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»Vielleicht geht es darum, sich auf den Weg zu machen.«
Die forsche Kapitänin Hanne, die Vollzeitmutter Katrin, Büroleiterin Astrid und die junge Jessie finden sich nach einem Unfall und einem verunglückten Rettungsversuch auf Hannes Flussfrachter wieder. Hanne will die drei ungebetenen Gäste am liebsten sofort loswerden, ihr Schiff ist ja kein Vergnügungsdampfer. Doch keine der drei will von Bord gehen. Stattdessen nötigen sie Hanne, sie mitzunehmen. Aber die Frauen sind zu unterschiedlich, als dass die zusammengewürfelte Reisegemeinschaft auf Anhieb funktionieren könnte. Und so müssen erst einige Missverständnisse aus dem Weg geräumt und Geheimnisse gelüftet werden, bis die vier erkennen können: Manchmal ist der Weg das Ziel.
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Seitenzahl: 463
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Vorspann
Erster Tag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Zweiter Tag
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Dritter Tag
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Vierter Tag
Kapitel 12
Kapitel 13
Fünfter Tag
Kapitel 14
Kapitel 15
Sechster Tag
Kapitel 16
Kapitel 17
Siebter Tag
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Achter Tag
Kapitel 21
Neunter Tag
Kapitel 22
Zehnter Tag
Kapitel 23
Danke
Über das Buch
Die forsche Kapitänin Hanne, die fünffache Mutter Katrin, Büroleiterin Astrid und die junge Jessie finden sich nach einem Unfall und einem verunglückten Rettungsversuch auf Hannes Flussfrachter wieder. Hanne will die drei ungebetenen Gäste am liebsten sofort loswerden, ihr Schiff ist ja kein Vergnügungsdampfer. Doch keine der drei will von Bord gehen. Stattdessen nötigen sie Hanne, sie mit nach Holland zu nehmen. Aber die Frauen sind zu unterschiedlich, als dass die zusammengewürfelte Reisegemeinschaft auf Anhieb funktionieren könnte. Und so müssen erst einige Missverständnisse aus dem Weg geräumt und Geheimnisse gelüftet werden, bis die vier erkennen können: Manchmal ist der Weg das Ziel.
Über die Autorin
Brigitte Pons lebt in Hessen, südlich von Frankfurt. Ihr Repertoire reicht von Unterhaltungsromanen über eine Regionalkrimireihe bis hin zu Barcelona–Krimis, die sie als Isabella Esteban erzählt, und Nostalgie–Krimis aus Italien unter dem Pseudonym Margherita Giovanni. Was ihre Geschichten und Identitäten genreübergreifend verbindet, ist der Wunsch gut zu unterhalten und die Suche nach dem Unerwarteten unter der Oberfläche.
Brigitte Pons
Flussgefährtinnen
Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com)
Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Textredaktion: Lina Robertz, Juist Covergestaltung: © SOYEAHDESIGN, Gabi Braun Covermotiv: © Einsteen / shutterstock.com; Mary Long / shutterstock.com; Art studio G / shutterstock.com E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7517-6140-6
Sie finden uns im Internet unter http://luebbe.de/ Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de/
Stetig, genau wie Wasser unbeirrbar und allmählich seinen Lauf gestaltet, Höhlen schafft, Geröll verschiebt und sanft nagend Ufer formt, so wirken Pflanzen an seiner Seite, strecken bedächtig Blatt um Blatt, graben ihre Wurzeln in die Tiefe, verbünden sich mit feinstem Pilzgespinst, tasten nach festem Halt in inniger Umarmung. Beständig in ihrer Bewegung. Langsam nur zum Schein für unser Auge; rasend schnell, gemessen an der Ewigkeit.
Wo sich Nagen und Wachsen begegnen, liegt an sandiger Abbruchkante hauchzart und verletzlich zwischen Sein und Gewesen das Leben. Dort sind wir. Ein aufglühender Funke im Fluss der Zeit.
Drei am Fluss
»Verpisst euch«, knurrte Jessie. Eine Wolke winziger Insekten tanzte über den hohen Gräsern am Wegrand. Irritierend in ihrer Stabilität, die sich nicht zu verändern schien, während die Einzelwesen in wildem Zickzack durcheinanderschwirrten, ohne vom Fleck zu kommen. Wieso mussten die blöden Viecher ausgerechnet in dem schmalen Durchschlupf zwischen den Hecken herumfliegen? Die Kontur der Wolke dehnte sich mal in die eine, mal in die andere Richtung, verlor dabei jedoch nie den Zusammenhalt, wie ein einziger Organismus. Selbst wenn man mit der Hand mitten hineinfuhr, stoben die Insekten zwar im Strudel beiseite, schlossen die entstandene Schneise aber so schnell und gründlich, als wäre nichts geschehen.
Jessie hielt den Atem an. Auf Mücken im Mund oder der Lunge verzichtete sie gern. Zur Sicherheit verengte sie die Augen zu Schlitzen, tauchte dann unter dem Schwarm ab und schlidderte die Böschung zum Fluss hinunter, die steiler war als erwartet.
»Shit!« Ihre Absätze rissen blühenden Klee und gelbe Butterblumen aus dem Boden, der Rucksack schleifte hinter ihr her. Ein paar Brennnesseln, Brombeerranken und scharfkantige Steinchen waren auch dabei, wie ihre Handflächen beim Versuch, den Hintern oben zu halten, schmerzhaft zu spüren bekamen.
»Ooooh neiiiin!« Sie biss die Zähne zusammen. Erst kurz vor der Uferkante fanden ihre Füße wieder Halt. Ihr Herz hämmerte. Einige Sekunden blieb sie sitzen, stieß halblaute Flüche aus, dann richtete sie sich auf und klopfte den Dreck von ihrer Hose. Vorsichtig schaute sie sich um. Hatte jemand ihren bescheuerten Abgang bemerkt? Wie blöd konnte man eigentlich sein? Ziemlich blöd, hätte Marlon ihr sofort bescheinigt, doppelt blöd! Was leider stimmte. Ja, sich blöd anstellen konnte sie hervorragend. Genau wie vorhin in der Bahn. Falscher Zug, falsches Ticket und keine Ausrede parat. Dreifach blöd war das gewesen. Um ein Haar auch noch teuer und mit Polizei. Wie ein Karnickel war sie über den Bahnsteig gehetzt, bis ihr förmlich die Lunge aus dem Hals hing. Und jetzt diese vollkommen sinnlose Rutschpartie, denn wenige Meter entfernt führten halb überwucherte Stufen zum Trampelpfad am Wasser, auf dem sie gelandet war.
Jessie murmelte weitere Verwünschungen. Mal wieder typisch. Nicht nur, dass die Treppe ihr den Sturz erspart hätte: Am oberen Ende saß eine Frau, die jetzt von ihrem Smartphone hoch und zu ihr herunter starrte. Unten ragte in Verlängerung der Treppe ein Steg in den Fluss, von dem eine zweite Frau ins Gelände glotzte. Dabei hatte Jessie sich eingebildet, am Ufer allein zu sein. Wegen der Hecke und der Verbotsschilder neben dem Türchen, an dem sie nahe der Brücke vorbeigekommen war. Knapp vorbei ist auch daneben. Schnell wandte sie sich ab. Bloß kein Blickkontakt mit irgendwem.
Der Fluss vor ihr war genauso grau wie ihre Gedanken heute. War sie darum hergekommen? Oder weil es ihre Bestimmung war, sich im Dornengestrüpp eine Blutvergiftung einzufangen? Oder wartete vielleicht ein Traumtyp darauf, sie vorher zu retten? Sie prustete. Das klang doch gleich viel besser. Ein Hoch auf die Bahn und ihre kopflose Flucht vor dem Kontrolleur! Schließlich hatte sie nie nach Stuttgart gewollt und hätte diese einmalige Chance andernfalls glatt verpasst. Wie gut, dass sie sich anschließend auch noch verlaufen hatte. Ironie off.
Grinsend dachte sie an die olle Krüger. Ihrer früheren Nachbarin zufolge gab es immer einen Grund. Immer und für alles. Was albern, aber irgendwie auch tröstlich war, und Jessie gab sich Mühe, daran zu glauben.
Sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, presste die Fäuste in die Taschen der zu großen Sweatjacke und bewegte sich vorsichtig bis fast an den Steg heran. Wohin sollte sie denn jetzt? Der Trampelpfad endete hier. Weiter ging es nur über den Steg. Das Ding war massiv, kein Holz, und führte am Ufer entlang. Auf beiden Seiten von Wasser umgeben, das darunter durchschwappte. Das kam gar nicht in Frage. Also umkehren? Oder die Treppe hoch? Stocksteif verharrte Jessie auf der Stelle. Sie suchte doch nur ein ruhiges Plätzchen zum Nachdenken. War das etwa zu viel verlangt? Den Ausspruch Karma is a bitch hätte sie sofort unterschrieben. Das Leben war eine Aneinanderreihung mehr oder weniger mieser Zufälle. Von wegen du hast dein Schicksal selbst in der Hand … Völlig egal, für welche Richtung sie sich entschied, am Ende war es bestimmt verkehrt. Denn sogar wenn Jessie gar nichts tat, reichte das regelmäßig, um an irgendetwas schuld zu sein.
Sie legte den Kopf in den Nacken, suchte ein Fetzchen Blau zwischen den Wolken, die sich in Zeitlupe über den Himmel bewegten, und ignorierte das Brennen ihrer Schürfwunden. Lächeln und schön positiv bleiben. Wenigstens ihr Rucksack war unversehrt geblieben.
*
Unschlüssig schwebten Katrins Finger über der Handy-Tastatur und dem angefangenen Text. Was hatte sie gerade schreiben wollen? Das Geräusch reißender Blätter und brechender Zweige hatte sie abgelenkt, als jemand ungeschickt die Böschung hinuntergerutscht war. Der Kleidung nach ein Teenager. Die Stelle, an der er, ohne sein Hirn zu benutzen, einfach vom Weg abgebogen war, markierten jetzt zerfetztes Grün und zertretene Blütenköpfe. Was für ein Trampel! Und all das wahrscheinlich nur, um ungesehen in die Büsche zu pinkeln. Keine Achtung vor dem Leben.
Ihre Hand zitterte. Unschärfe legte sich über ihre Augen, und sie blinzelte hastig. Wie albern sie sich aufführte, wegen dieses bisschen Grünzeugs. Dabei war ihr vorher nicht einmal aufgefallen, dass in dem wilden Gestrüpp auch Blumen sprossen. Und eigentlich neigte sie nicht zu vorschnellen Urteilen. Was wusste sie schon, was andere bewegte? Wer wusste das überhaupt, besonders wenn es um Teenager ging? Die lebten in einer eigenen, ganz anderen Welt, zu der es für Erwachsene keinen Zutritt gab. Eine schreckliche Phase. Und wenn man mittendrin steckte, irgendwie trotzdem eine der besten. Erwachsenwerden als Verheißung und eine Ewigkeit entfernt. Erste Liebe, Musik, Rebellion. Es war gar nicht so lange her, dass sie das selbst durchlebt hatte. Oder doch?
Katrin lächelte betreten. Doch, es war lange her und sie – Ü40 –, aus der Sicht jedes Teenagers definitiv auf der anderen Seite der Ewigkeit angekommen. Damals hatte sie geglaubt, Erwachsensein bedeutete, den Durchblick zu haben. Eine glatte Fehleinschätzung, über die sie heute nur lachen konnte. Gerade heute, obwohl ihr eigentlich wirklich nicht zum Lachen war. Von außen betrachtet wurden viel zu leicht falsche Schlüsse gezogen. Allein wenn sie sich vorstellte, wie merkwürdig sie vorhin auf der Spielplatzbank am Kletternetz gewirkt haben musste. Oder jetzt, zusammengefaltet auf einer Stufe, neben dem zur Seite geschobenen rot-weißen Absperrelement, das mit kreativen Flüchen und Schmierereien verziert war.
Der Mensch am Ufer rappelte sich auf. Blass und oval das Gesicht, dunkel der Rest, und ein Störfaktor, den Katrin wahrnahm, ohne ihn spontan benennen zu können. Es ging sie weder etwas an, noch interessierte es sie. Trotzdem schaute sie weiter hin, folgte dem Blick des Trampeltiers zu dem langgestreckten Schiffsanleger, auf dem seit geraumer Zeit eine Frau stand. Still wie ein Reiher, der auf Beute lauerte, und ebenso gut getarnt. Fast wirkte sie eins mit der Umgebung. Die Kleider farblos Ton in Ton bis zu den Schuhen, die sie jetzt auszog.
Die Luft war zwar warm, doch um ein Sonnenbad nehmen zu wollen, musste man schon sehr optimistisch sein.
Katrin wandte sich ihrem Handy zu. Ein Tropfen wölbte sich über dem Wort wieder. Weider las sie stattdessen. Unwirklich groß, wie unter einer Lupe – gefangen und falsch – sprangen das E und I sie an. Der hartnäckige Kloß in ihrem Hals löste sich in einem kurzen, krächzenden Lachen. Ach du dickes Ei. Mit dem Handballen wischte sie die törichten Tränen weg. Heulen war keine Option. Sie legte die Fingerkuppe auf Entfernen und löschte einen Buchstaben nach dem anderen, bis von ihrer Nachricht nichts mehr übrig war.
*
Vor einer guten Stunde hatte es noch geregnet; jetzt lag der abgenutzte Beton des Landungsstegs rau und trocken unter Astrids nackten Füßen. Sie wackelte mit den Zehen. Schon seltsam, wie schnell ein kurzer Schauer die Straßen leerfegte und wie lange es dauerte, bis die Leute anschließend wieder aus den Häusern kamen. Sonst war hier um diese Zeit am späten Vormittag viel mehr los. Der Radweg oberhalb war viel befahren, der Spielplatz und das Beachvolleyballfeld am Neckarknie beliebt, ganz zu schweigen vom Biergarten am Stadtstrand mit seinen stoffbespannten Holzliegestühlen. Bestimmt waren die ziemlich unbequem, dafür boten sie einen guten Ausblick aufs Wasser.
Astrid spähte zum anderen Ufer. Gleich hinter der Straße und den Bäumen erstreckte sich das weitläufige Gelände der Wilhelma. Jahrelang hatte sie eine Dauerkarte besessen, jedes Tier, jeden Weg und jeden Unterstand gekannt – und war bei jedem Wetter hingegangen. Andere kauften sich einen Hund zum regelmäßigen Gassigehen, sie bevorzugte Elefanten, Löwen und Erdmännchen. Da die nun einmal nicht ins Einfamilienhaus passten, musste sie zum Zoo spazieren, und die Tiere durften bleiben, wo sie waren. Ein platter Scherz, der sich trotzdem zu einer Art Familientradition entwickelt und als Running Gag jeden Besuch begleitet hatte. Vielleicht sollte sie ihre regelmäßigen Wilhelma-Ausflüge wieder aufnehmen.
Astrid faltete ihre Strickjacke zusammen und legte sie mit der Handtasche auf den Schuhen ab. Dann schob sie die Zehen etwas weiter vor, krümmte sie über die Kante. Dort, wo der Fluss gelegentlich bis hinauf schwappte, wuchs eine dünne dunkelgrüne Schicht Moos. Oder waren es Flechten? Sie seufzte. Ihr Vater hätte sofort eine Antwort gewusst und im Gegensatz zu ihrem Ex-Mann dabei nicht den Erklärbär heraushängen lassen. Sie seufzte wieder und schaute links den auf Stützen ins Wasser gebauten Anlegesteg entlang. Parallel zum Ufer reichte er fast bis zur Brücke vor der Schleuse. Betreten verboten. Natürlich.
Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, während die Erinnerungen über sie hinwegrollten. Warm wie der Beton, der die Temperatur trotz des Regens gespeichert hatte, als ob auch er sich erinnerte. An Liebesgeflüster und ungestüme Küsse, heiße Sommernächte mit Grillenzirpen, Sonnencreme und zärtliche Hände auf ihrer Haut. Und jetzt brach sogar wieder die Sonne durch und heizte ordentlich ein, dabei war es erst Mitte April. Astrid blinzelte ins Licht, hörte Wasser an den Pfeiler klatschen. Gemächlich glitt ein Frachter unter der Brücke hindurch.
Wie schön und leicht doch alles war, wenn man den Ballast der schlechten Tage ignorierte. Ihn auszog wie tonnenschwere Schuhe aus Blei. Es war doch überhaupt viel klüger, nur das Schöne zu bewahren! Momente wie diesen, der perfekt für einen Sonnengruß gewesen wäre. Zu schade, dass es für Yoga auf dem Steg an Platz mangelte – und sie die komplizierte Abfolge an Bewegungen nicht beherrschte.
Astrid breitete beschwingt die Arme aus. Ein sanfter Wind wehte sie an, als wolle er sie tragen, in die Luft heben, wie einen Vogel. Ja, natürlich! Vögel saßen gern in Bäumen, und diese Yoga-Übung war viel einfacher. Sie atmete tief in den Bauch, winkelte das linke Bein an, stütze die Ferse seitlich an ihr Knie und versuchte sie noch etwas höher zu schieben. Sei ein Baum. Sei ein Vogel. Loslassen. Fliegen. Frei sein. Endlich frei.
*
Ein sattes Klatschen, dann Stille. Jessies Kopf schnellte hoch, Katrin sprang auf. Die eine oben an der Treppe, die andere unten. Ihre Blicke trafen sich nun doch, huschten auseinander, begegneten sich wieder. Der Steg war leer. Und zwar auf voller Länge.
»Wo ist denn der Reiher? Ich meine, die … die Frau, die dort stand?«, stammelte Katrin und hob leicht die Stimme. »Hast du sie gesehen?«
Keine Antwort, nur ein Schulterzucken.
»Und das Geräusch? Was war das?«
Beim nächsten stummen Achselzucken ließ Katrin alles fallen und rannte im Stakkato die zu kurzen, unebenen Stufen hinunter. Für eine irrwitzige Sekunde dachte sie dabei ans Zirkeltraining in der Schule, wenn sie über die Sporthallentreppe zwischen den Tribünen gesprintet war. Schnell und leichtfüßig. Sie hatte es geliebt. Heute schlug ihr jeder Schritt hart in den Magen.
»Na los, komm schon!«, herrschte sie den Teenager an, der mit offenem Mund herumstand und gar keiner war, wie sie am Rand registrierte. Weder ein Er noch ein Teen. Doch für Überraschung war gerade kein Platz. Der Trampel, weiblich, geschätzt Mitte zwanzig, setzte sich endlich ebenfalls in Bewegung. Die Kapuze verrutschte, und ein Schwall langer, blonder Haare quoll hervor.
»Ihre Sachen sind noch da«, rief Jessie und ging der Fremden nach. Zum Glück war der Steg wirklich stabil und hatte auf einer Seite ein Geländer. Dennoch war er ihr zu schmal, machte den Hals eng und ihre Schritte unsicher. »Sie wird schon irgendwo sein. Ich meine, hier ist doch nichts, wo soll sie denn hin?«
Katrin tippte sich an die Stirn. Die clevere Frage hätte von ihrem Sohn Lasse stammen können. Aber dessen dreizehnjähriges Hirn startete ja auch gerade in die hormonbedingte Umbauphase, was vieles entschuldigte. Ihr Gegenüber sollte mit der Pubertät durch sein. In ’nem Ufo mit Außerirdischen zum Mars. Einen Coffee-to-go holen. Sie verbiss sich die sarkastischen Bemerkungen. Ihre Nasenspitze zuckte, die Hände suchten in den Hosentaschen nach dem Smartphone, das oben an der Treppe lag. Nicht die Nerven verlieren. Logisch denken, rief sie sich zur Ordnung und drehte sich einmal im Kreis. »An jedem Anleger muss ein Rettungsring oder eine Stange hängen.«
»Da!« Aufgeregt deutete Jessie ins Wasser. »Da ist sie!«
Ein gutes Stück vom Ufer entfernt, aber nur wenige Meter stromabwärts tauchte ein Arm auf, gefolgt von einem nassen Schopf.
»Puh, zum Glück!« Katrin schnaufte erleichtert. »Hey!«, rief sie dann lauter und winkte wild. »Hey, hallo! Hierher. Sie müssen hierher schwimmen!«
»Die hört nichts. Wegen dem Kahn, der da … Nee, was macht die denn jetzt?« Jessie hüpfte auf und ab, vergaß dabei sogar kurz, sich festzuhalten. »Ist die irre? Das ist die falsche Richtung. Hallo? Hallo!«
Die Schwimmerin paddelte wie ein Hündchen, drehte sich nach links, nach rechts, weg vom Ufer – und ging unter.
»Wir müssen sie da rausholen!« Jessie schrie wie am Spieß, und Katrin wurde schlagartig ruhig.
»Natürlich«, sagte sie gefasst und streifte die Schuhe ab. »Ich mach das. Du suchst was zum Rausziehen.«
*
Erschrocken hielt Astrid den Atem an. Um sie herum perlten Bläschen, Schwebstoffe verwirbelten im aufgewühlten Wasser. Hier war kein guter Ort zum Schwimmen, das wusste sie genau. Schon allein wegen der Uferbefestigung, die es schwer machte, wieder herauszukommen. Aber sie hatte ja auch gar nicht schwimmen wollen, sondern fliegen. Sie rotierte um die eigene Achse, spürte etwas Glibberiges an ihrer Hand. Pflanze? Fisch? Eben noch war es warm und sonnig gewesen, jetzt benebelte frühlingskaltes Nass ihre Sinne. Wo um Himmels willen war oben?
Astrid kämpfte die Panik nieder, hielt still so gut es ging und ließ gezielt ein klein wenig Luft zwischen ihren Lippen entweichen. Kullernd bahnte sich ihr Atem den Weg hinauf, dorthin wo ihr Verstand jetzt deutlich mehr Helligkeit wahrnahm. Sie folgte der wabernden Blase mit energischen Armbewegungen, bis sie die Grenze zwischen den Elementen durchbrach. Sonne, Wärme, Wind. Endlich! Keuchend schnappte sie nach Sauerstoff und lachte vor Erleichterung. Sie schluckte Wasser, hustete. Ihr Blick glitt unstet über die glitzernden Wellen, fand keinen Halt im Grün, Braun und Blau und dem schaukelnden Auf und Ab. Ihr Instinkt bewegte Arme und Beine, während Gleichgewicht und Orientierung durcheinandergerieten. Unvermittelt klatschte ihr eine Welle ins Gesicht, eine zweite und dritte, dann ging es zurück in die Tiefe. Runter, rauf, runter. Astrid schnaubte, prustete, schlug um sich. Nein. Das hatte sie nicht gewollt! Ganz und gar nicht.
*
»Chef! Chef? Chef!« An Bord der Jowige gab Dušan aufgeregte Zeichen hinauf zum Steuerhaus.
Die Tür stand offen, und von draußen roch es nach vergangenem Regen. Ein Geruch, der sich weder mit etwas anderem vergleichen noch beschreiben ließ. Auch der Moment unmittelbar vor einem Guss war reizvoll, kam aber an das Nachspiel nicht heran. In dieser Stimmung, wenn alles nass glänzte, wie lackiert – frisch, sauber und verheißungsvoll –, lag ein magischer Funke. Sonne, Wolken und – Hanne schüttelte sich. Das fehlte noch, dass sie anfing mit offenen Augen von Regenbögen zu träumen. Rasch beendete sie den Vermerk im Logbuch. Schleuse Bad Cannstatt passiert.
»Chef!«
»Ich bin nicht taub, Dušan«, grummelte sie und signalisierte mit erhobener Hand, dass sie ihn gehört hatte. Wieso zum Teufel hüpfte ihr Matrose Arme rudernd an der Reling herum? Hanne reckte den Hals. In der Flussbiegung rannten zwei Leute über den Bootsanleger am Seilerwasen. Nichts Neues. Trotz der Überwachungskameras wurde der Steg gern als Chill-Out-Area genutzt. Vorzugsweise abends und an Wochenenden. Ihr war es egal. Solange ihr niemand in die Quere kam, wenn sie einen Liegeplatz für die Jowige brauchte, gönnte sie jedem das Vergnügen. Nur jetzt gerade war offenbar etwas faul. Dušan hörte nicht auf zu gestikulieren und sonderte auf einen Schlag so viele Wörter ab, wie sonst an einem ganzen Tag. Oder auch an zweien.
Alarmiert stand Hanne auf. In der Tat wirkte das Spektakel auf dem Steg bei genauerer Betrachtung eher unentspannt als chillig – die zwei Gestalten flatterten umher wie aufgescheuchte Hühner, die um ihr Gelege fürchteten, über dem ein Raubvogel kreiste. Sie angelte blind nach dem Funkgerät, griff abgelenkt daneben, weil Dušan sich gerade am Rettungsring zu schaffen machte und sie endlich verstand, dass sie seiner Meinung nach nicht weiter beschleunigen, sondern Geschwindigkeit rausnehmen sollte, weil kurz vor ihnen etwas im Wasser trieb.
»Och, nö«, stöhnte sie. Wohl wissend, dass sie unmöglich rechtzeitig zum Halt kommen konnten, drosselte sie den Motor. Bestimmt war wieder irgendein Schoßhund beim Stöckchenwerfen abgetrieben und zu blöd an Land zu schwimmen. Schuldbewusst guckte sie zu Mascha, die mit aufgerichteten Ohren auf der Schwelle ausharrte. Ihr kurzer Schwanz wackelte aufgeregt. Und dann sah Hanne gerade noch aus dem Augenwinkel, wie erst das eine und gleich darauf das andere Huhn in den Fluss sprang.
»Ach du heilige Scheiße!«
(Not) welcome on board
Mit schnellen Schwimmzügen pflügte Katrin flussabwärts durchs Wasser; die leichte Strömung half ihr dabei. Weit weniger hilfreich war es, dass dieses Möchtegern-Teenager-Trampeltier ihr folgte, statt auf dem Steg nach einer Hakenstange zu suchen oder wenigsten einen stabilen Ast zu beschaffen. Doch für Ärger blieb ihr so wenig Muße wie zum längeren Nachdenken.
Dort, wo sie die Reiherfrau zuletzt gesehen hatte, tauchte Katrin ab. Rauschen füllte ihren Kopf, unwirklich laut und fremd, und rührte doch vor allem von ihrem eigenen Blut her, verstärkt durch den Wasserdruck auf den Ohren und die veränderte Schallübertragung. Es beruhigte sie, eine simple Erklärung zu kennen. Ob sie stimmte, spielte eine untergeordnete Rolle. Die Ruhe schärfte ihre Sinne, steigerte trotz schlechter Sicht die Wahrnehmung ihrer Umgebung. Kaum mehr als einen Meter entfernt schwebte die Gesuchte unter ihr, das Gesicht von seltsam schwerelosen Haaren umflossen.
Katrin streckte den Arm aus und bekam ein Handgelenk zu fassen, als ihr von oben ein Stiefel in die Rippen trat. Ihr Aufschrei blubberte stumm ins Leere, und sie packte fester zu. Statt mitzuhelfen, schien die andere sich zu wehren.
Einen kleinen Ringkampf später tauchten sie auf.
»Geschafft!« Katrin hielt die zappelnde Reiherfrau im Rettungsgriff, den sie vor gefühlt hundert Jahren bei der DLRG gelernt hatte, und japste nach Luft.
»Loslassen! Sofort loslassen!«
»Schschsch. Still! Ganz still. Du wärst fast. Ertrunken.« Katrin rang nach Atem. »Ich bring dich. Ans Ufer.« Auch sie wollte möglichst schnell aus dem Wasser. Unter ihren Füßen spürte sie tiefere, kältere Schichten.
»Ich bin in Ordnung. Alles in Ordnung! Sie können wirklich loslassen. Ich schaff das allein.«
»Nein.« Katrin ruderte angestrengt mit dem freien Arm, strampelte mit den Beinen und kassierte von der Seite den nächsten Tritt.
»Pass doch auf!«, fauchte sie und drehte den Kopf. Haare klebten ihr im Gesicht, eigene und unappetitlicherweise auch fremde. »Was tust du hier? Du solltest uns vom Steg aus raushelfen. Hast du wenigstens –« Unfreiwillig schluckte sie einen Mund voll Flusswasser. Himmel, diese Rettungsaktion war alles andere als ein Kinderspiel! Zwar hielt die Reiherfrau endlich still, lag ihr jetzt aber wie ein Sack Kartoffeln vor der Brust, und die vollgesogenen Kleider erschwerten ihr Vorankommen. Irritiert guckte Katrin das Trampeltier an, das mit weit aufgerissenen Augen im Wasser hing wie eine Bleiente und ganz sicher keine Hilfe war. Die konnte ja kaum das eigene Kinn oben halten. »Hast du wenigsten einen Notruf –«
»Da kommt ein Frachter«, fiel ihr die Gerettete ins Wort. »Wenn Sie aufhören, mich zu würgen, würde ich dem gern ausweichen.«
»Nein«, blubberte die andere. »Aber. Ich … nein, weil –«
»Hört mir jemand zu? Frachter von links!« Astrid schaffte es, einen Arm zu lösen, winkte und schrie aus Leibeskräften. »Halloho! Huhu! Hoffentlich sieht der uns.«
Erschrocken versuchte Jessie, es ihr nachzutun, was jedoch gründlich misslang. Sie winkte, hyperventilierte, blubberte ein weiteres »Aber« und versank.
Der Bug des Frachters schickte eine ordentliche Welle voraus und einen Warnton, der Katrin in den Magen fuhr. Ihr Griff lockerte sich – und gleich darauf war auch die Reiherfrau wieder weg.
Katrin begann zu zittern. Der ganze Tag war ein Albtraum. Ob wohl gleich ihr Wecker klingelte, und Markus mit einem Kaffee an ihrem Bett auftauchte? Und dann wäre nichts, aber auch gar nichts von all dem wahr, was sie in den vergangenen Stunden erlebt hatte. Sie blinzelte energisch, doch es blieb alles wie zuvor. Um sie herum war Wasser, vor ihr stiegen Luftbläschen auf, und von der Flussmitte aus trötete das herannahende Schiff, in dessen Fahrrinne sie besser nicht geraten sollten. Katrin schätzte die Entfernung zum Ufer, fühlte wachsende Panik und den Zwang zu lachen, weil es eben doch ein fieser Traum sein musste. Einer von denen, die einem noch lange nachhingen, wenn man die Angst zuließ. Aber wenn sie sich ganz fest darauf konzentrierte, konnte sie solche bewussten Träume steuern. Dann würde sie das Trampeltier und die Reiherfrau retten und an Land bringen. Pfeilschnell und wendig wie ein Delfin, nein, wie Arielle, die Meerjungfrau. Durch ihr Unterbewusstsein dudelte die Erkennungsmelodie eines Hörspiels. Sie holte erneut tief Luft, verdrängte den Gedanken an das, was sie unter Wasser erwarten mochte, und tauchte. Ein kurzes Déjà-vu streifte vorbei, während sie sich im Trüben orientierte. Überraschend kontrolliert paddelnder Reiher links, hilfloser Trampel unten. Dann fuhren Arme, Beine, Hände durcheinander, zupften, zerrten und klammerten.
Astrid bekam die Kapuze zu fassen, Katrin erwischte einen Rucksackträger, und mit vereinter Kraft kämpften sie sich zurück zur Oberfläche. Ploppten heraus, schaukelnd wie Korken, die nun statt der schwachen Neckarströmung den Einfluss des Schiffes zu spüren bekamen. Wellen schwappten ihnen entgegen.
Längsseits ragte der Frachter auf, ein Koloss aus Stahl, der den Himmel verdunkelte.
Katrin entfernte eine Strähne aus ihren Augen und korrigierte sich. Ganz so riesig, wie sie gedacht hatte, war die Wand vor ihr nicht, dafür deutlich näher, was sie nicht weniger bedrohlich fand. Im Gegenlicht zeichnete sich der Umriss eines Mannes ab, der von vorn nach hinten lief und wilde Handzeichen gab.
»Was sagt er? Verschwindet?« Sie lachte leicht hysterisch. »Wie stellt der sich das vor?«
Dann holte der Mann mit den Armen Schwung. »Vorsicht!«
Leuchtend orange und weiß eierte der Rettungsring durch die Luft und schlug haarscharf neben ihnen ein.
Und mit einem Mal ging alles ganz schnell, obwohl es den dreien wie eine Ewigkeit vorkam, bis der Ring mit ihnen daran die Bordwand erreichte. Eine kräftige Hand streckte sich ihnen entgegen und half einer nach der anderen, sich die kurze, wacklige Strickleiter hinaufzuhangeln.
*
An Deck wehte ein frischer Wind, der noch die letzten Spuren des vorbeigezogenen Regenbandes in sich trug. Dabei war es ein warmer Tag, sobald die Sonne freie Bahn bekam.
Dušan drehte sich um und hob den Daumen.
Hanne nickte kaum merklich. Von oben betrachtete sie den durchweichten Haufen, der sich so mühsam an Bord gehievt hatte, als hätten sie den Mount Everest bestiegen und nicht einen tiefliegenden Kahn. Drei Frauen, kein Hund.
Ihre flache Hand spannte sich mittig über dem Schlüsselbein, die andere grub sich in Maschas Nackenfell. Die drei brauchten eine verdammt gute Erklärung, weshalb sie ihr in die Quere gekommen waren. Sie rollte die Zunge und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Es verschaffte ihr eine klitzekleine Genugtuung, dass alle vier zusammenzuckten. Auch Dušan, der die Frauen wie ein Hütehund umkreiste und sich dabei den zerzausten Hinterkopf rieb.
Hanne warf einen Kontrollblick auf die Instrumente, während ihr Matrose über die scheppernde Treppe zu ihr hinaufeilte.
»Schmeiß sie wieder ins Wasser«, raunzte sie ihn an und drückte die leere Kaffeetasse gegen den roten Fleck, den ihr Handballen über dem Rand ihres Tanktops hinterlassen hatte.
»Du bist keine nette Person, Chef.« Dušan verschränkte die Arme über dem Bauch. »Die sind fast ersoffen.«
»Fast.« Ungerührt deutete sie zum Funkgerät. »Brauchen wir die Rettungsleitstelle oder hast du alle rausgefischt? Ist noch jemand im Wasser?«
»Nein. Alle komplett.« Klatschend strich er die Handflächen gegeneinander. »Keine halben Sachen, Chef. Sagst du doch immer.«
»Jaja. Verzieh dich, Dušan. Ich wette, die hätten es auch ohne dich an Land geschafft. Sag ihnen, nächster Halt ist an der Schleuse Hofen, da gehen sie runter.«
»Aber –«
»Nein.« Sie wusste genau, was er sagen wollte. Die Schleuse lag eine knappe Stunde Fahrt entfernt. »Wir machen keinen Zwischenstopp. Und Dušan: Behalte sie bis dahin gut im Auge. Wenn eine von denen kotzt, ist das dein Problem.«
Sie grinste, sobald er ihr den Rücken kehrte, und stellte die leere Tasse weg. Der ruppige Ton musste sein. Natürlich hatte Dušan alles richtig gemacht, das stand außer Frage. Sie schätzte sich glücklich, mit ihm zu arbeiten. Er war nicht nur in puncto Rettungsring reaktionsschnell, er erfasste immer, wann es darauf ankam. Und er wusste, dass sie niemals jemanden in Not im Stich gelassen hätte, egal wie sehr sie unter Zeitdruck stand. Das alles änderte nichts daran, dass sie die unerwünschte Fracht dort draußen nur zu gern zu seiner Angelegenheit erklärte. Mit der sie so wenig wie möglich zu tun haben wollte.
Hanne setzte sich, streifte die Flipflops ab, schlug ein Bein unter und nahm wieder Fahrt auf. Am Steuer konnte sie es sich bequem machen. Mascha rollte sich auf ihrem Fuß am Boden zusammen. Für ein bisschen Körperkontakt war es der Hündin nie zu warm.
Höchste Zeit für einen Funkspruch. Hanne überlegte kurz, wählte dann einen freien Kanal für Privates statt den offiziellen und drückte die Sprechtaste.
»Obertürkheim Zentrale, hier ist Motorgüterschiff Jowige. Melde Vorfall hinter Schleuse Bad Cannstatt«, sagte sie. Bei der Vorstellung, was alles hätte passieren können, schnellte ihr Puls nachträglich in die Höhe. »Bitte kommen.«
»Motorgüterschiff Jowige, Motorgüterschiff Jowige, hier ist Obertürkheim Zentrale. Ein Notfall? Bitte bestätigen.«
»Hier ist Jowige. Negativ. Wiederhole: negativ. Mir sind hinter der Schleuse Bad Cannstatt steuerbord vom Seilerwasen drei schwimmuntaugliche Wasserratten – Nixen – ins Netz gegangen«, fügte sie betont flapsig hinzu. »Habt ihr das mitverfolgt? Kommen.«
»Obertürkheim Zentrale für Jowige. Nope. Äh, negativ. Hier ist Andrea. Hab mich schon gewundert. Für einen Notruf wäre das der falsche Kanal – und dann noch ohne Mayday und Schiffskennung. Zu viel Adrenalin für mein armes Herz. Klär mich auf, die Überwachungskamera am Steg ist seit Samstag defekt. Die Techniker basteln dran. Was ist passiert? Sollen wir dir jemand schicken? Gibt es Verletzte?«
»Noch nicht.« Hanne schnippte das Hula-Mädchen und den Wackeldackel an, die über das Steuerpult wachten. »Ohne Gewähr, dass es dabei bleibt. Ich gebe Bescheid, sollte es sich ändern. Eine Pizza könntest du mir aber schicken, schön scharf. Und wenn dir danach ist, bete für meinen unbelehrbaren Matrosen. Der muss dauernd irgendwas aus dem Wasser fischen, was mir dann an der Backe klebt.« Wieder entschuldigte sie sich stumm bei Mascha und auch bei Klärchen, die vermutlich im ersten Sonnenfleck nach dem Regen ihren Pelz wärmte. Diesen Fang hätte sie für nichts in der Welt wieder hergegeben. »Jetzt habe ich so ’ne Weiberbagage an Bord hocken. Irgendwann kriegt er das zurück.«
Das Funkgerät krächzte und schepperte. Lautes Gelächter brachte es an seine Grenzen. Mit Andrea war es schwer, Funkdisziplin zu wahren. Darum der private Kanal.
»Sei nett zu ihm, Dušan ist ein Goldstück.«
»Jaja.« Hanne rollte mit den Augen, während das Goldstück draußen Handtücher verteilte. »Sein Pech. Denn ich bin keine nette Person. Hat er mir gerade wieder bestätigt. Das ist auch verdammt gut so, denn den Netten tanzen alle gern auf der Nase herum. Kann mir Schöneres vorstellen. Ich muss mal Schluss machen, Andrea, und checken, was der Bursche jetzt schon wieder treibt.« Sie drückte sich im Sitz hoch. Waren das etwa ihre Handtücher?
»Okay. Halt mich auf dem Laufenden. Mir fehlt immer noch eine Lieferdrohne für eilige Schiffsführer-Sonderwünsche. Also vertagen wir die Pizza auf deine Rückfahrt. Du musst nur mal wieder anlegen, statt immer an Stuttgart vorbeizuziehen. Meine Adresse hast du.«
»Bestätigt, Obertürkheim. Ich werde es einrichten. Jowige, Ende.« Wann genau hatte sie nicht gesagt. Sie hasste es, private Verpflichtungen einzugehen. Obwohl der entspannte Kontakt mit Andrea sogar einem gemeinsamen Weihnachtsmarktbesuch standgehalten hatte.
Hanne ließ den Knopf los und korrigierte den Kurs um eine Winzigkeit. Ja, das waren ihr Badetücher. Hundertprozentig.
»Na rate mal, mein lieber Dušan, wer demnächst meine Wäsche macht.«
Durch die Tür fegte eine weitere regenfrische Brise. Hanne biss die Zähne zusammen. Nein, sie würde niemandem anbieten sich in ihrer Wohnung aufzuwärmen. Halb ersoffen oder nicht. Was passiert war, hatte mit ihr nicht das Geringste zu tun.
*
Der Mann guckte weg, und die zwei älteren Frauen waren mit sich selbst beschäftigt. Jessie stand auf. Das Stück Deck, auf dem sie sich zusammendrängten, war klein und beengt, nur links und rechts hatten sie freie Sicht auf den Fluss. Ein unordentlicher Packen schwarze Abdeckfolie und Putzzeug lagen herum. Bevor sie sich genauer umsah, musste sie erst einmal aus den nassen Klamotten. Sie suchte einen sonnigen Platz für ihren triefnassen Rucksack, zog Sweatjacke, Schuhe und Hose aus – immer auf der Hut –, bis sie nur noch Unterwäsche trug. Eilig wickelte sie sich in das größte Badelaken, schlang ein zweites um ihren Kopf. Mit schnellen Bewegungen wrang sie ihre Kleider aus, scherte sich nicht darum, wohin es spritzte, und breitete die Sachen dann auf dem Deckel eines kniehohen, langgezogenen Kastens aus. Die Frau von der Ufertreppe tropfte mit glasigem Blick vor sich hin, ohne sich abzutrocknen. Jessie schnappte sich ein drittes Tuch vom Stapel, legte es sich um die Schultern und zog es bis an die Unterlippe. War nicht ihr Problem, wenn sonst keine noch einmal zugriff. Sie setzte sich neben den Rucksack.
»Na los, du da«, schnauzte Jessie schließlich und trat mit dem nackten Fuß in Richtung der anderen, die zuerst in den Fluss gefallen war und sich zum fünften Mal Gesicht und Arme abrieb. »Sag was!«
»Ich?«
»Na wer denn sonst?«
Erstaunt guckte Astrid von der unhöflichen jungen Frau zu dem Mann im Unterhemd. »Herzlichen Dank«, sagte sie zu ihm und lächelte. »Ich glaube, das sagte ich schon, direkt, als ich oben angekommen bin. Aber ich wiederhole es gern: Vielen Dank, dass Sie uns aus dem Fluss gezogen haben.« Dann wandte sie sich wieder um und zuckte mit den Schultern. »Zufrieden? Wobei eigentlich Sie sich bedanken müssten. Bei uns allen. Meiner Meinung nach.«
»Echt jetzt? Du tickst ja nicht ganz sauber!« Jessie klappte die Kinnlade herunter. »Die da ist ins Wasser gefallen«, erklärte sie dem Mann, der regungslos zuhörte. »Und wir sind ihr hinterher, um sie zu retten. So war das nämlich.«
»Vollkommen unnötigerweise. Sonst hätte ich ja wohl um Hilfe gerufen.«
»Soll das ein Witz sein? Jeder Depp weiß doch, dass man nicht mehr schreien kann, wenn es wirklich ernst wird!«
»Ich bin kein Depp und außerdem eine gute Schwimmerin.«
»Ja, gute Schwimmerin, genau so hat es ausgesehen.« Jessie prustete verächtlich. »Du wärst niemals allein rausgekommen. Hat sie auch gesagt.« Ihr Zeigefinger bohrte sich durch eine Lücke zwischen den Handtüchern, aber die Frau von der Treppe reagierte nicht.
»Glauben Sie doch, was Sie wollen. Das ist heutzutage ja üblich. Auch wenn nichts davon stimmt.« Der spöttische Ton misslang, und ein kleines Zucken kräuselte Astrids Lippen, erfasste ihre Mundwinkel, die nicht gehorchten und verräterisch nach unten strebten. Sie strich am Kniff der Bügelfaltenhose entlang. Sogar nass saß er einwandfrei.
»Na dann sag doch endlich, was stimmt!«
Ihr unfreundliches Gegenüber ließ nicht locker. »Oder warte, jetzt habe ich es! Es ist Absicht gewesen. Deshalb wolltest du keine Hilfe. Weil du geplant hattest unterzugehen! Oh Mann, ja, klar, so ergibt das viel mehr Sinn: Du bist ’ne Springerin!«
»Was?« Astrid hielt in der Bewegung inne. Vor ihrem inneren Auge schwebte glasklar das unausgesprochene Wort vorbei. So ungeheuerlich in seiner Härte, dass sie sich weigerte es auch nur zu denken. »Ich bin nicht gesprungen!«
»Nee, nee, nee. Das passt schon. Darum hast du dich so gewehrt, weil du vorhattest zu ertrinken! Sah ja fast so aus, als wolltest du die da auch mitrunterziehen.« Wieder deutete Jessie auf die Frau von der Ufertreppe. »Lieber eine mitnehmen, als den Plan aufgeben. Stimmt doch, was ich sage, oder?«
Das Badetuch roch frühlingsfrisch wie aus der Waschmittelwerbung. Katrin drückte die Nase hinein. Sie war nicht Arielle, weit entfernt von Heldenhaftigkeit, und das hier kein Traum. So oder so gab es nichts, was sie in irgendeiner Weise steuern konnte. Sie konnte ja nicht einmal aufhören zu zittern. Sogar wenn sie die zwei aus dem Fluss in Gedanken weiter als Reiherfrau und Trampeltier bezeichnete. Dabei klang das lustig, und es war ja auch alles gutgegangen und niemandem etwas Ernstes passiert. Ein Tritt hier, ein Schluck Wasser dort, das war doch nichts. Gar nichts. Sie schloss die Augen, was die Tränen erst recht zum Fließen brachte. Idiotische Tränen, wie die, die sie auf der Treppe am Ufer vergossen hatte. Die Reiherfrau wurde lauter, und Katrin hielt sich die Ohren zu.
»Woher wollen Sie wissen, was ich vorhatte? Hören Sie auf, solche Dinge zu behaupten! Ich bin doch keine, keine …«
»Springerin«, half das Trampeltier aus und keifte weiter: »Das ist pure Logik, und wenn du nicht gefallen bist, die einzige Möglichkeit. Oder bist du eine geheime Leiter runtergeklettert? Ach ja, und bestimmt wirst du mir gleich erzählen, dass du selbstverständlich immer komplett angezogen schwimmen gehst. Keine besonders gute Idee übrigens.«
»Stimmt«, flüsterte Katrin und schniefte in die Frühlingsfrische. »Es heißt doch: Selbstmörder ziehen die Schuhe aus. Genau wie du.«
Da war es, das Wort. Astrids Zähne klapperten. »Davon kann keine Rede sein. Das eine ist ein Gerücht und das andere eine böswillige Unterstellung. Mit mir ist absolut alles in Ordnung. Wer ist denn samt Rucksack ins Wasser gesprungen? War das etwa eine gute Idee?«
»Nasse Sachen ausziehen ist eine gute Idee«, sagte der Mann diplomatisch und klaubte die Klamotten von der Blechabdeckung auf. »Wäscheleine ist noch besser. Und heißer Tee.« Er rieb sich den Bauch und nickte gewichtig. Dann klemmte er das tropfende Bündel unter den Arm und trabte auf einem schmalen Umgang neben der Ladung davon. Direkt an der Kante, nur ein zwischen dünnen Metallstäben schaukelndes Drahtseil zwischen ihm und dem Abgrund. Auch ihren Sitzplatz trennte nicht viel mehr vom Wasser. Das Schaukeln machte Jessie nervös. Sie tastete nach den Rucksackträgern, ihre Finger umschlossen den losen Zipfel unter der Schnalle. Festes Kunststoffgewebe, in Querrillen geriffelt, an denen ihr Daumennagel entlangfuhr. Hin, her, hin. Es war so unfair! Sie hatte einer Wildfremden helfen wollen, damit die nicht ertrank. Daumennagel rauf, runter, rauf. Doch ganz offensichtlich war es wieder falsch gewesen. Besser wäre sie am Ufer geblieben, hätte sich einfach umdrehen und gehen sollen, statt auf die andere zu hören. Oder eben genauer hören und auf dem Steg bleiben, wegen dem Rettungsring. Wegen des Rettungsrings, korrigierte sie sich, wie Marlon es sonst machte. Aber bis zu dem Knick im Fluss hatte es keinen gegeben, soweit hatte sie ja gucken können, und was vielleicht dahinter lag, wäre viel zu weit gewesen, um es rechtzeitig zu holen. Jedenfalls zu weit für sie, die sie wegen der bescheuerten Höhenangst kaum einen Fuß vor den anderen hatte setzen können. Der Blick in die Tiefe, die nicht einmal besonders tief sein musste, setzte sie sofort außer Gefecht. Jessie atmete flach, konzentrierte sich auf die Wut in ihrem Bauch.
»Es war keine gute Idee«, presste sie heraus. »Gebe ich zu. Aber immerhin wollte ich dich retten. Und du? Mit Klamotten mitten im Fluss untergehen, ohne Not – hey, das musst du wirklich wollen und im Griff haben, wenn du es zum reinen Vergnügen machst.« Spott tropfte aus jedem ihrer Sätze, brennend wie Säure auf ihrer Zunge. »Aber dann musst du auch sicher sein, dass keine in der Nähe ist, die es für einen Notfall hält. Denn wenn derjenigen dann was passiert, bist du trotzdem schuld. Wenn eine ersäuft, die dich rausziehen will, oder zwei …« Jessie kniff die Augen zu, bis sie Sternchen tanzen sah. Der Rucksack und die Stiefel waren ihr beinah zum Verhängnis geworden. Schwere Boots, bis über den Knöchel geschnürt und optisch kaum von der Originalmarke zu unterscheiden. Sie schnappte nach Luft und sprang auf. »Du hättest uns auf dem Gewissen gehabt. Du ganz allein! Ohne einen Grund?«
Die Frau von der Treppe schluchzte, und dann heulte auch die Springerin los.
»Ja, toll, das hilft echt weiter!« Abfällig schnaubend drehte Jessie ihnen den Rücken zu und drängte unbemerkt die hinter dem unteren Lidrand aufsteigenden Tränen zurück. Die Blöße, in das Geflenne miteinzustimmen, würde sie sich auf gar keinen Fall geben! Lieber starrte sie die Wand an, bis ihre Bosheit ein Loch hindurch ätzte. Oder auch nur, bis der Mann mit dem versprochenen Tee wiederkam. Sie spürte den tröstenden Druck des Rucksacks an ihrem Knöchel und rieb die nackten Zehen gegeneinander.
Hinter der Wand schien eine Wohnung zu liegen. An den niedrigen Fenstern etwa auf Bauchhöhe hingen Gardinen. Obendrüber thronte mittig ein kleinerer Aufbau mit verglaster Rundumsicht und Antennen auf dem Dach. Das musste die Brücke sein.
Jessie beschattete die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Hieß das wirklich Brücke, oder nannte man das nur in Filmen bei Raumschiffen und U-Booten so? Der Mann war vorhin dorthin zitiert worden, per Pfiff, wie ein Hund. Ob man arrogant wurde, wenn man ganz buchstäblich von oben herab Befehle geben durfte? Dieser Käpt’n war unbestritten im Vorteil. Er hatte sie gut im Blick, während sie von der spiegelnden Sonne auf der Scheibe geblendet wurde. Jessie wickelte das Handtuch vom Kopf und lockerte mit den Fingerspitzen ihre verstrubbelte blonde Mähne. Dann hob sie halb entschuldigend die Hände.
»Was für ein Heulsusenclub. Oder?«, fragte sie laut, deutete über die Schulter und grinste übertrieben. »Ein echter Heulsusenclub!«
Keine verlässt das Schiff
In den Tassen dümpelten Teebeutel, von denen ein schwacher, undefinierbarer Geruch ausging. Schwer zu sagen, welche Geschmacksrichtung das sein sollte. Die Papieranhänger waren verblasst und in einer unbekannten Sprache bedruckt. Auch die Färbung gab keine eindeutige Auskunft. Immerhin hatte das Wasser aus der Thermoskanne beim Eingießen heftig gedampft und ohne Zweifel Sekunden zuvor noch gekocht.
»Dušan«, stellte der Mann im Unterhemd sich nun vor und tippte auf seine Brust. »Wenn ihr was braucht. Wir fahren bis Hofen zur Schleuse. Eine Stunde.«
»Danke.« Katrin zögerte. Sie hatte seine Abwesenheit genutzt, um sich ebenfalls aus der nassen Wäsche zu schälen. War es angebracht ihm die Hand zu schütteln? »Ich bin Katrin«, fügte sie hinzu und hielt lieber die Zipfel des Badetuchs vor ihrer Brust fest. Mit der anderen Hand balancierte sie die glühend heiße Tasse auf ihrem Knie. Offenbar war es so für ihn okay: Dušan nickte.
»Astrid«, sagte die Reiherfrau als Nächste.
Aus der Nähe betrachtet wirkte sie auf Katrin noch farbloser als zuvor. Es machte kaum einen Unterschied, dass ihre Oberbekleidung auf einem Häufchen neben ihr lag. Ihre Hautfarbe unterschied sich wenig vom Elfenbeinweiß der Bluse, und die Haarfarbe ähnelte dem hellen Grau-Braun ihrer knöchellangen Hose. Ein bisschen wie vertrocknetes Schilf. Und ja, doch, sie blieb dabei, auch wie das Gefieder eines Reihers. Andererseits erschien sie jetzt weniger alt, maximal um die fünfzig und keine Endsechzigerin, wie sie auf dem Steg wegen der abgetretenen Gesundheitsschuhe angenommen hatte.
»Jessie.«
Das Küken in der Runde drückte den Rücken durch und die Brust raus. Der Effekt war angesichts der spärlichen Kurven unter dem Handtuch überschaubar. Ihre ausgedünnten Augenbrauen hoben sich zum Haaransatz.
»Und ich möchte betonen, dass ich mit den anderen beiden nichts zu tun habe. Die Heulsusen und ich, wir sind nur zufällig gemeinsam im Fluss gelandet.«
»Sehr charmant.« Astrid schüttelte beleidigt den Kopf. »Allerdings haben Sie mit einem Punkt Recht: Uns verbindet rein gar nichts. Ich müsste lügen, um das zu bedauern.« Sie würde niemanden duzen, der ihr so feindselig gegenübertrat. Außerdem konnte ein Sie erstaunlich hilfreich sein, um andere auf Abstand zu halten. Allmählich bekam Astrid das Zittern in den Griff, und seit diese vorlaute Person sie nicht mehr bedrängte, konnte sie auch wieder klarer denken. Unauffällig schnupperte sie an ihrer Tasse, ahnte eine Spur Erdbeeraroma und lächelte, während sie nippte, vorsichtig zu Dušan hinauf, der stehen geblieben war. Er machte einen leicht schmuddeligen Eindruck in seinem über die kurze Hose hängenden Feinripphemd, strahlte jedoch Kraft und Sicherheit aus. Eigenschaften, die ihr gerade fehlten. »Ich gebe zu, dass ich wohl als Verursacherin der aktuellen Situation betrachtet werden kann. Es ist mir außerordentlich unangenehm, das dürfen Sie mir glauben, dass ich Ihnen allen solche unnötigen Umstände bereitet habe.« Sie betonte das Wort unnötig und verkniff es sich, noch einmal zu unterstreichen, dass sie nicht in Gefahr gewesen sei. Mit den anderen haltlosen Mutmaßungen würde sie jetzt ein für alle Mal aufräumen. Auch wenn es ihr ziemlich peinlich war. »Offenbar hat keiner gesehen, was wirklich passiert ist, worüber ich eigentlich ganz froh bin … Aber Sie wollen ja unbedingt einen Grund hören. Also gut. Das Problem vorhin auf dem Steg, das war Yoga. Ich habe einfach nur das Gleichgewicht verloren.«
»Yoga?« Katrin horchte auf. Diese Astrid sah nicht nach Sport aus. »Auf dem Bootsanleger?«
Jessie lachte laut los. »Was sollte es denn werden – flügellahme Ente oder sterbender Schwan?«
»Yoga ist mein Lieblingssport, seit ungefähr einem Jahr. Es gehört fest zu meinem Tagesablauf«, behauptete Astrid und überging Jessies hämischen Einwurf.
Jessie bog sich vor Lachen. »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, nur eine Yoga-Meisterin vom Steg! Verklag die Kursleiterin, die dir das beigebracht hat.«
»Von Meisterin war keine Rede. Ich … ich mag es nur.« Unter den erwartungsvollen Blicken fühlte Astrid sich ausgesprochen unwohl und schon wieder unter Zugzwang. »Telegymnastik im Frühstücksfernsehen«, ergänzte sie etwas kleinlaut. »Das ist sehr viel besser als sein Ruf!« Sie ließ das Programm jeden Morgen laufen, kannte jede Übung und jedes Kommando auswendig. Nur mitgemacht hatte sie bisher nie, dazu fehlte ihr die Zeit, was sie lieber verschwieg, um sich nicht weiterem Spott auszusetzen.
Am Ufer war die vertraute Umgebung inzwischen vorbeigezogen. Waren die Häuser zur Linken noch Ausläufer von Stuttgart? Vom Wasser aus kam ihr plötzlich alles fremd vor. Sie zuckte mit den Schultern und lachte verkrampft. »Die Wahrheit ist manchmal lausig. Nicht wahr? Tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche. Eine spektakulärere Erklärung habe ich nicht zu bieten.«
Dušan nickte ihr zu und trottete mit dem zweiten Wäschebündel zum vorderen Teil des Schiffes. Jenseits der Fracht verschwand er außer Sichtweite. Metallschrott türmte sich von links nach rechts und auf voller Länge des offenen Laderaums hinter einer gut brusthohen Wand aus Stahl. Was dahinter lag, konnten sie von hier aus nicht sehen.
Der Frachter glitt im Schneckentempo voran, fast ebenso unbemerkt wie die Minuten verstrichen, in denen jede schweigend ihren Gedanken nachhing – einen Bolzen im Visier, einen rostigen Fleck auf dem Blech, den wieder eingeholten Rettungsring. Bedeutungslos zerfloss die Landschaft um sie herum in Unschärfe.
Jessie zog die Knie ganz nah an den Körper und öffnete den Rucksack, schob eine Hand in den Spalt. Wieviel Wasser mochte hineingelaufen sein? Schon wenn es stark regnete, hielten nicht alle Nähte dicht. Sie tastete sich tiefer in das Wirrwarr aus Plastikbeuteln, in die sie den Inhalt verpackt hatte. Doppelt hielt besser. Die Klamotten waren ihr heute egal. Sie rollte den strammen Gummiring von der Tüte ab, in der ihr Ordner mit den persönlichen Unterlagen steckte, und guckte scheinbar gelangweilt in den Himmel. Bitte, bitte, surrte es in ihrem Kopf, bitte, bitte. Dann fühlte sie den glatten Kunststoffeinband und dahinter locker aufblätternde Seiten. Einzeln und unbeschädigt, kein Pappmaché wie befürchtet.
»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, seufzte sie, und Katrin hörte auf, ihre Armbanduhr zu schütteln.
»Was sagst du?«
»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, wiederholte Jessie lauter. »Das wäre auch eine hübsche Yoga-Lektion, finde ich.« Sie glaubte keine Sekunde an die lächerliche Sturz-Geschichte. »Und ein Motto, das vielleicht deine Uhr gerettet hätte.«
Astrid schniefte, presste die Knie aneinander und richtete sich umständlich auf, darum bemüht, die Beine geschlossen zu halten. Wie oft wollte sie sich noch beleidigen lassen? Sie trat ganz nah an den Rand des Frachters heran, legte die Fingerspitzen an das Drahtseil, das als Handlauf diente.
»Ist das da vorn schon die Schleuse?« Katrin reckte den Hals und spähte an der Ladung vorbei, erkannte auf beiden Seiten in den Fluss ragende Bauwerke, verbunden durch eine Brücke. Links dümpelte ein Schiff. Es kam ihr größer vor als das, auf dem sie sich befand. Und sie hielten direkt darauf zu. »Seht ihr das? Wir werden zusammenstoßen!«
Desinteressiert schloss Astrid die Augen und hielt die Nase in den Wind. Abgesehen von dem Vibrieren unter ihren Füßen, fühlte es sich ganz ähnlich an wie auf dem Steg. Sehr angenehm, nur etwas zu nackt. So konnte sie unmöglich von Bord gehen.
Jessie knibbelte am Rucksackträger. Dieses Geländer, das die Bezeichnung eigentlich gar nicht verdiente, reichte Astrid nur bis zu den Oberschenkeln. Und jetzt breitete die auch noch ihre Arme aus!
»Der Käpt’n macht das schon«, sagte sie, zischte Katrin leiser »Einmal ist keinmal« zu und sprang auf. So dicht wie möglich stellte sie sich neben Astrid, wobei die darauf achtete, weder das Seil noch den schiefen Metallstab zu berühren. Das wackelige Ding war ihr nicht geheuer. Sie kehrte dem Wasser den Rücken und schluckte trocken. Stumm schnitt sie Grimassen und gab Katrin Zeichen, die still und wissend nickte. Diese Astrid war merkwürdig, zumindest in dem Punkt waren sie sich einig. Und auf gar keinen Fall wollte eine von ihnen riskieren, dass sie in ihrem Beisein noch einmal im Wasser landete. Egal ob nun absichtlich oder wegen einer weiteren verunglückten Yoga-Einheit. Ein lebensgefährlicher Rettungseinsatz war mehr als genug.
*
Es gelang Hanne nicht, das Treiben an Deck von der humorvollen Seite zu betrachten. Die drei dort unten bedeuteten Ärger, so sicher wie morgens die Sonne im Osten aufging. Und sie hielten Dušan, der kurz vor der Einfahrt in die Schleuse endlich vom Vorschiff zurückkam, schon wieder von der Arbeit ab. Von dem Gespräch blieb Hanne ausgeschlossen, dabei hätte er sie über die Gegensprechanlage zuschalten können. Das fast schon museale Gerät hatte sie generalüberholt und nach langem Dornröschenschlaf wieder in Betrieb genommen. Unmodern, aber zuverlässig. Was mit kleinen Abstrichen für die gesamte Jowige galt. Hanne gab das anstrengende Starren auf und ließ sich in den Drehstuhl fallen. Zu blöd, dass sie das Trio im Sitzen fast vollständig aus den Augen verlor. Der steile Blickwinkel nach unten zwang sie zu Verrenkungen, wenn sie nicht dauerhaft stehen wollte. Ihr tat jetzt schon der Nacken weh. Dass es überhaupt einen freien Platz zwischen dem Wohngebäude mit der Brücke und der Fracht gab, war auf die mäßig kluge Entscheidung eines Vorbesitzers zurückzuführen. Und das war noch freundlich ausgedrückt. Jeder andere Schiffer packte sein Auto, wenn er eins dabeihaben wollte, auf die Roof hinter dem Steuerhaus. Selbst bei einem mittelgroßen Frachter passte dort, auf das Dach der Wohnung, ein Kleinwagen neben das Beiboot. Für diesen Zweck ein Stück Fläche vor dem Steuerhaus zu opfern – Ladefläche! – grenzte an Idiotie. Weil dieser Mann so versessen auf den Anblick seines Autos gewesen war, fehlten ihr ein Stück Frachtraum und damit regelmäßig Einnahmen. Gerüchten zufolge war der fette Jan, ein spargeldünner Niederländer, nach einem Lotteriegewinn ein paar Jahre lang zum reinen Vergnügen weitergefahren. Den Rückbau des Schiffes hatte niemand bezahlen wollen, und so war die leicht erhöhte Freifläche geblieben. Als Kinderspielplatz vor ihrer Zeit, dann als Auslauf für die Bordtiere, als Geräte-Zwischenlager und nun für Dušans neusten Fang.
»Ich mag einfach keine Menschen«, murmelte Hanne und kraulte Mascha die langen Schlappohren. Eine seltsame Truppe war das. Wie sie da nebeneinander gehockt und vor sich hin gestiert hatten … Jede für sich. Einvernehmen und gute Laune sahen anders aus. Dabei hätten die doch froh sein müssen, dass sie aus dem Wasser gefischt worden waren. Leider konnte sie weder ihre Körpersprache deuten noch Satzfetzen verstehen. Bis auf den einen, den die Blonde mit dem Rucksack zu ihr hinaufgerufen hatte. Heulsusenclub. Na toll. »Drei Kreuzchen, wenn wir an Hofen vorbei sind und mein Schiff wieder uns allein gehört.«
Unter Dušans Schritten quietschten die Metallgitterstufen, und unwillkürlich huschte ein Grinsen über Hannes Gesicht. Diese Treppe war besser als jede Alarmanlage. Niemand konnte sich unbemerkt zu ihr heraufschleichen. Selbst im Tiefschlaf und trotz des brummenden Motors wäre ihr ein heimlicher Besucher nie entgangen. Oft spürte sie es mehr, als sie es hörte. Ein Vibrieren, das sich durch den Fußboden übertrug.
»Was gibt’s?«, fragte sie, ohne den Kopf zu drehen. »Haben es die Damen schön kuschelig in meinen Handtüchern?«
»’tschuldigung, Chef. Sie frieren.«
»Dann wären sie mal besser nicht baden gegangen. Haben sie sich bei dir beklagt?«
»Nein.« Er deutete zum Steuer. »Lass mich übernehmen, Chef. Dann hast du Zeit, um –«
»Pscht! Ich bezahle dich nicht fürs Denken!«
»Mach ich gratis.« Dušan blieb gelassen. »Das sind Frauen. Und du bist auch eine. Du solltest mit ihnen reden.«
Mascha wedelte aufgeregt und schleckte ihm das Knie. Seine braungebrannte Bärenpranke wuschelte über ihren Kopf.
»Chef.« Er legte die Stirn in Falten. »Du musst. Die wollen nicht gehen.«
»Was soll das denn heißen?«
Dušan zog die Mundwinkel runter und die Schultern hoch. »Na ja, sie wollen nicht.«
*
Hanne kochte vor Ärger. Die Frauen konnten von Glück reden, dass die Schleusendurchfahrt noch von einem anderen Schiff blockiert war und sie ohnehin stillliegen und warten mussten. Beim Einfädeln in die Schleusenkammer hatte sie Besseres zu tun als herumzudiskutieren.
Sie ließ die ungebetenen Gäste am oberen Treppenende antreten. Vor der Tür. Obwohl die Fläche dort eigentlich zu eng war für alle drei, kaum breiter als zwei Stufen.
»Unsere Kleider sind noch nass, und nur in einem Handtuch möchte ich ungern durch die Stadt.« Astrid lächelte gezwungen. Die beiden anderen hatten dem Argument sofort zugestimmt und sich ihr überraschend schnell angeschlossen. »Außerdem sind es Ihre Handtücher, die können wir ja nicht einfach mitnehmen.«
»Sonst noch was?« Hanne schnaubte. »Wieso ist es mein Problem, wie ihr von hier wegkommt? Ihr könntet längst jemanden angerufen haben, der euch abholt. Da wird es ja wohl irgendwen geben.«
»Ich habe kein Handy dabei.« Katrin kaute auf ihrer Unterlippe. Fort war es, weil sie es am Ufer fallen- und liegengelassen hatte.
»Daran wird es kaum scheitern.« Hanne warf die Arme in die Luft und deutete dann auf Jessie. »Was ist mit dir?«
Mechanisch schüttelte Jessie den Kopf. Dieser Käpt’n war eine Frau. Dunkelblond, mit wirr hochgesteckten Locken, einer abgeschnittenen Jeans und Badelatschen. Sie brauchte einige Augenblicke, um diese Tatsache zu verdauen und zu ihrer üblichen Haltung zurückzufinden. »Nö«, sagte sie dann. »Mich holt keiner ab. Bin nicht von hier. Und mein Telefon ist voll Wasser gelaufen.« Zum Beweis hielt sie es in die Höhe. »Das gibt keinen Mucks mehr von sich. Ich schwöre, wenn das hinüber ist, dann flipp ich aus.«
»Interessante Formulierung«, murmelte Astrid. »Was war das dann bisher?« Sie hob die Stimme. »Es tut mir leid, dass wir Ihnen solche Umstände bereiten. Ich für meinen Teil werde ganz bestimmt nicht im Weg sein. Bitte, lassen Sie mich nur noch ein Weilchen bleiben und in Ruhe trocknen.«
Hanne zählte im Stillen bis zehn. Etwas zu schnell, um sich wirklich herunterzukühlen. Natürlich war ihr klar, dass ein normales Mobiltelefon das Bad im Neckar nicht ohne Weiteres überstanden haben konnte. Trotzdem nervte es sie, dass sich offenbar keine der Frauen überlegt hatte, wie es ab Hofen weitergehen sollte. War ja auch viel einfacher, das Denken anderen zu überlassen. Das wäre eine Aufgabe für Dušan gewesen, wenn er unbedingt mitdenken wollte!
»Ich habe keine Lust auf solche Faxen. Dann erledigt ihr jetzt eben von meinem Telefon euren Anruf. Mann, Kind, Freundin oder Gemüsehändler um die Ecke. Ist mir schnuppe. Irgendeine Telefonnummer werdet ihr auswendig wissen. Entweder so oder ihr geht ohne Abholung von Bord – und ohne meine Handtücher. Das Wetter ist gut, die Sonne scheint wieder, da trocknet Stoff auf der Haut in Null-Komma-Nichts. Es bricht euch auch kein Zacken aus dem Krönchen, wenn ihr Bus fahrt. Oder ruft euch ein Taxi. Alternativ bestelle ich euch eins mit Blaulicht obendrauf – und ich rede nicht vom Rettungsdienst.«
»Chef?« Dušan legte den Kopf schief. Seine Miene verlangte nach einem Vier-Augen-Gespräch.
Ihr millimeterdünnes Nicken ließ ihn vortreten und zwei Schritte außer Hörweite folgen. Mit geballten Fäusten überkreuzte Hanne die Arme. Kampflos kapitulieren kam nicht in Frage. Obwohl sie schon ahnte, dass sie verlieren würde, wie meistens, wenn Dušan so guckte. »Sprich!«
»Polizei?«, fragte er leise.
»Wenn sie mich herausfordern.«
»Chef.« Sein Tonfall war mild, als spräche er mit einem Kind. »Die Polizei macht viel Blablabla. Viele Fragen, viel Papierkram. Hast du Uniformierte an Bord, wirst du die nicht so schnell wieder los.«
Blöderweise hatte er recht. Es drohte ein lästiger Zeitverlust, den sie anschließend kompensieren müsste.
»Dann eben ohne Polizei. Aber runter müssen sie.«
»Chef, weißt du noch das Klärchen?«, fuhr Dušan fort. »Hatte die Lungenentzündung vom kalten Wasser, wär uns fast krepiert. Nasse Kleider sind schlimmer als nasses Fell.«