Flavia de Luce 2 - Mord ist kein Kinderspiel - Alan Bradley - E-Book
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Flavia de Luce 2 - Mord ist kein Kinderspiel E-Book

Alan Bradley

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Beschreibung

Flavia de Luce ist eine Detektivin, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat

Nie zuvor hat die junge Flavia de Luce einen so aufregenden Theaterabend erlebt. Der begnadete Puppenspieler Rupert Porson schlägt das Publikum in seinen Bann, und beim furiosen Finale gibt es sogar eine echte Leiche!
Die Polizei tappt zunächst im Dunkeln. Nur die Hobbydetektivin Flavia findet heraus, dass jemand die elektrische Anlage der Bühne manipuliert hat. Doch schon bald stellt sich die bange Frage, ob Flavia ganz allein gegen den Strippenzieher in diesem mörderischen Marionettenspiel bestehen kann …

Die »Flavia de Luce«-Reihe:

Band 1: Mord im Gurkenbeet
Band 2: Mord ist kein Kinderspiel
Band 3: Halunken, Tod und Teufel
Band 4: Vorhang auf für eine Leiche
Band 5: Schlussakkord für einen Mord
Band 6: Tote Vögel singen nicht
Band 7: Eine Leiche wirbelt Staub auf
Band 8: Mord ist nicht das letzte Wort
Band 9: Der Tod sitzt mit im Boot
Band 10: Todeskuss mit Zuckerguss

Außerdem (nur) als E-Book erhältlich:
Das Geheimnis des kupferroten Toten (»Flavia de Luce«-Short-Story)

Alle Bände sind auch einzeln lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 437

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
SIR WALTER RALEIGH AN SEINEN SOHN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Copyright
Wieder für Shirley
SIR WALTER RALEIGH AN SEINEN SOHN
Drei Dinge gibts, die rasch und gut gedeihn,Schön au fblühn, wenn sie sorglich sind getrennt;Doch kann ein Tag sie aneinanderreihn,Und wenn geeint, verderben sie am End.
Und diese sinds: das Holz, der Hanf, der Hans.Das Holz verwandelt in den Galgen sich;Hanf steht für Henkerstrick; und mit dem HansBenenn ich, liebes Bürschlein, diesmal dich.
Gib acht, mein Junge: sind die drei sich fern,Bleibt frisch das Holz, Hanf grün, Hans wohlgemut;Doch wenn vereint, so fault das Holz im Kern,Der Strick wird bös, und würgt das Kind zu Tod.
1
Ich lag tot auf dem Friedhof. Seit die Trauernden ein letztes, kummervolles Mal Abschied von mir genommen hatten, war bereits eine geschlagene Stunde vergangen.
Punkt zwölf, also genau um die Zeit, um die wir uns sonst immer zum Mittagessen am Tisch versammelt hatten, war ich aus Buckshaw fortgebracht worden: Mein glänzender Rosenholzsarg war aus dem Salon hinaus und die breiten Steinstufen zur Ausfahrt hinabgetragen worden, dann hatte man ihn mit erschütternder Mühelosigkeit in die offene Tür des wartenden Leichenwagens geschoben und dabei einen kleinen Wiesenblumenstrauß zerdrückt, den ein trauernder Dorfbewohner dort hineingelegt hatte.
Es folgte die lange Fahrt durch die Kastanienallee bis zum Mulford-Tor, dessen stets sprungbereite Greife sich abwandten, als wir vorüberfuhren - ob vor Kummer oder aus Gleichgültigkeit würde ich nie mehr erfahren.
Dogger, Vaters treues Faktotum, war gemessenen Schrittes neben dem langsam fahrenden Leichenwagen einhergegangen, den Kopf gesenkt, eine Hand leicht auf das Dach gelegt, als wollte er meine sterblichen Überreste vor etwas schützen, das nur er sehen konnte. Am Tor hatte ihn ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmers schließlich mittels einiger unmissverständlicher Gesten in ein angemietetes Automobil verfrachtet.
So hatte man mich bis ins Dorf Bishop’s Lacey gebracht, eine feierliche Fahrt über dieselben grünen Sträßchen, dieselben staubigen Heckenwege, die ich zu meinen Lebzeiten jeden Tag mit dem Fahrrad entlanggesaust war.
Auf dem etwas erhöht liegenden Friedhof von St. Tankred hatte man mich behutsam aus dem Leichenwagen gehoben und im Schneckentempo den Weg zwischen den Linden hinaufgetragen. Oben angekommen, hatte man mich noch einmal auf dem frisch gemähten Rasen abgesetzt.
Daran schloss sich der Gottesdienst am offenen Grab an, bei dem der Vikar mit einem Anflug ehrlicher Trauer die traditionellen Worte sprach.
Zum ersten Mal verfolgte ich eine Begräbniszeremonie aus dieser Warte. Im vergangenen Jahr hatten wir mit Vater an der Beerdigung des alten Mr Dean teilgenommen, des Obst- und Gemüsehändlers unseres Ortes. Sein Grab befand sich nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der ich jetzt lag. Es war schon eingesunken und hatte kaum mehr als eine rechteckige Vertiefung hinterlassen, die meistens mit abgestandenem Regenwasser gefüllt war.
Meine älteste Schwester Ophelia behauptete, Mr Deans Grab sei deshalb eingesunken, weil der Tote auferstanden und körperlich nicht mehr anwesend sei, wohingegen meine andere Schwester Daphne meinte, er sei lediglich in ein darunter liegendes älteres Grab durchgerutscht, dessen Bewohner zu Moder zerfallen sei.
Ich stellte mir die Knochensuppe unter mir vor: eine Suppe, der ich mich bald als weitere Zutat beimengen sollte.
Flavia Sabina de Luce, 1939-1950, so würde man meinen Grabstein beschriften lassen, einen bescheidenen, aber doch geschmackvollen Marmorstein ohne Platz für falsche Rührseligkeiten.
Schade. Hätte ich lange genug gelebt, hätte ich für den Stein schriftliche Anweisungen hinterlassen, die einen Anflug von Wordsworth heraufbeschworen hätten:
Ein Mädchen, wie ich keins je sahund selten eins geliebt.
Und wenn sich meine Angehörigen dagegen gesträubt hätten, hätte ich folgende Alternative angegeben:
Das treueste Herz wird oftdurch böse Taten gebrochen.
Nur Feely, die jene Zeilen schon am Klavier gesungen und gespielt hatte, hätte das Zitat aus Thomas Campions Third Book of Airs erkannt, aber sie wäre vor Trauer und schlechtem Gewissen viel zu erschüttert gewesen, als dass sie die anderen darüber aufgeklärt hätte.
Die Stimme des Vikars riss mich aus meinen Gedanken:
»… Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub, in der unerschütterlichen Hoffnung auf die Auferstehung zum ewigen Leben durch unseren Herrn Jesus Christus, der unseren sterblichen Leib verwandeln wird …«
Und dann waren sie auf einmal alle verschwunden, ließen mich an einem Ort allein, wo mir nichts anderes übrig blieb, als den Würmern zu lauschen.
Das war’s dann wohl gewesen: Das traurige Ende der armen Flavia.
Inzwischen war die Familie bestimmt schon wieder auf Buckshaw und hatte sich um den langen Esstisch versammelt: Vater wie immer in steinernes Schweigen gehüllt, Daffy und Feely einander mit tränenverschmierten Gesichtern umarmend, während unsere Köchin Mrs Mullet einen großen Servierteller mit einem Braten hereintrug.
Mir fiel ein, was mir Daffy erzählt hatte, als sie gerade Homers Odyssee verschlang: dass gebratenes Fleisch im alten Griechenland der traditionelle Leichenschmaus gewesen sei. Ich hatte damals im Hinblick auf Mrs Mullets Kochkünste erwidert, dass sich in diesem Punkt in zweieinhalb Jahrtausenden eigentlich nicht viel verändert habe.
Aber jetzt, da ich tot bin, dachte ich, sollte ich mir vielleicht Mühe geben, etwas nachsichtiger zu urteilen.
Dogger war natürlich untröstlich. Der gute Dogger, unser Butler, Chauffeur, Hausdiener, Gärtner und Gutsverwalter in Personalunion; eine arme, vom Krieg verstörte Seele, deren Tüchtigkeit an- und abschwoll wie die Gezeiten an der Mündung des Severn; Dogger, der mir erst kürzlich das Leben gerettet und am nächsten Morgen schon wieder alles vergessen hatte. Ihn würde ich schrecklich vermissen.
Ebenso wie mein Chemielabor. Ich dachte an die vielen vergnüglichen Stunden, die ich in jenem verlassenen Flügel von Buckshaw verbracht hatte, glückselig zwischen all den Destillierkolben, Retortenglocken und munter blubbernden Schläuchen und Reagenzgläsern. Der Gedanke, das alles nie mehr wiederzusehen, war schier unerträglich.
Ich lauschte dem aufkommenden Wind, der über mir durch das Geäst der alten Eiben strich. Hier im Schatten des Kirchturms von St. Tankred wurde es bereits recht frisch. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen.
Arme Flavia! Arme, kalte, mausetote Flavia!
Inzwischen bereuten Daffy und Feely es gewiss schon von ganzem Herzen, dass sie zu ihrer kleinen Schwester während ihres kurzen elfjährigen Erdendaseins immer so gemein gewesen waren.
Bei dem Gedanken lief mir eine Träne über die Wange.
Ob Harriet mich wohl im Himmel in Empfang nahm?
Harriet war meine Mutter, die ein Jahr nach meiner Geburt auf ungeklärte Weise beim Bergsteigen ums Leben kam. Würde sie mich nach zehn Jahren überhaupt wiedererkennen? Ob sie immer noch die Bergsteigerkluft anhatte, die sie bei ihrem Tod trug, oder hatte sie inzwischen ein weißes Nachthemd angelegt?
Was sie auch tragen mochte, sie sah bestimmt sehr schick aus.
Da vernahm ich Flügelschläge. Sie hallten dröhnend von der Kirchenmauer wider, von dem Buntglasfenster, so groß wie ein halbes Fußballfeld, und von den mich umstehenden schiefen Grabsteinen. Ich wäre zu Tode erschrocken, wäre ich nicht schon tot gewesen.
War das womöglich ein Engel … oder eher wohl ein Erzengel … der vom Himmel herniederstieg, um Flavias holde Seele ins Paradies zu geleiten? Ich öffnete die Augen einen winzigen Spalt, bis ich, wenn auch nur verschwommen, durch die Wimpern spähen konnte.
So ein Pech! Es war nur eine der zerzausten Dohlen, die immer um St. Tankred herumflatterten. Diese Strolche hatten sich, gleich nachdem die Steinmetze im 13. Jahrhundert ihr Werkzeug eingepackt hatten und zur nächsten Baustelle weitergezogen waren, droben im Kirchturm eingenistet.
Der blöde Vogel hatte sich unbeholfen auf einem gen Himmel weisenden Marmorzeigefinger niedergelassen und betrachtete mich unverfroren mit schiefgelegtem Kopf aus blanken, albernen Knopfaugen.
Diese Dohlen waren aber auch zu dämlich! Ich konnte diesen Trick so oft aufführen wie ich wollte, jedes Mal kamen sie früher oder später vom Turm heruntergeflattert. Für das urzeitliche Hirn einer Dohle konnte ein auf der Erde ausgestrecktes Lebewesen nur eines bedeuten: Nahrung.
Wie schon Dutzende Male zuvor sprang ich auf und warf mit dem Stein, den ich in der Faust verborgen hielt, nach dem Federvieh. Wie praktisch jedes Mal traf ich nicht.
Mit verächtlichem »Kraak« schwang sich die Dohle in die Lüfte und flatterte in Richtung Fluss davon.
Jetzt, da ich wieder auf den Beinen war, merkte ich erst, dass ich einen Bärenhunger hatte. Kein Wunder, seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Ich überlegte kurz, ob ich im Gemeindehaus womöglich noch ein paar übrig gebliebene Marmeladentörtchen oder ein Stück Kuchen würde auftreiben können. Gestern Abend hatte sich das Frauenkomitee von St. Tankred dort versammelt; daher standen die Chancen nicht schlecht.
Als ich durch das kniehohe Gras stapfte, glaubte ich einen hohen, lang gezogenen Laut zu hören. War die freche Dohle zurückgekommen, um das letzte Wort zu haben?
Ich blieb stehen und spitzte die Ohren.
Nichts.
Dann hörte ich es wieder.
Oft empfinde ich es als Segen, manchmal jedoch auch als Fluch, dass ich Harriets unglaublich scharfes Gehör geerbt habe, da ich, wie ich Feely voller Genugtuung zu erzählen pflege, Dinge höre, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Mein Spezialgebiet ist Weinen in allen seinen Spielarten.
Die Laute kamen aus der nordwestlichen Ecke des Friedhofs, unweit des Holzschuppens, in dem der Totengräber sein Werkzeug aufbewahrte. Als ich auf Zehenspitzen näher schlich, schwollen die Klagelaute an: Dort heulte jemand vor sich hin, und zwar auf die gute alte Rotz-und-Wasser-Art.
Es ist schlicht naturgegeben, dass die meisten Männer an einer weinenden Frau vorbeigehen können, als hätten sie Scheuklappen vor den Augen und Bohnen in den Ohren, aber keine Frau kann eine Geschlechtsgenossin schluchzen hören, ohne ihr umgehend zu Hilfe zu eilen.
Ich spähte hinter einer schwarzen Marmorsäule hervor - und da lag sie, lang ausgestreckt bäuchlings auf einer Grabplatte. Ihr Haar ergoss sich wie blutiger Wasserfall über die verwitterte Inschrift im Kalkstein. Bis auf die Zigarette, die anmutig zwischen ihren Fingern klemmte, glich sie einem Gemälde von Burne-Jones oder einem anderen Präraffaeliten. Fast widerstrebte es mir, sie zu stören.
»Guten Tag«, sagte ich. »Geht’s Ihnen nicht gut?«
Es scheint ebenso naturgegeben zu sein, dass man solche Unterhaltungen immer mit einer unglaublich blöden Bemerkung beginnt. Ich hatte sie noch nicht ausgesprochen, da war sie mir schon peinlich.
»Ach was! Mir geht’s bestens«, schimpfte sie, sprang auf und wischte sich die Augen. »Was schleichst du dich so an mich ran? Wer bist du überhaupt?«
Sie warf die Haare zurück und reckte trotzig das Kinn. Ich erblickte die hohen Wangenknochen und das dramatische dreieckige Gesicht eines Stummfilmstars, und so wie sie die Zähne bleckte, sah man sofort, dass sie Angst hatte.
»Flavia. Ich bin Flavia de Luce. Ich wohne hier in der Nähe … auf Buckshaw.«
Ich zeigte mit dem Daumen in die ungefähre Richtung.
Sie starrte mich an, als zappelte sie immer noch in den Fängen eines Albtraums.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Sie richtete sich zu voller Größe auf - was höchstens eins sechzig sein konnte - und machte einen Schritt auf mich zu, wie eine empörte Version von Botticellis Venus, die ich einmal auf einer Huntley-and-Palmer-Keksdose gesehen hatte.
Ich wich nicht von der Stelle und richtete den Blick unverwandt auf ihr Kleid. Es war aus cremefarbenem, bedrucktem Kattun mit gerafftem Oberteil und ausgestelltem Rock. Das Muster zeigte lauter winzige Blumen, rot, gelb, blau, einige auch leuchtend orange wie manche Mohnblumen. Mir fiel unweigerlich auf, dass der Saum mit angetrocknetem Lehm verschmiert war.
»Ist was?« Sie zog affektiert an ihrer zerknickten Zigarette. »Hast du noch nie jemanden Berühmtes gesehen?«
Berühmt? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer sie war. Angesichts dessen reagierte ich ausgesprochen geistesgegenwärtig, indem ich erwiderte, ich sei sehr wohl schon jemand Berühmtem begegnet, und zwar Winston Churchill, den mir Vater einmal in London aus dem Taxi heraus gezeigt hatte. Churchill hatte vor dem Savoy gestanden, die Daumen in die Westentaschen gehakt, und auf einen Mann in gelbem Regenmantel eingeredet.
»Der gute alte Winnie«, hatte Vater wie im Selbstgespräch geraunt.
»Na und?«, sagte die Frau. »Was für ein grässlicher Ort … voller grässlicher Menschen … und dazu diese verdammten Autos!« Sie brach abermals in Schluchzen aus.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigte ich mich.
»Geh einfach weg und lass mich in Ruhe«, schluchzte sie.
Meinetwegen, dachte ich. Eigentlich dachte ich mir noch mehr, aber da ich mir ja vorgenommen hatte, ein besserer Mensch zu werden …
Ich blieb noch einen Augenblick stehen und beugte mich unauffällig vor, um zu sehen, ob ihre vom Kinn tropfenden Tränen mit der porösen Oberfläche des Grabsteins reagierten, denn Tränen bestehen bekanntlich hauptsächlich aus Wasser, Natriumchlorid, Mangan und Kalium, wogegen Kalkstein in erster Linie aus Kalkspat besteht, der in Natriumchlorid löslich ist - allerdings nur bei hohen Temperaturen. Darum war es ziemlich unwahrscheinlich - es sei denn, die Temperatur auf dem Friedhof von St. Tankred stieg ganz plötzlich sehr rasant an -, dass sich hier etwas chemisch Interessantes ereignen würde.
Ich drehte mich um und ging davon.
»Flavia …«
Ich wandte den Kopf. Sie streckte die Hand nach mir aus.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber ich hatte heute einen echt beschissenen Tag.«
Ich hielt inne … und ging schließlich zögerlich zu ihr zurück, während sie sich mit dem Handrücken die Tränen trocknete.
»Es ging schon damit los, dass Rupert ganz miese Laune hatte, noch bevor wir heute Morgen aus Stoatmoor abgefahren sind. Wir hatten einen ziemlichen Krach, und dann noch diese verflixte Geschichte mit dem Kombi … das hat einfach das Fass zum Überlaufen gebracht. Rupert ist losgezogen, um jemanden aufzutreiben, der den Wagen reparieren kann, und ich … tja, ich bin hier gelandet.«
»Ich finde Ihre roten Haare schön«, entgegnete ich. Erwartungsgemäß griff sie sofort danach und lächelte.
»Karottenschopf haben sie mich immer genannt, als ich so alt war wie du. Karottenschopf! Stell dir das mal vor!«
»Karottenschöpfe sind aber grün. Wer ist Rupert?«
»Wer Rupert ist?«, fragte sie zurück. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Sie zeigte mit dem Finger, und ich drehte mich um. Vor dem Friedhof parkte ein ziemlich klappriger Kombi - ein Austin Eight. Auf der Seitenwand stand in prahlerischen goldenen Zirkusbuchstaben, die trotz der dicken Kruste aus Dreck und Staub gut zu lesen waren: PORSONS PUPPENBÜHNE.
»Rupert Porson«, sagte die Rothaarige. »Jeder kennt Rupert Porson. Rupert Porson! Der mit Snoddy, das Eichhörnchen! Das magische Königreich! Hast du ihn noch nie im Fernsehen gesehen?«
Snoddy, das Eichhörnchen? Das magische Königreich?
»Auf Buckshaw gibt’s keinen Fernseher. Vater sagt, das Fernsehen ist eine abscheuliche Erfindung.«
»Dein Vater ist ein sehr, sehr kluger Mann. Zweifellos …«
Das Scheppern eines losen Kettenschutzes schnitt ihr das Wort ab, und da kam auch schon der Vikar um die Ecke der Kirche geeiert. Er stieg ab und lehnte sein ramponiertes Raleigh-Fahrrad an den nächstbesten Grabstein. Als er auf uns zukam, besann ich mich darauf, dass Kanonikus Denwyn Richardson nicht unbedingt dem Bild entsprach, das man sich gemeinhin von einem typischen Dorfpfarrer macht. Er war groß und breit, ein rauer, aber herzlicher Bursche, und wäre er auch noch tätowiert gewesen, hätte man ihn für den Käpt’n eines dieser rostigen alten Trampdampfer halten können, die sich in den letzten gottverlassenen Außenposten unseres britischen Weltreichs träge von einem in der Sonne glühenden Hafen zum nächsten schleppten.
Sein schwarzes geistliches Gewand war hier und da mit kreidigem Staub bepudert, als hätte er mit seinem Rad gerade eine Bauchlandung hingelegt.
»Alle Wetter!«, entfuhr es ihm, als er mich erblickte. »Ich habe meine Hosenklammer verloren und mir den ganzen Aufschlag in Fetzen gerissen!« Er klopfte sich im Gehen ab und setzte dann hinzu: »Da macht mich Cynthia bestimmt zur Schnecke.«
Die Augen der Rothaarigen wurden groß, und sie warf mir einen Blick zu.
»Seit einiger Zeit kratzt sie doch tatsächlich auf alle meine Sachen mit einer Nadel meine Initialen«, fuhr der Vikar fort, »was mich aber nicht davon abhält, auch weiterhin alles Mögliche zu verlieren. Letzte Woche die hektographierten Blätter für das Kirchenblatt, in der Woche davor einen Messingtürknauf aus der Sakristei. Das ist wirklich mehr als ärgerlich, doch, doch.« Dann wandte er sich mir zu. »Tag, Flavia. Freut mich immer, dich in der Kirche zu sehen.«
»Das ist unser Vikar, Kanonikus Richardson«, klärte ich die Rothaarige auf. »Vielleicht kann er Ihnen ja behilflich sein.«
»Denwyn«, sagte der Vikar und hielt der Fremden die Hand hin. »Seit dem Krieg geht es auch bei uns nicht mehr ganz so förmlich zu.«
Wortlos streckte die Frau zwei, drei Finger aus und berührte seine Handfläche. Dabei rutschte der kurze Ärmel ihres Kleides nach oben und ich erhaschte einen Blick auf einen hässlichen grün-violetten Bluterguss auf ihrem Oberarm. Hastig zog sie den Stoff mit der linken Hand wieder herunter.
»Wie kann ich Ihnen denn behilflich sein?« Der Vikar gestikulierte in Richtung Kombi. »Es kommt nicht oft vor, dass wir in unserer beschaulichen ländlichen Abgeschiedenheit von derart illustrem Theatervolk um Hilfe gebeten werden.«
Die Rothaarige fasste sich ein Herz. »Unser Kombi ist kaputt gegangen. Jedenfalls so gut wie. Irgendwas mit dem Vergaser oder so. Wenn es die Elektrik gewesen wäre, hätte Rupert es garantiert im Handumdrehen repariert, aber mit der Kraftstoffanlage ist er überfordert.«
»Ach, du meine Güte!«, sagte der Vikar. »Aber das kann Bert Archer von der Autowerkstatt bestimmt wieder in Ordnung bringen. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn gleich an.«
»Nein, nein«, erwiderte die Frau eine Spur zu rasch, »wir möchten Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Rupert ist die Hauptstraße runtergegangen und hat bestimmt schon jemanden aufgetrieben.«
»In diesem Fall wäre er inzwischen längst wieder hier. Ich rufe rasch Bert an. Der verdrückt sich um die Mittagszeit oft mal auf ein kleines Schläfchen nach Hause. Tja, der gute Bert ist auch nicht mehr der Jüngste! Aber wir werden ja schließlich alle älter, nicht wahr? Jedenfalls finde ich, dass bei kaputten Motoren und dergleichen Reparaturen, selbst wenn es nur ganz geringfügige sind, der Segen der Kirche nicht schaden kann.«
»Nein … nein, danke, ich will wirklich keine Umstände machen. Wir kommen schon zurecht.«
»Unsinn«, widersprach der Vikar und schritt bereits energisch durch den Wald aus Grabsteinen auf das Pfarrhaus zu. »Das macht überhaupt keine Umstände. Ich bin gleich wieder da.«
»Herr Vikar!«, rief ihm die Frau nach, »bitte …«
Denwyn Richardson blieb unvermittelt stehen, machte kehrt und kam widerstrebend zu uns zurück.
»Es ist nur … verstehen Sie, wir …«
»Ach so! Es ist also eine Frage des Geldes.«
Die Frau nickte traurig und senkte den Kopf. Das rote Haar fiel ihr wie ein Vorhang vors Gesicht.
»Da lässt sich bestimmt etwas machen«, sagte der Vikar aufmunternd. »Ah! Da kommt Ihr Mann ja schon.«
Ein kleiner Mann mit zu großem Kopf kam schwerfällig quer über den Friedhof auf uns zugehumpelt. Bei jedem Schritt beschrieb sein rechtes Bein einen weiten Halbkreis. Als er näher kam, sah ich, dass sein Unterschenkel in einem massiven Eisengestell steckte.
Sein Alter ließ sich nur schwer einschätzen - um die vierzig vermutlich.
Trotz seiner geringen Körpergröße schienen die breite, gewölbte Brust und die muskulösen Oberarme den leichten Leinenanzug jeden Augenblick sprengen zu wollen. Im Gegensatz dazu bot sein rechtes Bein einen kläglichen Anblick. Das lose flatternde Hosenbein führte mich zu dem Schluss, dass das Bein selbst dünn wie ein Streichholz sein musste. Mit dem gewaltigen Kopf erinnerte er mich an einen Riesenkraken, der auf ungleich langen Fangarmen durch den Friedhof stakste.
Er blieb vor uns stehen und lüpfte respektvoll eine flache Schiebermütze mit Schirm, wie sie von Automobilisten gerne getragen wird. Dabei kam ein widerspenstiger hellblonder Schopf zum Vorschein; auch sein kleines Van-Dyke-Ziegenbärtchen hatte diese Farbe.
»Rupert Porson, nehme ich an?« Der Vikar begrüßte den Neuankömmling mit einem herzlichen Lange-nicht-mehr-gesehen-alter-Kumpel-Handschlag. »Ich bin Denwyn Richardson. Und das hier ist meine kleine Freundin Flavia de Luce.«
Porson nickte mir zu und bedachte die Rothaarige mit einem flüchtigen finsteren Blick, ehe er ein strahlendes Lächeln aufsetzte. Strahlend wie ein Suchscheinwerfer.
»Ich habe gehört, Sie haben ein Motorproblem«, fuhr der Vikar fort. »Sehr ärgerlich. Aber wenn es deshalb den Schöpfer des magischen Königreichs und von Snoddy, dem Eichhörnchen in unsere Mitte verschlagen hat … tja, das bestätigt mal wieder das alte Sprichwort, was?«
Er verriet uns nicht, welches Sprichwort er meinte, und es fragte auch keiner danach.
»Ich war gerade dabei, Ihrer verehrten Gattin zu erläutern«, fuhr der Vikar fort, »dass sich St. Tankred sehr geehrt fühlen würde, wenn Sie sich imstande sähen, uns im Gemeindesaal mit einer kleinen Vorführung zu erfreuen, solange Ihr fahrbarer Untersatz repariert wird. Ich weiß natürlich, dass Sie ein gefragter Mann sind, aber es wäre geradezu unverzeihlich von mir, würde ich nicht im Interesse der Kinder - und natürlich auch aller Erwachsenen! - von Bishop’s Lacey zumindest den Versuch unternehmen, Sie dazu zu überreden. Hin und wieder darf man doch wohl den Kindern einen Überfall auf ihre Sparschweine gestatten, jedenfalls wenn es um ein kulturell lohnendes Ereignis geht. Finden Sie nicht auch?«
»Nun, Herr Vikar«, erwiderte Porson mit honigsüßer Stimme, die, wie ich fand, viel zu laut, volltönend und einschmeichelnd für einen so klein gewachsenen Mann war, »Sie verstehen bestimmt, dass unser Tourneeplan kaum Abweichungen zulässt, und jetzt ruft auch schon wieder London nach uns …«
»Ach so.«
»Aber …«, Porson hob theatralisch den Zeigefinger, »… es wäre uns die allergrößte Freude, sozusagen für unser Abendessen etwas zu singen. Hab ich nicht recht, Nialla? Wie in den guten alten Zeiten.«
Die Rothaarige nickte, sagte aber nichts dazu, sondern schaute auf die fernen Hügel.
»Sehr schön!« Der Vikar rieb sich so eifrig die Hände, als wollte er ein Feuer entfachen. »Dann sind wir uns ja einig. Kommen Sie am besten gleich mit, dann zeige ich Ihnen den Saal. Der ist zwar nicht ganz auf dem neuesten Stand, aber immerhin hat er eine Bühne, und die Akustik soll sogar durchaus bemerkenswert sein.«
Damit verschwanden die beiden Männer um die Ecke der Kirche.
Zuerst schien es zwischen uns nichts mehr zu sagen zu geben, dann ergriff die Rothaarige das Wort: »Du hast nicht zufällig eine Zigarette, oder? Ich muss dringend eine rauchen.«
Ich schüttelte den Kopf wie eine Idiotin.
»Hmmm … So wie du aussiehst, hätte ich dir das durchaus zugetraut.«
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich sprachlos.
»Ich rauche nicht«, stieß ich hervor.
»Und warum nicht? Bist du zu jung oder zu klug dafür?«
»Ich hatte schon überlegt, ob ich nächste Woche damit anfange«, antwortete ich nicht sehr überzeugend. »Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.«
Sie warf den Kopf zurück und lachte, wobei man alle ihre Zähne sah, wie bei einem Filmstar.
»Du gefällst mir, Flavia de Luce! Aber ich bin dir gegenüber im Vorteil, was? Du hast mir deinen Namen verraten, aber weißt noch nicht, wie ich heiße.«
»Sie heißen Nialla«, sagte ich. »Mr Porson hat Sie Nialla genannt.«
Sie gab mir feierlich die Hand. »Ganz recht. Aber du darfst mich gern Mutter Gans nennen.«
2
Mutter Gans! Die Märchentante? Sie wollte mich wohl auf den Arm nehmen!
Ich mache mir nicht viel aus flapsigen Bemerkungen, schon gar nicht, wenn sie von anderen kommen, und wenn ein Erwachsener sie macht, gehen sie mir erst recht am Allerwertesten vorbei. Meiner Erfahrung nach sollen solche merkwürdigen Scherze aus dem Mund von jemandem, der eigentlich alt genug ist, um es besser zu wissen, meist nur von irgendetwas ablenken.
Trotzdem verkniff ich mir die scharfe - und herrlich fiese! - Erwiderung, die mir auf der Zunge lag, und brachte stattdessen ein sehr verwässertes Lächeln zustande.
»Mutter Gans?«, wiederholte ich misstrauisch.
Die Rothaarige brach abermals in Tränen aus, und ich war froh, dass ich die Klappe gehalten hatte. Jetzt würde ich bestimmt mit einer pikanten Erklärung belohnt werden.
Abgesehen davon hatte ich inzwischen eine leichte, wenn auch kaum merkliche Zuneigung zwischen der Fremden und mir festgestellt. War es Mitleid? Oder eher Angst? Jedenfalls sehnte sich irgendeine chemische Substanz im Inneren der einen nach ihrem lang ersehnten Gegenstück - oder handelte es sich vielmehr um ein Gegengift? - in der anderen.
Ich legte der Frau die Hand auf die Schulter und reichte ihr mein Taschentuch. Sie inspizierte es argwöhnisch.
»Das sind nur Grasflecken«, sagte ich.
Das führte zu einem geradezu spastischen Vulkanausbruch. Sie begrub das Gesicht im Taschentuch, und ihre Schultern bebten so heftig, dass ich fürchtete, sie würde gleich zerplatzen. Um ihr Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen -, und weil ich von ihrem Ausbruch peinlich berührt war -, entfernte ich mich ein Stück, um die Inschrift auf einem hohen, verwitterten Grabstein zu lesen. Der Stein gehörte zum Grab einer gewissen Lydia Green, die im Jahr 1638 »entschlafen« war, und zwar im Alter von »einhundertfünfunddreißig Jahren«.
Blühend einst, ist nun sie leichenblass, stand auf dem Stein geschrieben, beweinet von ihrer Freunde kleiner Schar.
Wäre Lydia nicht gestorben, rechnete ich rasch aus, wäre sie heute an die vierhundertfünfundsiebzig Jahre alt und höchstwahrscheinlich ein Mensch, dessen Bekanntschaft zu machen ausgesprochen lohnend wäre.
»Ich komme mir vor wie der letzte Trottel!«
Ich drehte mich um. Die Rothaarige tupfte sich die Augen und grinste mich tränenfeucht an.
»Ich heiße wirklich Nialla.« Sie reichte mir die Hand. »Ich bin Ruperts Gehilfin.«
Ich kämpfte meinen Ekel nieder und schüttelte ihr flüchtig die Hand, die wie vermutet nass und klebrig war. Sobald es die Höflichkeit zuließ, verbarg ich meine Hand hinter dem Rücken und wischte sie an meinem Rock ab.
»Gehilfin?« Das Wort entschlüpfte mir, ehe ich es zurückhalten konnte.
»Ja, ich weiß, der Vikar hat mich für Ruperts Ehefrau gehalten, aber so ist es nicht. Ehrlich nicht! Überhaupt gar nicht!«
Mein Blick wanderte unweigerlich zu dem Kombi mit der Aufschrift »Porsons Puppenbühne«. Es entging ihr nicht.
»Klar … wir sind zusammen unterwegs. Rupert und ich empfinden füreinander … nun, du würdest es wahrscheinlich … ›große Zuneigung‹ nennen. Aber Mann und Frau …?«
Für wie blöd hielt sie mich eigentlich? Es war noch keine Woche her, dass Daffy mir und Feely laut aus Oliver Twist vorgelesen hatte, und ich zweifelte nicht im Mindesten daran, dass diese Nialla die Nancy für Rupert Porsons Bill Sikes war. Hatte sie nicht mitgekriegt, dass ich den blauen Fleck an ihrem Oberarm gesehen hatte?
»Dabei macht es einen Riesenspaß, mit Rupert kreuz und quer durch England zu tuckern! Überall, wo wir hinkommen, kennen ihn die Leute. Erst vorgestern, als wir in Market Selby auftraten, hat uns schon im Postamt eine dicke Frau mit Kapotthut entdeckt.
›Rupert Porson!‹, hat sie losgekreischt. ›Rupert Porson geht zur Königlichen Post, genau wie alle gewöhnlichen Menschen auch!‹«
Nialla lachte.
»Dann hat sie ihn um ein Autogramm gebeten. Das passiert uns auch fast überall. Sie bestand darauf, dass er ›Liebe Grüße von Snoddy, dem Eichhörnchen‹ draufschrieb. Er malt dann immer noch ein paar Nüsschen dazu. Sie behauptete, das Autogramm sei für ihren Neffen, aber von wegen. Wenn man immer auf Achse ist, entwickelt man einen siebten Sinn für so was. Das merkt man sofort.«
Jetzt plauderte sie munter drauflos. Wenn ich brav zuhörte, würde es bestimmt keine Minute mehr dauern, bis sie mir vertrauensvoll ihre Unterhosengröße mitteilte.
»Jemand von der BBC hat Rupert erzählt, dreiundzwanzig Prozent seiner Zuschauer seien kinderlose Hausfrauen. Kommt mir ziemlich viel vor, oder? Aber Das magische Königreich befriedigt eben wunderbar das wohl in jedem vorhandene Verlangen, dem Alltag zu entfliehen. Ja, so hat es der Mann vom Fernsehen ausgedrückt: ›das jedermann innewohnende Bedürfnis, dem Alltag zu entfliehen.‹ Jeder muss doch ab und zu mal flüchten. Auf die eine oder andere Weise, meine ich.«
»Nur Mutter Gans nicht«, erwiderte ich.
Sie lachte wieder.
»Hör mal, ich wollte dich nicht veräppeln. Ich bin wirklich Mutter Gans. Jedenfalls wenn ich mein Kostüm anziehe. Warte nur, bis du es siehst! Ich habe einen hohen Hexenhut mit breiter Krempe und einer silbernen Schnalle dran, eine graue Ringellockenperücke und ein langes Rüschenkleid, das aussieht, als hätte es mal Mutter Shipton gehört. Weißt du, wer Mutter Shipton war?«
Selbstverständlich wusste ich, wer Mutter Shipton war: eine alte Schachtel, die angeblich im 16. Jahrhundert lebte und in die Zukunft blicken konnte und, unter anderem, die Große Pest, den Großen Brand von London, Flugzeuge, Schlachtschiffe und den Weltuntergang für das Jahr 1881 vorhergesagt hat. Ihre Prophezeiungen waren wie die des Nostradamus in holprigen Knittelversen abgefasst: »Feuer und Wasser werden große Wunder tun« und so weiter. Sogar heute noch laufen Leute frei herum, die daran glauben, die alte Dame habe den Gebrauch von schwerem Wasser zur Herstellung der Atombombe vorausgesagt. Ich glaubte allerdings kein einziges Wort von diesem Riesenblödsinn.
»Ja, den Namen hab ich schon mal gehört«, antwortete ich. »Ist ja auch egal. So ähnlich sehe ich jedenfalls aus, wenn ich mich für die Vorstellung verkleide.«
»Ist ja toll«, sagte ich lahm.
»Was hat ein nettes Mädel wie du überhaupt an einem Ort wie diesem zu suchen?«, fragte sie daraufhin schmunzelnd. Ihre schwungvolle Gebärde umfing den gesamten Friedhof.
»Ich komme oft zum Nachdenken hierher.«
Das schien sie zu belustigen. Sie spitzte die Lippen und flötete mit affiger Bühnenstimme: »Und worüber denkt Flavia de Luce auf ihrem malerischen alten Dorffriedhof so nach?«
»Übers Alleinsein«, gab ich knapp zurück, ohne jedoch unhöflich sein zu wollen. Es entsprach einfach nur der Wahrheit.
»Übers Alleinsein …« Sie nickte. Immerhin ließ sie sich von der schroffen Antwort nicht abschrecken. »Doch, es spricht manches für das Alleinsein, Flavia. Aber wir beide wissen ja wohl, dass ›allein sein‹ und ›einsam sein‹ zwei Paar Schuhe sind, stimmt’s?«
Das klang schon spannender. Mein Gegenüber hatte zumindest über ein paar Dinge nachgedacht, die auch mich beschäftigten.
»Stimmt«, gab ich zu.
Ein längeres Schweigen breitete sich aus.
»Erzähl mir was von deiner Familie«, sagte Nialla schließlich leise.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich habe zwei Schwestern, Ophelia und Daphne. Feely ist siebzehn und Daffy dreizehn. Feely spielt Klavier und Daffy ist ein Bücherwurm. Vater ist Philatelist. Briefmarken sind seine Leidenschaft.«
»Und deine Mutter?«
»Die ist tot. Sie kam bei einem Unfall ums Leben, als ich ein Jahr alt war.«
»Gütiger Himmel! Jemand hat mir von einer Familie erzählt, die in einem riesengroßen alten Herrenhaus hier ganz in der Nähe wohnt: ein exzentrischer Colonel und eine Horde junger Mädchen, die so wild aufwachsen wie ein Indianerstamm. Du bist doch nicht etwa eine von denen, oder?«
Sie sah mir die Antwort an der Nasenspitze an.
»Oje, du armes Kind!«, rief sie aus. »Entschuldige bitte, ich wollte nicht … ich meine …«
»Schon in Ordnung. In Wirklichkeit ist es noch viel schlimmer, aber ich rede nicht gern drüber.«
Der entrückte Blick kehrte in ihre Augen zurück, der Blick einer Erwachsenen, die sich verzweifelt abmüht, mit einem viel jüngeren Gegenüber eine gemeinsame Ebene zu finden.
»Nun … was machst du so den ganzen Tag?«, fragte sie. »Hast du denn keine Interessen … oder Hobbys?«
»Ich interessiere mich sehr für Chemie«, antwortete ich, »und ich bastle gerne an meinen Sammelalben.«
Sie war ganz begeistert. »Ach, wirklich? Stell dir vor, das hab ich in deinem Alter auch furchtbar gern gemacht! Zigarettenbildchen und gepresste Blumen: Stiefmütterchen, Gelbkraut, Fingerhut, Rittersporn; alte Knöpfe, Grußkarten, Gedichte über Omas Spinnrad aus dem Jahrbuch für Mädchen … ach, das hat immer einen Riesenspaß gemacht!«
Meine Sammelalben bestanden aus drei dicken violetten Bänden mit ausgeschnittenen Artikeln und Bildern aus der Flut alter Zeitschriften und Zeitungen, welche die Bibliothek und den Salon von Buckshaw erst überflutet und dann unter sich begraben hatten und von dort in leer stehende Schlafräume und Abstellkammern geschwappt waren, ehe sie schließlich in eine Kellergruft gekarrt wurden, wo sie seither in feuchten, schimmligen Stapeln vor sich hin siechten. Ich hatte alles ausgeschnitten, was ich über Gifte und Giftmischer finden konnte, bis meine Sammelalben aus allen Nähten platzten. Artikel über Major Herbert Rowse Armstrong beispielsweise, den Hobbygärtner und Anwalt, der seine Frau mit liebevoll präparierten Tränken aus arsenhaltigem Unkrautvernichter ins Jenseits beförderte, über Thomas Neill Cream, Hawley Harvey Crippen und George Chapman (erstaunlich, dass die Nachnamen vieler großer Giftmischer mit »C« anfangen!), die eine ansehnliche Armee von Ehegattinnen und anderer Frauen mithilfe von Strychnin, Hyoscin bzw. Antimon ins Grab geschickt hatten, über Mary Ann Cotton (schon wieder!), die sich nach etlichen Jahren erfolgreicher Versuche an Schweinen daran machte, siebzehn Menschen mit Arsen zu vergiften, über Daisy de Melker, die Südafrikanerin, die mit Vorliebe Klempner vergiftete: Erst heiratete sie die Männer, dann trennte sie sich mithilfe einer Dosis Strychnin wieder von ihnen.
»So ein Sammelalbum ist das allerschönste Hobby für eine junge Dame«, sagte Nialla. »Vornehm … aber trotzdem erzieherisch wertvoll.«
Ich selbst hätte es nicht besser ausdrücken können.
»Als ich von zu Hause ausgebüxt bin, hat meine Mama die Alben in den Müll geworfen.« Sie gab ein Geräusch von sich, das, wenn es hätte leben dürfen, vielleicht ein leises Kichern geworden wäre.
»Sie sind von zu Hause ausgebüxt?«
Das fand ich fast so spannend wie ihre Sammlung von gepresstem Rittersporn und Fingerhut - Letzteres immerhin eine Pflanze, aus der sich, wie mir sofort einfiel, das pflanzliche Alkaloid Digitalin (den Chemikern unter uns besser als C36H56O14 bekannt) extrahieren ließ. Freudig dachte ich an die nicht wenigen Male, bei denen ich in meinem Labor die Blätter einer im Garten gepflückten Fingerhutpflanze mithilfe von Alkohol hatte auslaugen lassen. Anschließend hatte ich den schmalen, glitzernden Nadeln bei der Kristallisation zugesehen und mich an der wunderschön smaragdgrünen Lösung erfreut, die sich bildete, nachdem ich die Kristalle in Salzsäure aufgelöst und ein wenig Wasser hinzugefügt hatte. Dem ausgeschiedenen Granulat konnte natürlich mit Schwefelsäure wieder zu seiner ursprünglichen grünen Tönung verholfen werden; man konnte es mittels Bromdampf hellrot färben und durch Zugabe von Wasser wieder smaragdgrün. Es war die reinste Zauberei! Außerdem war es natürlich ein tödliches Gift und als solches wesentlich spannender als alberne Knöpfe und das Jahrbuch für Mädchen.
»Mmmmm«, bestätigte Nialla. »Ich hatte die Nase voll vom Abwaschen und Abtrocknen, vom Fegen und Staubwischen, davon zuzuhören, wie sich die Nachbarn nebenan übergeben. Ich mochte nicht mehr nachts wach liegen und auf das Hufgeklapper des Schimmels warten, der mir den Prinzen bringen sollte.«
Ich grinste.
»Rupert gab meinem Leben eine Wendung. ›Komm mit mir zum Tor von Diarbekir‹, hat er zu mir gesagt. ›Komm mit mir in den Orient, und ich mache eine Prinzessin aus dir, eine Prinzessin in seidenen Gewändern und mit Diamanten groß wie die Kohlköpfe auf dem Markt.‹«
»Echt?«
»Nein. Eigentlich hat er bloß gesagt: ›Mir ist meine dämliche Gehilfin weggelaufen. Komm am Wochenende mit nach Lyme Regis, ich biete dir ein Taschengeld, sechs Mahlzeiten und einen Schlafsack. Und ich lehre dich die Kunst der Manipulation‹, hat er noch gesagt, und ich dumme Kuh glaubte, dass er von Marionetten spricht.«
Ehe ich nachhaken konnte, war sie aufgesprungen und klopfte sich den Rock ab.
»Wo wir gerade von Rupert sprechen«, sagte sie, »lass uns lieber reingehen und nachschauen, was er und der Vikar da drin treiben. Es ist verdächtig ruhig im Gemeindesaal. Was meinst du - ob sie sich schon gegenseitig umgebracht haben?«
Ihr Blumenkleid wogte anmutig zwischen den Grabsteinen hindurch, und mir blieb nichts anderes übrig, als wie ein Hündchen hinter ihr her zu trotten.
Der Vikar stand mitten im Saal, Rupert hatte sich mit in die Hüfte gestemmten Armen auf der Bühne aufgebaut. Hätte er sich gerade nach der Vorstellung im Old Vic von seinem Publikum verabschiedet, die Beleuchtung hätte nicht dramatischer sein können. Wie vom Schicksal persönlich gesandt, fiel ein unerwarteter Sonnenstrahl durch ein Buntglasfenster in der Rückwand des Saales, und wie ein Scheinwerfer übergoss er Ruperts emporgewandtes Gesicht mit goldenem Glanz. Rupert nahm eine theatralische Pose ein, und schon sprudelte Shakespeare aus ihm heraus:
Wenn meine Liebe schwört, sie sei mir treu,So glaub’ ich ihr, obgleich ich weiß, sie lügt,Damit sie meint, ich wäre blöd und scheu,Ein Knabe noch, den leicht die Welt betrügt.In Hoffnung so, dass sie für jung mich hält,Obgleich sie weiß, mein Lenz ist abgepflückt,Hab’ ich mich gläubig ihrem Wort gestellt,Und beiderseits wird Wahrheit unterdrückt.
Wie der Vicar versprochen hatte, war die Akustik erstaunlich gut. Wer auch immer den Saal im 19. Jahrhundert erbaut hatte, er hatte den Innenraum als leicht gewölbte Muschel aus schimmerndem Holz gestaltet, die das kleinste Geräusch verstärkte wie der Klangkörper eines Musikinstruments - gerade so, als säße man im Inneren einer Stradivari. Ruperts wohlklingende, honigsüße Stimme erfüllte den ganzen Raum, hüllte uns in ihren volltönenden Hall:
Doch warum schweig’ ich, dass ich alt und grau,Warum sie ihre Falschheit mir verhehlt?Oh, Liebe trägt die Treue gern zur SchauUnd liebt nicht, dass man ihre Jahre zählt.Drum hört sie meines, ich ihr falsches Wort,Und Lügen schmeicheln unsre Fehler fort.
»Können Sie mich jetzt hören, Herr Vikar?«
Der Zauber war sofort gebrochen. Es war, als hätte Laurence Olivier mitten in »Sein oder nicht sein« plötzlich »Wuff! Wuff! Test … eins … zwei … eins … zwei« geblökt.
Was mich persönlich an Ruperts Darbietung am meisten überraschte, war, dass ich sofort verstand, was er da vortrug. Weil er am Ende jeder Zeile eine fast unmerkliche Pause machte und die Bedeutungsnuancen mit seinen langen weißen Fingern illustrierte, begriff ich den Sinn der Worte. Den Sinn jedes einzelnen Wortes.
Als drangen die Worte mittels Osmose durch meine Poren in mich ein, begriff ich beim Zuhören unmittelbar, dass hier ein verbitterter alter Mann seine weit jüngere Geliebte anklagte.
Mein Blick wanderte zu Nialla. Sie griff sich an die Kehle. In der folgenden, nachhallenden Stille rührte sich der Vikar nicht vom Fleck; es sah aus, als wäre er aus schwarzweißem Marmor gehauen.
Ich war Augenzeugin eines Schauspiels geworden, das nicht jeder der Anwesenden in seiner vollen Tragweite begriff.
»Bravo! Bravo!«
Die gewölbten Hände des Vikars fanden in einer raschen Folge klatschender Donnerschläge zusammen.
»Bravo! Sonnett einhundertachtunddreißig, wenn ich nicht völlig danebenliege. Und, wenn ich meine bescheidene Meinung kundtun darf, vielleicht noch nie ergreifender dargeboten.«
Rupert platzte schier vor Stolz.
Draußen verschwand die Sonne hinter einer Wolke. Der goldene Lichtstrahl erlosch, und auf einmal waren wir nurmehr vier ganz gewöhnliche Leute in einem dämmrigen, staubigen Raum.
»Hervorragend«, sagte Rupert. »Ihr Saal ist absolut großartig.«
Er humpelte über die Bühne und kletterte schwerfällig die schmale Treppe herunter, wobei er sich mit einer Hand an der Seitenwand abstützte.
»Pass auf!« Nialla machte einen Schritt auf ihn zu.
»Weg da!«, fuhr er sie an und warf ihr einen abgrundtief verächtlichen Blick zu. »Das schaff ich noch allein!«
Sie blieb wie angewurzelt stehen, als hätte er sie geohrfeigt.
»Nialla hält mich für ihr Kind«, lachte er und versuchte, einen Scherz daraus zu machen.
Doch Niallas mordlustiger Blick verriet mir, dass sie seine Bemerkung mitnichten witzig fand.
3
Na wunderbar!«, rief der Vikar strahlend und rieb sich freudig die Hände, als sei nichts vorgefallen. »Dann wäre das geregelt. Womit wollen wir anfangen?« Sein Blick wanderte gespannt zwischen den beiden hin und her.
»Als Erstes laden wir den Wagen aus, würde ich vorschlagen«, antwortete Rupert. »Wir können unsere Sachen doch bis zur Vorstellung hierlassen?«
»Aber selbstverständlich. Im Gemeindesaal sind Ihre Sachen absolut sicher. Vielleicht sogar noch ein bisschen sicherer als anderswo.«
»Dann müsste jemand nach dem Auto sehen … und wir brauchen eine Unterkunft für ein paar Tage.«
»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, erwiderte der Vikar. »Da kann ich bestimmt etwas organisieren. Also los! Ärmel hochkrempeln und ran an den Speck! Komm mit, liebe Flavia, wir finden bestimmt auch etwas zu tun, bei dem deine besonderen Begabungen gebraucht werden.«
Etwas, bei dem meine besonderen Begabungen gebraucht wurden? Da hatte ich so meine Zweifel - es sei denn, es handelte sich um heimtückischen Giftmord, mein derzeitiges Hauptinteresse.
Trotzdem setzte ich, weil ich noch keine Lust hatte, nach Hause zu gehen, für den Vikar mein allerbestes Ex-Pfadfinderinnen-Lächeln auf und folgte ihm, Rupert und Nialla hinaus auf den Friedhof.
Als Rupert die Heckklappe des kleinen Kombis öffnete, bekam
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Weed That Strings The Hangman’s Bag« bei Orion, an imprint of the Orion Publishing Group Ltd., London.
I. Auflage
© 2009 by Alan Bradley © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Penhaligon Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: dtp im Verlag
eISBN 978-3-641-04996-6
www.penhaligon.de
Leseprobe

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