Flavus der Einäugige - Jörg Kastner - E-Book
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Flavus der Einäugige E-Book

Jörg Kastner

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Beschreibung

Die Vergangenheit der Cherusker holt Thorag ein. Auja und Thusnelda, die Frauen der Etruskerfürsten, sind noch immer in der Gewalt der Römer. Die Suche nach den beiden führt Thorag nach Ravenna. Hier muss er gegen monströse Sumpfschlangen kämpfen, um Gaviana, die schöne Tochter des reichen Bürgers Apicius, zu retten. Dankbar nimmt dieser Thorag bei sich auf. Doch beunruhigende Ereignisse geschehen und Thorag wird in seinen Träumen von der Vergangenheit der Cherusker verfolgt. Immer wieder erscheint ihm ein Mann im Traum, Flavus der Einäugige, Bruder des Arminius. Thorag ahnt, dass er ihm bald begegnen wird … Der neunte Band der zwölfteiligen Romanserie »Die Saga der Germanen« von Jörg Kastner.

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Seitenzahl: 247

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Jörg Kastner

Flavus der Einäugige

Folge 9 der 12-teiligen Romanserie Die Saga der Germanen

Historischer Roman

Kapitel 1 – Blutborste

Aus Urds Schicksalsfäden des Vergangenen:

Wie tot lag das bewaldete Land vor ihnen, still und leblos, von Mensch und Tier verlassen. Die Armee, die es hingemeuchelt hatte, war weitergezogen und hinter einem sanften Höhenzug verschwunden. Nur entferntes Geschrei und das leise Echo von Trommel- und Stockschlägen, so unwirklich wie die Einflüsterungen eines Nachtmahrs, kündeten von ihr. Zurückgelassen hatte sie zerstampfte Erde, zertretenes Gras, abgebrochene Äste und die unnatürliche Stille, die einen schaudern machen konnte. Wenn einer der beiden Reiter Furcht empfand, zeigte er sie nicht. Ein Krieger der Cherusker hatte furchtlos zu sein, erst recht ein Edeling, war er auch noch jung an Jahren. Und die beiden einsamen Reiter zählten zu den hervorragendsten Edelingen ihres Stammes.

Ihren Pferden fehlte diese Selbstbeherrschung. Sie schnaubten ängstlich, tänzelten unruhig hin und her und wären wohl weggelaufen, hätten die beiden Jungmänner nicht die Zügel straff gehalten. Die Tiere, Geschenke der Römer an die Väter der Reiter, waren äußerlich eindrucksvoll, um einiges größer als die hiesigen Pferde. Aber im Gegensatz zu den gedrungenen Pferden der germanischen Stämme waren die stolzen Römerrosse nicht an die Jagd gewöhnt und auch nicht an das für sie fremdartige Walddickicht.

„Ruhig, nur ruhig.“ Wisars Sohn tätschelte seinen Braunen, als der ein leises Wiehern ausstieß, und bemerkte zu seinem Gefährten: „Vor uns ist etwas, die Pferde wittern es.“

Segimars Sohn nickte und stieß im Flüsterton ein einziges Wort hervor: „Blutborste!“

Das leichte Zittern seiner Stimme verriet wenn nicht einen Anflug von Furcht, dann zumindest gewaltigen Respekt. Wie vor einem übermächtigen Feind, einem legendären Recken, dem gegenüberzutreten man nicht im kühnsten Traum erwartete. Und tatsächlich genoss Blutborste einen beinah legendären Ruf. Nur wurde das Untier in den Dörfern der Cherusker nicht verehrt, sondern gefürchtet wie die Totengöttin Hel.

Blutborste war wild und mörderisch, schlau und verschlagen. Nur um zu zerstören, überfiel er die Siedlungen der Cherusker, verwüstete Felder, tötete Ziegen und zahme Schweine. Es hieß, Blutborste habe bei einer Treibjagd vor vielen Wintern ein Auge verloren und seitdem lebe er nur noch dafür, sich an den Menschen zu rächen. Manche erzählten gar, der Wüterich sei ein böser Sohn Lokis, ein Bruder des Fenriswolfes, der Midgardschlange und der finsteren Hel.

Was auch immer stimmte, Blutborste war unbestreitbar eine Gefahr. Vor wenigen Nächten erst hatte er eines der Lager rings um die Heiligen Steine heimgesucht und dabei einem der Jungmänner, der beim Thing die Kriegerweihe empfangen sollte, den Wanst aufgeschlitzt. Der verwundete Emicho, ein Jüngling aus dem Hirschgau, war noch vor Sonnenaufgang an seiner schrecklichen Wunde gestorben.

Armin hatte den Toten gut gekannt und beschlossen, ihn zu rächen. Und Thorag hatte ohne großes Überlegen zugesagt, seinen Gefährten Armin zu begleiten. Am Tag der großen Jagd sollte Blutborste sein schon lange verdientes Schicksal ereilen. Aber die Treibjagd der anderen Männer galt nicht dem gefürchteten Untier. Blutborste war zu verschlagen und hatte sich bei früheren Jagden nicht aufstöbern lassen. Die Jagd, an der sich Krieger und Treiber aus allen sieben Gauen des Cheruskerlandes beteiligten, diente der Fleischbeschaffung für das mehrtägige Thing, zu dem sich die Cherusker im Schatten der Heiligen Steine versammelt hatten.

Armin, Sohn des Stammesherzogs Segimar, und Thorag, Sohn des Gaufürsten Wisar, hatten niemandem von ihrer geheimen Absicht erzählt, Blutborste zur Strecke zu bringen. Heimlich hatten sie sich von ihrem Jagdtrupp abgesetzt und waren in die Richtung geritten, in die Blutborstes Spuren nach dem Mord an Emicho wiesen. Sie wollten das Blut des Untiers für das des Getöteten fordern, aber noch eine weitergehende Absicht trieb sie an.

„Da!“ Thorags rechter Arm schoss nach vorn, seine ausgestreckte Hand wies auf ein grünes Dickicht aus dichtem Farn und verschlungenem Hopfen. „Der Farn hat sich eben bewegt.“

Armin zupfte ein Haar aus der Mähne seines Braunschecken und hielt es in die Luft. „Wir haben leichten Wind.“

„Ich kenne keinen Farn, der sich ganz von allein gegen den Wind bewegt.“

Sie wechselten einen kurzen Blick, verständigten sich ohne Worte, ganz wie erfahrene Krieger. Dann trieben sie ihre Pferde langsam voran. Die Römerrosse gehorchten nur widerwillig. Thorag spürte, wie der Braune zwischen seinen angewinkelten Beinen zitterte. Der Hengst fürchtete sich vor dem, was in dem Dickicht lauerte.

Thorag lenkte sein Tier nach rechts, Armin nach links. Jeder nahm eine schwere Frame zur Hand, deren Schaft mit einem Lederriemen umwickelt war, damit die Waffe nicht aus der Hand rutschte. Die Eisenspitzen funkelten, als ein paar Sonnenstrahlen durch das Laubdach auf die Reiter und ihre Waffen fielen.

Mit ihren blonden Haarmähnen und den sich ähnelnden Waffen hätten die jungen Cherusker wie Brüder gewirkt, wäre nicht die unterschiedliche Bemalung ihrer nackten Oberkörper gewesen. Jeder trug die Farben und Zeichen seiner Sippe. Armins Brust zierte ein weißes Geweih, das Zeichen der Hirschsippe. Thorag, dessen Ahnherren auf den Donnergott Donar zurückgingen, hatte in roten Farben den Hammer Miölnir und darüber einen gezackten Blitz auf seine Brust gemalt. Die Zeichen von Sippentier und Ahngott sollten ihren Trägern Stärke und Mut verleihen.

Drei Pferdelängen vor dem Dickicht hielten die Reiter abermals an, starrten unverwandt auf das undurchsichtige Pflanzengeflecht und lauschten. Das ferne Gelärm der Treiber war leiser geworden und jetzt kaum noch zu hören. Die beiden Pferde schnaubten unruhig. Sie spürten die unmittelbare Nähe der Gefahr, des möglichen Todes.

„Jetzt!“, stieß Armin halblaut hervor, senkte die Frame und wollte den Braunschecken antreiben.

In diesem Augenblick teilten sich Farn und Hopfen, und ein seltsames Wesen wuchs daraus empor: eine Kreuzung aus Tier und Mensch.

Zuerst sahen die Jäger nur das dunkle Fell eines Wildschweins und machten sich auf den fürchterlichen Angriff von Blutborste gefasst. Doch das Wesen stellte sich auf die Hinterbeine, griff nach dem Fell und streifte es ab. Rotblond leuchtendes Haar tauchte darunter auf, dann ein schmales Gesicht mit dunklen Augen.

„Ihr habt das falsche Wild gestellt“, sagte der Jüngling, der fast noch ein Junge war, mit einem schiefen Lächeln. Er schien zwischen Verlegenheit und Verdruss zu schwanken. „Segimar wird wenig erfreut sein, wenn ihr als Jagdbeute seinen Sohn ins Lager bringt.“

„Isgar!“ Armin rief den Namen seines jüngeren Bruders mit unverhohlener Empörung aus. „Was, bei allen Göttern des Asengeschlechts, suchst du hier?“

„Dasselbe wie ihr.“ Segimars jüngerer Sohn bückte sich und hielt, als er sich wieder erhob, eine Frame und einen einfachen, aus Weidenruten geflochtenen Rundschild in den Händen. An seinem Gürtel hing ein kurzes Schwert. „Emicho war auch mein Freund.“

Er trat aus dem Dickicht, und die Pferde scheuten vor dem durchdringenden Wildschweingeruch. Isgar hatte nicht nur das Fell umgelegt, sondern sich wie ein erfahrener Jäger mit Wildschweinfett eingerieben.

„Du trägst Frame und Schild, obwohl du die Kriegerweihe noch nicht empfangen hast!“, sagte Armin streng. „Du musst wahnsinnig sein, dich allein auf die Suche nach Blutborste zu begeben. Vater hätte dich gar nicht erst zu den Heiligen Steinen mitnehmen sollen.“

Isgar straffte seinen jungen, sehnigen Körper, um größer zu erscheinen. „Ich bin alt genug, um schon bei diesem Thing die Kriegerweihe zu empfangen!“

Thorag hielt sich zurück. Dies war eine Angelegenheit zwischen Bruder und Bruder. Insgeheim aber gab er Isgar recht. Als Thorag und Armin zwei Sommer zuvor die Weihe zum Jungkrieger empfangen hatten, waren sie nicht viel älter gewesen als dieser jetzt.

Zugleich verstand Thorag, weshalb Segimar seinem jüngeren Sohn die Teilnahme an der Kriegerweihe bei dem anstehenden Thing untersagt hatte. Die Römer verlangten als Beweis des frisch geschlossenen Friedenspaktes mit den Cheruskern, dass alle Gaufürsten ihre mannbaren Söhne in römische Obhut gaben. Die jungen Edelinge sollten die römische Sprache und die römischen Sitten erlernen, um ein festeres Band zwischen Rom und dem Cheruskerstamm zu knüpfen. Und, das war ein offenes Geheimnis, der römische Feldherr Domitius Ahenobarbus benötigte die Fürstensöhne als hochrangige Geiseln, damit die Cherusker ihren Treueschwur nicht vergaßen.

Thorag sah der Abreise nach Rom, die nach dem Thing erfolgen sollte, mit gemischten Gefühlen entgegen. Es fiel ihm schwer, seine Heimat zu verlassen, seine Familie und die junge Cheruskerin, für die sein Herz schlug, Auja. Andererseits erfüllte es ihn mit gespannter Vorfreude und einigem Stolz, gemeinsam mit dem Herzogssohn Armin nach Rom zu gehen, in die ferne, große Stadt des fremden, mächtigen Römervolks.

Er verstand Isgar, der seinen älteren Bruder Armin beneidete und gern mitgekommen wäre. Aber er verstand auch Segimar, der nicht beide Söhne weggeben wollte. Schließlich konnte es sein, dass der Herzog die Geiseln niemals wiedersah. Deshalb wollte Segimar seinem zweiten Sohn erst im nächsten Sommer die Mannbarkeitsprobe gestatten.

Armin ergriff wieder das Wort, und noch immer klang seine Stimme tadelnd: „Du bist kein Krieger, Isgar, und hast hier nichts zu suchen!“

„Willst du mich wegschicken?“ Ein listiges Funkeln sprang aus Isgars Augen. „Soll ich allein zum Lager heimkehren? Was ist, wenn ich unterwegs Blutborste begegne?“

„Das verschlagene Biest ist wahrscheinlich sonst wo, aber nicht hier“, brummte Armin missmutig. „Vielleicht sollten wir alle umkehren.“

„Nein, er ist in der Nähe!“, rief Isgar schnell. „Ich habe eben seine Spur entdeckt, ganz frisch.“

Armin runzelte die Stirn. „Woran willst du erkennen, dass es seine Spur ist?“

„Alle Tiere haben dieses Gebiet fluchtartig verlassen, als sich die Treiber näherten. Nur Blutborste ist so klug und kaltblütig, sich zu verstecken.“

„Die Spuren könnten älter sein.“

Isgar grinste breit, triumphierend. „So, wirklich? Wie kommt es dann, dass sie die Spuren der Treiber überlagern?“

Jetzt waren Armin und Thorag alarmiert. Sie baten Isgar, ihnen die Spuren zu zeigen. Er führte die beiden Älteren einige Schritte in das Pflanzengespinst hinein und zeigte ihnen die schweren Hufabdrücke eines Ebers, der sich in dem Dickicht aufgehalten und es nach der Treibjagd verlassen hatte. Seine Spuren überlagerten tatsächlich die der Treiber.

„Der alte Blutborste hat mal wieder alle überlistet“, sagte Thorag und ließ deutlich seine Bewunderung für den Keiler erkennen.

„Aber nicht mich!“ Isgar sprach mit unverhohlenem Stolz. „Jetzt werden wir Blutborste stellen!“

„Wir ja, du nicht“, beschied Armin. „Du bleibst hier und bewachst die Pferde. Wir können sie nicht in das dichte Gestrüpp mitnehmen.“

„Aber ich habe die Spuren entdeckt und …“

Armin fiel dem Bruder in die Rede: „Der Ruhm bleibt dir unbenommen. Aber du bist kein Krieger, und Vater würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustieße.“

Die Sache war entschieden. Isgar blieb widerwillig, mit verkniffenem Gesicht, bei den Pferden zurück, während Armin und Thorag Blutborstes Spuren folgten. Sie waren noch nicht lange unterwegs, als hinter ihnen lautes, panisches Pferdewiehern erklang, gefolgt von einem schrillen Schrei.

„Isgar!“, entfuhr es Armin, und sein Gesicht wurde blass. „Er ist in Gefahr. Wir haben Blutborste unterschätzt …“

Thorag antwortete nicht, machte stattdessen auf dem Absatz kehrt und hetzte, dicht gefolgt von Armin, zu der Lichtung zurück, wo sie Isgar zurückgelassen hatten. Was sie hörten, spornte sie zu größter Eile an: wütendes Schnauben, klagende Pferdeschreie und seltsame dumpfe Geräusche, die in regelmäßigen Abständen erklangen.

Die Lichtung hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Thorags Brauner schien dem Verhängnis entkommen zu sein, war aber nirgendwo zu entdecken. Armins Schecke wälzte sich unter pausenlosem Geschrei in seinem Blut. Die Zähne des Untiers hatten eine tiefe Wunde in den Pferdebauch gerissen.

Blutborste kümmerte sich nicht um das verletzte Tier. Er rannte mit gesenktem Haupt gegen eine Birke an, auf die Isgar sich gerettet hatte. Frame und Schild lagen unter dem Baum, an dessen Äste der Junge sich verzweifelt klammerte. Er blutete aus einer Wunde am Oberschenkel. Immer wieder krachte Blutborstes Schädel dumpf gegen den kaum mannsdicken Stamm und brachte die Birke beträchtlich ins Schwanken. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis Isgar den Halt verlor oder bis die Baumwurzeln nachgaben.

Für einen Augenblick blieb Thorag am Rand der Lichtung stehen. Der Anblick verschlug ihm den Atem. Einen so mächtigen Keiler hatte er noch nie gesehen – und einen so wütenden auch nicht. Hätte Blutborste sich auf die Hinterbeine gestellt, hätte er einen großen Mann leicht überragt. Sein Fell war schwarzgrau und schimmerte auf dem Rücken rötlich, woher sein Name rührte. Es hieß, die große rote Stelle verdanke ihre Färbung dem getrockneten Blut unzähliger Opfer.

Armin lief an Thorag vorbei unter wildem Geschrei auf die Lichtung. Seine Schreie sollten Blutborste von Isgar ablenken. Das Gehör eines Ebers war in der Regel weit besser entwickelt als seine Sehkraft. So war es auch bei Blutborste. Kurz vor der Birke stellte er seinen neuerlichen Angriff ein und wirbelte unter lautem Gegrunze herum. Offenbar war er verwirrt, vielleicht auch über die Störung verärgert.

Jetzt sah Thorag, dass die Erzählungen stimmten: Blutborste hatte nur ein Auge. Wo einst das linke Auge gesessen hatte, war jetzt nur noch verknotete Haut.

Sobald der Keiler den neuen Gegner entdeckt hatte, griff er Armin an. Die großen Eberzähne schimmerten rot, befleckt vom Blut des Braunschecken. Zum Glück war Armin auf den Angriff vorbereitet und brachte sich mit einem schnellen Sprung zur Seite aus der Bahn des Ebers. Der blieb, als sein Stoß ins Leere ging, schnaufend stehen und blickte sich abermals suchend um.

Thorag rannte los, sobald Blutborste ihm den Rücken zuwandte, und rammte ihm die Frame tief in die rechte Seite. Das Grunzen wurde zu lautem Gebrüll. Der gewaltige Eber drehte sich so rasch herum, dass er Thorag den Framenschaft aus den Händen riss. Der Donarsohn verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den aufgewühlten Boden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Armin am anderen Ende der Lichtung auf und ab sprang, und er hörte das laute Geschrei des Freundes. Abermals versuchte Armin, Blutborste abzulenken – mit Erfolg.

Während der Eber einen zweiten Angriff auf den Herzogssohn unternahm, sprang Thorag auf, lief zu der Birke und nahm Isgars Frame auf. Das Blut an der Eisenspitze zeigte ihm, dass Isgar dem Untier zumindest eine Wunde beigebracht hatte. Dann hatte Armins Bruder die Waffe verloren, ähnlich wie Thorag, und hatte seine einzige Rettung in der Flucht auf den Baum gesehen.

Armin schwebte in höchster Gefahr. Diesmal hatte er nicht rechtzeitig ausweichen können. Blutborste streifte seine Seite und warf ihn zu Boden. Der Keiler machte kehrt, um den Gegner förmlich in den Boden zu stampfen.

Thorag hetzte los, war vor Blutborste da und stieß Isgars Frame gegen den dicken Eberhals. Die Eisenspitze bohrte sich in die Haut, doch der Schaft zersplitterte. Er musste vorher schon angebrochen gewesen sein.

Die neue Wunde steigerte Blutborstes Raserei. Thorag hatte nicht einmal Zeit, sein Schwert zu ziehen. Er konnte nur noch den eisernen Schildbuckel gegen die wuchtige Ebernase stoßen, bevor er abermals das Gleichgewicht verlor.

Mit einem schmerzhaften Stechen in der rechten Schulter landete er auf einer Baumwurzel. Er fühlte sich benommen und versuchte verzweifelt, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Jeder Augenblick der Hilflosigkeit unterstützte Blutborstes mörderische Absichten.

Armin stand wieder aufrecht und traktierte den Eber mit seiner Frame. Isgar war von der Birke gesprungen und fuchtelte mit dem Sax vor Blutborstes Nase herum. Während die Bestie noch überlegte, welchem Gegner sie sich zuerst zuwenden sollte, griff Armin an und bohrte sein Eisen tief in die linke Seite des Ebers. Mit einem Aufschrei stürzte Isgar sich auf den Feind und stieß den Sax ebenfalls in die mächtige Fleischmasse. Blutborste knickte ein und stürzte direkt neben Thorag zu Boden.

Der Donarsohn zog seinen Sax aus der Lederscheide, warf sich auf Blutborste und rammte die Klinge tief in den Eberbauch, einmal, zweimal, dreimal. Irgendwann stellte das Untier die letzten Zuckungen ein, und Thorag lag inmitten verendeten Fleisches, von dem Blut benetzt, dessen süßlich-strenge Ausdünstung jeden anderen Geruch verdrängte. Sein Atem flatterte, die Glieder zitterten. Er fühlte sich so erschöpft, dass ihm sogar die Kraft fehlte, sich aus der Blutlache zu erheben.

Nur langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass sie es geschafft hatten. Armin, Isgar und er hatten das gefürchtete Untier, den legendären Blutborste, besiegt. Und sie hatten Emicho gerächt. Stolz und Zufriedenheit stiegen in ihm auf und verbanden sich zu einem überwältigenden Glücksgefühl.

Er kam nicht dazu, das Glück zu genießen. Ein Reitertrupp sprengte auf die Lichtung, und die Neuankömmlinge blickten verdutzt auf das blutige Bild. Zu ihnen gehörten der Stammesherzog Segimar und die Gaufürsten Wisar, Bror und Balder. Verwundert nahmen sie zur Kenntnis, dass der seit vielen Wintern gefürchtete Blutborste von drei Jungmännern erlegt worden war, von denen einer nicht einmal ein Krieger war. Die Reiter führten Thorags Braunen mit sich, der sie offenbar auf die Spur der drei Eberjäger gebracht hatte.

Segimar und Wisar blickten ihre Söhne sehr ernst an. Sie zeigten keinen Stolz und auch keine Erleichterung darüber, dass die drei Jünglinge noch am Leben waren.

Segimar sagte schließlich: „Ein wahrhaft großer Krieger schleicht sich zu seinen Taten nicht davon wie ein Friedloser. Wer Ruhm ernten will, darf sich dessen nicht schämen.“

„Niemand sonst wollte ernsthaft versuchen, Blutborste zu jagen“, brachte Armin zur Verteidigung vor.

„Da hat dein Sohn recht, Herzog“, sagte Wisar. „Auch haben die drei mit ihrer Tat dem Stamm der Cherusker einen großen Dienst erwiesen.“

„Und sich selbst. Soweit es unsere älteren Söhne betrifft, können sie sich jetzt gegenüber den Römern als große Jäger rühmen“, erkannte Segimar den zweiten Grund, der Thorag und Armin zur Jagd auf Blutborste veranlasst hatte. Er seufzte schwer und fragte: „Wer hat die Bestie erlegt?“

„Isgar hat Blutborste aufgespürt“, antwortete Armin.

„Und Isgar hat ihm auch den entscheidenden Stoß versetzt“, fügte Thorag hinzu.

Er spürte Isgars verwunderten Blick auf sich ruhen, tat aber so, als merke er nichts. Er wusste, wie viel Isgar dieser Ruhm bedeutete, und er kannte auch den Grund.

Noch immer zeigte Segimar keinen Stolz auf seinen jüngeren Sprössling. Fast mürrisch sagte er: „Isgar, nach dieser Tat kann ich dir die Kriegerweihe nicht länger verwehren. Bereite dich also auf die Prüfung vor – und auch darauf, Thorag und Armin zu den Römern zu begleiten!“

Obwohl Isgar Furcht und Erschöpfung in den Knochen steckten, hätte er am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Thorag sah es ihm deutlich an. Nur mit Mühe beherrschte Isgar sich, wie es einem Krieger geziemte.

Ein paar Männer fertigten eine Pferdeschleppe an, um den toten Keiler zum Lager zu bringen. Eine solche Jagdtrophäe sah man selten. Armin nahm sein Schwert und erlöste den Schecken von seinen Qualen.

Thorag trat neben ihn und sagte mit Blick auf Blutborste: „Ich bin froh, dass Wodan uns den Sieg geschenkt hat. Als ich meine Frame verlor und als dann auch noch Isgars Waffe in meinen Händen zerbrach, kam ich mir nicht gerade wie ein furchtloser Krieger vor.“

„Nur wer Furcht empfindet, kann Mut beweisen.“ Armins Worte klangen wie die eines erfahrenen Kämpfers.

Thorag zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls schwöre ich dir eins: Einem wilden Keiler werde ich nie wieder ohne eine scharfe Klinge in der Hand gegenübertreten!“

Kapitel 2 – Die Sumpfschlangen

Zeit zerrann, etliche Winter und Sommer schmolzen zu Augenblicken. Thorag konnte es kaum fassen, so deutlich standen die Bilder noch vor seinen Augen. Der fürchterliche Blutborste. Thorags Vater Wisar und Herzog Segimar, zwei mächtige und weithin geachtete Fürsten. Armin und Isgar, wie Thorag jung und begierig auf die fremde Welt der Römer. Drei Freunde, die sich bedingungslose Treue schworen, als sie die heimatlichen Wälder verließen. Einer sollte für den anderen stehen, und gemeinsam wollten sie jede Gefahr überwinden, wie sie auch Blutborste gemeinsam besiegt hatten. Vorbei, alles vorbei.

Zwanzig Winter waren seitdem vergangen, und nichts war mehr so wie damals. Segimar und Wisar waren lange tot und saßen hoffentlich an Wodans Tafel in Walhall. Der Freundschaftsbund, den Armin, Isgar und Thorag einst geschlossen hatten, war längst zerbrochen. Nach vielen Jahren, die sie erst als lernbegierige Jünglinge in Rom und dann als Soldaten in der römischen Armee verbracht hatten, hatte Armin, unterstützt von Thorag, die Römer aus den rechtsrheinischen Landstrichen vertrieben. Isgar aber war in fremden Diensten geblieben und hatte seine Treue zum römischen Kaiser über die Blutsbande und über die Heimatliebe gestellt. Er war mehr Römer als Cherusker und nannte sich nun Flavus.

Armin betrachtete seinen Bruder als unversöhnlichen Feind. Thorag dagegen trug Isgar seine Entscheidung nicht nach. Zu oft hatte der Donarsohn erfahren, wie schwer es sein konnte, die rechte Treue zu bewahren. Er war Armins Blutsbruder geworden und hatte doch dem jungen Herzog der Cherusker nach dem Sieg über Varus den Rücken zugekehrt, weil Armin das, was er zu erreichen trachtete, über die Freundschaft gestellt hatte. Inzwischen waren sie wieder vereint, waren sie Kampfgefährten und Schicksalsgenossen.

Beide Frauen, Armins Gemahlin Thusnelda und Thorags Gemahlin Auja, waren Gefangene der Römer, Geiseln wie einst Armin, Thorag und Isgar. Auch Armins kleiner Sohn Thumelikar, in der Gefangenschaft geboren, befand sich in den Händen der Feinde. Armin hatte ihn noch nie gesehen und befürchtete, dass Sohn und Vater auf ewig getrennt sein könnten und dass Thumelikar Heimat und Namen verlieren könnte wie einst Isgar. Es hieß, die Römer riefen den kleinen Cherusker nur Thumelicus.

Armin war im Cheruskerland unabkömmlich. Immer wieder schürte Rom die Zwietracht der Germanen, indem man Stamm gegen Stamm und Sippe gegen Sippe aufwiegelte. Gerade erst hatten die Cherusker und ihre Verbündeten den Markomannenkönig Marbod nach einem zermürbenden Krieg niedergerungen. Niemand konnte sagen, wann und auf welche Weise Roms nächster Schlag erfolgen würde.

Thorag hatte von dem Prätorianerpräfekten Sejanus erfahren, dass die Römer ihre germanischen Geiseln nach Ravenna gebracht hatten. Der Cherusker war aufgebrochen, um die Gefangenen zu befreien, ganz allein. Er hatte keine Krieger mitgenommen, weil ein einzelner Mann weniger auffiel. Denn eines stand fest: Sejanus würde ihn sehnlichst erwarten und Thorags Kopf lieber heute als morgen in den Händen halten – ohne den dazugehörigen Leib.

Je näher er Ravenna gekommen war, desto unruhiger war Thorag geworden. Nicht allein aus Sorge um Auja und wegen der Vorfreude darauf, endlich wieder mit ihr vereint zu sein. Er spürte, dass schicksalsträchtige Ereignisse bevorstanden. Vielleicht konnte er froh sein, dass er nicht wusste, was Skuld, die Norne des Zukünftigen, für ihn bereithielt.

Früher hatte er oft eindringliche Träume gehabt, die ihm Aufschluss über das Bevorstehende gaben. Der eben erlebte Traum war ähnlich eindringlich gewesen, hatte sich aber mit längst Vergangenem beschäftigt. Warum? War es eine Botschaft der Götter oder der Nornen? Spielte das, was damals, vor so vielen Wintern, geschehen war, eine Rolle für das, was noch sein würde?

Ein unruhiges, halblautes Schnauben schreckte den Donarsohn aus seinen Überlegungen, entriss ihn endgültig der verschwommenen Traumwelt. Es war die Stimme seines Rappen, den er vor der Höhle angebunden hatte. Er kannte das Tier lange genug, um die Nervosität aus dem Schnauben herauszuhören. Irgendetwas – oder irgendjemand – hatte den Hengst erschreckt.

Thorag rollte sich aus der zerschlissenen Decke, riss sein Schwert aus der lederbespannten Holzscheide und lief zum Ausgang seines nächtlichen Unterschlupfes.

Helles Licht fiel herein. Längst hatte Dagr, der Tag, seine finstere Mutter Nott, die Nacht, vertrieben. In der düsteren Höhle hatte Thorag lange geschlafen, was nicht weiter schlimm war. Ravenna lag in greifbarer Nähe. Er würde die große Hafenstadt noch am Vormittag erreichen.

Der Rappe stand vor der Höhle und lauschte angespannt mit gespitzten und entgegengesetzt aufgestellten Ohren. Also wusste er nicht, wo sich die Quelle seiner Beunruhigung befand.

Thorag schirmte die Augen mit einer Hand gegen das helle Sonnenlicht ab und ließ seinen Blick über das nach Süden, zur Stadt hin, abfallende Gelände schweifen. Die felsige Anhöhe mit der Höhle lag am Rande eines ausgedehnten Sumpfgebiets, das sich zwischen ihm und Ravenna erstreckte. Was verbarg sich dort, zwischen Buschwerk, Sträuchern und vereinzelten Bäumen?

Der schwarze Hengst, noch immer höchst erregt, stieß ein erneutes Schnauben aus, wiederum nur halblaut, und diesmal erkannte Thorag den Grund. Hinter einem weit entfernten Gebüsch war ein Reiter aufgetaucht, der seinen Schimmel im leichten Galopp durch das Gelände trieb. Er schien allein zu sein und keine Gefahr darzustellen. Thorag fragte sich, ob der einsame Reiter wirklich der Grund für die Unruhe seines Rappen sein konnte.

Dann ging alles sehr schnell. Es war so unwirklich, dass Thorag sich unwillkürlich in die Welt der Träume zurückversetzt fühlte. Der Boden rings um den fremden Reiter begann zu leben. Das Gras schoss in dicken Bündeln in die Höhe und wuchs innerhalb eines Augenblicks an fünf oder sechs Stellen zu mannshohen Gestalten mit Armen und Beinen empor.

Lebendes Gras?

Oder Lebewesen aus Gras?

Der Schimmel scheute vor den geisterhaften Wesen zurück und bäumte sich auf, so plötzlich, dass der Reiter den Halt verlor und aus dem Sattel fiel. Die grasbewachsenen Gestalten machten sich über ihn her.

Thorag handelte instinktiv, vielleicht sogar gegen besseres Wissen. Er war mit der Absicht nach Ravenna gekommen, sich unerkannt umzusehen und umzuhören, um in Ruhe einen Plan zur Befreiung der Geiseln zu schmieden. Obwohl er Aufsehen vermeiden wollte, entschloss er sich zum Eingreifen. Eine innere Stimme riet ihm dazu, flüsterte ihm ein, dass der seltsame Überfall auf irgendeine Weise auch ihn betraf. Außerdem war er neugierig auf die Graswesen. Und er mochte es nicht, wenn eine Übermacht sich gegen einen Einzelnen stellte. Schnell band er den Schwarzen los, schwang sich auf den nackten Pferderücken und galoppierte auch schon dem Platz entgegen, wo der fremde Reiter zu Fall gekommen war.

Der Hufschlag des Rappen schreckte die Graswesen auf. Thorag erkannte Gesichter, menschliche Gesichter. Das waren keine Geister, sondern Männer aus Fleisch und Blut. Sie hatten sich mit Grasbüscheln behängt und hatten ihre Arme, Beine und Gesichter mit grünbraunem Schlamm beschmiert, um sich vor den Augen ihres Opfers zu verbergen.

Der Reiter auf dem Schimmel war ahnungslos in die Falle getappt. Er war mit dem Wind auf die Grasmänner zugeritten, sodass sein Pferd sie nicht wittern konnte. Doch Thorags Rappe, dem der Wind entgegenschlug, hatte die fremde Witterung aufgenommen und Alarm geschlagen.

Die Graswesen waren dabei, ihr Opfer zu fesseln, hatten ihm schon die Beine mit Stricken gebunden. Langes helles Haar hing wirr im Gesicht – des Mädchens! Es war kein Reiter, sondern eine Reiterin. Eine junge und, soweit Thorag es erkennen konnte, sehr hübsche Frau. Sie in den Händen dieser schmutzigen, schlammbeschmierten Kerle zu sehen, entfachte seine Wut.

Einer der Grasmänner sprang Thorag entgegen und wollte einen Speer gegen ihn führen. Ein Schwerthieb des Cheruskers zerbrach den Schaft, und Thorag ritt den anderen einfach über den Haufen. Verkrümmt und reglos blieb der Fremde liegen. Ein zweiter Grasmann schwang den Gladius, das Schwert der römischen Legionäre. Der Donarsohn war schneller, und sein Stahl fraß sich in die rechte Schulter des Gegners. Der ließ seine Waffe los, stöhnte laut auf und sackte mit schmerzerfülltem Gesicht auf die Knie.

Als Thorag den Rappen herumriss, standen ihm drei der vier noch kampffähigen Grasmänner gegenüber. Der vierte kniete über dem Mädchen und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. Eine Drohung gegen Thorag oder nur der Versuch, das Mädchen ruhig zu halten? Der Donarsohn hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er musste schnell handeln, wollte er verhindern, dass die Grasmänner ihre Übermacht ausnutzten.

Er schnalzte mit der Zunge und trieb den Rappen genau auf die Gruppe zu. In dem Augenblick benutzte der mittlere der drei Feinde eine seltsame Waffe. Ein langes, schmales Rohr, dessen eines Ende er an den Mund hielt.

Ein Blasrohr!, durchfuhr es Thorag, da spürte er auch schon einen kurzen Schmerz am linken Oberschenkel. Als hätte ihn eine Wespe gestochen, nicht stärker. Der dicke Stoff seiner Hose schien das Geschoss größtenteils abgefangen zu haben.

Der Rappe erreichte die Feinde, die vor den wirbelnden Hufen und vor Thorags die Luft zerteilender Klinge zurückwichen. Sein Schwert erwischte den Mann mit dem Blasrohr und spaltete ihm den Schädel. Als die anderen das sahen, hatten sie genug. Sie sprangen davon und suchten Deckung im Gebüsch. Auch der, der das Mädchen bedroht hatte. Nur der Mann mit dem Blasrohr und der, den Thorag anfangs umgeritten hatte, lagen noch auf der Kampfstätte, beide reglos.

Und das Mädchen? Thorag sprang vom Rücken des Rappen und beugte sich über die junge Römerin. Die bronzene Haut, der römische Schmuck und die kurze Tunika verrieten ihre Abstammung, wenn ihr Haar auch ungewöhnlich hell war, fast so blond wie das des Cheruskers. Die schmalen Füße steckten in ledernen Sandalen. Die hellblaue Tunika war hochgerutscht und enthüllte schlanke Schenkel, mehr die eines Mädchens als die einer Frau.

Dem Donarsohn fielen die goldenen, mit Edelsteinen besetzten Armreifen und Ringe auf. Das Opfer der Grasmänner musste aus gut betuchten Verhältnissen stammen, worauf auch der prächtige Schimmel hinwies, der zehn Doppelschritte entfernt stand und abwartend zu ihnen herübersah. Die vier Knäufe des Sattels waren mit silbernen Kuppen und die leuchtend blaue Satteldecke mit Silberstickerei verziert.

Die Römerin lebte, schien sogar unverletzt zu sein, nur benommen und erschrocken. Ihre halb geschlossenen Lider flatterten. Der heftige, stoßweise Atem ließ den ganzen Leib erbeben.

Als Thorag sein Schwert hob, um ihre Fußfesseln durchzutrennen, spürte er etwas Spitzes gegen seinen Hals drücken. Die Römerin war auf einmal hellwach und sah ihn aus aufgerissenen Augen an. Angst sprach aus den blaugrünen Augen, aber auch Entschlossenheit. Sie hatte sich halb aufgerichtet. Ihre rechte Hand umklammerte einen mit Goldzierrat geschmückten Dolchgriff, und die schmale Klinge bedrohte Thorags Leben.

„Das kommt ein wenig spät“, sagte der Donarsohn in der Sprache der Römer, die er nach den langen Jahren in römischer Ausbildung und in römischen Diensten so gut beherrschte wie seine Muttersprache. „Deine Peiniger sind geflohen, soweit sie nicht in ihr geliebtes Gras gebissen haben.“

An Thorags Schwertklinge klebte Blut und Gehirnmasse des Blasrohrschützen. Wie der Donarsohn mit der halb erhobenen Waffe über der Römerin stand, gab er wahrlich kein vertrauenerweckendes Bild ab. Mit einer schnellen Bewegung rammte er die Klinge tief ins Erdreich und verharrte bewegungslos, den Blick fest auf die Römerin gerichtet.

„Du … hast mir geholfen?“ Sie sprach mehr zu sich selbst, nickte langsam und fuhr fort: „Ja, du warst das auf dem schwarzen Pferd!“

Auch Thorag nickte, nahm ihr den Dolch aus der Hand und durchschnitt die Fußfesseln. Dann gab er ihr die Waffe zurück, die sie in eine versteckte Lederscheide unter der Tunika schob. Er zog sein Schwert und reinigte es im kniehohen Gras, das noch feucht vom Morgentau war, vom Lehm und von den Blutresten.

Er reichte ihr die Linke. „Kannst du aufstehen? Die seltsamen Grasmänner könnten zurückkehren, vielleicht mit Verstärkung.“