sag ihm, ich bin gleich da, sag ihm, ich bin gleich da.”

Als seine Frau mit der Jüngsten in den Flur kam, hielt Meins die Klinke der Haustür umfasst.

In plumper Gemächlichkeit beugte sie sich vor. Ihr wadenlanger dunkelgrüner Rock, spannte zwischen ihren Beinen. Sie stieg in die Stöckelschuhe, schwankte kurz. Um sie anzutreiben, tapste Meins mit dem Fuß auf der Stelle. Seine Miene wurde mürrisch.

“Können wir jetzt endlich Steffi?” ließ er ungeduldig den Schlüsselbund kreisen, der mit seinem Schlüsselring auf seinem Zeigefinger steckte.

Die Kleine riss an seinem Arm und quengelte, bis er die Haustür öffnete.

“Gehen wir zu Fuß?” fragte seine Frau. Sie stöckelte wie eine Ente die gepflasterte Auffahrt des Hofs hinunter, während Meins die mit weißem Plastik verkleidete Haustür abschloss, einen scheelen Blick auf ihren Gang warf und die Augen verdrehte.

Der geflochtene, vorweihnachtlich geschmückte Kranz aus Tannenzweigen an der Haustür wackelte, als Meins nachdrücklich die Haustür zuzog.

Draußen ging gerade ein kalter Wind.

“Bist du noch gesund?” Er drückte an seinem Schlüsselbund den Knopf für die elektronische Vorrichtung der Garage. “Natürlich fahren wir mit dem Auto. Bin ich vielleicht ‘n Bettler, dass wir zu Fuß gehen? Soweit kommt’s noch.”

Hinter ihm rollte das Garagentor in die Höhe und gab den Blick frei auf den Kühler des vorwärts eingeparkten Van.

Meins schrammte seitlich an der Garagenöffnung entlang, stieg ein und fuhr den Wagen in den Hof. Seine Frau besorgte es, Pia in ihren Sitz zu schnallen.

Die ganze Zeit klopfte Meins auf Lenkrad. Als alle saßen, schoss er durchs offene Tor und blindlings übers Trottoir auf die Dorfstraße.

Die Häuser des Dorfes, viele aus Sandstein, waren in einem tadellosen Zustand, wie geleckt mit ihren durch Figuren und Steinformen verzierten Vorgärten und Hofeinfahrten, an deren niedrigen Zäune, in Form geschnittener Hecken standen.

Der Himmel war grau und es roch nach Regen, vielleicht sogar Schnee, wenn es etwas kälter gewesen wäre.

“Hoffentlich tauchen nicht wieder so viele von deinen Verwandten auf - die ganzen Fressköpfe!” bemerkte Meins zu seiner Frau hin. “Du hast doch nur mit deinen Eltern telefoniert, oder?”

“Sicher”, meinte sie gähnend, kramte in ihrer vollgestopften Handtasche und presste ihre Lippen in ein Tempo.

Auf dem Rücksitz begannen die Kinder zu hampeln.

“Mir gibt das jedes mal ‘n Stich, wenn eins von unsren Taufe hat und wir dort hingehen. Der Kerl wird immer reicher, und wir kommen zu nichts”, erklärte Meins und lenkte den Wagen an den Rinnstein vor der Kirche.

Die Strecke vom Haus zur Kirche betrug keine dreihundert Meter, geradewegs vom hinteren Teil der Hauptstraße zur Kreuzung.

“Sind noch nicht da”, murmelte er und stellte den Motor aus.

“Wen meinst du?”

“Wer? Von wem rede ich denn: Seibold!” fuhr Meins sie an und schüttelte verständnislos den Kopf, bevor er fortfuhr: “Was glaubst du, was der schon zur Seite gelegt hat mit seiner Klitsche. Gelder, noch von seinem Alten”, machte er eine abwinkende Bewegung. “Der hat den Bogen raus, ha! Da können wir einpacken mit unsrem mickrigen Farbenladen.”

“Aber du bist der Bürgermeister, Schnuffi”, schmeichelte ihm seine Frau.

Meins stellte die Augen, fasste seine Frau am Hinterkopf und lenkte die Annäherung ihrer Lippen auf seine Backe.

“Klar”, seufzte er und strich sein Kinnbärtchen, “wenn’s nur mal was helfen würde.”

Sein Blick fiel in den Rückspiegel, von den unruhigen Kindern auf seine eigenen schwarzen Brauen, die sich verengten. Das Auto, das aus der Gegenrichtung auftauchte, lenkte seinen Blick vom Rückspiegel.

“Da sind sie. Los, aussteigen!” rief Meins und drehte sich mit ausgefahrenem Zeigefinger zu Lina: “Und du gibst der Oma diesmal ‘n Kuss, verstanden?”

“Aber die Oma stachelt.”

“Egal, du gibst ihr ‘n Kuss!”

“Dann will ich ‘n Euro.”

Meins knirschte mit den Zähnen, dann aber ging seine Wut schlagartig in ein breites Lächeln über.

Er nickte zustimmend: “Abgemacht, ein Euro” und stieß die Wagentür auf. Wieder lächelte er und winkte, noch bevor der Wagen parkte und die Schwiegereltern ausstiegen.

“Hallllo, Ewald, Annemarie!”

Er schüttelte seinem untersetzen Schwiegervater unterm Altmännerhut kräftig die Hand, küsste seine Schwiegermutter neben das Ohr. Alles als erster, worauf er ein verblüfftes Gesicht machte: “Ihr seid allein? Wo sind denn die andern?”