Flavia de Luce 1 - Mord im Gurkenbeet - Alan Bradley - E-Book
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Flavia de Luce 1 - Mord im Gurkenbeet E-Book

Alan Bradley

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Beschreibung

Wer Wednesday Addams als Ermittlerin liebt, kommt an Flavia de Luce nicht vorbei.

Die junge Flavia de Luce staunt nicht schlecht, als sie im ersten Morgenlicht das Opfer eines Giftmordes in ihrem Gurkenbeet entdeckt! Da jeder ihren Vater, den sanftmütigen Colonel de Luce, für den Mörder zu halten scheint, nimmt die naseweise Flavia persönlich die Ermittlungen auf. Hartnäckig folgt sie jeder noch so abwegigen Spur – bis sie einsehen muss, dass ihr Vater tatsächlich ein dunkles Geheimnis hütet. Und so befürchtet Flavia schließlich, dass sie vielleicht eine zu gute Detektivin ist ...

Diese außergewöhnliche All-Age-Krimireihe hat die Herzen von Lesern, Buchhändlern und Kritikern aus aller Welt im Sturm erobert!

Die »Flavia de Luce«-Reihe:

Band 1: Mord im Gurkenbeet
Band 2: Mord ist kein Kinderspiel
Band 3: Halunken, Tod und Teufel
Band 4: Vorhang auf für eine Leiche
Band 5: Schlussakkord für einen Mord
Band 6: Tote Vögel singen nicht
Band 7: Eine Leiche wirbelt Staub auf
Band 8: Mord ist nicht das letzte Wort
Band 9: Der Tod sitzt mit im Boot
Band 10: Todeskuss mit Zuckerguss

Außerdem (nur) als E-Book erhältlich:
Das Geheimnis des kupferroten Toten (»Flavia de Luce«-Short-Story)

Alle Bände sind auch einzeln lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 470

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Inschrift
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Sweetness at the Bottom of the Pie« bei Orion, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd., London.
Für Shirley
Die Streusel schmecken süß, jedoch - viel süßer schmeckt der Boden noch.
William King: The Art of Cookery
1
Im Wandschrank war es so dunkel, und die Dunkelheit hatte die Farbe von altem Blut. Sie hatten mich einfach reingeschubst und abgeschlossen. Ich sog die abgestandene Luft tief durch die Nase ein und bemühte mich, ruhig zu bleiben. Ich versuchte, bei jedem Einatmen bis zehn zu zählen und bei jedem Ausatmen bis acht. Zum Glück hatten sie mir den Knebel so fest in den Mund gesteckt, dass meine Nasenlöcher frei geblieben waren und ich einen tiefen Schnaufer nach dem anderen machen konnte.
Ich versuchte, die Fingernägel unter den Seidenschal zu zwängen, mit dem sie mir die Hände auf den Rücken gefesselt hatten, aber weil ich mir die Nägel immer bis auf die Kuppen abkaue, klappte es nicht. Wenigstens hatte ich daran gedacht, die Finger aufeinanderzulegen und die Handflächen auseinanderzudrücken, als sie den Knoten festgezogen hatten.
Jetzt ließ ich die Handgelenke kreisen und drückte die Hände gegeneinander, bis die Fesseln ein bisschen nachgaben, worauf ich den Knoten mit den Daumen herunterziehen konnte, bis er erst in meiner Handfläche landete - und dann zwischen meinen Fingern. Wären sie so schlau gewesen, mir auch die Daumen zu fesseln, hätte ich mich nie im Leben befreien können. Diese Trottel!
Als meine Hände endlich frei waren, war der Knebel schnell entfernt.
Jetzt die Tür. Aber erst musste ich mich vergewissern, dass sie nicht davor auf der Lauer lagen.
Ich spähte durchs Schlüsselloch auf den Dachboden hinaus. Kein Mensch war zu sehen, nur dunkle Ecken, das übliche Dachbodengerümpel und allerlei ausrangierte Möbel. Die Luft war rein.
Ich griff über den Kopf nach hinten und drehte einen der drahtenen Kleiderhaken heraus. Indem ich das krumme Ende in das Schlüsselloch steckte und das andere Ende nach unten drückte, bog ich mir einen L-förmigen Haken zurecht, mit dem ich in den Tiefen des alten Schlosses herumstochern konnte. Nachdem ich eine Weile zielstrebig hier und dort probiert und gefummelt hatte, wurde ich mit einem zufriedenstellenden Klick belohnt. Es war beinahe zu einfach gewesen. Die Tür ging auf, und ich war wieder frei.
Ich hüpfte die breite Steintreppe zur Eingangshalle hinunter und blieb ganz kurz vor der Esszimmertür stehen, nur so lange, wie ich brauchte, um meine Zöpfe auf den Rücken zu werfen, wo sie normalerweise immer lagen.
Vater bestand nach wie vor darauf, dass das Abendessen pünktlich zur gewohnten Zeit serviert und an unserem Esstisch aus massiver Eiche eingenommen wurde. Genau wie damals, als meine Mutter noch lebte.
»Sind Ophelia und Daphne noch nicht unten, Flavia?«, fragte er leicht gereizt und blickte von der neuesten Ausgabe des British Philatelist, der Zeitschrift für den Briefmarkenfreund, auf, die neben seinem Teller mit Braten und Kartoffeln lag.
»Die habe ich schon ewig nicht mehr gesehen«, antwortete ich.
Was der Wahrheit entsprach. Ich hatte die beiden nicht mehr gesehen - seit sie mich gefesselt und geknebelt und mit verbundenen Augen die Dachbodentreppe hochgeschleift und in den Schrank gesperrt hatten.
Vater schaute mich die gesetzlich vorgeschriebenen vier Sekunden über seinen Brillenrand an, ehe er sich wieder seinen klebrigen Kostbarkeiten widmete.
Ich schenkte ihm ein so breites Lächeln, dass er eine prächtige Aussicht auf die Zahnspange hatte, mit der mein Gebiss verdrahtet war. Obwohl ich damit wie ein Luftschiff ohne Außenhülle aussah, wurde mein Vater gern ab und zu daran erinnert, dass er für sein Geld auch etwas bekam. Diesmal war er jedoch viel zu beschäftigt, um darauf zu achten.
Daraufhin hob ich den Deckel der mit Schmetterlingen und Brombeerranken handbemalten Terrine hoch und entnahm ihr eine großzügige Portion Erbsen. Unter Verwendung meines Messers als Lineal und meiner Gabel als Gerte dirigierte ich die Erbsen so, dass sie sich in Reih und Glied auf meinem Teller formierten. Die kleinen grünen Kugeln bildeten so exakt ausgerichtete Zweierreihen, dass der Anblick das Herz des penibelsten Schweizer Uhrmachers hätte höher schlagen lassen. Anschließend piekte ich sie von links unten nach rechts oben mit der Gabel auf und verputzte sie.
Ophelia war an allem schuld. Schließlich war sie schon siebzehn, weshalb von ihr inzwischen das Mindestmaß an Reife erwartet wurde, über das sie demnächst als Erwachsene verfügen sollte. Dass sie sich mit der dreizehnjährigen Daphne verbündete, war einfach nicht fair. Zusammen waren die beiden schon dreißig! Dreißig Jahre gegen meine kümmerlichen elf! Das war nicht nur unsportlich, sondern geradezu niederträchtig. Und es schrie förmlich nach Rache.
Am nächsten Morgen, als ich in meinem Labor im obersten Stock des Ostflügels gerade mit einigen Glaskolben und Reagenzgläsern beschäftigt war, kam Ophelia einfach so hereingeplatzt.
»Wo ist meine Perlenkette?«
Ich zuckte die Achseln. »Seit wann bin ich für deine Klunker verantwortlich?«
»Ich weiß, dass du sie weggenommen hast. Die Pfefferminzbonbons aus meiner Unterwäscheschublade sind auch weg, und mir ist nicht entgangen, dass alle in diesem Haushalt vermissten Pfefferminzbonbons früher oder später im selben ungewaschenen Mund wieder auftauchen.«
Ich regulierte die Flamme des Brenners, auf dem ich ein Becherglas mit einer roten Flüssigkeit erhitzte. »Wenn du damit andeuten möchtest, dass meine Körperpflege nicht denselben hohen Standards entspricht wie die deine, kannst du mir mal die Überschuhe lecken.«
»Flavia!«
»Und zwar kreuzweise. Ich habe es satt, immerzu als Sündenbock herzuhalten, Feely.«
Aber mein berechtigter Zorn verflog im Nu, als Ophelia kurzsichtig in das rubinrote Becherglas linste, in dem es just in diesem Augenblick zu brodeln anfing.
»Was ist das für ein klebriges Zeug auf dem Boden?« Sie klopfte mit einem langen, sorgsam gefeilten Fingernagel an das Glas.
»Das ist ein Experiment. Vorsicht, Feely! Das ist Säure!«
Ophelia wurde leichenblass. »Das ist doch meine Kette! Die hab ich von Mama geerbt!«
Ophelia war die einzige von Harriets Töchtern, die von unserer Mutter als »Mama« sprach, denn sie war die einzige von uns dreien, die alt genug war, sich noch an die Frau aus Fleisch und Blut zu erinnern, die uns unter dem Herzen getragen hatte. Eine Tatsache, die uns Ophelia bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase rieb. Harriet war, als ich gerade mal ein Jahr alt war, beim Bergsteigen ums Leben gekommen, und seither wurde auf Buckshaw nicht oft von ihr gesprochen.
War ich eifersüchtig auf Ophelias Erinnerungen? Nahm ich es ihr übel, dass sie sich noch an unsere Mutter erinnern konnte? Ich glaube nicht. Es ging viel tiefer. Aus unerfindlichen Gründen verabscheute ich Ophelias Erinnerungen an unsere Mutter.
Ich hob ganz langsam den Kopf, damit meine runden Brillengläser Ophelia ordentlich anblitzten, denn ich wusste, dass meine Schwester dann jedes Mal das beklemmende Gefühl bekam, vor einem verrückten deutschen Wissenschaftler aus einem alten Schwarzweißfilm zu stehen.
»Blöde Kuh!«
»Gewitterziege!«, fauchte ich zurück. Aber erst, nachdem Ophelia auf dem Absatz kehrtgemacht hatte - übrigens ausgesprochen elegant - und hinausgerauscht war.
Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. Was ich von Ophelia schon gewohnt war. Sie war, im Gegensatz zu mir, keine geduldige Planerin, die davon überzeugt war, dass man das Süppchen der Rache möglichst lange köcheln lassen musste, um es zur Perfektion reifen zu lassen.
Gleich nach dem Abendessen, als sich Vater wieder in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte, um über seiner Sammlung papierener Miniaturporträts zu brüten, legte Ophelia das silberne Buttermesser, in dem sie die letzte Viertelstunde wie ein Wellensittich ihr Spiegelbild betrachtet hatte, ein klein wenig zu bedächtig auf den Tisch. Dann verkündete sie unvermittelt: »Weißt du, eigentlich bin ich gar nicht deine richtige Schwester. Und Daphne auch nicht. Darum sind wir auch so ganz anders als du. Dir ist wahrscheinlich noch nie in den Sinn gekommen, dass du bloß adoptiert worden bist.«
Ich ließ den Löffel fallen, dass es nur so schepperte.
»Das stimmt nicht! Ich bin Harriet wie aus dem Gesicht geschnitten! Das sagen alle.«
»Eben deswegen hat Mama im Heim für ledige Mütter gerade dich ausgesucht.« Ophelia schnitt eine angeekelte Grimasse.
»Wie konnte ich ihr denn ähnlich sehen, wo ich doch ein Neugeborenes war und sie eine Erwachsene?« So leicht ließ ich mich nicht ins Bockshorn jagen.
»Weil du sie an ihre eigenen Babybilder erinnert hast. Herrje, sie hat die Fotos sogar mitgeschleppt und zum Vergleich neben dich gehalten.«
Ich wandte mich an Daphne, die ihre Nase tief in eine ledergebundene Ausgabe von Die Burg von Otranto steckte. »Das ist gelogen, Daffy, stimmt’s?«
»Leider nein.« Daphne schlug behutsam eine zwiebelhautdünne Seite um. »Vater hat immer gesagt, dass es dich aus den Schuhen hauen wird, wenn du es eines Tages erfährst. Wir mussten ihm beide schwören, dass wir es dir nie verraten würden. Jedenfalls nicht vor deinem elften Geburtstag. Wir mussten einen richtigen Eid ablegen.«
»Eine grüne Gladstone-Tasche«, mischte sich Ophelia wieder ein, »hab ich selber gesehen. Ich hab gesehen, wie Mama ihre eigenen Babyfotos in eine grüne Gladstone-Tasche gesteckt hat und in das Heim gefahren ist. Ich war damals zwar erst sechs, fast sieben, aber ich werde ihre vornehm blassen Hände niemals vergessen … wie sie mit ihren schlanken Fingern die Messingschließe zugemacht hat.«
Ich brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus dem Esszimmer. Erst am nächsten Morgen beim Frühstück kam mir das Gift in den Sinn.
Wie alle großartigen Pläne war auch dieser ganz einfach.
Buckshaw war seit undenklichen Zeiten das Zuhause unserer Familie, der de Luces. Das jetzige Gebäude im georgianischen Stil wurde errichtet, nachdem das ursprüngliche elisabethanische Haus von den Dorfbewohnern, die den de Luces unterstellten, mit den Oraniern zu sympathisieren, bis auf die Grundmauern niedergebrannt worden war. Dass wir vierhundert Jahre lang glühende Katholiken gewesen waren und sich daran auch nichts geändert hatte, konnte die aufgebrachten Bürger von Bishop’s Lacey nicht besänftigen. Das »Alte Haus«, wie es damals hieß, war in Flammen aufgegangen, und inzwischen war das neue Gebäude, das an derselben Stelle errichtet worden war, auch schon wieder an die dreihundert Jahre alt.
Zwei spätere Familienmitglieder, Antony und William de Luce, die über den Krimkrieg in Streit geraten waren, hatten die Anlage verschandelt, indem jeder nachträglich einen Flügel hatte anbauen lassen: William den Ostflügel, Antony den Westflügel.
Jeder hatte sich in sein höchsteigenes Herrschaftsgebiet zurückgezogen, und jeder hatte dem anderen untersagt, auch nur einen Fuß über den schwarzen Strich zu setzen, den sie quer durch die vordere Eingangshalle, das Vestibül und das Wasserklosett des Butlers hinter der Treppe gezogen hatten. Die beiden gelben, pustelhaft viktorianischen Ziegelanbauten, zeigten wie die steinernen Schwingen eines Friedhofsengels nach hinten, was den hohen Fenstern und Fensterläden der georgianischen Fassade in meinen Augen das affektierte, leicht verdutzte Aussehen einer alten Jungfer mit schmerzhaft straffem Haarknoten verlieh.
Ein späterer de Luce - Tarquin, auch »Tar« genannt - hinterließ nach einem spektakulären Nervenzusammenbruch das, was einmal eine brillante Chemikerkarriere zu werden versprach, als Scherbenhaufen. Er wurde in dem Sommer, in dem Königin Viktoria ihr fünfundzwanzigjähriges Thronjubiläum beging, von der Universität Oxford verwiesen.
Tars nachsichtiger Vater, stets besorgt um die schwache Gesundheit seines Sohnes, hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, ihm im obersten Stock des Ostflügels ein richtiges Labor einzurichten: komplett mit Glasbehältern, Mikroskopen und einem Spektroskop aus Deutschland, Messingwaagen aus Luzern sowie einer verwirrend geformten, mundgeblasenen deutschen Geißlerröhre, an der Tar elektrische Spulen befestigen konnte, um zu untersuchen, wie verschiedene Gase fluoreszieren.
Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster stand ein Leitz-Mikroskop, dessen Messinggehäuse immer noch so schwelgerisch glänzte wie an dem Tag, als es per Kutsche von der Bahnstation Buckshaw angeliefert worden war. Der blanke Spiegel konnte so eingestellt werden, dass er die ersten Strahlen der Morgensonne einfing, und damit man das Gerät auch an diesigen Tagen und nach Einbruch der Dunkelheit benutzen konnte, war es mit einer Petroleum-Mikroskoplampe von Davidson & Co. aus London ausgestattet.
Es gab sogar ein Skelett auf einem Rollständer, das Tar im zarten Alter von zwölf Jahren von dem berühmten Naturforscher Frank Buckland geschenkt bekommen hatte, dessen Vater einst das mumifizierte Herz von König Ludwig XIV. verzehrt hatte.
Drei Wände waren mit deckenhohen Schränken und Vitrinen versehen, von denen wiederum zwei mit Chemikalien in gläsernen Apothekengefäßen vollgestellt waren, ein jedes mit Tar de Luces akribischer Handschrift beschriftet, denn Tar hatte dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und sie alle überlebt. Er war 1928 im Alter von sechzig Jahren inmitten seines chemischen Königreichs gestorben, wo er eines Morgens von seinem Verwalter gefunden wurde, am Schreibtisch sitzend und mit dem gebrochenen Auge durch sein geliebtes Leitz-Mikroskop spähend. Man munkelte, er habe sich mit dem Zerfall erster Ordnung von Stickstoffpentoxid beschäftigt. Wenn das stimmt, handelt es sich um die erste belegte Forschung zu einer Reaktion, die letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte.
Onkel Tars Schatzkammer wurde verschlossen und verharrte in staubiger ungestörter Stille, bis das, was Vater meine »skurrile Begabung« nannte, zutage trat und ich so weit war, das Labor für mich zu beanspruchen.
Mich überläuft immer noch jedes Mal ein freudiger Schauer, wenn ich an den regnerischen Herbsttag denke, an dem die Chemie in mein Leben trat.
Ich war beim Bergsteigerspielen in der Bibliothek an den Regalen hochgeklettert, als ich mit dem Fuß abrutschte und ein dickes Buch zu Boden polterte. Als ich es aufhob und die zerknitterten Seiten glatt streichen wollte, sah ich, dass es nicht nur Worte, sondern auch lauter Abbildungen enthielt. Zum Beispiel gossen körperlose Hände Flüssigkeiten in eigenartig geformte Glasbehälter, die außerirdischen Musikinstrumenten glichen.
Der Titel des Buches lautete Grundzüge der Chemie, und ich entnahm dem Werk im Handumdrehen, dass das Wort Jod von »violett« und das Wort »Brom« vom griechischen Wort für »Gestank« abgeleitet ist. Hochspannend! Ich schob den dicken roten Wälzer unter meinen Pullover und nahm ihn mit nach oben in mein Zimmer, und erst viel später entdeckte ich, dass jemand H. de Luce auf das Vorsatzblatt geschrieben hatte. Das Buch hatte Harriet gehört.
Schon bald vertiefte ich mich in jeder freien Minute in meine neue Errungenschaft. Abends konnte ich es manchmal kaum erwarten, endlich ins Bett gehen zu dürfen. Harriets Buch war inzwischen mein heimlicher Freund.
Es führte sämtliche Alkalimetalle eingehend auf: Metalle mit wunderlichen Namen wie Lithium und Rubidium, außerdem Erdalkalien wie Strontium, Barium und Radium. Als ich las, dass eine Frau, nämlich Madame Curie, das Radium entdeckt hatte, stieß ich einen Freudenschrei aus.
Und dann die Giftgase: Phosphin, Arsin (von dem eine einzige Blase tödlich sein kann), Stickstoffpentoxid, Schwefelwasserstoff … die Liste war schier endlos. Als ich entdeckte, dass mein Buch auch noch ausführliche Anleitungen für die Herstellung dieser Stoffe enthielt, war ich im siebten Himmel.
Am spannendsten fand ich aber, dass alles (die ganze Schöpfung - ohne Ausnahme!) von unsichtbaren chemischen Verbindungen zusammengehalten wurde. Und ich fand es aus unerfindlichen Gründen ausgesprochen tröstlich, dass es irgendwo - selbst wenn es unsereiner nicht sehen kann - etwas unerschütterlich Dauerhaftes gibt.
Anfangs kam ich nicht gleich darauf, den offenkundigen Zusammenhang zu bemerken - nämlich den zwischen dem Buch und dem verlassenen Labor; aber als der Groschen endlich fiel, erwachte mein Leben erst zum richtigen Leben, falls irgendwer versteht, wie ich das meine.
Hier, in Onkel Tars Labor, standen ordentlich aufgereiht sämtliche Chemiebücher, die er einst liebevoll zusammengetragen hatte, und schon bald fand ich heraus, dass die meisten gar nicht so sehr über meinen Verstand gingen.
Es folgten einfache Experimente, bei denen ich mich darin übte, die Anweisungen Wort für Wort zu befolgen. Was nicht heißen soll, dass es nicht gelegentlich zu beträchtlichem Gestank und etlichen Explosionen gekommen wäre, aber darüber wollen wir lieber den Mantel des Schweigens breiten.
Meine Notizbücher wurden immer dicker. Sobald sich mir die Geheimnisse der organischen Chemie offenbart hatten, traute ich mir immer kniffligere Experimente zu und erfreute mich an meinem neuen Wissen darüber, was einem die Natur so alles großzügig zur Verfügung stellt.
Meine besondere Vorliebe galt den Giften.
Ich hieb mit einem Bambusspazierstock, den ich aus dem Elefantenfuß-Schirmständer in der vorderen Eingangshalle gemopst hatte, auf das Unkraut ein. Hier hinten im Küchengarten hatten die hohen roten Ziegelmauern die wärmende Sonne noch nicht durchgelassen. Alles war noch feucht vom nächtlichen Regen.
Ich bahnte mir einen Weg durch das wuchernde, letztes Jahr nicht mehr gemähte Gras, bis ich am Fuß der Mauer das Gesuchte entdeckte: ein Büschel hellrot schimmernder Pflanzen, deren dreiblättrige Stauden sich von den anderen Kletterpflanzen abhoben. Ich zog die baumwollenen Gartenhandschuhe an, die ich mir in den Gürtel gesteckt hatte, und machte mich, begleitet von einer schallend gepfiffenen Interpretation von Bibbidi-Bobbidi-Buu, frisch ans Werk.
Später, als ich glücklich wieder in meinem Sanctum Sanctorum, meinem Allerheiligsten, saß - auf diesen Ausdruck war ich in einer Biografie Thomas Jeffersons gestoßen und hatte ihn mir sogleich angeeignet -, stopfte ich die bunten Blätter in einen Destillierkolben und achtete darauf, dass ich die Handschuhe erst auszog, nachdem ich alles bis ganz unten auf den Boden gedrückt hatte. Nun kam der Teil, der mir am meisten Spaß machte.
Ich stöpselte den Destillierkolben zu, verband ihn auf einer Seite mit einem Glaskolben, in dem bereits Wasser kochte, und auf der anderen mit einer gewundenen gläsernen Kühlschlange, die in ein leeres Reagenzglas mündete. Das Wasser brodelte wie verrückt, und ich sah zu, wie sich der Dampf seinen Weg in den Kolben mit den Blättern bahnte. Die fingen schon an, weich zu werden und sich aufzurollen, während der heiße Dampf die winzigen Taschen zwischen den Zellen öffnete und die Essenz der Pflanze freisetzte.
So hatten schon die alten Alchimisten ihre Kunst praktiziert: Feuer und Dampf, Dampf und Feuer. Destillation.
Einfach herrlich.
Destillation. Ich sprach es laut vor mich hin: »Des-til-lation!«
Ehrfürchtig sah ich zu, wie sich der Dampf in der Glasspirale abkühlte und kondensierte, rieb mir verzückt die Hände, als sich der erste klare Tropfen am Glasrand bildete - und mit vernehmlichem Plopp! in das Auffanggefäß fiel.
Als das ganze Wasser verdampft war, drehte ich den Bunsenbrenner aus, stützte das Kinn in die Hände und beobachtete gespannt, wie die Flüssigkeit in dem Reagenzglas zwei Schichten bildete. Unten auf dem Boden sah man das klare destillierte Wasser, obendrauf schwamm eine gelbliche Flüssigkeit, der Pflanzensaft. Er wurde Urushiol genannt, eine Substanz, die unter anderem bei der Lackherstellung verwendet wird.
Ich zog ein goldfarbenes Röhrchen aus der Pullovertasche, nahm die Kappe ab und musste schmunzeln, als die rote Spitze erschien. Es war Ophelias Lippenstift, aus der Schublade ihrer Frisierkommode geklaut, wie auch die Perlenkette und die Pfefferminzbonbons. Und Feely - Fräulein Rotzfahne - war nicht mal aufgefallen, dass ihr heißgeliebter Lippenstift verschwunden war.
Apropos Pfeffer minzbonbons - ich steckte eins in den Mund und zermalmte es krachend.
Der Lippenstift selbst ließ sich ganz leicht herausdrehen. Ich zündete den Bunsenbrenner wieder an. Der wachsähnliche Stift verwandelte sich im Nu in eine klebrige Masse. Wenn Feely wüsste, dass man Lippenstifte unter anderem aus Fischschuppen herstellt, dachte ich, wäre sie vielleicht nicht ganz so erpicht darauf, sich das Zeug auf den Mund zu schmieren. Ich musste es ihr bei Gelegenheit mal erzählen. Aber das hatte Zeit.
Mit einer Pipette entnahm ich dem Reagenzglas eine kleine Menge destillierten Saft, ließ ihn vorsichtig in die Lippenstiftpampe tröpfeln und rührte die Mixtur mit einem Holzspatel kräftig durch.
Zu dünn, fand ich, nahm ein Gefäß aus dem Regal und fügte ein paar Klümpchen Bienenwachs hinzu, um die ursprüngliche Konsistenz zu erreichen.
Jetzt war es wieder Zeit für die Handschuhe - und für die eiserne Patronengussform, die ich mir aus der recht passablen Feuerwaffensammlung von Buckshaw ausgeborgt hatte.
Schon komisch, dass ein Lippenstift genauso groß ist wie ein Projektil vom Kaliber 45. Gut zu wissen, jedenfalls. Wenn ich heute Abend im warmen Bettchen lag, musste ich ausführlicher darüber nachdenken, was sich mit diesem Wissen noch alles anfangen ließ, jetzt war ich zu beschäftigt.
Nachdem ich den roten Pfropf behutsam aus der Gussform gelöst und unter kaltem Wasser abgekühlt hatte, passte er wieder anstandslos in seine goldene Hülse.
Ich drehte ihn mehrmals raus und rein, um mich zu vergewissern, dass der Stift einwandfrei funktionierte, dann schob ich die Kappe wieder darüber. Feely war eine Langschläferin und saß bestimmt noch beim Frühstück.
»Wo ist mein Lippenstift, du Miststück? Was hast du damit gemacht?«
»Der liegt in deiner Schublade«, antwortete ich. »Da hab ich ihn jedenfalls gesehen, als ich deine Perlenkette geklaut hab.«
In meinem kurzen Leben war ich, als jüngste von drei Schwestern, wohl oder übel zu einer Meisterin der gespaltenen Zunge geworden.
»In der Schublade ist er nicht. Da hab ich eben erst nachgeschaut.«
»Hast du die Brille aufgehabt?«, fragte ich feixend.
Obwohl uns Vater alle drei mit Brillen ausgestattet hatte, weigerte sich Feely hartnäckig, ihre aufzusetzen, und meine enthielt kaum mehr als Fensterglas. Ich trug sie fast nur im Labor, als Augenschutz, und sonst hin und wieder auch mal, um Mitleid zu erregen.
Feely schlug auf den Tisch und stürmte in ihr Zimmer.
Ich widmete mich seelenruhig wieder den unergründlichen Tiefen meiner zweiten Schüssel Weetabix.
Später schrieb ich in mein Notizheft:
Freitag, 2. Juni 1950, 9.42 Uhr. Verhalten der Versuchsperson normal, wenn auch missmutig. (Aber so ist sie eigentlich immer.) Eintritt der Wirkung kann zwischen 12 und 72 Stunden betragen.
Ich konnte warten.
Mrs Mullet, die untersetzt und grau und rund wie ein Mühlstein war und die, da bin ich mir sicher, sich für eine Gestalt aus einem Gedicht von A. A. Milne hielt, war in der Küche mit einem ihrer eitergelben Schmandkuchen beschäftigt. Wie gewöhnlich kämpfte sie mit dem riesigen AGA-Herd, der die kleine, vollgestopfte Küche schier erschlug.
»Ach, du bist’s, Miss Flavia! Hilf mir doch bitte mal mit dem Herd, mein Schatz.«
Noch ehe mir eine passende Erwiderung einfiel, stand Vater hinter mir.
»Ich muss dich kurz sprechen, Flavia.« Sein Ton war gewichtig wie die Bleistücke an den Stiefeln eines Tiefseetauchers.
Ich schielte zu Mrs Mullet hinüber. Die pflegte sich nämlich beim kleinsten Anzeichen von Missstimmigkeiten aus dem Staub zu machen. Einmal hatte sie sich sogar, als Vater die Stimme erhoben hatte, in einen Teppich eingerollt und sich geweigert, wieder herauszukommen, bis man nach ihrem Mann geschickt hatte.
Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre sie aus kostbarstem Kristallglas.
»Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen steht in der Wärmeklappe.«
»Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin.
Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs.
»Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de Luce, aber … um Himmels willen!«
Vater und ich mussten uns an ihr vorbeidrängeln.
Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier.
Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine Briefmarke.
Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im Herbst, und sein Gesicht war aschfahl.
2
Es überlief mich, wie es so schön heißt, eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph:
Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage, Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera … hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna …
Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an allein zurechtkommen müssen.
Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein!
Oder doch?
Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver.
»Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er mit einer erstickten Stimme, wie ich sie gar nicht von ihm kannte - er klang wie ein Fremder.
»Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich meine …«
Aber Vater hatte bereits stampfend und schnaufend wie ein Güterzug den Rückzug in sein Arbeitszimmer angetreten.
Als Mrs M. mit der Hand vor dem Mund das Kehrblech holen lief, verdrückte ich mich ebenfalls in mein Zimmer.
Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren riesige, düstere Zeppelin-Hangare, und meines, das sich im Süd-, beziehungsweise »Tar«-Flügel befand, war das allergrößte. Die frühviktorianische Tapete (senfgelb mit einem sonderbaren Muster, das an blutrote Garnklumpen erinnerte) ließ es noch größer wirken: eine kalte, uferlose, zugige Einöde. Sogar im Sommer war der Gang quer durchs Zimmer zum fernen Waschtisch am Fenster ein Abenteuer, vor dem jeder Polarforscher zurückgeschreckt wäre. Nicht zuletzt deswegen schob ich diesen Gang auf und kletterte schnurstracks auf mein Himmelbett, wo ich im Schneidersitz und in eine Wolldecke gehüllt bis in alle Ewigkeit hocken und über mein Leben nachsinnen konnte.
So dachte ich beispielsweise daran, wie ich versucht hatte, mit einem Buttermesser Kratzproben von meiner nach Gelbsucht aussehenden Tapete zu entnehmen. Dazu angeregt hatte mich Daffy, als sie einmal mit vor Schreck geweiteten Augen eine Geschichte von A. J. Cronin nacherzählt hatte, in der irgendein armer Teufel erst krank wurde und dann starb, weil sein Schlafzimmer mit arsenhaltiger Wandfarbe gestrichen war. Hoffnungsvoll brachte ich die abgeschabten Brösel hoch ins Labor zur Analyse.
Aber bei mir gab es keinen langweiligen Marsh-Test, vielen Dank auch! Ich zog die Methode vor, bei der Arsen erst in sein Trioxid umgewandelt wird, dann zusammen mit Natriumacetat erhitzt wird, um Kakodyloxid zu ergeben. Letzteres ist nicht nur eine der allergiftigsten Substanzen auf unserem Planeten, sondern hat zusätzlich den Vorteil, dass sie abscheulich stinkt, nämlich nach verschimmeltem Knoblauch, nur tausendmal schlimmer. Ihr Entdecker Bunsen (der mit dem Brenner) hielt damals fest, dass einem von einem Hauch davon nicht nur Hände und Füße kribbeln, sondern sich auch auf der Zunge ein ekliger schwarzer Schleim ablagert. Herr im Himmel, wie mannigfaltig sind doch deine Werke!
Du kannst dir meine Enttäuschung sicher vorstellen, als ich herausfand, dass meine Probe keinerlei Arsen enthielt. Die Farbe bestand aus irgendeinem stinknormalen Pflanzensaft, vermutlich von der gemeinen Salweide (Salix caprea) gewonnen oder von einem anderen harmlosen, todlangweiligen Gewächs.
Irgendwie lenkte das meine Gedanken wieder zurück zu Vater.
Warum hatte ihm die Entdeckung vor der Küchentür solche Angst eingejagt? War es überhaupt Angst gewesen, was ich auf seinem Gesicht gelesen hatte?
Doch, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel. Was sollte es sonst gewesen sein? Mit Vaters Jähzorn, seiner Ungeduld, seiner Übermüdung, seiner unvermittelten Niedergeschlagenheit war ich nur allzu vertraut. Alle diese Stimmungen zogen hin und wieder über sein Gesicht wie Wolkenschatten über unsere englischen Hügel.
Dabei fürchtete sich Vater ganz gewiss nicht vor toten Vögeln. Ich hatte schon oft zugesehen, wie er einer dicken, runden, gebratenen Weihnachtsgans zu Leibe gerückt war und dabei sein Besteck geschwungen hatte wie ein orientalischer Mordbube. Im vorliegenden Fall durfte es ihm ja wohl kaum einen Schrecken eingejagt haben, dass das Tier noch Federn gehabt hatte. Oder war es das tote Auge gewesen?
Und die Briefmarke konnte es auch nicht gewesen sein. Vater liebte Briefmarken mehr als seine eigenen Kinder. Das Einzige, was er noch inniger geliebt hatte als diese bunten Papierchen, war Harriet gewesen. Und die war, wie schon erwähnt, tot.
So tot wie die Schnepfe.
War Vater deshalb so erschüttert gewesen?
»Nein! Nein! Geht weg!« Die barsche Stimme drang durch mein offenes Fenster und schnitt meinen Gedankenfaden - Schnips! - mitten durch.
Ich warf die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und spähte in den Küchengarten hinunter.
Es war Dogger, der da gerufen hatte. Er stand mit dem Rücken an der Gartenmauer aus verwitterten roten Ziegeln und spreizte die wettergegerbten Finger.
»Kommt mir ja nicht zu nahe! Haut ab!«
Dogger war Vaters Bediensteter, sein Faktotum. Und er war allein im Garten.
Man munkelte - beziehungsweise Mrs Mullet munkelte -, Dogger habe zwei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft geschmachtet, gefolgt von über einem Jahr der Folter, des Hungers, der Mangelernährung und Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie des Todes, zwischen Thailand und Burma, wo er, so hieß es, gezwungen gewesen war, sich von Rattenfleisch zu ernähren.
»Du musst nachsichtig mit ihm sein, Schatz«, hatte sie gemeint. »Er ist völlig mit den Nerven runter.«
Ich schaute zu ihm hinab, wie er so im Gurkenbeet stand, die vorzeitig weiß gewordenen Haare nach allen Seiten abstehend und den Blick, allem Anschein nach ohne etwas zu sehen, gen Himmel gerichtet.
»Ist schon gut, Dogger«, rief ich. »Ich hab sie von hier oben aus im Griff.«
Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, doch da wandte er mir und meiner Stimme ganz langsam das Gesicht zu wie eine Sonnenblume. Ich hielt den Atem an. Man kann nie wissen, wozu jemand in einer solchen Verfassung fähig ist.
»Alles klar, Dogger«, rief ich. »Sie sind weg.«
Da sackte er in sich zusammen, als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.
»Miss Flavia?« Seine Stimme bebte. »Bist du das, Miss Flavia?«
»Ich komm runter!«, rief ich. »Bin gleich da.«
Ich sauste wie ein geölter Blitz die Hintertreppe hinunter in die Küche. Mrs Mullet war nach Hause gegangen, aber der Schmandkuchen stand zum Abkühlen am offenen Fenster.
Nein, dachte ich, Dogger braucht jetzt etwas zu trinken. Vater verwahrte seinen Whisky in einem verschlossenen Bücherschrank in seinem Arbeitszimmer. Außerdem durfte ich ihn dort nicht stören.
Zum Glück entdeckte ich in der Speisekammer einen Krug kalter Milch. Ich goss ein großes Glas ein und rannte in den Garten.
»Bitteschön!«
Dogger nahm das Glas mit beiden Händen entgegen, starrte es lange an, als wüsste er nicht recht, was er damit anfangen sollte, dann setzte er es zitternd an die Lippen. Er trank es mit langen Zügen aus und gab es mir zurück.
Er sah beinahe glückselig aus, wie ein Engel von Raffael, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch wieder.
»Du hast einen weißen Schnurrbart«, stellte ich fest, bückte mich zu den Gurken hinab, riss ein großes grünes Blatt ab und wischte ihm damit über die Oberlippe.
Sein leerer Blick belebte sich.
»Milch und Gurken …«, stammelte er. »Gurken und Milch …«
»Gift!«, rief ich, vollführte Luftsprünge und schlug mit den Armen wie ein Huhn mit den Flügeln, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung war. »Tödliches Gift!« Wir mussten beide ein bisschen lachen.
Er blinzelte.
»Meine Güte!«, sagte er und sah sich im Garten um, wie eine Prinzessin, die soeben aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht, »also, wenn das kein schöner Tag wird …!«
Vater erschien nicht zum Mittagessen. Probehalber legte ich das Ohr an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und wartete so lange, bis ich hörte, wie drinnen die Seiten der philatelistischen Zeitschrift umgeblättert wurden und die väterliche Kehle sich räusperte. Die Nerven, dachte ich mir.
Am Tisch war Daphne, die Nase tief in ihrem Horace Walpole, ihr Gurkensandwich lag aufgeweicht und in Vergessenheit geraten vor ihr. Ophelia seufzte unablässig vor sich hin, schlug die Beine übereinander, dann wieder auseinander und schließlich wieder übereinander und starrte ins Leere, sodass ich nur vermuten konnte, dass sie in Gedanken mit Ned Cropper, dem Hansdampf in allen Gassen aus dem Dreizehn Erpel, flirtete. Sie war viel zu versunken in ihren überheblichen Tagtraum, um mitzubekommen, dass ich mich vorbeugte und einen prüfenden Blick auf ihre Lippen warf, als sie geistesabwesend nach einem Rohrzuckerwürfel langte, ihn in den Mund steckte und draufloslutschte.
»Mensch«, verkündete ich aufs Geratewohl, »morgen früh werden die Pickel aber prächtig sprießen.«
Sie stürzte sich auf mich, aber ich war schneller als sie mit ihren Flossen.
Oben schrieb ich in mein Labortagebuch:
Freitag, 2. Juni 1950, 13.07 Uhr. Noch keine erkennbare Reaktion. »Ohne Geduld keine Genialität« - Disraeli
Ich konnte nicht einschlafen. Meistens schlafe ich wie ein Stein, kaum dass das Licht aus ist, aber an diesem Abend war es anders. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und ließ den Tag noch einmal an mir vorüberziehen.
Da war zunächst der Vorfall mit Vater. Nein, das war nicht ganz richtig. Zuerst hatte der tote Vogel auf der Schwelle gelegen - dann hatte Vater auf den Anblick reagiert. Ich glaubte zwar, Angst in seinem Gesicht gelesen zu haben, aber mich plagte trotzdem ein klitzekleiner Zweifel.
In meinen Augen - in unser aller Augen - kannte Vater keine Furcht. Er hatte im Krieg viel Schreckliches erlebt, dermaßen Schreckliches, dass man ihn am besten nicht darauf ansprach. Er hatte Harriets Verschwinden und die Nachricht von ihrem Tod verkraftet. Und stets war er tapfer, standhaft, zäh und unerschütterlich gewesen. Unglaublich britisch. Immer Haltung bewahren! Aber diesmal …
Zum anderen der Vorfall mit Dogger: Arthur Wellesley Dogger, um ihn »vollständig samt seinem Vatersnamen« (wie er es an seinen besseren Tagen nannte) zu bezeichnen. Dogger war ursprünglich als Vaters Diener zu uns gekommen; aber dann, als »die äußerst vielfältigen Pflichten« (seine Worte, nicht meine), die diese Stellung mit sich brachte, ihn gar zu sehr drückten, fand er es »opportuner«, erst zum Butler ernannt zu werden, dann zum Chauffeur, dann zum Haushandwerker und zu guter Letzt wieder zum Chauffeur. In den letzten paar Monaten war er die Karriereleiter wie ein welkes Blatt sanft hinuntergetrudelt, bis er auf seinem gegenwärtigen Posten als Gärtner zur Ruhe gekommen war und Vater unseren Hillman Kombi der Tombola von St. Tankred gestiftet hatte.
Armer Dogger! So dachte ich, obwohl mich Daphne ermahnt hatte, so dürfe man über niemanden denken oder sprechen. »Das ist nicht nur herablassend, sondern schließt obendrein jede künftige Verbesserung aus.«
Trotzdem. Wer hätte den Anblick vergessen können, wie Dogger an der Mauer gestanden hatte? Ein einfältiger Bär von einem Mann, der hilflos dasteht, die Haare ebenso in Unordnung wie sein Werkzeug, und einer Miene, als ob … als ob …
Ein leises Rascheln lenkte mich ab. Ich drehte den Kopf lauschend zur Seite.
Nichts.
Es ist nun mal so, dass ich zufälligerweise unglaublich gut höre, dass ich, wie Vater einmal meinte, die Spinnweben an den Wänden klappern höre wie Hufeisen. Auch Harriet hat so gut gehört, und manchmal stelle ich mir vor, dass ich in gewisser Hinsicht ein absurdes Überbleibsel von ihr bin: zwei geisterhafte Ohren, die durch die heiligen Hallen von Buckshaw spuken und Dinge hören, die vielleicht lieber ungehört blieben.
Aber da war es wieder! Der Widerhall einer Stimme, dumpf und tonlos, als raunte jemand in eine leere Keksdose.
Ich schlüpfte aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen ans Fenster. Ohne den Vorhang beiseitezuziehen, spähte ich in den Küchengarten hinunter, gerade als der Mond zuvorkommenderweise hinter einer Wolke hervorglitt und die Szenerie in ein Licht tauchte, wie es gut zu einer erstklassigen Aufführung von Ein Sommernachtstraum gepasst hätte.
Aber mehr als seine silbernen Strahlen, die zwischen Gurken und Rosen umhertanzten, war nicht zu erkennen.
Dann hörte ich jemanden reden: eine Art zorniges Brummen wie von einer Biene im Spätsommer, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Ich warf einen von Harriets seidenen japanischen Morgenmänteln über (einen von zweien, die ich vor der großen Säuberung gerettet hatte), schlüpfte in die perlenbestickten indianischen Mokassins, die mir als Hausschuhe dienten, und schlich zum Treppenabsatz. Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus.
Auf Buckshaw gab es zwei Haupttreppen, die sich spiegelbildlich vom ersten Stock ins Erdgeschoss wanden, wo sie dicht vor dem schwarzen Strich auf dem Boden endeten, der das im Schachbrettmuster geflieste Foyer teilte. Meine Treppe, die des »Tar«- oder Ostflügels, endete vor der weitläufigen, farbig ausgemalten Eingangshalle zum Waffenmuseum im Westflügel. Dahinter lag Vaters Arbeitszimmer. Von dort kam die Stimme, und dorthin zog es mich.
Ich legte das Ohr an die Tür. »Abgesehen davon, Schnäppi«, sagte eine schurkische Stimme hinter der Täfelung, »wie konntest du mit dieser Erkenntnis weiterleben? Wie konntest du einfach so weitermachen?«
Einen beklemmenden Augenblick lang dachte ich schon, der Schauspieler Georg Sanders wäre nach Buckshaw gekommen und würde Vater hinter verschlossenen Türen eine Gardinenpredigt halten.
»Verschwinde«, sagte Vater. Sein Ton war zwar nicht ärgerlich, aber so ruhig und beherrscht, dass ich genau wusste, wie zornig er war. Ich sah seine gefurchte Stirn, seine geballten Fäuste und die wie Bogensehnen gespannten Kiefermuskeln vor mir.
»Reg dich ab, alter Junge«, entgegnete die ölige Stimme. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ein für alle Mal. Das weißt du genauso gut wie ich.«
»Twining hatte Recht«, sagte Vater. »Du bist wirklich eine widerwärtige Kreatur.«
»Twining? Der olle Teebeutel ist doch inzwischen seit dreißig Jahren tot, Schnäppi, genau wie Jacob Marley. Und ebenso wie Marleys treibt auch sein Geist noch immer sein Unwesen. Wie dir vielleicht aufgefallen ist.«
»Und wir haben ihn umgebracht«, sagte Vater tonlos.
Hatte ich mich verhört? Das konnte doch nicht …
Ich nahm das Ohr von der Tür, beugte mich zum Schlüsselloch hinunter und verpasste deshalb Vaters nächste Worte. Er stand neben dem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür. Der
Fremde wandte mir den Rücken zu. Er war auffallend groß, bestimmt eins neunzig, schätzte ich. Mit den roten Haaren und dem schäbigen grauen Anzug erinnerte er mich an den Kanadakranich, der ausgestopft in einer düsteren Ecke im Feuerwaffenmuseum stand.
Ich spitzte wieder die Ohren. »… Schande verjährt nicht«, sagte der Fremde. »Was sind schon ein paar Tausender für dich, Schnäppi? Du musst nach Harriets Tod doch einen ordentlichen Reibach gemacht haben. Mensch, allein die Versicherung …«
»Halt dein dreckiges Maul!«, rief Vater. »Und verschwinde, sonst …«
Da packte mich jemand von hinten und drückte mir eine raue Hand auf den Mund. Mir blieb fast das Herz stehen.
Der Griff war so fest, dass ich nicht mal zappeln konnte.
»Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir jemand heiser ins Ohr.
Es war Dogger.
»Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.«
Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und warf ihm einen giftigen Blick zu.
Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen, dass sein Blick ein bisschen milder wurde.
»Zisch ab!«, raunte er.
Also zischte ich ab.
In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.
Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt! Was bildete der Kerl sich überhaupt ein?
Dir werd ich’s zeigen, dachte ich.
»Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich laut.
Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller, warf mich aufs Bett und sang schallend:
»DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah …«
Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der Träume wiegen lässt …
Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde die Sonne aufgehen.
Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett. Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig, ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden geschehen war.
Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte liegen lassen.
Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter.
Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen.
Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten Rhabarber- oder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen verfütterte.
Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf in den Schoß gelegt hätte.
Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste auf Hände und Knie.
»Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem Lehm verschmiert.
»Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter.
Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen weißen, dreisten Rechen handeln.
Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich musste mir eingestehen, dass es eine Hand war. Eine Hand an einem Arm; an einem Arm, der sich tiefer ins Gurkenbeet hineinschlängelte.
Und dort, am Ende des Armes, von den zart leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden.
Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder: teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten wollte.
Als ich wir schon beinahe mit den Nasen zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf.
Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich nicht rühren konnte.
Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort, bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht:
»Vale«, sagte er.
Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge lag.
Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis.
Dann brachen sie.
Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene, metallische Tönung der Haut, als würde sie vor meinen Augen vom Hauch des Todes gestreift.
Und dann diese absolute Stille.
Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte.
3
Ich rannte die Westtreppe hoch. Mein erster Gedanke war, Vater zu wecken, aber eine Art unsichtbarer Riesenmagnet hielt mich zurück. Daffy und Feely brauchte ich gar nicht erst zu holen; auf sie war in Notfällen sowieso kein Verlass. Darum huschte ich möglichst geräuschlos in den hinteren Trakt und klopfte leise an die Tür des kleinen Zimmers am oberen Ende der Küchentreppe.
»Dogger!«, raunte ich. »Ich bin’s, Flavia.«
Von drinnen war nichts zu hören, darum klopfte ich noch mal.
Nach schätzungsweise zweieinhalb Ewigkeiten hörte ich Doggers Pantoffeln schlurfen. Das Türschloss klickte und knirschte, dann wurde die Tür argwöhnisch ein paar Zentimeter geöffnet. Im fahlen Morgenlicht sah Doggers eingefallenes Gesicht aus, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
»Unten im Garten liegt eine Leiche«, verkündete ich. »Ich glaub, es ist besser, wenn du mal mitkommst.«
Während ich von einem Fuß auf den anderen trat und an den Fingernägeln kaute, warf mir Dogger einen Blick zu, den man nur vorwurfsvoll nennen konnte; dann verschwand er im dunklen Zimmer, um sich etwas überzuziehen. Fünf Minuten später standen wir nebeneinander auf dem Gartenweg.
Man merkte, dass Dogger schon mehr als eine Leiche gesehen hatte. Er kniete sich hin und tastete mit Zeige- und Mittelfinger
1. Auflage
© 2009 by Alan Bradley
eISBN 978-3-641-03421-4
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Leseprobe

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