Fleur - Liebe überwindet Grenzen - Vivian Hall - E-Book

Fleur - Liebe überwindet Grenzen E-Book

Vivian Hall

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Beschreibung

Eine romantischer Liebesroman in historischem Gewand. Zweiter und abschließender Teil. Kann Liebe alle Grenzen überwinden? Obwohl die Liebe zwischen Fleur und Raoul unmöglich erscheint, führt das Schicksal die beiden immer wieder zusammen. Hin -und hergerissen zwischen Herz und Verstand kämpfen sie nicht nur gegen ihre Gefühle an, sondern auch gegen einen heimtückischen Feind, der im Hintergrund die Fänden spinnt. Auch Céciles Herz muss einige Prüfungen bestehen, ehe sie Iwain wieder vertrauen kann. Sein von Hass zerfressener Bruder steht wie eine Wand zwischen ihnen und droht mit seinen Taten auch Iwain in den Abgrund zu ziehen. Als Geiseln sind sie und ihre Schwester Constance dem bösartigen Eadgar of Whitfield auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Nur Iwain kann ihnen noch helfen und sie vor einem grausamen Los bewahren, indem er alles verrät, woran er glaubt. Wie wird sich Iwain entscheiden?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Fleur –

Liebe überwindet Grenzen

Vivian Hall – Liebe überwindet Grenzen

©2020 Vivian Hall, alle Rechte vorbehalten

Korrektorat: Karin Ehrle

©Coverdesign: Linda Mignani

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches andere Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung der Autorin weitergegeben werden.

BUCH ZWEI

Kapitel 1

Fleur dankte dem gnädigen Schicksal für den Vollmond, der ihr den Weg nach Hause leuchtete. Ansonsten wäre sie gezwungen gewesen, sich zu verstecken, um das Morgengrauen abzuwarten. Was sie wertvolle Zeit gekostet hätte. Auch die Gefahr von angelsächsischen Spähern entdeckt zu werden, wäre ungleich größer gewesen. Die Entscheidung, erst einmal nach Aylesham zu flüchten, traf sie aus Gründen der Vernunft. Sie benötigte nicht nur Proviant für die Reise nach London, sondern auch den Gaul ihrer Mutter, um es überhaupt dorthin zu schaffen. Sofern das Tier noch lebte und nicht längst wegen Altersschwäche verendet war. Sie betete, dies möge nicht der Fall sein, denn außer ihrer Mutter konnte sie niemanden um Beistand bitten. Fleur zweifelte an der Hilfsbereitschaft der Dorfbewohner. Selbst ihr Onkel Rupert würde ihr wohl die Unterstützung verweigern, wenn er erfuhr, dass Eadgar of Whitfield noch lebte und es ihm gelungen war, die Burg einzunehmen. Statt ihr zu helfen, würden sie im Dorf vermutlich allesamt in Jubel ausbrechen und am Ende gar verhindern, dass sie nach London aufbrach, um Raoul über die entsetzlichen Ereignisse in Kenntnis zu setzen. Dabei wären die Bewohner von Aylesham wohlberaten, sie nach Kräften zu unterstützen. Der Normannenkönig würde einen derartigen Akt des Ungehorsams keinesfalls ungesühnt lassen und gewiss alle Verräter hinrichten. Die Kunde darüber würde die Menschen bis über die Grenzen Kents hinaus erreichen. Eine Warnung an alle, die sich mit dem Gedanken trugen, sich Wilhelm auf ähnliche Weise zu widersetzen.

Als die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Morgens endlich die Dunkelheit vertrieben, drohte die Erschöpfung sie zu übermannen. Die Füße taten ihr weh, schmerzhafte Blasen machten jeden Schritt zur Qual. Jedenfalls biss sie die Zähne zusammen und schleppte sich Schritt um Schritt weiter, nicht gewillt, so kurz vorm Ziel aufzugeben. Schließlich erblickte sie die ersten Häuser von Aylesham. Vor dem Brunnen stand ein halbes Dutzend Frauen, sie schwatzten und lachten, verstummten allerdings, sobald sich Fleur näherte. Sie wurde nicht gegrüßt, lediglich argwöhnisch beäugt, während sie stumm an ihnen vorbei humpelte. Fleur kam es vor, als hätte ihr Aufenthalt bei den Normannen, die Kluft zwischen ihr und ihren Leuten zusätzlich vergrößert. Die aufsteigende Traurigkeit darüber verdrängte sie. Unbeirrt und mit stolz erhobenem Haupt lief sie auf die Hütte ihrer Mutter zu, die, als hätte sie es geahnt, just in diesem Augenblick heraustrat und bei ihrem Anblick entgeistert die Hand vor den Mund schlug. Isabel stürzte ihr entgegen und riss sie mit einem Schluchzen an die Brust. »Wo kommst du auf einmal her?«

Fleur fehlten die Worte. Stattdessen klammerte sie sich an ihre Mutter, ehe diese ein Stück zurückwich und ihr das wirre Haar aus dem Gesicht strich. Dabei musterte sie ihre Tochter von Kopf bis Fuß, bis sich ihre Augen beim Anblick ihrer lädierten Füße ungläubig weiteten. »Was in Gottes Namen ist geschehen? Bist du etwa gelaufen?«

Fleur spürte die neugierigen Augen der anderen, vernahm das aufflammende Getuschel und deutete mit einer knappen Kinnbewegung auf die Hütte. »Können wir hineingehen? Was ich dir zu erzählen habe, ist nichts für neugierige Ohren.«

Isabel warf einen kurzen Blick über Fleurs Schulter und nickte. Kurz darauf schloss sie die Tür hinter sich und drückte Fleur entschlossen auf einen Schemel. »Setz dich, damit ich mir deine Füße ansehen kann.«

Dankbar dafür, endlich ein wenig ausruhen zu können, sah sie zu, wie ihre Mutter etwas Wasser aus dem Eimer in ein flaches Holzgefäß füllte. »Stell deine Füße zum Säubern hinein«, befahl Isabel, nachdem sie die Schale vor ihr auf dem Boden abgestellt hatte.

Fleur tat wie geheißen und keuchte, sobald sie die malträtierten Füße hineintauchte. Es brannte elendig und sie zog sie umgehend heraus. Ihre Mutter schüttelte missbilligend den Kopf. »Wirst du sie wohl drin lassen! Alma hat immer gepredigt, Wunden muss man reinigen und sie war eine kluge Frau. Wir säubern sie und bestreichen sie mit ihrer Kräuterpaste. Du wirst sehen, es wird im Nu heilen.«

Sie gehorchte, während ihre Mutter sie versorgte. Danach richtete Isabel ihren ernsten Blick auf ihre Tochter. »Nun sag, was ist geschehen?«

Fleur berichtete von dem Überfall. »Es war so furchtbar, so viele sind getötet worden«, beendete sie ihren Bericht und senkte traurig den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände.

Isabel bekreuzigte sich indessen und erbleichte. »Allmächtiger, wie konntest du nur unbehelligt entkommen?«

Fleur starrte mit leerem Blick zum Fenster und fühlte sich wie benommen vor Müdigkeit. »Niemand hat auf mich geachtet, ich bin einfach gerannt«, antwortete sie leise und begegnete erneut dem Blick ihrer Mutter. Die erhob sich aus ihrer knienden Position. »Welch ein Glück du doch hattest! Jetzt bist du daheim und in Sicherheit. Der Earl hat dich von hier fortgeholt, um dich zu schützen, und letztendlich bist du erst recht in Gefahr geraten.«

Nun war es an der Zeit, ihr eigentliches Anliegen vorzubringen. »Ich bin nicht gekommen, um zu bleiben«, gestand sie. »Jemand muss ihm von der Gefangenschaft seiner Schwestern berichten. Jeder Tag in den Händen von Eadgar of Whitfield ist einer zu viel. Wenn man ihn nicht vorwarnt, wird der Earl bei seiner Rückkehr direkt in eine Falle laufen. Der Hauptmann hat mich in seinen letzten Momenten angefleht, mich irgendwie bis nach London durchzuschlagen und Valois zu informieren.«

»Auf gar keinen Fall!«, erklärte Isabel entschieden und schüttelte zur Bekräftigung den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich. Ich habe dich letztes Mal nur unter Bedenken ziehen lassen, diesen Fehler mache ich nicht noch mal. Du bleibst hier.«

»Aber Mutter, du hast Eadgar of Whitfield nicht gesehen. Er quillt über vor Hass und ich fürchte, Sir Iwain wird Cécile und Constance nicht helfen können. Aber ich bin dazu in der Lage. Dazu brauche ich jedoch den Gaul. Bitte, ich flehe dich an, lass mich nach London reisen, bevor das Schlimmste eintritt und Whitfield die beiden schändet oder umbringt. Sie waren so gut zu mir, ich bin es ihnen schuldig, es wenigstens zu versuchen.«

Nach diesem eindringlichen Appell schwieg Isabel eine ganze Weile. Sie hielt den Kopf gesenkt und dachte angestrengt nach. Mit einem bangen Gefühl wartete Fleur auf die Antwort. Sollte ihre Mutter die erbetene Hilfe verwehren, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ihr lief die Zeit davon.

»Mir gefällt das nicht, mein Kind«, meinte Isabel schließlich, klang jedoch nicht mehr so entschlossen. »Egal, was du auch denken magst, du bist ihnen nichts schuldig.«

Fleur sah dies anders. »Doch, das bin ich! Außerdem geht es nicht darum, Schuld und Gefallen gegeneinander aufzuwiegen. Cécile und Constance waren stets freundlich zu mir.«

»Wieso versuchst du nicht, beim Sheriff Hilfe zu holen?«

»Was kann der mit seinen paar Männern schon ausrichten? Außerdem war er vor Wilhelms Krönung ein treuer Gefolgsmann der Whitfields. Ich kann nicht riskieren, dass er Eadgar am Ende sogar unterstützt und mir die Kehle durchschneidet, um mich zum Schweigen zu bringen.«

Die Miene ihrer Mutter spiegelte tiefe Sorge wider. »Dieser Hauptmann hätte dich nicht dazu drängen dürfen, aber ich kenne dich und weiß, du wirst deines Lebens nicht mehr froh, wenn du dein Versprechen nicht einhältst.«

»Heißt das, du gibst mir das Pferd?«

Isabel nickte schwermütig, sichtlich betrübt über das Vorhaben ihrer Tochter. »Und den Karren, sonst fällst du zu sehr auf.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich darf gar nicht daran denken, welcher Gefahr du dich aussetzt. Ein hübsches Ding wie du ist leichte Beute für herumstreunendes Gesindel. Andererseits stimmt es den König möglicherweise gnädig, wenn er durch unsereins von der Revolte erfährt und er verzichtet darauf, jeden einzelnen Angelsachsen in dieser Region für Eadgar of Whitfields Widerstand zu bestrafen. Falls du es überhaupt bis zu Valois schaffst«, ergänzte sie zweifelnd. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dich zu ihm vorlässt. Sie werden dich vermutlich wegjagen oder gar einsperren.«

Diese Befürchtung hegte Fleur insgeheim ebenfalls. Sie war jedoch entschlossen, jede Hürde für sich zu nehmen und die erste bestand darin, London zu erreichen.

»Ich danke dir von Herzen. Ich bringe dir das Pferd heil wieder zurück, so Gott will.«

»Achte lieber darauf, selbst unversehrt zu bleiben.«

»Ich werde mein Haar und mein Gesicht verhüllen und mich gebeugt halten, als wäre ich ein altes Weib. Das wird mich schon vor unerwünschter Aufmerksamkeit bewahren.«

Isabel nickte. »Dann soll es so geschehen. Ich werde dir einen Laib Brot und einen Kanten Käse als Wegzehrung einpacken. Und du legst dich jetzt hin, nutz die Zeit zum Ruhen.«

»Ich kann nicht schlafen, ich habe schon so viel Zeit verloren.«

»Niemandem ist geholfen, wenn du vor Übermüdung vom Karren fällst und dir den Hals brichst. Und sollte dich einer der Dorfbewohner fragen, wohin deine Reise so kurz nach deiner Ankunft geht, dann antworte nicht. Eadgar of Whitfield ist der Sohn unseres früheren Herrn. So grausam er auch gewesen sein mag, schlussendlich ist und bleibt er Angelsachse und dem ein oder anderen könnte es nicht gefallen, dass du losziehst, um den neuen Earl zu warnen. Daher verlier kein Wort darüber. Auch nicht deinem Onkel gegenüber.«

Was ihre Mutter mutmaßte, spiegelte ihre eigenen Befürchtungen wider. »Keine Sorge, ich werde niemandem etwas verraten.«

»Gut, und jetzt schlaf!«, befahl ihre Mutter herrisch.

Dankbar für ein wenig Ruhe legte sie sich nieder und schloss die Augen. Innerhalb weniger Atemzüge dämmerte sie weg und kam erst wieder zu sich, als ihre Mutter sie vorsichtig an der Schulter rüttelte. »Fleur, wach auf!«

Schlaftrunken setzte sie sich auf und schlüpfte in die Lederschuhe. Der Verband ihrer Mutter dämpfte den Druck auf die wunden Stellen, auch die Kräuterpaste zur Wundheilung tat ihren Dienst und entfaltete ihre schmerzstillende Wirkung.

»Setz dich und iss, ehe du dich auf den Weg machst. Ich spanne derweil das Pferd vor den Karren.«

Hungrig verschlang Fleur das Brot und den Käse. Sobald sie gesättigt war, kam auch schon ihre Mutter zurück.

»Es ist alles vorbereitet. Komm, ehe ich es mir anders überlege und dich hierbehalte.«

Eilig verließ sie mit ihrer Mutter die Hütte. Der treue Gaul stand bereit und sie umarmte Isabel, bevor sie auf den Karren kletterte. »Ich danke dir, Mutter.«

»Dank mir nicht, sondern komm bald wieder«, flüsterte Isabel mit erstickter Stimme. Es fiel ihr sichtlich schwer, die Fassung zu bewahren. Schließlich wandte sie sich ab, als könnte sie es nicht ertragen, ihr Kind ziehen zu lassen.

Die Reise dauerte nicht so lange wie damals. Ohne einen langen Reisezug kam sie zügig vorwärts, dennoch musste sie im Karren übernachten und fürchtete sich vor diebischem Gesindel. Sie befürchtete auch das ein oder andere Mal, sich nicht auf dem richtigen Weg zu befinden, doch als sie an dem Gasthaus vorbeifuhr, an dem sie damals Rast gemacht hatten, wusste sie, dass sie nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt war. Das brave Pferd brachte sie unermüdlich näher und sobald sie London erreichte, verbarg sie ihr jugendliches Gesicht unter der Kapuze und machte einen Buckel, um den Eindruck zu erwecken, ein tattriges Weib zu sein. Schließlich erreichte sie die von Soldaten bewachte Brücke, die auf das königliche Gelände von Westminster führte. Mit mehr Mut als Zuversicht stellte sie sich einem der Wachposten. Sie zog die Kapuze leicht zurück, damit die Soldaten sahen, dass ihnen durch sie keine Gefahr drohte.

»Ich habe dringende Nachrichten für den Earl of Whitfield und bitte darum, durchgelassen zu werden.«

Prustend stieß der dunkelhaarige Soldat den anderen an und lachte. »Hast du das gehört? Das kleine Hühnchen will einen Earl sprechen.« Er musterte sie anzüglich und wackelte mit den Augenbrauen. »Was könntest du jemandem wie ihm schon zu sagen haben? Bleib lieber bei mir.« Mit lüsterner Miene beugte er sich zu ihr hinab. Fleur zog angewidert den Kopf zurück. Der Kerl stank nach Schweiß und Zwiebeln.

»Bitte, er muss erfahren, dass Whitfield Castle von Rebellen überfallen wurde. Mir ist die Flucht gelungen und ich habe den weiten Weg auf mich genommen, um ihn zu warnen. Er läuft sonst bei seiner Heimkehr in eine Falle.«

Der Wachmann lachte, während der andere unsicher erschien und sie genauer musterte. Dabei fiel sein Blick auf ihre bandagierten Füße. »Schau sie dir an«, meinte er und deutete darauf. »Sie hat ihre Füße eingewickelt, sie muss stundenlang gelaufen sein.« Er beäugte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Wo kommst du her?«

»Aus Aylesham. Ein Dorf auf dem Grund und Boden des Earl.« Da ihr dieser Wachmann etwas zugänglicher erschien, sah sie ihn beschwörend an. »Bitte, ich sage die Wahrheit. Warum sollte ich lügen?«

»Du machst dich doch nur wichtig«, ereiferte sich der andere und verpasste ihr einen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ. Sie stürzte zu Boden und kam schmerzhaft mit den Handflächen auf. Verzweiflung wollte sie übermannen. Es konnte doch nicht sein, dass alles umsonst gewesen war. Bevor sie sich recht aufsetzen und auf die Beine kommen konnte, hörte sie das Klappern von Hufen. Ein edel gekleideter Mann ritt über die Brücke und überblickte mit scharfem Missfallen die Lage. »Was geht hier vor sich?«

Er war dunkelhaarig, etwas älter und besaß tiefblaue Augen, in einem männlich schönen Gesicht. Fleur fühlte sich auf eine merkwürdige Art zu ihm hingezogen und war verwirrt über diese Gefühlsregung.

»Nichts, Euer Gnaden«, versicherte der erste Wachmann rasch und warf ihr einen bösen Blick zu, weil sie ihn in die Situation brachte, sich rechtfertigen zu müssen. »Nur ein armseliges Ding, das sich mit einer erfundenen Geschichte Zugang zum königlichen Gelände verschaffen will.«

»Ich lüge nicht!«, rief sie und erhob sich, die Fäuste geballt. „Ich schwöre beim Heiland, dass ich die Wahrheit sage. Ich muss Raoul de Valois, den Earl of Whitfield, in einer äußerst dringenden Angelegenheit sprechen«, wandte sie sich an den Edelmann, in der Hoffnung, wenigstens bei ihm Gehör zu finden. »Es gab einen Überfall auf Whitfield Castle und seine Schwestern werden als Geiseln gehalten. Falls sie überhaupt noch leben«, fügte sie hinzu und fragte sich, ob der Tod nicht besser war, als alles, was sie sonst unter den Händen von Eadgar zu erleiden hätten.

»Ein Überfall? Wie ist das möglich?«

Der Herzog runzelte skeptisch die Stirn und so sprach sie weiter, darum bemüht, ihn zu überzeugen. »Es ist den Rebellen gelungen, sich Zugang zu verschaffen, wie genau, das weiß ich nicht.« Insgeheim entschuldigte sie sich für diese halbe Lüge, denn sie ahnte sehr wohl, wie Eadgar und seine Männer hineingelangt waren.

»Die Soldaten sind im Schlaf überrascht worden. Glücklicherweise hat niemand auf mich geachtet in dem Getümmel und mir gelang die Flucht. Mylord, der Earl of Whitfield muss vom Schicksal seiner Schwestern erfahren.«

Die Wachsoldaten schienen sich immer unwohler zu fühlen, da ihnen wohl klar wurde, dass sie keineswegs fantastische Geschichten erzählte, sondern die Wahrheit sprach.

»Ich glaube dir«, erwiderte der stattliche Fremde zu ihrer Erleichterung. Vom Pferd aus, sah er auf sie herunter. »Mein Name ist Charles de Lusignan, Herzog von Burgund. Ich kenne den Grafen und werde dir ein Treffen mit ihm ermöglichen.« Er wandte sich an die Wachmänner. »Kümmert euch um jemanden, der ihren Gaul versorgt und den Karren wegbringt. Er blockiert die Brücke. Und du«, er sah Fleur an, »folg mir.«

Er wendete das Pferd und ritt im Schritttempo voraus, während sie sich beeilte, nicht den Anschluss zu verlieren. Vor den Stallungen stieg er ab und übergab sein Pferd einem Knappen, ehe er sie weiterführte. Fleur stolperte hinter ihm her, beeindruckt von seiner königlichen Haltung, die ihn wahrhaft erhaben wirken ließ. Von Kopf bis Fuß war er ein Edelmann, sein Gang genauso bestimmend, wie seine ganze Ausstrahlung. Fleur konnte kaum glauben, dass so eine hochrangige Persönlichkeit ihr Gehör geschenkt hatte und ihr sogar helfen wollte. Dennoch fürchtete sie den Moment, an dem sie Raoul von den Ereignissen erzählen musste. Allein bei der Vorstellung, welchen Schmerz das ungeklärte Schicksal seiner Schwestern in ihm auslösen würde, keuchte sie auf.

»Bin ich dir zu schnell?«, fragte der Herzog.

Sie fiel beinahe hin vor Schreck, da sie nicht erwartet hatte, von ihm angesprochen zu werden. „Nein, nein, achtet nicht auf mich“, antwortete sie eilig.

***

Der Herzog nickte, ohne sie direkt anzusehen. Zu sehr verstörte ihn die frappierende Ähnlichkeit des Mädchens mit seiner Isabel. Der erneut aufwallende Schmerz über den Verlust seiner Geliebten, bohrte sich wie ein scharfes Messer in sein Herz. So viele Jahre lebte er jetzt schon ohne sie und doch verging kein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Seine tiefe Liebe zu ihr überdauerte selbst ihren Tod und er verfluchte sich noch heute dafür, weil er vor vielen Jahren nicht zur Stelle gewesen war, um sie zu beschützen. Er weilte während ihrer Entführung in Paris, gebeutelt von einem heftigen Fieber, das ihn aus dem Nichts heraus befallen und beinahe umgebracht hätte. Es dauerte Wochen, bis er wieder bei Kräften war und zurück nach Hause reisen konnte. Sein Vater erschrak damals zu Tode bei seinem Anblick, denn man hatte ihm fälschlicherweise berichtet, er sei an einem Fieber gestorben. Aus diesem Grund hatte seine geliebte Isabel den Entschluss gefasst, den Rest ihres Daseins als Braut Christi zu verbringen. Noch auf dem Weg ins Kloster Cluny wurde sie entführt. Einer der begleitenden Soldaten entkam und berichtete seinem Vater davon. Dieser schickte umgehend Charles‘ Cousin Rufus hinterher. Kardinal Rufus de Barbarin, damals noch kein Mitglied des Klerus, fand heraus, dass sie mit ein paar anderen Frauen an den Hafen von Calais verschleppt wurde, auf ein dänisches Schiff, das Richtung England segelte. Rufus zeigte großen Mut, indem er mit dem Nächsten hinterher segelte. Leider erfuhr er nach seiner Ankunft in England, dass die Dänen den Hafen nie erreicht hatten. Vermutlich war das Schiff mit Mann und Maus gesunken.

Charles war seither nicht mehr der Gleiche. Mit Isabel verlor er den Sinn seines Lebens, jeglichen Frohmut und die Hoffnung auf Glück. Im Alter von sechs Jahren war sie als Mündel ins Haus seines Vaters gekommen, nachdem die Pocken ihre Eltern, Schwestern und Brüder dahingerafft hatten. Nur sie hatte wie durch ein Wunder überlebt und war mit einem Mal ganz allein auf der Welt. Zuerst sollte sie ins Kloster, so wie ihre Cousine, doch sein Vater nahm sie auf und gab der kleinen Waise ein neues Heim. Charles war nur zu Besuch, als sie eintraf. Mit neun Jahren lebte er nicht mehr auf der heimischen Burg, sondern auf der eines Nachbarn, um die Ausbildung zum Pagen zu absolvieren. Niemals würde er den Augenblick vergessen, als dieses zarte und so verloren wirkende Kind in der Halle stand. Ihr scheues Lächeln traf ihn mitten ins Herz.

»Mylord?« Charles bemerkte, dass er einfach stehengeblieben war, gedanklich in der Vergangenheit gefangen. Er verbannte die Bitterkeit über sein Schicksal in den hintersten Winkel seines Kopfes. Isabel war tot und würde nicht mehr wiederkommen. Er hatte lange genug getrauert. Viel zu lange…

»Verzeih, ich war in Gedanken.«

Er ging weiter und die Kleine folgte ihm, bis sie eine Tür erreichten. Charles öffnete und schob sie hinein. »Du wirst hier warten. Und wag es nicht, ohne Erlaubnis auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.«

Ihr war sichtlich unwohl zumute, bei der Aussicht, hier alleingelassen zu werden, dennoch beschwerte sie sich nicht. »Selbstverständlich, Euer Gnaden«, murmelte sie. Sie hielt den Blick gesenkt und sah sich auch nicht um, eingeschüchtert von seiner harschen Art. Das Mädchen tat ihm leid, aber er war nach wie vor dermaßen erschüttert über ihre Ähnlichkeit mit Isabel, dass er sich nicht anders zu helfen wusste. Er musste einen klaren Kopf behalten und wenn das Mädchen die Wahrheit sprach, würde er schon bald mit anderen Problemen zu kämpfen haben.

»Ich hole den Earl«, erklärte er kurzangebunden und schloss die Tür hinter sich. Charles verlor keine Zeit und begab sich direkt auf die Suche nach Valois. Dabei fragte er sich, in welcher Beziehung das Mädchen zu ihm stand. Ein junges Ding wie sie, nahm doch nicht grundlos so eine Reise auf sich, mit all den Gefahren und ohne Gewähr, ob sie hier überhaupt Gehör fand. Wäre er nicht zufällig vorbeigekommen, hätte der Wachposten sie weggejagt.

Da steckte noch etwas anderes dahinter, etwas viel Persönlicheres und Charles mutmaßte, dass die Kleine Valois‘ Liebchen sein musste. Trotz ihrer schlichten Kleidung und ihrer derangierten Erscheinung war sie eine Schönheit, die gewiss sein Interesse geweckt hatte. Valois war schließlich auch nur ein Mann, der, schenkte man den Gerüchten aus Frankreich Glauben, die Vorzüge einer schönen Frau durchaus zu schätzen wusste. Charles beschloss, die beiden genau zu beobachten, sobald sie aufeinandertrafen. Sollte sich sein Verdacht bestätigen, würde er ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Viele Adelige hielten sich eine Geliebte, auch der Zukünftige seiner Nichte würde da keine Ausnahme sein, aber es galt zu verhindern, dass er Melisande seine Buhle direkt vor die Nase setzte. Daher gedachte er, Valois nahezulegen, sein Liebchen außerhalb der Burg unterzubringen, um Melisandes Ehre nicht zu verletzen. Seine Nichte mochte eine eitle und zuweilen einfältige Person sein, die er, um ehrlich zu sein, nicht schnell genug loswerden konnte, dennoch gehörte sie als Tochter seines verstorbenen Bruders zur Familie und er würde dafür sorgen, dass man sie nicht zum Gespött machte. Charles rieb sich die pochenden Schläfen, nickte hier und da jemandem zu und beschleunigte seine Schritte. Zuletzt hatte er Valois mit de Warenne vor der großen Palasthalle gesehen. Mit etwas Glück befand er sich noch dort oder man konnte ihm mitteilen, wo er zu finden war. Die Nachrichten aus der Heimat waren alles andere als erfreulich und Valois musste sich schnellstmöglich mit dem Mädchen auseinandersetzen, um ihre Glaubwürdigkeit zu prüfen. Sollte sie Valois überzeugen, galt es den König über die Ereignisse zu unterrichten und der würde toben. Dass es ein paar Abtrünnige tatsächlich wagten, einen seiner Vasallen anzugreifen, würde Wilhelm in rasende Wut versetzen und seinen Rachedurst beleben. Hölle und Verdammnis, welch prekäre und unangenehme Lage und das so kurz vor der Trauung! Charles glaubte nicht, dass sie noch stattfinden würde. Wilhelm würde sich diese Revolte nicht bieten lassen und Valois mit einer bedeutenden Anzahl an Soldaten nach Hause schicken, um den Aufstand niederzuschlagen.

Sobald er sich der Palasthalle näherte, entdeckte er den jungen Earl, noch immer vertieft in eine Unterhaltung mit Rousel de Warenne. Charles wusste nicht so recht, was er von dem Mann halten sollte. Er stand hoch in der Gunst von Wilhelm und war, soweit es sich beurteilen ließ, ein treuergebener Diener seines Königs. Andererseits besaß Rousel de Warenne enormen Einfluss auf Wilhelm und er wäre nicht der Erste, dem eine solche Machtposition zu Kopf stieg. Daher blieb er vorsichtig, obgleich sein Verstand ihm sagte, dass es dafür keinen Grund gab.

Er steuerte auf die beiden zu. Der Berater des Königs entdeckte ihn als Erster. »Charles, Ihr seht aufgebracht aus«, begrüßte er ihn, die Stirn in leichte Sorgenfalten gelegt.

»Dazu gibt es auch allen Grund«, erklärte er ernst und wandte sich direkt an Valois. »Valois, ein Mädchen wurde vor der Brücke aufgegriffen. Sie verlangte Einlass ins königliche Gelände, um mit Euch zu sprechen.«

Valois verzog irritiert den Mund. »Wie bitte?«

»Sie behauptet, Eure Burg wäre von Rebellen eingenommen worden.«

Valois erbleichte sichtlich, trat einen Schritt an Charles heran und griff nach seinem Arm. »Wo ist sie? Was wisst Ihr noch?«

»Gemach, mein junger Freund! Ihr könnt sie gleich selbst befragen.«

Nun mischte sich auch de Warenne ein. »Sollte das Mädchen glaubwürdig sein, müssen wir umgehend den König informieren.«

»Ich werde Euch persönlich unterrichten, sobald wir mehr wissen«, versprach Charles und wandte sich wieder an Valois. »Kommt, ich bringe Euch zu ihr.«

Valois schwieg auf dem gesamten Weg zurück. Charles warf ihm hin und wieder neugierige Blicke zu, versuchte zu ergründen, was in ihm vor sich ging, doch es gelang dem jüngeren Mann vorzüglich, seine Empfindungen zu verbergen.

Sobald sie den Raum betraten, in dem die junge Frau wartete, schien Valois erschrocken darüber, sie zu sehen, ehe sich sein Blick vor Verlangen verschleierte. Charles fühlte Bestürzung in sich aufsteigen. Es war geradezu lächerlich offensichtlich für einen lebenserfahrenen Mann wie ihn, was die beiden verband. Valois betrachtete diese Angelsächsin mit der gleichen Leidenschaft, die er selbst einst für seine Isabel empfunden hatte, und das Mädchen erblühte geradezu unter seinen Blicken. Stand sie bis eben noch zusammengesunken und kläglich vor ihnen, so straffte sich dank Valois‘ Gegenwart ihr gesamter Leib. Die Wangen erstrahlten in frischem Rot und in ihren Augen blitzte es für einen kurzen Moment glücklich auf.

„Ist Euch das Mädchen bekannt und habe ich recht daran getan, ihr Glauben zu schenken?“

»Ich kenne sie«, antwortete Valois, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Sie ist meinen Schwestern unterstellt.« Der Earl wandte sich an ihn. »Habt Dank, Euer Gnaden, von jetzt an, werde ich mich ihrer annehmen.«

Valois richtete seinen Blick wieder auf das Mädchen und erneut konnte er die Zärtlichkeit für dieses Geschöpf nicht verbergen. Charles war beunruhigt. Sich eine angelsächsische Geliebte zu halten, war eine Sache, sich in sie zu verlieben, eine völlig andere. Wie leicht könnte man seine Gefühle gegen ihn verwenden? Es reichte ein von Neidern falsch gestreutes Gerücht, er würde um des Mädchens Willen mit den Engländern sympathisieren und schon käme er ins Gerede. Selbst wenn er diese Bedenken beim König zerstreuen könnte, bliebe womöglich ein Hauch des Zweifels und das würde nicht nur Valois langfristig schaden, sondern auch dem guten Ruf der Lusignans. Charles wusste genau, was zu tun war. Das Mädchen musste weg und das so schnell wie möglich.

»Wenn es Euch nichts ausmacht, würde ich gerne bleiben und mir anhören, was sie zu sagen hat.«

Valois verzog wenig begeistert die Lippen, wagte es jedoch nicht, ihm zu widersprechen.

»Gewiss, Euer Gnaden.«

Du wärst wohl viel lieber mit der Kleinen allein geblieben, spottete Charles innerlich. Die Hände hinterm Rücken verschränkt, musterte er sie eindringlich und wartete darauf, dass sie anfing, die Geschehnisse auf Whitfield Castle zu schildern. Sie schien seine Vorsicht ihr gegenüber zu spüren und erschauerte, ehe sie es wagte, von den Ereignissen zu berichten.

Kapitel 2

Nachdem Fleur ihm unter Tränen Bericht erstattet hatte, musste Raoul sich erst einmal sammeln. Eadgar of Whitfield lebte also noch, was Raoul tatsächlich nicht überraschte. Schließlich wurde sein Leichnam nie aus dem Fluss geborgen. Was ihn jedoch besonders traf, war Gastons Tod und das unverantwortliche Verhalten seiner Schwester, die ihm den Geheimgang verschwiegen hatte. Es war nicht schwer zu erraten, dass Eadgar als ehemaliger Burgherr diesen Eingang kannte und Sir Iwain hatte natürlich dazu geschwiegen, war vielleicht sogar der Handlanger seines Bruders und hatte von innen heraus agiert. Wie auch immer es Eadgar of Whitfield gelungen war, es änderte nichts an den Folgen. Nun war die Burg in Rebellenhand, seine Schwestern befanden sich in Geiselhaft und Gaston, sein treuer Gefolgsmann, hatte im Kampf sein Leben gegeben. Fleur hatte mit erstickter Stimme von seinen letzten Worten berichtet und auch die Schuld für das Verschweigen des Tunnels auf sich genommen. Ein unnützes Unterfangen, ihm war durchaus bewusst, dass sie lediglich versuchte, Cécile vor seinem Zorn zu schützen. Fleur hätte niemals etwas Derartiges vor ihm verborgen, hätte es seine Schwester nicht ausdrücklich befohlen.

All dies Grauen hätte verhindert werden können, wenn Cécile ihn beizeiten über den Zugang informiert hätte. Er hätte diesen unseligen Tunnel zumauern lassen. Wie er nach diesem Vertrauensbruch mit ihr umgehen sollte, wusste er noch nicht. Zuerst galt es, sie und Constance zu befreien, bevor er sich mit Céciles Illoyalität befasste. Noch überwog die Sorge seine Wut über ihr Handeln. Er spannte sich an und stellte sich vor, was dieser Unhold den beiden antun könnte. Wenn er ihnen auch nur ein Haar krümmte … Er stieß ein Knurren aus, und ja, in gewisser Weise fühlte er sich wie ein wildes Tier. Er war bereit, Eadgar und Iwain in Stücke zu reißen und sie für ihr ehrloses Verhalten büßen zu lassen.

»Ich kann Euch ansehen, wie es in Euch rumort, aber ihr müsst ruhig bleiben«, sagte der Herzog, der neben ihm herlief. Sie befanden sich längst auf dem Weg zum König, um Wilhelm unverzüglich über die Ereignisse zu informieren. Fleur hatten sie befohlen, weiterhin im Raum zu verweilen.

»Ich versuche es, Mylord«, antwortete Raoul und kämpfte gegen die überwältigende Mordlust an, die ihn zu übermannen drohte. Allerdings wäre es besser, dem Rat des Herzogs zu folgen. Wenn er seine Schwestern retten und sie wohlbehalten wieder in die Arme schließen wollte, war es von immenser Wichtigkeit, sich nicht von seinen Gefühlen beherrschen zu lassen. Entscheidungen mussten getroffen werden, ebenso die notwendigen Vorbereitungen für den Rückschlag. Auch wenn Whitfield Castle nicht direkt an der Küste lag, wie der gigantische Koloss Dover Castle, grenzte sein Besitztum an das von Odo de Bayeux. Der war als kirchlicher Würdenträger zum womöglich mächtigsten Kronvasallen unter der Herrschaft seines Halbbruders aufgestiegen und Raoul galt aufgrund der räumlichen Nähe als schlagkräftigster, militärischer Unterstützer des Bischofs. Kein Wunder, dass die Verschwörer sich auf Whitfield Castle gestürzt hatten. Von dort aus könnte man einen Angriff auf Dover Castle vorbereiten, und wenn das gelang, auch die Burg von Odo einnehmen. Dann würden Eadgar und sein Bruder einen der strategisch wichtigsten Standorte in England für den angelsächsischen Widerstand kontrollieren. Das galt es unter allen Umständen zu verhindern. Je schneller sie dieser Impertinenz ein Ende setzten und die Verräter am Galgen hingen, umso rascher würde der aufkeimende Widerstand abflauen. Eadgar musste gefasst und öffentlich hingerichtet werden, ehe sein Handeln unter den entmachteten angelsächsischen Adeligen eine Welle der Euphorie entfachte und sie dazu brachte, sich dem Kampf der Rebellen anzuschließen. So eine Entwicklung würde dem König empfindlich schaden. Er hatte mit den Walisern schon genug zu tun.

»Was geht in Eurem Kopf vor, Valois?«

»Mich erfüllt eine Mischung aus Sorge und Enttäuschung, Euer Gnaden. Ihr habt Fleur gehört, Mylord. Hätte meine Schwester nicht geschwiegen, wäre all dies nicht geschehen.«

Charles de Lusignan stieß einen Seufzer aus. »Ich kann Euren Unmut nachvollziehen, aber geht nicht zu hart mit Eurer Schwester ins Gericht.«

Genau das fiel Raoul schwer. »Sie hat mit ihrem Verhalten nicht nur mir Schande bereitet, sondern auch dem König geschadet. Wäre sie ein Mann, müsste sie den Galgen fürchten.«

»Ich bin sicher, soweit wird es nicht kommen. Seid froh, dass Ihr wenigstens jetzt über diesen Geheimtunnel Bescheid wisst. So müssen wir uns nicht auf eine langwierige Belagerung einstellen, sondern schleichen uns genau wie dieser Verräter in der Nacht hinein.« Der Herzog verzog den Mund zu einer grimmig erscheinenden Linie. »Wir werden sie mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Glaubt mir, Whitfield Castle wird schon bald wieder in Eurer Hand sein.«

Er warf dem Herzog einen unverblümten Blick zu. »Verzeiht mir, Euer Gnaden, aber der Verlust der Burg bereitet mir im Augenblick die wenigsten Sorgen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir sie zurückerobern. Zeit, die meine Schwestern vielleicht nicht haben, solange sie in der Gewalt eines Wahnsinnigen sind, den es schon seit Hastings nach Rache dürstet.« Er schüttelte in hilfloser Betroffenheit den Kopf. »Ich kenne Whitfield und seinen Bruder, ebenso ihren Hass auf alles Normannische und wenn ich daran denke, dass ich auf Sir Iwains Ehrgefühl vertraut habe, während er wahrscheinlich die ganze Zeit mit seinem Bruder den Verrat geplant hat, weckt das puren Blutdurst in mir.« Raoul verzog verbittert die Lippen. »Mein engster Vertrauter hat sein Leben lassen müssen. Er wäre der Einzige gewesen, dem ich es zugetraut hätte, meine Schwestern dort heil herauszubringen. Vielleicht sind die beiden längst tot.«

»Verzeiht mir meine unüberlegte Äußerung«, entschuldigte sich der Herzog und Raoul fiel auf, wie schwer es Charles de Lusignan fiel, Abbitte zu leisten. Ein Mann wie er war es gewiss nicht gewohnt, jemanden um etwas zu bitten, schon gar nicht um Vergebung.

»Vergebung ist nicht nötig, Euer Gnaden. Eure Prioritäten liegen woanders und das nehme ich Euch nicht übel.«

»Seid Euch meiner vollumfänglichen Unterstützung gewiss«, erklärte der Herzog. »Außerdem bin ich überzeugt, dass Eure Schwestern höchst lebendig sind. Tot nutzen sie Eadgar nichts, er wird sie solange am Leben lassen, wie sie ihm als Druckmittel nützlich erscheinen.«

Sie näherten sich bereits ihrem Ziel, als Charles de Lusignan plötzlich die Hand ausstreckte und Raoul zwang, mitten im Schritt anzuhalten. »Valois, noch etwas, bevor wir vielleicht keine Gelegenheit mehr zu einem Gespräch unter vier Augen finden.«

Raoul musterte fragend die Gesichtszüge des Herzogs. »Welches Anliegen Ihr auch an mich habt, scheut Euch nicht zu fragen. Ich habe nichts zu verbergen.«

Der Herzog lachte freudlos. »Mein junger Freund, genau das bezweifle ich.«

In Raoul spannte sich alles an, er wurde vorsichtig. »Ich weiß wirklich nicht, was Ihr meint? Was bezweckt Ihr mit so einer unsinnigen Behauptung?«

Jeder Anflug von Milde wich aus den Zügen des Herzogs. »Haltet mich nicht für dumm, Valois! Den Fehler haben schon andere vor Euch begangen und das bitter büßen müssen. Ich spreche von dem Mädchen. Sie ist Eure Buhle, nehme ich an. Oder täusche ich mich etwa?«

Raoul fühlte sich ertappt und konnte dem Blick des Älteren kaum standhalten. »Es ist nicht so, wie es auf Euch wirkt, Euer Gnaden.«

»Das will ich hoffen, immerhin werdet Ihr meine Nichte zur Frau nehmen.«

»An meiner Absicht, meine Pflichten Melisande gegenüber zu erfüllen, hat sich nichts geändert. Ich werde ihr ein guter Gemahl sein«, erwiderte Raoul und hasste es, dermaßen in die Defensive gedrängt zu werden. »Aber ich will auch nicht abstreiten, dass ich, was diese Ehe angeht, lediglich dem Befehl meines Königs folge und mein Herz einer anderen gehört.«

»Liebe ist etwas für Dummköpfe und hat in unserer Welt keinen Platz, Valois«, antwortete der Herzog kühl.

Raoul kaufte ihm diese Aussage nicht ab, denn für einen winzigen Moment blitzte etwas in den Augen dieses harten Mannes auf. Ein Schmerz, so tief und quälend, wie er ihn selbst empfand, wenn er daran dachte, dass er seine Lilie aufgeben musste. Er hatte nicht gelogen. Er würde Melisande ein guter Mann sein, soweit er es vermochte, und Fleur würde hoffentlich einen braven Mann finden und ihn vergessen.

»Der König wird die Hochzeit unter diesen Umständen verschieben müssen«, fuhr der Herzog unterdessen fort. »Sobald diese leidige Angelegenheit aus der Welt geschafft wurde, erwarte ich von Euch, dass Ihr Euer Versprechen einlöst und Melisande wie geplant zu Eurem Weib macht. Was Ihr allerdings bis dahin mit der hübschen Angelsächsin treibt ... nun, sagen wir es mal so, ich werde Augen und Ohren verschließen. Aber danach halte ich jeden weiteren Kontakt für zu gefährlich. Eure Empfindungen für das Mädchen sind mehr als offensichtlich und machen Euch schwach und angreifbar.«

»Aber…« »Schweigt und zeigt Verantwortung! Wenn ich erkennen kann, wie vernarrt Ihr in die Kleine seid, wird das anderen ebenfalls nicht verborgen bleiben. Ihr beleidigt damit nicht nur meine Nichte, sondern bringt auch das Mädchen in Gefahr. Wenn sie Euch so viel bedeutet, wie ich annehme, muss sie aus Eurem Leben verschwinden. Eine andere Lösung kann es nicht geben.«

Hoffnungslosigkeit und Resignation erfüllten Raoul, denn der Herzog hatte recht. Diesmal war es wirklich vorbei, unwiderruflich. Wäre Fleur nur ein Weib fürs Vergnügen, würde sich niemand daran stoßen, doch was er empfand, ging viel tiefer und soweit reichte das Verständnis unter den Normannen nicht. »Was immer Ihr wünscht, Euer Gnaden.«

Charles de Lusignan seufzte und fühlte offensichtlich keine wirkliche Genugtuung darüber, seinen Willen durchgesetzt zu haben. Raoul war überzeugt, dass er nicht aus Boshaftigkeit heraus handelte, sondern jene Vernunft an den Tag legte, die Raoul leider abhandengekommen war. Er hätte Fleur niemals erlauben dürfen, seine Schwestern zu unterrichten. Damit hatte er eine Lawine ins Rollen gebracht, die ihn unter sich zu begraben drohte. Schweigend setzten sie ihren Weg fort.

Nachdem sie Wilhelm und später auch Melisande informiert hatten, begab sich Raoul umgehend zurück in den Raum, in dem sie Fleur zurückgelassen hatten. Er konnte nicht verhindern, dem erneuten Wiedersehen unter vier Augen entgegenzufiebern.

Der Tag war elend lang gewesen und der König wie erwartet außer sich vor Wut, weil es jemand wagte, einen seiner Vasallen und damit auch ihn anzugreifen. Gleich morgen würde sich Raoul mit einer nicht unbeträchtlichen Anzahl an Soldaten auf den Weg zurück zu seinen Ländereien machen. Darüber hinaus stellte auch der Herzog etliche seiner Männer zur Verfügung, um dieses Vorhaben zu unterstützen.

Eine Sache hingegen, erleichterte Raoul. Wie bereits von Lusignan angedeutet, wurde die Hochzeit mit Melisande verschoben. Sie würde erst stattfinden, wenn sich beide Whitfield-Brüder in normannischer Gewalt befanden. Wilhelm verlangte, dass man beide nach London brachte, um sie direkt vor seinen Augen hinzurichten. Ein Teil von Raoul bedauerte Iwains Verrat, dazu gesellte sich grenzenlose Enttäuschung, da er den jüngeren Whitfield für einen Ehrenmann gehalten hatte. Ein Irrtum, der ihn jetzt teuer zu stehen kam.

Besonders anstrengend war auch die Konfrontation mit Melisande gewesen. Sie hatten sie direkt nach der Audienz aufgesucht. Der Herzog klärte sie über die Umstände auf. Raoul verzog bei der Erinnerung das Gesicht. Statt Mitgefühl für seine Schwestern zu zeigen, reagierte seine Braut äußerst erzürnt über den Aufschub und wollte den Ernst der Lage nicht begreifen. Bis Lusignan ein Machtwort sprach und sie mit einem harschen Tadel zurück in ihr Gemach schickte. Danach entschuldigte er sich bei Raoul für die mangelnde Anteilnahme seiner Nichte. Diese kurze Begegnung hatte Raoul gezeigt, welch Geistes Kind sie war und wie wenig ihr am Wohl anderer lag, solange sie bekam, was sie wollte. Bei der Aussicht, sein Leben mit jemandem wie ihr verbringen zu müssen, sank ihm das Herz.

Hundemüde erreichte er den Raum, in dem Fleur wartete und trat hinein. Sie stand am Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. Sobald sie ihn bemerkte, drehte sie sich um. Ihre Augen glänzten feucht, sie schien kurz davor zu stehen, in Tränen auszubrechen.

»Raoul«, wisperte sie, nach wie vor untröstlich aufgrund der Ereignisse und sichtlich von Schuldgefühlen geplagt. Er musste zugeben, er war verstimmt, weil sie sich ihm nicht anvertraut hatte. Im Gegensatz zu seiner leichtlebigen Schwester besaß sie Verantwortungsgefühl, dennoch schaffte er es nicht, ihr zu zürnen. Fleur handelte nicht aus Eigensinn oder aus Eigeninteresse, sie war seiner Schwester gegenüber loyal gewesen und hatte Cécile nicht schaden wollen. Zögernd trat sie näher.

Raoul bemerkte ihr leichtes Humpeln und blickte auf ihre Füße, die unter dem groben Stoff ihres Gewandes herauslugten, und sah die notdürftigen Bandagen. Da sie den ganzen Weg von Whitfield Castle bis nach Aylesham zu Fuß unterwegs gewesen war, musste sie sich etliche Blasen zugezogen haben. »Hast du schlimme Schmerzen?«

Sie lächelte und allein der Anblick ihres lieblichen Gesichts ließ sein Herz schneller schlagen. »Es geht schon, bald ist es verheilt«, erwiderte sie tapfer und schenkte ihm einen Blick, angefüllt mit Erwartung und Sehnsucht. Gott, wie gern hätte er die kurze Distanz überbrückt und sie in seine Arme gezogen. Er dachte an seine Unterhaltung mit dem Herzog, an dessen Billigung, sich noch ein paar schöne Stunden mit ihr zu stehlen, und doch würde genau das, alles noch schwerer für sie machen. Also geißelte er sich selbst, indem er sich verwehrte, was er mehr als alles andere haben wollte.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte er schließlich und schaffte es kaum, ihrem Blick standzuhalten. Das Leuchten in ihren Augen erstarb und sie verschränkte die Hände ineinander, sichtlich betrübt.

»Natürlich nicht. Ich weiß, ich gehöre nicht hierher und es wäre respektlos deiner Braut gegenüber. Ich brauche nur meinen Karren und das Pferd und ich werde heimkehren.«

Hatte er je zuvor ein traurigeres oder trostloseres Gesicht gesehen? Hätte man ihm ein Messer mitten ins Herz gerammt und es mehrmals umgedreht, wäre der Schmerz, der ihn bei ihrer Antwort durchzuckte, kaum schlimmer gewesen. Er sollte sie beim Wort nehmen und umgehend dafür sorgen, dass sie den Heimweg antrat, doch sein Verlangen nach ihr war stärker als alles andere. Unfähig sich weiter zurückzuhalten, streckte er die Hand nach ihr aus. »Zur Hölle mit der Vernunft«, stieß er hervor. »Komm her zu mir!«

Fleur zögerte nur einen winzigen Augenblick, ehe sie seine Hand ergriff. Ihr entwich ein erstickter Laut, ehe sie die Arme um seine Taille schlang, als hätte sie Furcht, jemand könnte sie von ihm wegreißen. Beseelt von ihrer Nähe, drückte er sie eine Spur fester an sich und blickte über ihren Kopf hinweg aus dem Fenster. Es war bereits dunkel. Mondlicht flutete Teile des Raumes und er fühlte sich das erste Mal seit seiner Ankunft in Westminster wieder lebendig.

„Endlich hab ich dich wieder“, murmelte er und vergrub das Gesicht in ihren weichen Locken. Er erinnerte sich gut daran, wie verführerisch sie ihren Körper im Schein des Feuers umschmeichelt hatten, als er im Schutz der Jagdhütte das erste Mal von ihrer Süße gekostet hatte. Nackte Begierde stieg in ihm auf. Er bezwang jedoch den Wunsch, ihr die lästigen Stofflagen vom Körper zu reißen.

»Raoul, es tut mir so unendlich leid«, flüsterte sie nach kurzem Schweigen. »Hätte ich eher etwas gesagt, wäre all das nicht passiert. Gaston würde noch leben und deine Schwestern ...«

Sie verstummte, den Tränen nahe. Raoul strich ihr beruhigend über den Rücken. Ihr Körper fühlte sich zart und dennoch widerstandsfähig an. Fleur verfügte über eine Stärke, die sie vermutlich selbst nicht kannte und ihr Mut beeindruckte ihn. Sich allein nach London zu wagen, um Hilfe für seine Schwestern zu erbitten, rang ihm unglaublichen Respekt ab. Er umschloss ihr Gesicht. »Du und Cécile habt mit eurem Schweigen einen Fehler begangen, aber denk nicht, dass ich mir nicht im Klaren darüber bin, dass du auf ihr Betreiben hin geschwiegen hast. Außerdem hast du dich in Gefahr begeben, um mich zu warnen. Das war recht waghalsig, aber auch unvorstellbar mutig.«

»Ich musste es Gaston versprechen, kurz bevor er starb.« Sie zögerte kurz. »Seine letzten Worte galten dir. Er hat dich wie einen Sohn geliebt und er ist so gestorben, wie er es wollte. Im Kampf und mit einem Schwert in der Hand.« Ihre Augen füllten sich mit neuen Tränen. Auch Raoul tat sich schwer, die Fassung zu bewahren. Gaston war mehr als nur ein treuer Gefolgsmann für ihn gewesen. Der alte Haudegen hatte ihn durch so manch dunkle Stunde begleitet und er fühlte sich schuldig, weil er nicht dort gewesen war, um ihm während seinen letzten Atemzügen auf Erden beizustehen. Raoul schwor sich, sein Andenken immer in Ehren zu halten.

Auf einmal kamen ihm all diese Ränkespiele um Macht und Reichtum so sinnlos vor. Raoul empfand eine tiefe Leere, die sich in ihm ausbreitete.

»Ich hätte dort sein müssen«, gestand er schließlich. »Bei meinen Leuten. Stattdessen bin ich hier in Westminster, um eine Frau zu ehelichen, die mir nicht das Geringste bedeutet.« Er lachte trostlos. »Weißt du, was das Groteske an all dem ist?«

Sie verneinte mit einem Kopfschütteln. Raoul fuhr mit dem Daumen liebevoll über ihre Unterlippe. »Mein Einfluss ist größer, als ich es mir je hätte träumen lassen, ebenso mein Reichtum. Er übertrifft sogar den meines Bruders und meine Braut ist eine der schönsten Frauen auf dem Kontinent.« Er verzog zynisch das Gesicht. »Ich werde von vielen beneidet, doch keiner ahnt, wie unglücklich ich in Wirklichkeit bin, weil mir all das nichts mehr bedeutet. Alles, was ich will, steht direkt vor mir und gerade dich kann ich nicht haben.«

»Ich werde immer bei dir sein. Vielleicht nicht in Fleisch und Blut, aber ich werde an dich denken und mich um dich sorgen, als wäre ich an deiner Seite.«

Er legte die Stirn gegen ihre und strich behutsam über ihre zarten Schultern. »Ich weiß, mein Liebstes.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn mit einer Leidenschaft, die ihresgleichen suchte. Raoul verlor jedes Maß und teilte ihre Lippen, vereinigte seine suchende Zunge mit ihrer und gab sich hemmungslos seinen Gefühlen hin. Es war dermaßen erleichternd, betörend und so süß, dass ihm schier das Herz zerspringen wollte. Hier in ihren Armen konnte er vergessen, durfte einfach Mann sein, Trost und Vergebung finden. Ein Poltern draußen unterbrach den köstlichen Kuss. Raoul löste sich und seufzte. »Wir sollten uns nicht länger hier aufhalten. Komm, ich bringe dich in mein Gemach.«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Deine Braut …«, gab sie zu bedenken.

»Sie bedeutet mir nichts und noch gehöre ich nicht vor Gott zu ihr. Deswegen bitte ich dich, die Nacht an meiner Seite zu verbringen. So, als wärst du mein angetrautes Weib. Morgen früh wird uns das Elend der Wirklichkeit wieder einholen, aber bis dahin, sollst du mir gehören.«

Sie atmete bebend ein und nickte zustimmend. Er ging voraus und unterdrückte ein amüsiertes Schmunzeln, als er sie dabei ertappte, wie sie sich nach allen Seiten umsah, obgleich sie auf dem Weg in seine Unterkunft niemandem begegneten, außer dem ein oder anderen Wachposten. Und die wurden gewiss nicht zum ersten Mal Zeugen davon, wie sich ein Edelmann mit seinem Liebchen davonstahl. Sobald er die schwere Tür zu seinem Gemach öffnete, huschte sie hinein, wie eine verängstigte Maus und wirkte über die Maßen erleichtert, sobald er sie wieder verriegelte.

Jeden Gedanken an die Zukunft verdrängend, näherte er sich ihr, lächelnd und voller Vorfreude, bis er ihr Unbehagen bemerkte und sie stirnrunzelnd ansah. »Was ist mit dir?«

Sie blinzelte und wich seinem Blick aus. »Ich bin den ganzen Tag unterwegs gewesen und ...«

Fleur unterbrach sich und ihn ereilte eine Vermutung, als ihr Blick plötzlich auf dem Tisch mit der Waschschale ruhte. »Möchtest du dich ein wenig säubern?«

Nach kurzem Zögern nickte sie erleichtert. »Ich glaube, ich stinke«, erklärte sie verlegen und die aufwallende Röte auf ihren Wangen, fand er einfach nur entzückend. Lächelnd unterdrückte er den Drang, sie zu necken. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Abgesehen davon, gab es rein gar nichts an ihr, das ihn abgestoßen hätte.

Er ging zum Waschtisch und goss etwas Wasser aus dem Krug hinein, danach holte er eine Tunika und legte sie dazu. »Zieh das an, sobald du fertig bist.«

Allein die Vorstellung von ihr in einem seiner Kleidungsstücke trocknete seinen Mund aus. Raoul bewegte sich auf sie zu und küsste sie auf die Nasenspitze. »Ich warte draußen.«

Der dankbare Schimmer in ihren Augen belohnte ihn für die gezeigte Rücksichtnahme. Er verließ den Raum und fragte sich, ob er nicht den Verstand verloren hatte. Nach den gemeinsamen Stunden in der Jagdhütte hatte er sich innerlich damit abgefunden, sie niemals wieder in den Armen zu halten, und nun stand er hier, wartend und gierig darauf, ein letztes Mal von ihrer Süße zu kosten. Er fühlte sich dem Verlangen nach Fleur hilflos ausgeliefert.

Raoul ließ eine, wie er glaubte, angemessene Zeitspanne verstreichen, ehe er den Raum wieder betrat. Ihr Anblick verschlug ihm den Atem. Sie trug tatsächlich sein Hemd. Es bedeckte ihre Blöße bis zu ihren Knien und es war ihr viel zu groß. Sie ertrank förmlich darin.

»Fleur ...« Er flüsterte ihren Namen und atmete tief ein, während er sich ihr näherte. Verlegen senkte sie den Blick und hob ihn erst, als er direkt vor ihr stand. Raoul streckte die Hand aus und berührte ihre weiche Wange. Ihre Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln.

»Ich hätte niemals geglaubt, dass uns so ein Moment noch einmal vergönnt sein wird«, brach er das Schweigen und schlang einen Arm um ihre Taille. Ihr Leib gab nach, er spürte keinerlei Gegenwehr oder Widerstreben, und so senkte er den Mund auf ihren, um von ihren Lippen zu kosten. Zunächst sanft und voller Zärtlichkeit, bis das Verlangen überhandnahm und er seine Zunge immer leidenschaftlicher mit ihrer vereinigte. Fleur stöhnte leise und schlang die Arme um seinen Hals, suchte nach Halt und mehr Nähe, die er ihr nur allzu gern gewährte. Raoul hob sie an seine Brust und trug sie zum Bett. Für ihn war diese süße Last in seinen Armen der Schlüssel zu seinem Glück. Er bettete sie behutsam auf den Fellen und konnte sie nur noch anstarren, wie ein Verdurstender einen Krug mit lebensspendendem Wasser.

Ganz vorsichtig, als könnte sie sich sonst in Luft auflösen, streckte er die Hand nach ihr aus und berührte sie. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fühlte eine Aufregung in sich anwachsen, die dem ersten Rausch eines unerfahrenen Jünglings gleichkam. Sein Körper und sein Geist hungerten nach Fleur. Nach ihrer liebenswerten Art, ihrer unerschütterlichen Lebensfreude. Seine Seele würde erfrieren, wenn sie nicht mehr bei ihm war. Viele Jahre würde er ohne sie verbringen müssen, gepeinigt von Sehnsucht und dem Wissen, dass sie im Grunde ganz nah und dennoch für immer unerreichbar für ihn bleiben würde. Während er ihren Anblick in sich aufnahm, ermahnte er sich zur Besonnenheit. Jedoch betäubten ihre streichelnden Hände, die rastlos über seine Schultern streiften, seinen Verstand und öffneten der Unvernunft Tür und Tor. Raoul vergaß, auf sein Gewissen zu hören. Sie sprach den Mann in ihm in einem Maße an, die ihm jede Geduld raubte und es verlangte ihm all seine Willenskraft ab, um nicht wie ein wildgewordener Lüstling über sie herzufallen. Konnte sie in seinem Gesicht die unersättliche Gier erkennen, die sie in ihm wachrief? Ängstigte sie sich vielleicht davor? Er studierte die Regungen auf ihrem Gesicht. Erleichtert stellte er fest, wie viel Vertrauen in ihren Augen lag und er fragte sich, ob es etwas Erhebenderes geben konnte, als sich ganz und gar in der Frau zu verlieren, die man über alles liebte.

»Du bist so wunderschön«, flüsterte er ergriffen und seine Augen wanderten liebkosend über jeden Zoll ihres Leibes. Fleur war gutherzig und freundlich. Diese innere Schönheit setzte sich in ihrem Äußeren nahtlos fort und schürte seine Lust. Sie musste es spüren, sein Geschlecht presste sich gegen ihren Oberschenkel.

»Hier bei dir zu sein, bedeutet mir alles, Raoul.« Plötzlich, wie aus dem Nichts, überzog eine Welle der Traurigkeit ihre Züge. »Das Einzige, was mich ängstigt, ist ...«

»Was, mein Herz?«, wisperte er und strich mit dem Daumen über einen eingesunkenen Mundwinkel. »Was ängstigt dich?«

»Jetzt, in diesem Augenblick, bin ich glücklich, aber ich fürchte mich vor der Zukunft. Schon bald wirst du einer anderen gehören und gleichzeitig schäme ich mich für das Glück, das du mir gerade schenkst, während Cécile und Constance Gefangene sind. Wie kann ich so empfinden, während sie von dieser Bestie gefangen gehalten werden? Ich bin eine furchtbare Egoistin.«

Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre Worte blieben auch bei ihm nicht ohne Wirkung und die lüsterne Schwere, die in der Luft lag, wich eisiger Besorgnis. Raoul war sich keineswegs sicher, wie er Eadgar of Whitfield einschätzen sollte. Entehrt waren sie als Geiseln kaum noch von Wert. Vielleicht hatte Eadgar gar nicht vor, sie am Leben zu lassen. Seine letzten Hoffnungen setzte er auf Sir Guy. Falls Eastbourne noch lebte, gelang es ihm möglicherweise, Eadgar zu beschwichtigen und die beiden zu beschützen. Zumindest solange, bis er mit seinen Männern Whitfield Castle erreichte.

»Wir müssen einfach daran glauben, dass ihnen nichts geschehen wird«, raunte er Fleur zu.

Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und Raoul fing sie mit den Lippen auf. Er trank von ihrer Trübsal. Sie so unglücklich zu erleben, nachdem sie eben noch so selig gewesen war, fühlte sich an, als würde man ihm das Licht der Sonne stehlen. Er versuchte, sie zu trösten und ihr die schlechten Gedanken zu nehmen. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen, weil wir einander Trost spenden und die letzten gemeinsamen Stunden auskosten.«

Sie schwieg eine Weile, bevor sie zögernd nickte. Ein leichtes Lächeln erhellte ihre Züge, obgleich ihm der Ausdruck ihrer Augen immer noch zu düster erschien. »Trotzdem schäme ich mich, weil ich eigensüchtig bin und mich selbst bedaure. Mich plagt die Eifersucht auf deine Braut, seit du die Nachricht von ihrer Ankunft erhalten hast. Kannst du dir vorstellen, dass ich die ganze Zeit über nichts Besseres zu tun hatte, als mich darum zu sorgen, ob ich dein Herz an sie verliere?« Ihre Mimik verzog sich zu einer bekümmert wirkenden Grimasse. »Sie wird dein Weib werden, deine Kinder gebären. Ich hasse allein die Vorstellung und meine Gedanken ihr gegenüber sind erfüllt von einem Groll, der mich ängstigt.«

Raoul entdeckte an ihr eine neue Form von Verbitterung. Alles Kindliche und Unschuldige wich aus ihrem Blick, als sie weitersprach. »Sie ist es, die deine Liebe bekommen sollte, nicht ich. Dennoch bin ich nicht selbstlos genug, um danach zu handeln.« Völlig unvermutet, zeichnete sich Entschlossenheit auf ihrem Gesicht ab. »Selbst wenn ich im ewigen Höllenfeuer ende, weil ich heute Nacht einer anderen den Mann streitig mache, werde ich trotz allem niemals bereuen, dir alles geschenkt zu haben, was ich an Wert besitze.«

Kaum verhallte das letzte Wort, verschloss er ihr die Lippen mit einem Kuss, der sämtliche Schranken einriss. Er wollte nicht länger reden, sich nicht sorgen, sondern einfach in ihr ertrinken. Es war ein Tanz, so zeitlos wie das Leben selbst.

»Bitte, mach meiner Angst ein Ende«, flehte sie unter seinen Lippen. »Lass mich alles vergessen und mach mich zur Frau!«

Heißkalte Schauer überliefen ihn am ganzen Körper. Ohne sich dessen vielleicht bewusst zu sein, übernahm sie die Initiative, verführte ihn, bis er nachgab und sich förmlich die Kleidung vom Leib riss. Ihre Handflächen strichen über seinen Rücken, als er sich zwischen ihre Beine schob. Er spürte jeden Zoll ihres Leibes, die weiche Haut ihrer Schenkel und die einladende Wärme dazwischen. Fast blind vor Lust, tastete er nach ihrem empfindsamsten Punkt, während sein Mund ihre Lippen nicht mehr loslassen wollte. Zu süß schmeckte sie, zu gierig war er nach der feuchten Hitze, die sich dahinter verbarg. In der Zwischenzeit umkoste er ihren Lustpunkt solange, bis sie die Hüften nach oben stieß. Schließlich ertastete er den verletzlichen Eingang ihres Geschlechts. Er konnte es kaum erwarten, diese enge Pforte zu durchbrechen und sich in das Innere ihres Leibes sinken zu lassen. Um es sich und vor allem ihr zu erleichtern, erregte er sie unablässig weiter, während er seine Härte an der Innenseite ihres Schenkels rieb. Raoul hatte das Gefühl ohnmächtig zu werden und biss die Zähne zusammen. Dennoch nahm er sich vor, ihr den höchsten Genuss zu verschaffen, bevor er in sie eindrang, denn danach würde sie wohl kaum Freude empfinden. Den Schmerz des ersten Mals konnte er nicht verhindern, egal wie viel Vorsicht er walten ließ. Er verstärkte seine Liebkosungen an ihrem Lustpunkt und schob einen Finger behutsam in ihre Enge. Raoul ließ sich Zeit, damit sie sich daran gewöhnte. Seine kreisenden Liebkosungen an ihrer Perle taten das Übrige, um sie zu erregen. Wellenartig hob und senkte sie ihren Unterleib und folgte in diesen Momenten einem untrüglich weiblichen Instinkt. Er passte sich ihrem Tempo an, stolz und ergriffen zugleich, weil sie sich ihm ohne Furcht hingab. Raoul pflanzte Küsse auf ihren Hals, die Schultern und die Brüste, mit den harten Spitzen. Gern hätte er sie noch länger beobachtet, doch ihr erlöster Aufschrei gab ihm die Erlaubnis, sich endlich mit ihr zu vereinen. Ihr ganzer Leib war entspannt von den Nachwehen ihres Höhepunktes und sein Eindringen würde nicht ganz so schmerzhaft für sie sein. Raoul positionierte sich vor ihrem Eingang und schob die Spitze hinein, ehe er innehielt, um sich zu sammeln. Hölle und Verdammnis, er fühlte bereits jetzt den eigenen Höhepunkt herannahen. Die bloße Vorstellung, wie sie sich wie eine liebkosende Faust um sein hartes Fleisch schmiegte, trieb seine Erregung an die Grenzen des Erträglichen. Der Herr möge ihm vergeben. Nie und nimmer würde er imstande sein, sich zurückzuhalten. Sie könnte sein Kind empfangen und diese Erkenntnis ließ ihn innerlich zu Eis erstarren. Er sah sie im Geiste vor sich, den Leib geschwollen mit der Frucht seiner Lenden. Ein Kind einer reinen Liebe und doch dazu verdammt, ein Dasein in Schimpf und Schande zu fristen. Und Fleur? Welches Schicksal würde sie erwarten, falls sie die Niederkunft überhaupt überlebte? Raoul erstarrte, seine Härte erschlaffte. Abrupt zog er sich zurück und rollte sich von ihrem viel zu verlockenden Leib. Verwirrt setzte sie sich auf, die Hände schützend über ihren nackten Brüsten.

»Raoul? Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein«, erwiderte er.

Sie blinzelte langsam, wirkte ehrlich verwirrt und er fürchtete sich, vor der sich abzeichnenden Enttäuschung auf ihrem Gesicht, sobald ihr klarwurde, dass er das selbstlose Geschenk ihrer Jungfräulichkeit nicht annehmen würde. Nicht heute, nicht morgen, niemals.

Um nicht doch in Versuchung zu geraten, setzte er sich mit dem Rücken zu ihr an den Bettrand. Er musste die Kontrolle über seine überreizten Sinne zurückbekommen. In diesem Augenblick war er noch zu aufgewühlt, sein Körper zu ausgezehrt vor Verlangen, um sich gefahrenlos ihrer Nacktheit zu stellen.

Gleich darauf schmiegte sie sich an seinen nackten Rücken. Er fühlte ihre Brüste, die Wärme ihres Leibes.

Herr, gib mir die Kraft, ihr zu widerstehen.

»Raoul, was ist denn?«

»Ich kann das nicht tun«, erklärte er schließlich. »Es ist einfach zu gefährlich.«

»Ich verstehe nicht.« Die Enttäuschung über seinen unerwarteten Rückzug schwang in jeder Silbe mit.

»Du könntest empfangen«, teilte er ihr brüsk mit und erhob sich. Ihre Unterlippe zitterte verdächtig und er versuchte, seinen scharfen Tonfall auszugleichen. »Wir können nicht riskieren, dass du ein Kind bekommst. Was für ein Leben würde es haben?«

Raoul hoffte auf das Einsetzen ihres gesunden Menschenverstandes, nur war sie offensichtlich zu verletzt, um so weit zu denken.

»Wie schön, dass du noch in der Lage bist, dir um solche Dinge Gedanken zu machen.«

Sie erhob nicht die Stimme, sprach leise und doch hatte jedes Wort die Wirkung eines Peitschenhiebs.

»Weißt du, was ich glaube?«, fuhr sie fort. »Ich denke, du willst mich nicht wirklich und dafür ist dir jede Ausrede recht. Warum sollte ein Mann deines Standes, Rücksicht auf jemanden wie mich nehmen? Die hohen Herren schwängern ihre Buhlen am laufenden Band.«

Raoul packte die Wut über ihre Uneinsichtigkeit. Er stürmte auf sie zu und griff nach ihren Schultern, um sie zu schütteln.

---ENDE DER LESEPROBE---