Flammen der Versuchung - Kresley Cole - E-Book

Flammen der Versuchung E-Book

Kresley Cole

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Beschreibung

Liebe gegen alle Widerstände

England, 1856. Ohne ein Wort des Abschieds hatte Hugh MacCarrick seine große Liebe Jane Weyland verlassen. Auch wenn ihm diese Entscheidung das Herz gebrochen hat, besaß er keine andere Wahl. Als Janes Leben - Jahre später - von einem Auftragskiller bedroht ist, zögert er nicht, zu ihrer Rettung zu eilen. Kaum stehen sich die beiden gegenüber, flammen alte Gefühle auf und brennen lichterloh. Doch Hugh darf sich der Leidenschaft nicht hingeben, denn er hütet ein dunkles Geheimnis, das Jane und ihn zerstören könnte ...

"Es ist unmöglich diesen Helden und ihrer leidenschaftlichen Geschichte nicht zu verfallen." Romantic Times

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Seitenzahl: 446

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung ZitateProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152Die AutorinDie Romane von Kresley Cole bei LYXImpressum

KRESLEY COLE

Flammen der Versuchung

Ins Deutsche übertragen von Jutta Nickel

Zu diesem Buch

England 1856. Zehn Jahre ist es her, da verband eine schwärmerische Jugendliebe die schöne Jane Weyland und den stattlichen Schotten Hugh MacCarrick. Doch es war eine Liebe, die unerfüllt bleiben musste. Denn ohne ein Wort des Abschieds, ohne jede Erklärung verschwand Hugh von einem Tag auf den anderen aus Janes Leben. Zahllose Tränen hat sie deswegen vergossen. Jahre des Schmerzes liegen hinter ihr. Jetzt glaubt Jane endlich über den schwarzhaarigen Schotten hinweg zu sein, doch mitnichten: Als Hugh urplötzlich wieder vor ihr steht und ihr zum Schutz vor einem Attentäter – auf Wunsch von Janes Vater – die Ehe anbietet, gerät ihre Welt aus den Fugen. Längst vergessen geglaubte Gefühle erwachen von Neuem, und es dauert nicht lange, bis die beiden nicht mehr dagegen ankämpfen können. Doch Hugh hütet ein dunkles Geheimnis, das ihre Liebe zu zerstören droht …

Dieses Buch widme ich all denen, die auch heute noch auf der Suche nach echten Abenteuern sind, jenen geheimen Erben des Viktorianischen Zeitalters, die stürmisch in die Geschichte einfallen, sie in sich aufsaugen, unbekümmert und selbstvergessen in ihr herumtollen – und so klug sind, sich nicht in ihr zu verlieren.

Disziplin ist nichts anderes, als Konsequenzen aus dem Weg zu gehen.

Wer sich beherrschen kann, wird zuletzt immer die Oberhand gewinnen.

HUGH LOGAN MACCARRICK

Es ist keine Kunst, einen starken Mann in die Knie zu zwingen. Aber ihn dort zu halten, ist eine verzwickte Angelegenheit …

JANE FARRADAY WEYLAND

Prolog

Nordafrika, Königreich Marokko, 1846

»Schieß endlich, MacCarrick!«, befahl Davis Grey zum wiederholten Mal. Sein Tonfall klang harsch, aber er sprach leise, um ihr Versteck nicht zu verraten, das unterhalb eines einsamen Gipfels des Atlasgebirges lag.

Hugh schenkte ihm keine Beachtung. Es würde das erste Mal sein, dass er einen Menschen tötete. Und ihm war vollkommen klar, dass es kein Zurück geben würde, nachdem er die Tat begangen hatte – eine gewichtige Entscheidung für einen Mann, der gerade erst zweiundzwanzig Jahre alt geworden war.

Ja, verdammt noch mal, er würde es tun – aber erst, wenn er dazu bereit war.

Hugh löste den Blick vom Zielfernrohr und nahm eine Hand vom Gewehr. Er fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, wischte den Schweiß und auch den Sand fort, der ihm wie mit Nadeln in die Augen stach. Es war Hochsommer, und das fast unnatürlich wirkende Blau des Himmels erstreckte sich endlos über ihnen. Kein Wölkchen war zu sehen. Hugh blinzelte in die Sonne, deren grelles Licht weißlich auf ihn herabbrannte.

»Warum zum Teufel zögerst du?«, drängte Grey. »Es ist schon Mittag.« Die Sonne stand direkt über ihnen und warf kaum Schatten. Selbst der beste Schütze ließ sich manchmal durch Schatten narren.

Grey war einige Jahre älter als er, und Hugh wollte den Mann nicht enttäuschen, der ihm seit langer Zeit sein Mentor war. Wenn man den MacCarrick-Clan nicht zählte, war Grey sein einziger Freund. Abgesehen von seinen Brüdern war er der Einzige, mit dem Hugh überhaupt Zeit verbringen wollte. Und abgesehen von einem Mädchen mit rotbraunem Haar, für das Hugh jederzeit getötet hätte. Er lachte bitter und legte erneut das Gewehr an.

Genau genommen töte ich für sie, dachte er unwillkürlich.

Indem er einem fremden Menschen kaltblütig das Leben nahm, überschritt er eine unsichtbare Grenze. Und genau das lag in seiner Absicht.

»Verdammt noch mal, MacCarrick!« Grey riss sein eigenes Gewehr aus dem Lederholster und schraubte das Fernrohr wieder auf. »Wir werden garantiert vier Wochen warten müssen, bis wir wieder so gut zum Schuss kommen!«

Grey hatte recht. Immerhin wusste der Verräter, dass man ihn für sein Vergehen töten würde. Vor einem Monat war der Mann geflüchtet und hatte sich im verlassenen Farmhaus eines Berbers verkrochen, das im Tal tief unter ihnen lag. In diesem Teil der Welt verfügte sogar ein so verrottetes Anwesen wie jenes dort unten über einen Innenhof, und genau dort kauerte der Mann jetzt. Mit der Pistole auf dem Schoß und dem neben sich auf dem Boden liegenden Gewehr beobachtete er den einzigen Zugang zum Hof. Nur von hier oben war er ungeschützt.

Sie hatten freie Bahn für den Schuss, aber sie wussten beide, dass Grey ein Ziel aus dieser Entfernung niemals treffen würde. Der Mann bevorzugte die Klinge als Waffe, wohingegen Hugh im Schießen geübt war und auf die Jagd ging, seit er alt genug war, ein Gewehr in den Händen zu halten. Außerdem wollte er es schnell erledigen, solange der Verräter sich noch allein im Hof aufhielt. »Ich tue es«, sagte Hugh leise mit einem Seitenblick auf Grey. Er weigerte sich zu glauben, dass Erregung in den Augen seines Freundes aufblitzte. Schließlich war es nichts als ein Auftrag, wenn auch ein grauenhafter. Hugh nahm den Mann im Hof erneut ins Visier. Es herrschte nur eine leichte Brise, aber das Ziel war mehr als eine Viertelmeile entfernt. Das grelle Licht der Sonne gehörte ebenso zu den Faktoren, die bedacht werden mussten, wie die Tatsache, dass der gut neunzig Zentimeter lange Lauf seines Gewehres in der Hitze warm geworden war. Und das traf auch auf die Kugel zu, die in der Kammer steckte. All das galt es zu bedenken.

Er strich mit dem Zeigefinger über die Sperre des Abzugshahns, bevor er die Fingerspitze auf den Bügel legte. Es war der Beginn eines Rituals, das er fast unbewusst vor jedem Schuss ausführte. Mit der anderen Hand umfasste er den Gewehrkolben, rieb mit dem Daumen zweimal über das Holz und verharrte dann reglos, während er tief Luft holte und dann ausatmete.

Fast sanft drückte er den Abzug. Der Schuss knallte, als hätte jemand eine Kanone abgefeuert, und hallte Hugh viel lauter in den Ohren wider, als er es je auf einer Jagd erlebt hatte.

Kaum zwei Sekunden später durchschlug die Kugel die Stirn des Mannes und schleuderte ihn zu Boden. Blut sickerte aus seinem Hinterkopf und tränkte den Sand. Seine Beine zuckten so heftig im Todeskampf, dass zu seinen Füßen eine Staubwolke aufstieg.

Es ist getan, dachte Hugh.

Er fühlte sich ausgebrannt.

Wieder entdeckte er so etwas wie Erregung in Greys Blick. »Noch nie ist mir jemand begegnet, der so ausgezeichnet schießen kann wie du, Schotte.« Grey klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, soff den Flakon leer, den er immer mit sich führte, und grinste.

Hugh war angewidert, fühlte sich aber zugleich seltsam erleichtert.

Sie saßen auf und ritten eilig ins Tal hinunter. Als sie nach einer Stunde das erste Dorf erreichten, verlangsamten sie das Tempo.

»Wenn wir wieder in London sind, werde ich Weyland berichten, dass du über dich selbst hinausgewachsen bist.« Greys Ton war jovial, in seiner Stimme schwang noch immer Aufregung mit.

Hughs Gesichtsausdruck musste verraten haben, dass die heitere Stimmung seines Freundes ihm Unbehagen bereitete.

»MacCarrick, schau mich nicht so an. Wenn du erst mal so lange dabei bist wie ich, werden wir ja sehen, ob du es nicht auch irgendwann lieben wirst.«

Es lieben? Hugh schüttelte den Kopf. »Es ist ein Auftrag«, erwiderte er bedächtig. »Mehr nicht.«

»Glaub mir.« Grey lächelte wissend. »Mit der Zeit wird es zu mehr … und irgendwann ist es dann das Einzige, was dir noch bleibt …«

1

England, London, 1856

Ein eiskalter Mörder, der seine Leidenschaft seit mehr als einem Jahrzehnt verleugnete …

Das war es, was Edward Weyland mit seiner kryptischen Nachricht in das Leben seiner Tochter zurückbrachte:

Jane ist in ernster Gefahr.

Seit Hugh das Sendschreiben Edward Weylands vor zwei Tagen in Frankreich erhalten hatte, hatte er es wieder und wieder gelesen. Und jedes Mal hatten sich seine Knöchel weiß verfärbt, so fest hatte er das Blatt Papier gehalten.

Wenn jemand es gewagt hatte, ihr etwas anzutun …

Als Hugh nach einem wahren Teufelsritt endlich das Stadthaus der Weylands erreichte, sprang er vom Pferd und wäre fast gestürzt, so kraftlos fühlten sich seine Beine nach den vielen Stunden im Sattel an. Sein Pferd war ebenso erschöpft wie er; seine Flanken waren schaumbedeckt und die kräftigen Brustmuskeln zuckten.

Hugh ging auf den Seiteneingang zu, den er immer benutzte. Auf der Treppe stieß er auf Weylands Neffen Quinton, der es sich auf den Stufen bequem gemacht hatte.

»Wo ist Jane?«, fragte Hugh ohne höfliche Vorrede.

»Oben«, entgegnete Quin. Er wirkte müde und abgespannt. »Sie bereitet sich vor. Auf ihren Abend …«

»Ist sie in Sicherheit?«

Als Quin geistesabwesend nickte, fühlte Hugh sich erleichtert. In den langen Stunden allein auf der Straße hatte er sich wieder und wieder die quälende Frage gestellt, in welcher ernsten Gefahr Jane schwebte. Er hatte dafür gebetet, dass sie unverletzt war, dass er nicht zu spät käme. Und jetzt, nachdem er erfahren hatte, dass ihr nichts zugestoßen war, verspürte er plötzlich den Hunger und den Durst, die er zwei Tage lang vollkommen ignoriert hatte.

»Wer passt jetzt auf sie auf?«

»Rolley hält vor ihrer Tür Wache. Und heute Abend hefte ich mich an ihre Fersen«, erklärte Quin.

Rolley war Edward Weylands Butler. Die meisten der Butler im exklusiven Londoner Stadtviertel Piccadilly waren gesetzte, ältere Herren von einer gewissen Grandezza. In der Würde, die sie ausstrahlten, verkörperten sie die Beständigkeit und die Traditionen, die das Schicksal einer Familie prägten. Rolley dagegen war erst Mitte dreißig. Er wirkte drahtig, seine formlose Nase war schon unzählige Male gebrochen worden, und die vernarbten Finger bezeugten, dass er ständig seine stahlharten Fäuste einsetzte. Hugh wusste, dass der Mann sein Leben für Jane geben würde.

»Ist Weyland im Haus?«, fragte er.

Quin schüttelte den Kopf. »Er kommt erst spät zurück. Er lässt dir ausrichten, dass er dich morgen früh sehen will, um dir die Einzelheiten zu erläutern.«

»Ich gehe zu …«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun«, unterbrach ihn Quin.

»Warum nicht, zum Teufel?«

»Erstens, weil deine Kleidung vollkommen verdreckt und dein Gesicht zerschunden ist.«

Hugh wischte sich mit dem Ärmel über die Wange und erinnerte sich zu spät an die schartigen Narben in seinem Gesicht.

»Und zweitens bin ich mir nicht sicher, ob Jane dich sehen will.«

Hugh hatte Tage im Sattel verbracht. Seine Muskeln waren verspannt, alte Verletzungen schmerzten ihn, und sein Kopf drohte zu zerspringen. Einzig und allein der Gedanke, bald wieder in Janes Nähe zu sein, hatte ihn diese Tortur durchstehen lassen. »Das ist doch Unsinn. Wir waren Freunde.«

Quin sah ihn merkwürdig an. »Nun, sie ist … sie hat sich verändert. Sie ist vollkommen anders. Vollkommen außer Kontrolle. Ich weiß nicht, ob ich einen weiteren Abend ertragen kann.« Energisch schüttelte er den Kopf. »Nein, ich kann es nicht. Nicht, wenn ich daran denke, was sie gestern Abend getan haben …«

»Wer? Wer hat was getan?«

»Die Acht. Oder jedenfalls drei von ihnen. Und zwei dieser drei sind meine Schwestern!«

Zu den in der guten Gesellschaft allseits berühmt-berüchtigten Acht Weylands gehörten Jane und ihre sieben Cousinen ersten Grades. Als Hugh sich ins Gedächtnis rief, zu welchen Verrücktheiten die Mädchen Jane schon früher animiert hatten, spürte er Ärger in sich aufsteigen.

»Aber das ist doch hoffentlich nicht der Grund, weshalb ich gerufen worden bin, oder?« Hugh hatte seinen jüngeren Bruder Courtland verletzt in Frankreich zurückgelassen und sein Pferd beinahe zu Tode gehetzt – ein Wallach, der ihm aus Dankbarkeit für seine Dienste geschenkt worden war. »Weil Weyland jemanden braucht, der Jane an die Kandare nimmt?«

Natürlich wäre Weyland nicht so dumm, Hugh aus diesem Grund zu sich zu rufen, und natürlich wusste der Mann, wen er in Hugh vor sich hatte. Denn er war es, der Hugh die Aufträge erteilte; er übermittelte ihm die Todesurteile im Namen der Krone. Aber andererseits hatte er keine Ahnung, wie tief Hugh sich Jane verbunden fühlte. Und wie lange schon …

Es war eine Obsession. Seit verdammten zehn Jahren …

Hugh schüttelte den Kopf. Nein, niemals hätte Weyland zu dem Mittel gegriffen, in seiner Nachricht die drohende Gefahr zu übertreiben.

»Weyland hat dir also nicht berichtet, was hier geschehen ist?« Quin musterte ihn aufmerksam. »Ich dachte, er hätte dir eine Nachricht gesandt.«

»Das hat er, aber ohne irgendwelche Einzelheiten. Aber was zum Teufel …?«

»Verflucht noch mal!« Rolley kam den Korridor entlanggestürmt. »Verflucht noch mal! Quin! Hast du sie gesehen?«

»Was ist los, Rolley?« Alarmiert war Quin aufgesprungen. »Du solltest sie doch im Auge behalten, bis sie das Haus verlässt.«

Der Butler warf Quin einen wütenden Blick zu. »Ich habe dir gleich gesagt, dass sie weiß, dass wir ihr folgen werden. Sie muss durchs Fenster geflüchtet sein. Und ihrer frechen Zofe hat sie befohlen, im Zimmer hin und her zu gehen, um vorzutäuschen, sie wäre noch dabei, sich anzukleiden.«

»Sie ist verschwunden?« Hugh packte Rolley an der Hemdbrust. »Wohin ist sie gegangen? Und wer ist bei ihr?«

»Sie geht zu einem Ball«, erwiderte Rolley hastig und sah dabei zu Quin.

Hugh schüttelte den Butler kräftig durch, wobei er bewusst das Risiko einging, von dessen stahlharter Faust einen Kinnhaken verpasst zu bekommen.

»Nun sag es schon«, forderte Quin den Butler auf. »Weyland wird ihm ohnehin alles erzählen.«

»Sie geht zu einem Maskenball. Zusammen mit Quins Schwestern und einer ihrer Freundinnen.«

»Was für ein Maskenball ist das?«, hakte Hugh nach und hatte durchaus eine Vermutung.

»Einer für Wüstlinge und Kurtisanen«, erklärte Rolley. »In einem der verlassenen Lagerhäuser in der Haymarket Street.«

Hugh fluchte laut, ließ Rolley los und zwang seine müden Beine, ihn zu seinem Pferd zu bringen, das ihn ungläubig anzublinzeln schien, weil die Reise offenbar immer noch nicht zu Ende war. Er biss die Zähne zusammen, spannte die Muskeln an und saß auf.

»Wollen Sie etwa die Verfolgung aufnehmen?«, fragte Rolley. »Eigentlich sollen wir ihr folgen. Weyland will nicht, dass sie es jetzt schon erfährt.«

»MacCarrick, du solltest dich ausruhen«, gab Quin zu bedenken. »Ich bin mir sicher, dass sie sich eine Droschke genommen haben. Und es herrscht ein fürchterlicher Verkehr. Ich habe also genügend Zeit zum Aufsatteln und werde mich dann dort ihrer annehmen.«

»Tu das.« Hugh wendete sein Pferd. »Aber ich reite jetzt los. Am besten, du verrätst mir, womit ich es zu tun habe.«

Quin wirkte so ernst, dass Hugh unwillkürlich die Zügel fester fasste.

»Nicht womit, sondern mit wem. Weyland ist überzeugt, dass Davis Grey unterwegs ist, um Jane zu töten.«

2

Hugh stockte der Atem, als er Jane zum ersten Mal seit beinahe zehn Jahren wiedersah. Sein schmerzender Körper, der nagende Hunger und die Erschöpfung – all das war sofort vergessen.

Er folgte ihr, blieb ihr, nachdem sie und ihre Begleiterinnen aus der Droschke gestiegen waren, dicht auf den Fersen, wich dabei immer wieder in eine abzweigende Gasse aus, während die Gruppe in Richtung Haymarket ging.

Schon die bloße Erwähnung David Greys hatte Hugh zu dem Entschluss getrieben, Jane zu holen und in Sicherheit zu bringen …

Eine schwere Hand packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest. »Ich hätte dir in den letzten zehn Minuten ein Dutzend Mal ein Messer in den Rücken stoßen können«, raunte eine tiefe Stimme hinter ihm. »Hast wohl den Verstand verloren, was?«

»Ethan?« Hugh riss sich aus dem Griff seines älteren Bruders los und warf ihm einen drohenden Blick zu. »Was hast du hier zu suchen …?«

»Himmel noch mal, was ist mit deinem Gesicht passiert?«, unterbrach ihn Ethan.

»Eine Detonation. Herabstürzende Felsen.« Vor wenigen Tagen noch war Hugh in Andorra in eine Schlacht verwickelt gewesen. Scharfkantige Gesteinsbrocken waren auf ihn herabgeregnet. Es war der Kampf gewesen, bei dem Courtland beinahe sein Bein verloren hätte. »Und jetzt beantworte mir meine Frage.«

»Ich war in Weylands Haus und habe dort Quin erwischt, kurz bevor er aufbrechen wollte«, erwiderte Ethan. »Welch ein Glück. Es sieht dir gar nicht ähnlich, an Orten wie diesem so sorglos herumzuspazieren. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Ich habe mir gedacht, Jane nach Hause zu bringen.«

»Weyland will, dass sie lediglich observiert wird. Hör auf, den Kopf zu schütteln. Grey hat seinen Fuß noch nicht auf englischen Boden gesetzt.« Da Hugh nicht überzeugt zu sein schien, fuhr Ethan fort: »Und er wird vielleicht gar nicht lebend hier ankommen. Also beruhige dich, und trage es wie ein Mann, dass du eine Zeit lang das Kindermädchen spielen wirst.«

»Bin ich deshalb hierher zurückbeordert worden? Warum hat Weyland mich angefordert?«

»Er scheint zu glauben, dass es Jane unangenehm sein könnte, wenn ich sie beschütze«, erklärte Ethan beiläufig. Es war bekannt, dass sein vernarbtes Gesicht vielen Frauen große Angst einjagte. »Und dass Quinton sich offenbar nur dazu eignet, gewissen ausländischen Ladys gewisse gewichtige Geheimnisse abzujagen. Weyland brauchte einfach einen Mann, der schießen kann. Und außerdem kennt niemand Grey besser als du.«

Hugh wandte seine Aufmerksamkeit wieder Jane zu, die in diesem Augenblick die Querstraße entlangkam. Sie ging so nah an der Seitengasse vorbei, in der er sich verborgen hielt, dass er ihre kehlige sinnliche Stimme hören konnte, allerdings ohne ihre Worte zu verstehen. Sie trug ein grünes Kleid mit tiefem Ausschnitt, der ihre nackten, wie Alabaster schimmernden Schultern freigab und zeigte, um wie viel weiblicher ihr Körper geworden war. Ihr Gesicht wurde fast ganz von einer Maske aus dunkelgrünen Federn verdeckt, die wie Flügel zu beiden Seiten fächerartig abstanden.

In diesem Kleid und mit dieser Maske sah sie … verrucht aus.

Der kalte Schweiß auf seiner Stirn überraschte Hugh nicht. Schon immer hatte er körperlich auf sie reagiert. Und er konnte sich noch gut an die Symptome erinnern, die er in jenem letzten Sommer hatte ertragen müssen, den er mit ihr verbracht hatte … an das wilde Pochen seines Herzens, daran, dass seine Kehle wie zugeschnürt gewesen war, an die prickelnde Lust, die er schon bei ihrer leisesten Berührung gefühlt hatte.

Daran, dass er kaum ein Stöhnen hatte unterdrücken können, wenn sie ihm süße Worte ins Ohr geflüstert hatte …

»Ist Courtland mit dir nach London zurückgekehrt?«, wollte Ethan wissen.

»Ich musste ihn zurücklassen, als Weylands Nachricht eintraf«, berichtete Hugh, ohne den Blick von Jane abzuwenden. »Court hat sich am Bein verletzt und hätte den Ritt nicht durchgestanden.«

»Und wo hast du ihn zurückgelassen?«, schnappte Ethan. »Weit genug entfernt von dieser Frau, hoffe ich.«

Hugh hatte nicht nur den Auftrag gehabt, Court nach England zurückzubringen – er hatte auch dafür sorgen sollen, dass Court nicht auf den Gedanken kam, zu dieser Frau, wie Ethan sie nannte, zurückzukehren. Zu Annalía Llorente. »Ich habe mich in Frankreich von ihm getrennt. Court wird nicht zu ihr gehen. Weil er begriffen hat, was er ihr antut, wenn er sich nicht von ihr fernhält«, erklärte Hugh voller Vertrauen, obwohl er durchaus seine Zweifel hatte. Denn Court hatte sich so verzweifelt nach Annalía gesehnt, dass es nahezu mit Händen zu greifen gewesen war. Aber nachdem Hugh erfahren hatte, dass Jane in Gefahr schwebte, hatte er keine Wahl gehabt und seinen Bruder allein lassen müssen. »Was zum Teufel ist dran an den Gerüchten über Grey?«, wollte Hugh wissen. In den vergangenen Jahren hatte er den Mann eher für einen Freund gehalten.

»Weyland hatte ihn auf ein Himmelfahrtskommando geschickt. Es ist gescheitert.«

Unwillkürlich sah Hugh seinen Bruder an. »Bist du dabei gewesen?« Manchmal, nein, sehr oft sogar wünschte er, dass Ethan und er niemals von Weyland rekrutiert worden wären.

Ethan verzog die Lippen zu einem Lächeln, das von der blassen Narbe entstellt wurde, die quer über seinem Gesicht verlief. Mein lieber Bruder, schien es zu sagen, wäre ich dabei gewesen, wäre das Kommando nicht gescheitert. »Ich war nicht dabei«, sagte er schließlich, »obwohl ich mich freiwillig gemeldet hatte, um ihn außer Gefecht zu setzen. Aber Weyland war offenbar der Meinung, dass ich persönlich zu tief in die Sache involviert bin. Deshalb hat er abgelehnt.«

»Du hast dich freiwillig gemeldet?«, fragte Hugh angewidert.

»Lass gut sein.« Ethan zuckte ungerührt die Schultern. »Und lass dich von mir nicht daran hindern, den Damen zu folgen. Dabei kannst du dir dann Jane genauer ansehen.«

Hugh zog eine grimmige Miene, aber Ethan wusste genau, wie stark es seinen Bruder nach Jane verlangte. Leugnen war zwecklos. »Ich habe sie schließlich seit Jahren nicht gesehen«, sagte er entschuldigend und ging Ethan voraus zur Querstraße. »Ich bin neugierig auf sie.«

»Ich rieche es auf zehn Meilen gegen den Wind«, murmelte Ethan in sich hinein. »Zuerst Court mit seinem Mädchen. Und jetzt du mit Jane. Wieder einmal. Welch ein Glück, dass ich immun bleibe.«

Hugh überhörte den Kommentar und verbarg sich in einem dunklen Winkel ein Stück die Straße hinauf. »Warum ist Weyland so überzeugt, dass Jane in Greys Visier geraten ist?«

»Grey will sich rächen«, sagte Ethan. »Also will er das vernichten, was dem alten Mann am kostbarsten ist.«

Just in diesem Moment lachte Jane über eine Bemerkung einer ihrer Cousinen, und Hugh wandte ihr den Blick zu. Sie hatte schon immer gern und viel gelacht – eine Eigenschaft, die ihm völlig abging, ihn an ihr aber umso mehr faszinierte. Er erinnerte sich, dass sie ihm einst ihre zarte Hand auf die Wange gelegt, ihn ernst angeblickt und erklärt hatte, dass sie für ihn mitlachen würde, wenn es nötig wäre.

»Grey hat also vor, Jane zu töten«, murmelte Ethan über die Schulter. »Er will ihr die Kehle aufschlitzen. So, wie er es mit den anderen Frauen getan hat. Wie es scheint, ist er jetzt so richtig auf den Geschmack gekommen. Vermutlich wird er wohl nie wieder damit aufhören.«

»Es reicht«, zischte Hugh, der noch immer wie gebannt auf Janes lächelndes Gesicht schaute. Der Gedanke, dass Grey für immer aus dem Verkehr gezogen werden müsste, hatte Hugh nicht gefallen, obwohl er durchaus gesehen hatte, dass es keine andere Lösung geben würde. Doch jetzt würde er sich diesem Gedanken nicht länger widersetzen.

»Jede Wette, dass du dir jetzt wünschst, mein Angebot, Grey zu töten, wäre angenommen worden«, meinte Ethan, als könnte er Hughs Gedanken lesen. »Aber keine Sorge, kleiner Bruder, jetzt hat man es akzeptiert. Weyland wird alles tun, um sie zu schützen.«

Ethan deutete mit dem Kinn auf Jane, sah dann Hugh an und ließ sich zwei Schritte zurückfallen, wobei er die jungen Frauen eingehend musterte. In seinem Blick flammte eine beunruhigende Neugier auf, und Hugh war umso mehr alarmiert, da er seinen Bruder noch nie so erlebt hatte. Neugier? In Ethans sonst so ausdruckslosem Blick?

Sofort ballte Hugh die Hände zu Fäusten. Hatte Ethans hungriger Blick etwa Jane gegolten?

Hugh hatte seinen Bruder mit dem Gesicht voraus gegen die Mauer eines Hauses gedrückt und ihm den Unterarm in den Nacken gepresst, bevor er begriff, was er tat. Als sie noch jünger gewesen waren, hatten sie sich ständig bekämpft. Sie hatten schließlich einen Waffenstillstand vereinbart, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie immer stärker und geschickter wurden und einander leicht etwas Ernstes antun könnten.

In diesem Augenblick war Hugh jedoch bereit, die alte Feindseligkeit wieder aufleben zu lassen.

Ethan schien Hughs Gewaltbereitschaft nicht zu beeindrucken. »Beruhige dich«, sagte er müde. »Ich habe nicht die Absicht, deine kostbare Jane zu begaffen.«

Es dauerte noch eine kleine Weile, bis Hugh ihm glaubte und ihn losließ, obwohl es ihm schwer verständlich war, dass ein Mann es nicht auf sie abgesehen haben könnte. »Wer dann hat dein Interesse geweckt?« Hugh folgte Ethans Blick. »Claudia? Die mit der roten Maske?« Sie würde zu Ethan passen. Hugh erinnerte sich, dass Jane erzählt hatte, wie boshaft und temperamentvoll Claudia sein konnte.

Er drehte sich zu seinem Bruder um, als er keine Antwort erhielt. »Belinda? Die große Brünette?«

Ethan schüttelte bedächtig den Kopf und ließ das Objekt seiner Begierde nicht eine Sekunde aus den Augen – das dritte Mädchen, eine kleine Blonde mit blauer Maske, die Hugh unbekannt war.

Seit er sich das Gesicht verletzt hatte, schien Ethan an vielen Dingen das Interesse verloren zu haben. Auch daran, den Röcken nachzujagen, wie er es früher getan hatte. Und jetzt schien es, als würde irgendetwas plötzlich wieder an die Oberfläche drängen … ein Verlangen, das er all die Jahre unterdrückt hatte.

Also war selbst Ethan nicht immun – so sah es zumindest aus.

Diese überraschende Erkenntnis schockierte Hugh. »Ich kenne sie nicht. Aber sie muss zu Janes Freundinnen gehören. Sie sieht jung aus. Nicht älter als zwanzig, also viel zu jung für dich.« Mit seinen dreiunddreißig Jahren galt Ethan bereits als alter Mann.

»Wenn ich so verdorben bin, wie Court, du und der gesamte Clan behaupten, dann werde ich sie deshalb wohl umso verlockender finden, nicht wahr?« Im Bruchteil einer Sekunde schoss seine Hand vor und entriss einem vorbeigehenden Maskenballbesucher die Domino-Maske vom Gesicht. Der Mann wollte protestieren, sah Ethans drohende Miene und trollte sich.

»Spiel nicht mit ihr, Ethan.«

»Hast du Angst, ich ruiniere dir deine Chancen bei Jane?«, fragte Ethan, während er die Maske aufsetzte. »Tut mir leid, dass ich dich daran erinnern muss, lieber Bruder, aber die waren bereits verdorben, bevor du Jane das erste Mal begegnet bist. Und du hast ein Buch, das es dir beweisen kann.«

Einsam sei ihre Wanderschaft, allein der Tod spende ihnen Schatten …

»Dein Schicksal ist nicht weniger finster als meines«, erinnerte ihn Hugh, »und trotzdem bist du versessen auf diese Frau.«

»Richtig. Aber ich laufe nicht Gefahr, mich in sie zu verlieben. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass es ihr das Leben raubt, wenn ich sie ein wenig verwöhne.« Mit diesen Worten wandte Ethan sich um und ging eilig auf das Haus zu, in dem der Maskenball stattfand.

Hugh stöhnte resigniert und folgte seinem Bruder ins Innere des Gebäudes.

3

Jane Weyland wusste, dass es ein notwendiges Übel war, im Retikül einen Stein bei sich zu tragen, wenn man durch die Haymarket Street ging. Nichtsdestotrotz schnitt ihr das Band des Beutels tief ins Handgelenk.

Einmal mehr wechselte Jane das Retikül von einer Hand in die andere, während sie und ihre Begleiterinnen – zwei furchtlose Cousinen und eine Freundin auf Besuch – ungeduldig auf Einlass in das Lagerhaus am Haymarket warteten.

Obwohl der heutige Abend beileibe nicht ihr erster riskanter Streifzug durch Londons dunkle Eingeweide war – ihre dekadenten Ausflüge hatten sie bereits in die Spielhöllen des East End geführt, in gewagte stereoskopische Bilderschauen und in den alljährlich stattfindenden Russischen Erotikzirkus –, bot sich ihnen diesmal ein so lasziver Anblick, dass es sogar Jane fast die Sprache verschlug.

Eine Gruppe Dirnen belagerte wie eine grell geschminkte, angriffslustige Armee den Eingang des Lagerhauses. Maskierte und teuer gekleidete Gentlemen in Tweedanzügen, die geradezu aufdringlich von erfolgreichen Börsengeschäften oder altem Geld und akademischer Bildung zeugten, nahmen die körperlichen Qualitäten dieser Damen eingehend in Augenschein, bevor sie entschieden, welche von ihnen sie bezahlen und nach drinnen begleiten wollten.

»Janey, warum verrätst du uns nicht endlich, warum du deine Meinung geändert hast, was den Besuch dieses Balles angeht?«, fragte ihre Cousine Claudia. Mit dieser wie beiläufig gestellten Frage versuchte sie offenbar, ihren Begleiterinnen die Nervosität zu nehmen. »Allerdings habe ich bereits eine Vermutung.« Vielleicht befürchtete sie, dass ihre Freundinnen den Rückzug antreten könnten. Sie selbst, die »schlimme Claudie« mit dem rabenschwarzen Haar, die heute Abend eine scharlachrote Maske trug, lebte für Nervenkitzel wie diesen.

»Nun sag schon«, forderte Belinda, die das genaue Gegenteil ihrer Schwester Claudia war. Von brillantem Verstand und überaus ernster Persönlichkeit war sie heute Abend zu »Forschungszwecken« hierhergekommen. Sie plante, in einem Exposé die »schreienden sozialen Ungerechtigkeiten« anzuprangern, und wollte sich so kenntnisreich wie möglich über ebendiese auslassen. Jane war überzeugt, dass Belinda das sich ihnen darbietende Spektakel bereits unter dem Aspekt reformerischer Notwendigkeit betrachtete.

»Brauchen wir denn einen Grund, um hier zu sein? Reicht es nicht, dass wir den Wunsch hatten, einen Kurtisanenball zu besuchen«, fragte Madeleine Van Rowen, die stets ein wenig geheimnisvoll wirkte, Maddy war seit den Kindertagen mit Claudia befreundet und besuchte sie für ein paar Wochen. Von Geburt war sie Engländerin, lebte aber seit einiger Zeit in Paris – in einer heruntergekommenen Mansarde, wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte.

Jane hatte den Verdacht, dass Maddy unter dem Vorwand, eine alte Freundschaft aufleben lassen zu wollen, nach London gereist war, um sich Claudias älteren Bruder Quin zu schnappen. Aber es störte sie nicht. Wenn Madeleine ihn dazu brachte, sie zu heiraten und sich häuslich niederzulassen, dann hatte sie ihn und all sein Geld auch redlich verdient.

Um die Wahrheit zu sagen, Jane mochte Maddy sehr, die perfekt in ihre Runde passte. Jane, Belinda und Claudia waren die einzigen drei der Acht Weylands – acht Cousinen ersten Grades, die für ihre Abenteuer, ihre Streiche und ihre überschäumende Lebenslust berüchtigt waren –, die in London geboren und aufgewachsen waren. Wie alle jungen Londoner, die Geld in der Tasche hatten, verbrachten sie ihre Tage und Nächte damit, sich unablässig den modernen Vergnügungen in dieser verrückten Stadt in die Arme zu werfen, ganz zu schweigen von den verlockenden alten Sünden, die außerdem noch im Angebot waren.

Jane und ihre Cousinen verfügten zwar über den erforderlichen finanziellen Hintergrund, sie waren jedoch nicht von Adel. Sie waren gut erzogen, aber durchaus bereit, mit Regeln zu brechen; damenhaft, aber gelangweilt. Genau wie Jane und ihre Freundinnen konnte Maddy auf sich selbst aufpassen und schien sich in der Erwartung des heiklen Maskenballs pudelwohl zu fühlen.

»Jane wird endlich den Heiratsantrag akzeptieren, den der wundervolle Freddie Bidworth ihr gemacht hat«, erklärte Claudia, als lüfte sie damit ein großes Geheimnis.

Jane rückte ihre smaragdgrüne Maske zurecht, um ihre plötzlichen Schuldgefühle zu verbergen. »Claudie, du hast mich durchschaut.« Freddie Bidworth und sie waren irgendwie ein Begriff, und jedermann erwartete, dass sie ihn eines Tages heiraten würde. Aber zuvor musste Jane den Antrag des reichen, attraktiven Aristokraten erst noch annehmen.

Und sie befürchtete, dass sie genau das niemals fertigbringen würde.

Genau diese Erkenntnis war der Grund gewesen, dass sie sich heute Abend überraschend entschlossen hatte, auf den Maskenball zu gehen. Sie brauchte dringend eine Ablenkung, irgendetwas, was sie aus dem Strudel riss, der sie immer weiter in die Tiefe zog. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren wusste Jane nur zu gut, dass sich ihr solche Aussichten in Zukunft immer seltener bieten würden. Wenn sie Freddie nicht heiratete, wen dann? Jane war vollkommen klar, dass der Zug dabei war, langsam abzufahren. Höchste Zeit, endlich aufzuspringen. Oder?

Sie hatte ihren Cousinen erklärt, dass sie wegen Freddies schrecklicher Mutter und Schwester mit ihrer Entscheidung zögerte. In Wahrheit aber zögerte sie, weil sie, ihren aufrechten Vater ausgenommen, Männern nicht traute.

In den vergangenen Jahren war Jane klar geworden, dass sie irgendwie verdorben war. Nicht gesellschaftlich, das gewiss nicht. Denn ganz gleich, wie schlimm die Acht Weylands sich auch benahmen, es schien, als könnten sie es sich erlauben, immer noch ein weiteres Bravourstück draufzusetzen. Denn Janes Vater, seines Zeichens Geschäftsmann, verfügte über einen unerklärlichen Einfluss auf die Aristokratie und wichtige Persönlichkeiten in der Regierung. Dass die Einladungen zu allen möglichen gesellschaftlichen Anlässen unvermindert eintrafen, war etwas, worüber sogar die Cousinen verwundert den Kopf schüttelten.

Nein, ein schwarzhaariger Schotte mit tiefer, heiserer Stimme und einem unglaublich intensiven Blick hatte Jane verdorben – obwohl er sie niemals berührt, noch nicht einmal geküsst hatte, ganz gleich, wie sehr sie ihn auch geneckt und aus der Reserve zu locken versucht hatte.

Belinda musterte Jane. »Bist du mit der Bidworth-Familie ins Reine gekommen?«

»Ja, ich glaube schon«, erwiderte Jane vorsichtig. »Ich habe es vorgezogen, eine solch wichtige Sache langsam angehen zu lassen.« Langsam? Es lag knapp ein Jahr zurück, dass Freddie sie das erste Mal gefragt hatte.

»Und jetzt wollen wir uns gehörig die Hörner abstoßen, nicht wahr, meine Liebe?«, fragte Maddy, und Jane dachte kurz darüber nach, was eine Frau aus einem weniger angenehmen Winkel von Paris sich wohl darunter vorstellte. Manchmal, wenn sie nachts auf der Suche nach einem Abenteuer die Stadt durchstreift hatten, hatte Maddy eher … gelangweilt gewirkt. »Ein letztes Hurra?«

»Brauchen wir denn einen Grund, um hier zu sein? Genügt nicht unser Wunsch, einen Kurtisanenball zu besuchen?«, entgegnete Jane und spielte damit auf Maddys Bemerkung an.

Zum Glück hatten sie endlich den schmalen Durchlass am Eingang erreicht, wo ein kräftiger Türsteher im Schweinskostüm und mit schweißglänzendem Gesicht den Ballbesuchern das beträchtliche Eintrittsgeld abknöpfte. Die vier Frauen brachen ihre Unterhaltung ab. Während sie die Röcke rafften, um sie im Gedränge zu schützen, gab Jane dem Mann eine Guinea für jede von ihnen – hauptsächlich, um für Maddy zu zahlen, ohne deren Stolz zu verletzen.

Obwohl Maddy ein aufwendiges saphirblaues Kleid trug, hatte Jane in Claudias Zimmer einen Blick auf die Garderobe des Mädchens werfen können und entdeckt, dass die Strümpfe und die Wäsche schon mehrmals geflickt und ausgebessert worden waren. Außerdem trug sie falschen Schmuck. Maddy sprach über französische Herrenhäuser und elegante Gesellschaften, aber Jane beschlich der Verdacht, dass sie bettelarm war. Manchmal machte Maddy den Eindruck, als stünde sie mit dem Rücken zur Wand.

Als der Türsteher sie durchwinkte, trat Jane unbekümmert über die Schwelle. Die anderen Frauen folgten ihr dicht auf den Fersen. Im hallenartigen Lagerhaus drängten sich die Gäste massenhaft um die in der Mitte gelegene Tanzfläche oder schwangen zu den flotten Klängen der siebenköpfigen Kapelle das Tanzbein. Offiziell war das Lagerhaus registriert als Tanzlokal ohne Konzession.

Bei denen, die es häufiger besuchten, war es bekannt als The Hive, der Bienenkorb.

War die Gegend, in der der Bienenkorb stand, trist und schmucklos, so war das Lokalinnere üppig ausgestattet. Tapeten aus Seidenpapier zierten die Wände, der Duft von kostbarem Räucherwerk schwängerte die Luft und schwebte wie eine dünne Wolke über der Menschenmenge. An den Wänden hingen an glänzenden Messingketten große Gemälde, die Nymphen und erregte Satyrn in lüsternen Posen zeigten. Die Böden wurden von Perserteppichen bedeckt, und überall verstreut lagen bequeme Kissen. Einige Frauen hatten sich mit ihren Begleitern darauf niedergelassen, sie küssten ihre Gönner und streichelten sie mit geschickten Fingern durch den Stoff ihrer Hosen – und wurden von ihnen gestreichelt.

Wer mehr wollte, so vermutete Jane, musste sich in die Räumlichkeiten im hinteren Bereich des Raumes zurückziehen.

»Schaut nur, was diese Frauen tun müssen, um sich ein wenig Geld zu verdienen«, flüsterte Belinda, die glücklich verheiratet war.

»Um sich ein wenig Geld zu verdienen?!«, schnappte Claudia atemlos und gab sich naiv. »Soll das heißen, dass man sich …? Ah! Kaum zu glauben, dass ich es umsonst gemacht habe!«

Belinda starrte sie entsetzt an, denn es war bekannt, dass die achtundzwanzigjährige Claudia sich auf eine heiße Affäre mit dem Stallburschen der Familie eingelassen hatte. »Claudia, du solltest es versuchen, wenn du verheiratet bist.«

Eine Art Bühnenauftritt setzte dem freundschaftlichen Streit ein Ende und ließ die Frauen verstummen.

Männer und Frauen hatten sich die rasierten Leiber mit Tonerde beschmiert und posierten als antike Statuen. Sie verharrten selbst dann noch regungslos, als ihre Körper von bewundernden Gönnern berührt und angefasst wurden.

»Schon deshalb hat sich unser Ausflug gelohnt«, bemerkte Claudia mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie den Blick über die gut gebauten, muskelbepackten Männer schweifen ließ.

Jane musste zustimmen. Was konnte sie besser ablenken als nackte Leiber, die als lebendige Statuen posierten? Was vertrieb besser jeden Gedanken an Heirat, tickende Uhren und an einen Schotten mit rauer tiefer Stimme, der ohne ein Wort aus ihrem Leben verschwunden war?

Der kleinen Gruppe blieb wenig Zeit, den Auftritt zu bewundern. Die Menschenmenge, die wie eine unterirdische Strömung durch das Lagerhaus zu fließen schien, schob sie weiter. Sie passierten einen Tisch, an dem ein halb nackter Mann mit Fuchsmaske Punsch servierte. Begierig nahm sich jede von ihnen ein Glas, bevor sie sich an eine Wand zurückzogen, um dem Gedränge zu entgehen.

Jane trank hastig. »Niemand hat uns verraten, dass jede Bekleidung oberhalb der Hüfte überflüssig ist«, meinte sie, als wieder eine spärliche bekleidete Frau mit wippenden Brüsten verführerisch lächelnd an ihr vorbeieilte. »Und zwar für beiderlei Geschlecht.« Sie zwinkerte der Frau frech zu. »Andernfalls«, fuhr sie trocken fort, »hätte ich für ein tief ausgeschnittenes Mieder plädiert und mir einen dickeren Stein ins Retikül getan.«

Als ein Mann mittleren Alters seine Pracht den Frauen vorführte, die es sich auf einem der Teppiche bequem gemacht hatten, und alle laut auflachten, räusperte Belinda sich. Sie drückte Jane ihr Glas in die Hand, um sich verstohlen einige Notizen machen zu können. Schulterzuckend stellte Jane ihr leeres Glas auf einem Tablett ab und nahm sich Belindas an.

Fast hätte sie sich verschluckt, als sie einen großen Mann im Domino-Kostüm entdeckte, der sich durch die Menge drängte. Offenbar suchte er jemanden. Seine Statur, sein Gang, der Zug von Entschlossenheit, der um seine Lippen lag, die unbedeckt blieben vom Schleier seiner Maske – all das erinnerte sie an Hugh, obwohl sie wusste, dass er es unmöglich sein konnte. Hugh hielt sich nicht in London auf.

Aber was, wenn er es doch gewesen war? Früher oder später würde er in die Stadt zurückkehren müssen, und sie würden sich unweigerlich über den Weg laufen. Es war durchaus möglich, dass sie ihn hier entdeckte … mit halb geschlossenen Augen unter schweren Lidern und gespreizten Knien, während eine Frau ihn mit geübter Hand erregte. Der Gedanke brachte Jane dazu, Belindas Glas in einem Zug zu leeren. »Ich hole uns noch Punsch«, murmelte sie, weil sie plötzlich keine Lust mehr hatte, sich noch länger im Gedränge treiben zu lassen.

»Bring uns einen mit!«, rief Claudia.

»Zwei«, fügte Maddy hinzu, die ebenfalls den großen Mann beobachtete, der sich durch die Menge schob.

Während Jane sich ihren Weg zum Tisch mit dem Punsch bahnte, spürte sie, dass die innere Unruhe, gegen die sie so lange gekämpft hatte, erneut stärker geworden war. Soweit sie zurückdenken konnte, wurde sie von dieser Ungeduld geplagt; es fühlte sich an, als fehlte ihr irgendetwas, als befände sie sich am falschen Ort und könnte nur anderswo glücklich werden. Sie war von einer tiefen Sehnsucht erfüllt, von der sie nicht wusste, woher diese kam und was sie dagegen tun sollte.

Nachdem sie den Mann erblickt hatte, der Hugh so verteufelt ähnlich sah, und sie sich vorgestellt hatte, dass Hugh sich von einer anderen Frau erregen ließ, verlangte es sie dringend nach frischer Luft.

Jane nahm sich drei Gläser Punsch und kehrte zurück zu ihren Freundinnen. Sie würde sie fragen, ob sie sie nach draußen begleiten würden.

Maddy war verschwunden.

»Ich habe mich nur kurz abgewandt, und weg war sie«, meinte Claudia, klang aber nicht sonderlich besorgt. Maddy hatte die Angewohnheit zu verschwinden, wann immer es ihr beliebte. Und je öfter sie verschwand, desto weniger hatte Jane den Eindruck, dass Maddy gewisse Lokale wie zum Beispiel den Bienenkorb als bedrohlich empfand.

»Sollen wir mal auf der Tanzfläche nachsehen?«, schlug Jane vor und seufzte.

Die drei arbeiteten sich durch die dicht gedrängte Menge. Unglücklicherweise war Maddy nicht sehr groß und besaß zudem die verblüffende Fähigkeit, unauffällig mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Nach einer halben Stunde hatten die Freundinnen sie immer noch nicht gefunden.

Ein schriller Pfiff übertönte plötzlich den Lärm. Jane riss den Kopf hoch. Die Musikkapelle hörte auf zu spielen.

»Polizei!«, schrie jemand und weitere Pfiffe ertönten. »Es sind die verdammten Peeler!«

»Nein, ausgeschlossen«, sagte Jane. Tanzlokale wie dieses zahlten dafür, dass die Polizei ihnen fernblieb. Wer zum Teufel hatte es versäumt, den Schutzzoll zu zahlen?

Wie auf Kommando drängte die lärmende Menschenmenge auf den hinteren Ausgang zu und hätte die drei Freundinnen fast erdrückt. Der Bienenkorb wirkte wie eine Flasche, die man plötzlich umgedreht und dann entkorkt hatte. Das Gebäude schien in sich zu wanken, als die Leute Hals über Kopf die Flucht ergriffen, Jane und ihre Cousinen mit sich rissen und die Gruppe schließlich trennten.

Jane kämpfte verzweifelt darum, zu Claudia und Belinda zu gelangen, wurde aber immer weiter abgedrängt. Sie schüttelte heftig den Kopf, als sie Belinda erspähte, die auf die hintere Tür zeigte – der Weg war bereits durch den dichten Pulk der Ballbesucher versperrt. Man würde sie dort zu Tode drücken. Dann war es ihr lieber, sich festnehmen zu lassen und ihren Namen auf der Schandliste zu lesen, die regelmäßig in der Times veröffentlicht wurde.

Nachdem Jane ihre beiden Begleiterinnen endgültig aus dem Blick verloren hatte, drückte sie sich eng gegen eine Wand, wurde aber vom immer heftiger drängenden Menschstrom mitgerissen wie von einer Welle. Es war unmöglich, eine sichere Ecke zu finden, und Jane hatte das Gefühl, die gesamte Welt würde aus den Angeln gehoben.

Jemand versetzte ihr einen so heftigen Stoß in den Rücken, dass sie taumelte. Es gelang ihr, sich umzudrehen und mit ihrem Retikül auszuholen. Es währte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann riss ihr das Gewicht des darin befindlichen Steins den Beutel vom Handgelenk. Verloren. Ihr Geld, ihre einzige Waffe …

Der nächste Stoß kam nicht ganz so überraschend. Jemand stand auf dem Saum ihres Kleides. Jane ruderte heftig mit den Armen. Trotzdem gelang es ihr nicht, den Sturz abzuwehren.

Sofort versuchte sie, sich wieder aufzurichten, doch die panische Menge trampelte rücksichtslos über ihre Röcke. Wieder und wieder versuchte Jane aufzustehen, aber ihr Kleid schien auf dem Boden festgenagelt zu sein.

Jane zerrte an dem Stoff und versuchte verzweifelt, ihn sich um die Beine zu wickeln.

Der Druck der Menge raubte ihr fast den Atem. Wie hatte der Abend nur so aus dem Ruder laufen können?

Direkt neben ihrem Kopf tauchte ein Stiefel auf. Um ihm zu entkommen, rollte sie sich zur Wand, so weit sie konnte. Aber sogar in dem wirren Tumult konnte sie ein furchterregendes metallisches Klicken hören.

Voller Angst blickte sie auf, sah, wie das Gemälde über ihr gefährlich schwankte. Die Messingkette hatte sich an einer Stelle gelöst und straffte sich unter dem beträchtlichen Gewicht.

Das Rasseln der Kette klang wie das Herunterlassen der Falltür zu einem Verlies, als die Kette riss und das Gemälde herabstürzte.

4

Wenn David Grey im Opiumrausch war, ebbte der Schmerz in seinem Körper langsam ab, und die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder, die er getötet hatte, verschwanden vor seinem inneren Auge.

Den Drachen jagen …, dachte Grey müde, während er in seinem heruntergekommenen Versteck im Osten Londons an die Decke starrte, von der die Farbe abblätterte. Opiumrauchen,dasist,alsobmandenDrachen nachjagt. Kann es eine passendere Beschreibung dafür geben? Oder für mein ganzes Leben?

In der Vergangenheit hatte das Opium den Schmerz in seinem Herzen unterdrückt, doch letztlich war das Verlangen nach Rache stärker gewesen als der süße Rausch des Giftes.

Mühsam erhob er sich von seinem schweißgetränkten Bett, stolperte zu der Waschschüssel und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Im Spiegel betrachtete er seinen nackten Körper.

Vier schlecht verheilte Narben von Schusswunden zierten seine blasse Brust und den Rumpf. Beständig erinnerten sie ihn an die Anschläge auf sein Leben. Obwohl es schon sechs Monate zurücklag, dass Edward Weyland, in dessen Diensten Grey gestanden hatte, ihn hatte aus dem Weg räumen wollen, waren die Wunden immer noch nicht vollständig verheilt. Grey konnte sich noch bestens erinnern, in welcher Reihenfolge er die Kugeln aus den Waffen von Weylands jungem hungrigem Todeskommando empfangen hatte.

Irgendwie war es ihm gelungen, den Anschlag zu überleben. Seine Muskelkraft hatte sich zwar stark abgebaut, aber er besaß immer noch genügend Energie, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.

Er fuhr sich mit dem Finger über die Brust und strich fasziniert über die Wundränder. Vielleicht hätte Weyland seinen besten Mann schicken sollen, um ihn zu töten. Schließlich sparte er sich Hugh MacCarrick immer für diese ganz besonderen Aufgaben auf: für die, die das Leben eines Mannes für immer verändern konnten.

Eigentlich hätten Aufträge dieser Art zwischen Hugh und Grey aufgeteilt werden können. Doch Weyland hatte immer strikt darauf geachtet, dass jeder seine spezielle Arbeit verrichtete. Hugh war dafür vorgesehen, diejenigen Menschen zu töten, die durch und durch böse waren. Gefährliche Menschen, die meist um das Leben kämpften, nach dem Hugh ihnen trachtete. Grey dagegen hatte sich um die Wankelmütigen gekümmert und um die, die eher am Rande des Geschehens standen, die sich abseits hielten, und am Ende war es ihm egal gewesen, dass er auch Kinder exekutiert hatte.

In seinen Träumen schaute er in deren glasige blicklose Augen.

Und Weyland, dieser verdammte Höllensohn, hat es noch nicht einmal für nötig gehalten, mir Hugh auf den Hals zu hetzen.

Das erbitterte Grey mehr als alles andere, es fraß ihn innerlich auf.

Aber er würde schon bald Vergeltung üben können. Für Weyland gab es nur einen einzigen Schatz auf der Welt – seine Tochter Jane. Vor vielen Jahren hatte MacCarrick sein Herz an sie verloren. Und wenn er Jane aus dem Weg räumte, wären beide Männer vernichtet. Für immer.

Grey hatte dafür gesorgt, dass Weyland und dessen Informanten der Meinung waren, er rege sich wieder. Zwei Tote und eine Kriegslist hatten ein Übriges getan sie glauben zu machen, er halte sich immer noch auf dem Kontinent auf. Anderenfalls hätte Weyland längst nach seinem besten Killer geschickt, um seine geliebte Tochter zu schützen.

Gut, dachte Grey und bedauerte, dass Hugh nicht in der Stadt war, um mit eigenen Augen mit anzusehen, wie Grey Janes Leben ein Ende setzte. Beide, MacCarrick und Weyland, sollten erfahren, was brennender Schmerz bedeutete.

Grey hatte nichts mehr zu verlieren. Und genau darin, dachte er, wohnte auch eine Kraft …

Vor Jahren hatte Weyland einmal behauptet, dass Grey sich für die Arbeit eigne, weil er keine Gnade kenne. Damals hatte er sich geirrt. Denn vor Jahren wäre Grey nicht fähig gewesen, Jane leichten Herzens die Kehle durchzuschneiden. Jetzt aber sah die Sache anders aus.

Jane schrie, als sie sich zur Seite rollte. Im nächsten Augenblick schlug das Gemälde neben ihr auf und bohrte sich mit einer Ecke in den Fußboden. Aber ihr blieb keine Zeit, darüber zu staunen, wie knapp es gewesen war. Denn die Menge drängte unaufhörlich weiter und drohte sie zu verschlingen. Sie konnte kaum noch atmen, schrie wieder auf, zog den Kopf ein und schützte das Gesicht mit erhobenen Armen.

Ein paar Sekunden später senkte sie die Arme und sah sich verwirrt um.

Die Menge stob auseinander, anstatt sich über sie hinwegzuwälzen.

Jetzt hatte sie wieder den Platz, sich zu bewegen, hatte die Chance, zu kämpfen …

Sie wollte verdammt sein, würde sie sich hier zu Tode trampeln lassen, bei diesem Spektakel, das sie sich rein zum Vergnügen hatte anschauen wollen!

Als es ihr endlich gelungen war, ihre Röcke zusammenzuraffen, unternahm Jane erneut den mühsamen Versuch aufzustehen. Sie hockte sich auf die Füße, drohte das Gleichgewicht zu verlieren, richtete sich auf, machte einen Schritt vorwärts – und war frei.

Aber nur für wenige Sekunden. Dann stolperte sie und stürzte, schlug mit der Stirn auf dem Boden auf. Auf allen vieren wollte sie wegkriechen, kam jedoch nicht voran. Schon wieder hinderte irgendetwas sie daran, klammerte sich an ihr fest. Und schon wieder wogte die Menge auf sie zu!

Der Mann mittleren Alters, den sie vorhin gesehen hatte, stürzte neben ihr zu Boden und hielt sich die blutende Nase. Entsetzt drehte er sich um und starrte auf das Geschehen hinter ihm. Noch bevor Jane reagieren konnte, stürzte ein zweiter Mann über sie und landete flach auf seinem Rücken.

Plötzlich wurden ihr die Röcke hochgeschoben. Eine raue Hand packte sie am Schenkel. Erschrocken riss sie die Augen auf. Eine zweite Hand zerrte an ihren Unterröcken und zerriss sie.

»Was tun Sie da?«, kreischte sie und versuchte, etwas zu erkennen. Doch ihre Maske war verrutscht, und das Haar hing ihr wirr ins Gesicht und nahm ihr die Sicht. In diesem Tumult und dem Zwielicht und den vielen Menschen um sie herum, konnte sie den Mann kaum sehen. »Lassen Sie mich los! Sofort!« Sie strampelte mit dem Bein, das er festhielt.

Mit dem Handrücken strich Jane sich das Haar aus der Stirn und erhaschte einen Blick auf den Angreifer. Sie sah, dass er grinste, seine geöffneten Lippen entblößten seine kräftigen Zähne. Drei Narben prangten auf seiner Wange.

In seinen Augen funkelte eine mörderische Wut.

Sein Gesicht verschwand, als er aufsprang und einen Mann zur Seite stieß, der über sie zu stolpern drohte. Dann kniete er sich wieder neben Jane und machte damit weiter, ihre Unterröcke zu zerreißen.

Endlich ließ er von ihr ab, hob sie hoch und warf sie sich über die Schulter.

»Was erlauben Sie sich!«, schrie sie und trommelte mit den Fäusten auf seinen breiten Rücken. Beiläufig bemerkte sie, dass der Mann stark war wie ein Bär. Er hatte sie mit einer Leichtigkeit aufgehoben, als streife er sich einen Fussel von der Jacke. Die Schulter, auf der er sie trug, war breit und muskulös, und ein starker Arm hielt sie unnachgiebig fest. Und seine großen Hände lagen, so schien es, auf ihrem Hinterteil.

»Stehen bleiben!«, schrie sie. »Lassen Sie mich sofort herunter! Wie können Sie es wagen, mich anzufassen! Mir die Unterröcke zu zerreißen!« Kaum hatte sie den Satz beendet, als sie die Überreste ihrer Unterröcke auf dem Boden unter dem Gemälde mit dem lüsternen Satyr und der Nymphe erblickte. Die Röte schoss ihr in die Wangen.

Mit dem freien Arm sorgte der Mann dafür, dass alle ihm Platz machten. »Mädchen, ich habe nichts gesehen, was du mir nicht schon früher gezeigt hättest.«

»Wie bitte?« Ihr stand der Mund offen. Hugh MacCarrick? Dieser Kerl mit dem teuflischen Blick war ihr sanfter schottischer Riese?

Nach zehn Jahren war er endlich zurückgekehrt.

»Kannst du dich nicht mehr an mich erinnern?«

Oh doch, das konnte sie. Und wenn Jane sich ins Gedächtnis rief, wie der Highlander das letzte Mal in ihr Leben geplatzt war, dann war sie sich nicht mehr sicher, ob es am Ende nicht doch das kleinere Übel wäre, sich von einer Horde Betrunkener zu Tode trampeln zu lassen.

5

Anstatt sich mit der Menge in Richtung Haymarket zu flüchten, bog Hugh in eine versteckte Gasse hinter dem Bienenkorb ab. Dort setzte er Jane ab.

Noch bevor Jane etwas sagen konnte, begann er, sie abzutasten. »Hast du dich verletzt?«, fragte er barsch. Sie brachte keinen Ton heraus, als er ihre Röcke hob, um sich zu vergewissern, dass ihre Beine in Ordnung waren. Er legte die Hände auf ihre Arme, strich über ihre Ellbogen und Handgelenke bis zu den Fingern, ohne dass er Knochenbrüche oder Verstauchungen feststellte.

»Jane, sag was.«

»Ich … Hugh?« Obwohl er so dicht vor ihr stand und sich um sie kümmerte, erkannte sie ihn kaum. Ja, es war Hugh – und doch war er es nicht. »Ich … ich bin unverletzt.« Gleich, ja, gleich würde sie die Sprache wiederfinden und ihn nicht mehr unablässig anstarren müssen.

Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es sein würde, ihm nach so vielen Jahren wieder zu begegnen! Sie hatte sich vorgestellt, dass sie ihn verächtlich abfertigen würde, wenn er sie anbettelte, ihn zu heiraten. Auf Knien würde er sie anflehen, damit sie ihm vergab, dass er sie ohne ein Wort verlassen hatte.

Wie anders alles gekommen war. Natürlich war sie jetzt schockiert und brachte kaum mehr fertig, als ihn stumm anzustarren. Zumal sie eben erst einer Polizeirazzia entwischt war und ihr Leben vor einer trampelnden Meute in Sicherheit hatte bringen müssen.

Hugh atmete tief aus, als er vorsichtig ihre zerbrochene Maske berührte. »Ach Mädchen, was hast du dir nur dabei gedacht, zu diesem Ball zu gehen?« Sein Aussehen hatte sich verändert, doch seine Stimme klang immer noch wie früher, besaß dieses tiefe raue Timbre, das ihr Herz höherschlagen ließ.

Um Zeit zu gewinnen und sich zu fassen, trat Jane ein paar Schritte zurück, dabei raffte sie die zerfetzten Röcke notdürftig zusammen. »Es wäre alles völlig unproblematisch gewesen, wären die Bestechungsgelder gezahlt worden.«

»Ach, wirklich?«

»Ja.« Sie nickte ernst. »Ich werde dem Besitzer dieses Etablissements einen Brief schreiben.« Jane merkte, dass Hugh unsicher war, ob er ihr glauben sollte oder nicht, neigte sie doch dazu, im unpassenden Augenblick zu scherzen.

»Behalt sie auf«, befahl er, als sie ihre Maske abnehmen wollte. »Bis ich eine Kutsche für uns besorgt habe.«

Noch mehr Pfiffe ertönten, und ein lauter Hupton verkündete das Eintreffen eines Polizeiwagens. Hugh packte Jane an der Hand und zog sie eilig mit sich. Der Abstand zwischen ihnen und dem Lagerhaus und ihren Freundinnen wurde immer größer.

»Hugh, warte! Ich muss zurück.«

Er achtete nicht auf sie.

Es kostete ihn kaum Kraft, sie weiterzuzerren, als sie versuchte, die Fersen in den Boden zu stemmen. »Hugh! Meine Cousinen und meine Freundin sind noch dort!«

»Es geht ihnen gut. Aber wenn du in deinem Zustand zurückläufst, wird man dich festnehmen.«

»In meinem Zustand?«

»Du bist betrunken.«

»Nun, wenn wir schon darüber sprechen, dann verrate ich dir, dass ich mich in meinem Zustand gezwungen sehe, meine Freundinnen zu retten.«

»Vergiss es.«

Sie hatten das Ende der Gasse erreicht, an dem sich ein Kutschenstand befand. Wollte Hugh sie für den Rest des Abends nach Hause schicken? Na wunderbar. Sie würde einsteigen, die Kutsche einmal um den Straßenblock fahren lassen, wieder aussteigen und in den Bienenkorb zurückkehren.

Wie immer stritten sich die Kutscher um die Fahrt. Aber Hugh brauchte nur den Finger zu heben und den Männern einen Blick zuzuwerfen, um den lebhaften Streit zu beenden. Dann zeigte er auf das schönste Gefährt, schob Jane hinein und wies den Kutscher an, in die Nebenstraße zu fahren, in der er sein Pferd zurückgelassen hatte. Als Jane klar wurde, dass Hugh sie begleiten würde, öffnete sie den gegenüberliegenden Schlag und stieg aus der Kutsche.

»Verdammt noch mal, Jane.« Hugh umrundete die Kutsche mit großen Schritten, packte Jane an den Hüften und zog sie an sich.

Wieder wurde sie hochgehoben, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen.

»Deine Freundinnen sind in Sicherheit«, wiederholte Hugh, als er sie ein weiteres Mal in die Kutsche verfrachtete. Er hielt Jane an ihren Röcken fest, während er sich neben sie setzte und die Tür zuschlug. Dann griff er über ihren Schoß und schloss auch die zweite Tür. Als die Kutsche endlich über das Pflaster rollte, entspannte er sich ein wenig.

»Woher weißt du, dass sie in Sicherheit sind?«, fragte sie.