fliehende ansicht - Wulf Kirsten - E-Book

fliehende ansicht E-Book

Kirsten Wulf

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Beschreibung

Wulf Kirsten ist einer der sprachmächtigsten Dichter unserer Zeit. Beinahe verlorene Worte, in seinem Werk haben sie ihren Platz. Sinnlichkeit und Klarheit, in seinen Gedichten finden sie ihren Ausdruck. Leise und doch so unmittelbar und unausweichlich entfalten sich Landschaftsszenen, Kindheitserinnerungen und Dichterporträts. Kirsten erweist sich in jedem Text als aufmerksamer Beobachter, eloquenter Formulierer und kluger Analyst. Seine Betrachtungen sind politisch, literarisch und historisch verortet, seine Worte von feinem Witz getragen.

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Seitenzahl: 39

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Wulf Kirsten

fliehende ansicht

Gedichte

 

 

Impressum

 

 

 

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

 

Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

Coverabbildung: plain picture/alt6

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-10-401988-8

 

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fliehende ansicht

kahl die baumzeile, die im fluß

sich spiegelt flächig-filigran,

häuser an den waldhang gewürfelt,

festgezurrt in sich verkrallt

abbild des dorfes, die kalkwände

schroff und leuchtend weiß,

fallend wie steigend, hart

an der kante herrisch-beherrschend

thront einsam ein haus, Schultze-

Naumburg läßt grüßen jedweden fahrgast,

der nichtsahnend vorübergewinkt wird,

neben der Saale her über die brücken

gerasselt, daß es scheppert und klirrt,

breitwanniger stauraum belassen

für überfließendes flußwasser landein,

verstrauchte wiesen, erdfarbne streifen

eingezogen, eingezwängt gärten,

umzäunung zerbrochen, an Bad Kösen

vorbeigedonnert, wo Friedrich Nietzsche

ein bier trank oder war es eins über

den durst? schandbar, nein, schändlicher

noch, wenn der portaner das glas

am henkel schon faßte und seinen inhalt

austrank zu allem übel, welch ein genuß,

den staub in der kehle schluckweis

zu löschen, o tempora, o mores,

jeder bahnhof, der vorbeifliegt, ist

längst abgeschrieben, triste

angelegenheiten langhin verzettelt,

eine ruinöser als die andre,

scherbenhaufen hinterlassen, schutt

zur schau gestellt, trümmerbrocken

außer kraft und ohne sinngehalt,

noblesse oblige, zweckgebunden war einmal,

aber wohlbestellt im wintergrün

immer noch die felder, mistelbälle

schmarotzen im sperrigen geäst,

hie ein dornstrauch, da

ein dampfender misthaufen quer

in die landschaft gekippt, der

nichts beweisen will

als florierenden ackerbau

und was viehzucht hinterläßt,

globalité-égalité, nur die kirchen

tanzen noch aus der reihe

mit ihren altmodischen türmen,

ein jeder anders gereckt,

teils gezwirbelt, teils gezwiebelt,

als wollten sie die seligkeit preisen

hocherhobnen fingers nach eigner fasson.

dezembermorgen

schon wieder so ein sonntagmorgen,

dem letzten zum verwechseln ähnlich,

ausgebreitet bescheidene bildwelten,

die einer lustlos abgezogen haben muß,

weiß nicht wovon und wozu,

wahrheit in kisten verpackt,

die nun als leergut herumliegen

und sich stapelweise offenbaren,

jede hausecke zeigt scharfkantig,

wo ein rechter winkel haken schlägt,

beispiele für existentielle bewußtwerdung,

gäbe es nicht immerzu diese zweifel

am sinngehalt dieses trüben morgens,

die allmacht des marktes

weiß angeblich schon, wo das hinausführt,

erst recht, wohinaus sie selbst

noch gelangen will, dann doch lieber

einen eigenen weg nehmen in freier natur,

auch wenn er nirgendwo ankommt,

sieh, wie sie dir alle vorangehen:

eine mutter hält an jeder hand

eines ihrer schulpflichtigen kinder,

ein einsamer fußgänger rudert,

mit beiden armen schwimmt er kräftig voran,

weit ausschwenkendes gestikulieren

mit der luft, die ihn mühelos einholt,

während ein anderer den eisenzaun streift,

beide hände tief vergraben in den manteltaschen,

eine ganze kavalkade wintermäntel,

schwer abhangend, die straßenbesen ersetzen,

über den köpfen nachgeahmter stilwille,

der mit mir nichts zu tun haben will,

alle vorgärten tief in sich versunken,

und so viele leere kisten an diesem morgen,

der dem gefrierpunkt noch einmal knapp entkam.

nachruf

auf einen blick zu erfassen

abgeschriebenes verdinglichtes leben,

nun nur noch gerümpel,

das an hauswänden lehnt

und bürgersteige füllt

an diesem lichtüberfluteten morgen,

kisten und kästen, lampen und lumpen,

alteisen voller ausdrucksmuster,

zu neuen kunstwerken degradiert

abgewohntes mobiliar, ausrangiert

wie dieser ordinationsstuhl

aus der praxis von medizinalrat K.,

auf dem ich glücklicherweise

nie platz nehmen durfte,

um mir die hand aufschneiden

zu lassen, jählings gefällt der mann,

ein hüne, sportlich gestählt,

firm in so mancher olympischen disziplin,

inbegriff eiserner konstitution,

ein luftzug hat ihn unter die erde

geweht, auf dem entsorgten gestühl

singt eine amsel und schmettert

voller wohllaut ihren nachruf

in den taufrischen morgen.

außer gebrauch

häufig an dorfstraßen, strichweise,

an zäunen hochgeschoßne bestände

bis zu den lattenspitzen aufgereckt

und ausgestreckt, achtlos ausgewildert,

tee-anbau außer gebrauch gesetzt,

artenbereichernd heimische flora,

hohle vierkantstengel, langgestielt

bis sonstwohin, dornige zähne

am kelchrand, fünf an der zahl,

dreilappige unterlippe, ein lappen

helmförmig drübergestülpt,