Flutlichtherzen - Sabine Giebken - E-Book

Flutlichtherzen E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Sofie lebt für den Winter, denn da dreht sich alles um ihren großen Traum: Eishockey spielen. Endlich will sie von der Jugendmannschaft zu den Eis-Trolls wechseln, als einziges Mädchen. Diesmal muss es einfach klappen! Doch dann taucht der geheimnisvolle Dawn auf, der sie alle an die Wand spielt. Und obwohl er Sofie ordentlich Konkurrenz macht, ist sie fasziniert von ihm. Dawn erwidert ihre Gefühle, und doch stimmt etwas nicht, als hätte er etwas zu verbergen. Auch Sofies Eltern und ihr bester Freund Gregor sind nicht begeistert von Sofies Liebe zu Dawn. Was haben sie bloß? Und was verheimlicht Dawn ihr? Als es auf dem Eis schließlich um alles geht, steht Sofie plötzlich vor einer folgenschweren Entscheidung … Ein mitreißender Liebesroman für Jugendliche, der nicht nur Herzen höherschlagen lässt, sondern auch in die außergewöhnliche Welt des Eishockeys entführt und dabei gleichzeitig mit Spannung und Romantik überzeugt.

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Seitenzahl: 649

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Sabine Giebken

Für alle, die Eiszeit lieben

Inhalt

Es war einmal …

Winterkind

Endlich

Discofieber

Outside Edge

Kälteeinbruch

Mindestabstand

Auftakt

Schlechte Angewohnheiten

Erinnerungen

Minischritte

Uneinsichtigkeiten

Eiszeit

Schlittenschnee

Besuch in der Nacht

Klopfzeichen

Weihnachtsverstimmung

Dopamin

Vorbereitungen

Gegenspieler

Mannschaftsgeister

Eismädchen

Run

Heiligenscheine

Irrlicht

Gegenstimmung

Flutlichtrodeln

Eis im Blut

Exhuman

Powerplay

Geisterspiel

Wintergefühl

The End

VIELEN DANK …

Über den Autor

Es war einmal …

… eine Mutter, die ihren Schlitten durch den tief verschneiten Winterwald zog. Es war einer dieser alten, schweren Holzschlitten mit gebogenen Hörnern obendrauf, an denen man sich gut festhalten konnte. Selbst wenn man dicke Fäustlinge trug und die Finger vor Kälte ganz starr waren. Auf dem Schlitten lag ein Schaffell und darauf saß ein Kind – ein Mädchen mit langen Zöpfen und einer dicken Bommelmütze auf dem Kopf. Das Mädchen hatte rote Wangen und spürte seine Zehen kaum noch, so kalt war es, so lang waren sie schon unterwegs.

»Mamaaaa?«

Die Mutter blieb stehen und wandte den Kopf. Auch ihre Wangen waren rot, aber vor Anstrengung, und vor ihren Lippen dampfte der Atem.

»Wie lange dauert es noch?«

»Ein bisschen«, sagte die Mutter. Sie drehte sich wieder um und stapfte weiter.

»Aber wie lange ist ein bisschen?«

»Bis der Wald sich öffnet.«

Das Mädchen sah sich um. Überall um sie herum standen Bäume, dicht an dicht, über und über mit Schnee beladen. Still und ruhig und undurchdringlich. »Das dauert ja noch ewig!«

»Was beschwerst du dich? Du musst ja nicht laufen.«

»Aber mir ist kalt!«

»Dann steig ab und beweg dich.«

»Meine Füße sind eingefroren.«

Die Mutter blieb wieder stehen. »Oh, komm schon. Mach es mir nicht noch schwerer, ja? Ich habe dir das doch erklärt. Wir müssen jemandem Medizin bringen, dringend. Du weißt doch, wie wichtig Medizin für ein krankes Kind ist, oder?«

»Hm«, machte das Mädchen. Ja, das wusste sie. Und die Straßen waren so voller Schnee, dass sie nicht mit dem Auto fahren konnten. Sie stellte sich vor, wie jemand krank im Bett lag und auf Medizin wartete und die Medizin nicht kam, nur weil ihr kalt war.

»Alles klar?«, fragte die Mutter und zog wieder am Schlittenseil.

Das Mädchen nickte und presste die Lippen fest aufeinander. Sie schaffte das. Es war nicht mehr weit, bestimmt nicht! In ihren Gedanken spielte plötzlich eine Melodie, ein Lied, das sie kannte, das sie mochte, und so fing sie an zu singen, ganz leise, um die Waldstille nicht zu zerstören: »Frau Holle, Frau Holle, die schüttelt ihre Betten aus, fällt blitzeweißer Schnee heraus …« Und das Lied half, damit ihre Lippen und Wangen ein bisschen auftauten und sie nicht mehr an ihre eingefrorenen Zehen denken musste.

Und dann öffnete sich der Wald.

Und das Mädchen hörte auf zu singen.

Und starrte verzaubert auf eine fremde Welt.

Da gab es keine Häuser, nur Wohnwagen, die im Kreis standen, als müsste einer auf den anderen aufpassen. Und die Menschen, die dazwischen herumliefen und den Schnee platt stampften, hatten lange Wollumhänge an und sahen aus wie Figuren aus einem Märchenfilm. Das Mädchen stand vom Schlitten auf und reckte den Kopf. Sie entdeckte eine Ziege mit nur einem Horn und ein verfilztes Schaf, zwei langbeinige Esel, drei Hühner und vier dicke Miniponys, die in einem Heuberg standen und mampften. Außerdem lief ein zotteliger Hund ohne Leine herum und schnupperte neugierig in ihre Richtung.

»Wo sind wir?« Das Mädchen wusste, seine Stimme klang seltsam. So seltsam wie dieser Ort hier.

»Im Winterquartier.« Ihre Mutter lächelte und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie war verschwitzt und ganz außer Atem. »Das hier ist ein Zirkus.«

Das Mädchen runzelte die Stirn. Zirkus? Nie im Leben. Zu einem Zirkus gehörte ein großes, buntes Zelt und Elefanten und Raubtiere und mindestens ein Clown. Kein Schnee im Wald und auch keine Wollumhänge und struppigen Hunde!

Oh, oh.

Der Hund kam jetzt näher. Er hatte die Nase nach vorn gestreckt und tapste langsam auf sie zu. Sofort sprang das Mädchen hinter seine Mutter.

»Nur keine Angst«, rief jemand, der dem Hund nachkam. In einem Wollumhang. Es war eine Frau, eine runde Frau mit dunklen Locken, die Lachfältchen im Gesicht hatte. »Simba tut dir nichts. Streck ihm die Hand entgegen, dann könnt ihr euch begrüßen!«

Das Mädchen hatte viel zu große Angst vor dem fremden Hund, um die Hand auszustrecken. Aber zu ihrem Glück blieb das Zotteltier vor ihrer Mutter stehen, die mutig in die Hocke ging und seine Ohren kraulte. Das schien dem Hund so gut zu gefallen, dass er sie vergaß.

»Schön, dass ihr hier seid«, sagte die fremde Frau zu ihrer Mutter. »Ich hoffe, der Weg war nicht zu beschwerlich.«

»Alles gut!« Ihre Mutter erhob sich wieder. »Sollen wir gleich zu ihm gehen?«

»Ja, bitte. Doch zuerst bekommst du einen warmen Ingwertee.«

Die beiden Frauen liefen im Gleichschritt los, auf einen der Wohnwagen zu, und das Mädchen bekam Angst – Angst, zurückzubleiben und an diesem Märchenort vergessen zu werden! Schnell schloss sie zu ihrer Mutter auf und schob ihre Handschuhhand in ihre Armbeuge.

Die Mutter blieb stehen, ging in die Hocke und legte dem Mädchen die Hände auf die Schultern. »Möchtest du nicht bei den Ponys bleiben? Ich verspreche, ich bin gleich wieder da. Die Tiere sind alle freundlich zu Kindern, das weiß ich genau.«

Das Mädchen guckte zu den Ponys hinüber. Wie Flauschkugeln sahen die aus! Ganz plüschig und weich … aber sie schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie wollte nicht allein bleiben. Auf keinen Fall.

Ihre Mutter und die fremde Frau tauschten einen Blick. Dann lächelte die Frau, streckte die Hand aus und deutete hinter einen Hügel. »Siehst du den Baum, der ganz allein dort steht? Da unten ist ein kleiner, zugefrorener Weiher. Und dort sind ganz viele Kinder! Sie spielen und schweben dabei über das Eis. Magst du nicht zu ihnen gehen?«

»Wir reden nur«, setzte die Mutter hinzu. »Das ist ziemlich langweilig für dich.«

Das Mädchen guckte in die angegebene Richtung und lauschte. Sehen konnte sie niemanden, aber sie hörte die Stimmen in der kalten Luft. Jemand pfiff und viele Stimmen antworteten, lachten. Das Mädchen folgte den Fußspuren durch tiefen, weichen Schnee, den Hügel hinauf, bis sie die Kinder sehen konnte.

Kinder, viele Kinder.

Die über den Boden … schwebten?

Das Mädchen lief schneller. Am Baum blieb sie stehen, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Schuhe auf der glatten Eisfläche wegrutschten. Das Eis glitzerte nicht, es war voller Schneestaub, deshalb hätte sie es beinahe nicht gesehen. Und die Kinder schwebten auch gar nicht – sie trugen Schlittschuhe! Damit konnten sie viel schneller laufen als mit normalen Schuhen. Doch von da oben hatte es wirklich so ausgesehen, als könnten sie fliegen.

Die Kinder spielten etwas, was wie Topfschlagen aussah. Mit langen Stöcken schubsten sie einen umgedrehten Kochtopf herum und jagten sich gegenseitig über das Eis. Es war ein schnelles, lautes Spiel, voller Rufe, Pfiffe und Lachen. Manche Kinder trafen den Kochtopf nicht und landeten von der Wucht ihres Schlags auf dem Po. Manche kickten lieber den Gegnern die Füße weg und brachten sie zu Fall, aber manche waren schon richtig gut und schleuderten den Topf zwischen den beiden Stühlen hindurch, die am Rand aufgestellt standen und von einem Mädchen mit einem dicken Ast bewacht wurden.

Der beste Spieler von ihnen allen war ein Junge mit einer leuchtend grünen Schneejacke. Er konnte vorwärts- und rückwärtsfahren, sich mittendrin umdrehen, und wenn er bremste, spritzte der Schneestaub hoch, und sein Gegner bekam ihn ins Gesicht. Er traf den Topf jedes Mal ins Tor und die Kinder bejubelten ihn wie einen Helden.

Eine ganze Weile schaute das Mädchen vom Rand aus zu, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie zog an den dürren Ästen des Baums und brach sich ein langes Stück davon ab. Ob es schwierig war, auf dem Eis zu laufen? Vorsichtig setzte sie einen Fuß darauf. Und noch einen. Nein, nicht schwierig. Doch mit der dicken Gummisohle ihrer Stiefel konnte sie nicht richtig schlittern und kam viel zu langsam voran.

»Willst du mitspielen?«

Das Mädchen sah hoch. Vor ihr stand der Junge in der grünen Jacke. Mit den Schlittschuhen war er ein gutes Stück größer als sie, aber viel älter sah er nicht aus. Wenn er das konnte, schaffte sie das auch! Eifrig nickte sie.

Der Junge deutete auf ihre Füße. »Hast du keine Schlittschuhe?«

»Nein.«

»Kannst die von Josi haben. Die macht sowieso Torwart.« Und er drehte sich um und schwebte zu dem Mädchen im Tor hinüber, die bereitwillig ihre Schlittschuhe auszog. Der Junge kam zurück und half ihr, die Schnürsenkel zu binden. Natürlich waren die Schlittschuhe zu groß, doch das war ihr egal. Sie wollte endlich mitspielen! Mit einem Ruck lief sie los und lag schon auf ihrem Hintern.

»Du musst schleifen, nicht laufen!« Der Junge drehte einen Kreis und zeigte ihr, was er meinte. »Mach Entenfüße, dann geht es leichter.«

Das Mädchen rappelte sich wieder hoch. Sie versuchte es noch einmal, und diesmal kam sie ein paar Schritte weit, bevor sie wieder auf ihrem Po saß.

»Das ist so schwer«, stellte sie fest und biss die Zähne zusammen.

»Das ist null schwer.« Der Junge legte den Kopf schief und seine Augen glitzerten im Schneelicht. Dann beugte er sich herunter und streckte die Hand aus. »Komm mit. Ich zeig dir, wie das geht.«

Das Mädchen nahm seine Hand und ließ sich von dem Jungen über die Eisfläche ziehen, Runde um Runde, bis sie ein Gefühl für die Kufen hatte und selbst schweben konnte.

Der Junge ließ ihre Hand los und reichte ihr den Stock. »Versuch, den Topf zu treffen. Wenn er zwischen den Stühlen landet, hast du ein Tor geschossen, und wir haben gewonnen!«

Das Mädchen umklammerte den Stock und glitt los. Natürlich traf sie den Topf nicht, sie kam nicht mal in die Nähe davon, die anderen waren viel zu schnell für sie. Doch sie schwebte und lachte und jubelte mit, als die Gegner ein Tor machten. Und immer wieder glitten ihre Augen zu dem Jungen in der grünen Jacke. Er hielt sich ein bisschen abseits der anderen. So als würde er über sie wachen. Nur manchmal mischte er sich ein und spielte mit. Die meisten Kinder waren größer als er, manche auch schneller. Aber wenn er zielte, traf er das Tor jedes einzelne Mal.

Sie spielten und spielten und das Mädchen wurde nicht müde. Doch irgendwann machten alle Kinder Pause, und sie ließ sich nach hinten fallen, bis sie flach auf dem Eis lag. Erst da bemerkte das Mädchen, dass sie nicht mehr allein waren. Ihre Mutter war wieder da, zusammen mit der fremden Frau. Sie standen am Baum und guckten zu, und ihre Mutter winkte und lächelte, aber das Lächeln sah traurig aus, weil sie auf dem Kopf stand. Schnell rappelte sich das Mädchen wieder hoch und fuhr auf ihren geliehenen Schlittschuhen zum Rand, damit ihre Mutter sah, was sie konnte. Die Mutter breitete die Arme aus, und als es das Ufer erreichte, schloss sie das Mädchen fest darin ein.

»Können wir wiederkommen?«, fragte das Mädchen, als der Schlitten später durch den dämmrigen Winterwald glitt. »Bitte, Mama, es war so toll!«

»Bestimmt«, sagte die Mutter, ohne sich umzudrehen. »Wir werden noch oft herkommen.«

Das Mädchen klammerte ihre kalten Handschuhhände um die Hörner des Schlittens und schloss die Augen. Ihre Lippen waren kalt, so kalt, viel kälter als vorhin, aber sie lächelte zufrieden. Und der Junge und das Eis und das Spiel folgten ihr, als sie in ihren Traum glitt.

Die Mutter zog den Schlitten nach Hause, brachte das Mädchen ins Bett und küsste es, bevor sie es allein ließ. Noch in der Nacht begann es zu schneien, und am nächsten Tag wütete ein so heftiger Schneesturm, dass sie nicht wieder durch den Wald laufen konnten. Das Mädchen bettelte trotzdem, so lange, bis der Sturm sich legte. Doch auch dann wollte die Mutter nicht zurück, sie fand immer neue Ausreden.

Irgendwann war der Winter vorbei und der Frühling kam und schmolz den Schnee und die Erinnerung. Im Sommer kam ihr der Tag im Winterwald vor wie ein Märchen, das man ihr erzählt hatte, und im nächsten Winter schneite es kaum, und die Luft war zu warm, um auf zugefrorenen Weihern Schlittschuh zu laufen. Und als das Mädchen endlich zurückkehrte, war die Waldwiese leer, und der zugefrorene Weiher lag verlassen unter dem Schneestaub.

Das Mädchen vergaß sie nicht.

Den Jungen und das Eis und das Spiel.

Doch irgendwann hörte sie auf, an Märchen zu glauben.

Winterkind

Endlich

Noch fast eine Stunde. Kann das sein? Bewegt sich der Zeiger überhaupt? Als ich vorhin auf die Uhr geguckt habe, war es doch auch …

»Sofie!«

»Hm?«

Mila verdreht die Augen. Sie rutscht näher zu mir und guckt mir streng ins Gesicht. »Hör auf. Sonst kette ich dich an einen Stein und versenke dich im Pool.«

»Ich hab doch gar nichts gemacht!«

»Klar. Du hast schon wieder hingeguckt.«

Ich schiele zur Seite. Zu dem vorgewölbten grauen Dach mit den in der Sonne blitzenden Photovoltaik-Modulen darauf, das genau hinter der Uhr aufragt. Mila versetzt mir einen Schubs.

»Du bist nicht normal, das weißt du, oder?«

»Weil ich ein Dach angucke?«

»Weil du den letzten schönen Sommertag in der Eishölle verschwenden willst.«

Ich muss lachen. »Komm doch mit! Macht Spaß, wirklich. Und heute ist es auch nicht so kalt in der Eishölle.«

Mila schüttelt sich, und ihr Blick wandert einer Gruppe Jungs hinterher, die in Richtung Sprungturm schlendert. »Ganz bestimmt nicht. Und jetzt komm, nutzen wir deine knappe Zeit mal für ein paar … äh … heißere Ausblicke!«

Ich seufze, vermeide aber, einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Uhr zu werfen.

Mila zieht an meinem Arm, und wir laufen zum Springerbecken, wo wir uns auf die Steinquader setzen. Die Jungs sind inzwischen auf das Dreimeterbrett hochgeklettert und versuchen sich an spektakulären Stunts.

»Leon«, flüstert Mila und nickt nach oben.

Leon. Nicht schon wieder.

»Nein?«, fragt sie und wackelt mit den Brauen. »Komm schon, er ist megasüß!«

Ich tue so, als ob ich ihn intensiv betrachte. Leon Miller mit seinen blonden Locken und dem Waschbrettbauch, den er nur zu gern herumzeigt. »Er macht dieses Jahr Abi, oder? Dann ist er vielleicht doch keine so schlechte Partie. Er könnte mir beim Lernen helfen.«

Mila grinst und fährt sich durch ihre kurzen dunklen Haare. »Du, es ist mir völlig egal, was du mit ihm anstellst. Hauptsache, du machst es mit einem Typ wie Leon und nicht mit Gregor Gauss oder so.«

»Gregor. Das erinnert mich an was …« Ich drehe mich wieder zur Uhr, aber Mila stößt mich mit dem Ellbogen an und deutet nach oben. Leon ist vom Dreimeter- auf das Fünfmeterbrett gestiegen. Er tut so, als hätte er furchtbar Schiss vor dem Abgrund, während die anderen ihn anfeuern. Dann dreht er sich zu uns, zwinkert uns zu, nimmt Anlauf und legt einen perfekten Salto hin, bevor er fast lautlos ins Wasser eintaucht.

Mila klatscht Beifall, als er an uns vorbeiläuft und seine nassen Locken zurückwirft. Leon bleibt stehen und sein Blick fällt auf mich. »Danke, danke. Ihr seid aus der Elf, oder?«

»Ja, genau«, antwortet Mila.

Ich kann nicht reden. Nicht, solange er mich so anguckt.

»Kommt ihr später noch mit, Beachvolleyball spielen?«

»Klar.« Mila richtet sich auf und drückt warnend ihren Fuß gegen meinen. Leons Augen wandern an mir herunter, zu meinem Bauchnabel und an meinen Beinen entlang und wieder zurück. Das fühlt sich an, als würde er in mich reingucken. Auf einmal hätte ich gern mehr an als nur meinen Bikini.

»Du auch?«, fragt er mich.

Sein Kumpel, der eben aus dem Becken geklettert ist, bleibt neben ihm stehen und tauscht einen Blick mit Mila.

»Nein«, sage ich laut. »Auf mich müsst ihr verzichten, ich hab schon was vor.«

»Ach, bitte, Sofie.« Mila macht große Hundeaugen. »Nur heute, ja? Komm mit!«

Leon zieht die Brauen hoch, während sein Kumpel tönt: »He, Leon, hast du einen Korb gekriegt?«

»Was denn?«, fragt Leon, als ich aufstehe. »Dein Freund?«

Diesmal darf ich hingucken. Ein Blick auf das Dach der Eishalle und mein Herz schlägt wieder in meinem Takt.

»Nee«, gebe ich zurück. »Besser. Ich spiele Eishockey.«

»Aber doch nicht heute.« Leons Kumpel lacht. »Wir haben fast vierzig Grad!«

»Finde ich auch«, mischt Mila sich wieder ein. »Du hast den ganzen Winter Zeit dafür.«

Einen winzigen Moment zögere ich. Mila zuliebe. Weil sie gern mit den Jungs rumhängen will, aber allein auch nicht mitmöchte. Und weil Leon schon irgendwie süß ist, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, was mit ihm anzufangen, dafür ist er mir viel zu selbstverliebt. Einen kurzen, winzigen Moment.

Dann sagt Leon: »Eishockey. Ist das nicht was für Jungs?«

Ich drehe mich um und gehe. Hinter mir höre ich noch, wie Leons Kumpel brummt: »Vergiss sie, Mann«, dann Mila, die mir nachläuft. Immerhin versucht sie nicht mehr, mich aufzuhalten.

»Der coolste Sport der Welt. Aber nur für Jungs, was?«

»Was willst du hören? Du hast ihn abserviert, natürlich macht er dir dafür keine Komplimente.« Mila sammelt ihre Sachen zusammen. Sie ist sauer auf mich, obwohl sie wusste, dass ich nicht bleibe.

»Sorry«, sage ich leise. »Das heute ist wichtig für mich. Und Leon … Ich bin doch gar nicht sein Typ.«

»Vielleicht ja doch? Aber das wirst du jetzt nicht mehr rausfinden. Mensch, Leon Miller! Die meisten Mädchen würden morden für ein Date mit ihm!« Sie schnauft. »Du wirst nie einen coolen Typen abkriegen, wenn du immer nur dieses Eishockey im Kopf hast, Sofie.«

Der Zeiger hat sich doch bewegt. Es ist Zeit, endlich, doch das Gefühl ist nicht mehr dasselbe wie am Vormittag. In meinem Bauch sitzt ein Groll, ich bin wütend auf Mila, weil sie auf Typen wie diesen Leon abfährt, wütend auf Leon und seinen Kumpel und ihre dummen Sprüche und vor allem wütend auf mich selbst, weil ich mich darüber ärgere, anstatt mich zu wehren. Warum habe ich nicht was zu ihm gesagt wie Du bist sowieso nicht cool genug für ein Eismädchen? Aber natürlich fällt mir das erst jetzt ein, und dieser ganze Mist verdirbt mir den Tag, auf den ich mich seit fünf Monaten freue.

Leon, pah. Und überhaupt, was brauche ich die? Ich habe genug Jungs in meinem Leben, die sich nicht wie Idioten benehmen, sondern mich so akzeptieren, wie ich bin. Wenn Mila meint, sie braucht einen Freund, soll sie doch – für mich gibt es Wichtigeres im Leben.

Der Groll schmilzt ein bisschen, als ich Gregor vom Parkplatz auf mich zukommen sehe, mit unseren beiden Towern im Schlepptau. Auch er guckt an mir runter, an dem Trägerkleid, das ich mir nach dem Baden schnell übergeworfen habe. Aber er zieht mich nicht gedanklich aus dabei.

»Hast du dich verlaufen? Oder gehst du endlich unter die Eistänzer?«

Ich hebe die Arme über den Kopf und drehe mich einmal um mich selbst. »So, ja? Sieht das echt aus? Meinst du, die nehmen mich?«

»Sorry, no. Dafür ist dein Kleid zu lang.«

Ich boxe Gregor gegen den Bauch und er lacht. Dann reicht er mir den Griff meines Towers und wir schlendern zusammen zum Spielereingang. Das Schild ist halb von Gestrüpp überwuchert, als hätte der Sommer unsere Eishalle verschlungen. Ich trage meinen Tower die Stufen runter und Gregor ist ganz Gentleman und hält mir die Tür auf. Sofort schlägt mir der altvertraute Geruch entgegen – die Mischung aus feuchten Klamotten, Schweiß und etwas, was man nur hier riecht, diese stille, feuchte Kälte. Sofort bildet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen, doch ich friere nicht, im Gegenteil.

Endlich!

Wir lehnen unsere Schläger draußen an die Wand und Gregor stößt die Tür zur Umkleide auf. Tim und Maxi hocken in Funktionsunterwäsche auf der Bank. Beide stehen auf, als wir reinkommen, und wir umarmen uns kurz.

»Da, wo du herkommst, spring ich nach dem Training rein.« Maxi grinst. »Echt bescheuert bei dem Wetter, oder?«

»Das Trockentraining könnten wir auslassen«, stöhnt Gregor. »Darauf habe ich echt kein Bock.«

»Hast du nie«, sage ich. »Hättest du auch nicht bei zwanzig Grad minus.«

Gregor lacht. »Okay, stimmt. Wir überreden Falk einfach, dass er mit uns ins Freibad kommt.«

Kurz darauf poltern David, Manu und Julian in die Umkleide. Wir begrüßen uns, und ich merke, wie der letzte Rest des Grolls verschwindet und ich wieder Sofie, die 22, werde. Sofie, das Eismädchen. Das hierhergehört, in diese Welt, schon immer. Ich streife mir mein Trägerkleid über den Kopf, und Tim macht einen Spruch über meinen Bikini, über den wir alle lachen, auch ich – hier ist es mir egal, meine Jungs dürfen das. Wir kabbeln uns immer, und ich bin froh, dass sich daran auch in diesem Herbst nichts geändert hat. Warum auch? Mit Tim und Julian war ich im Kindergarten und die anderen kenne ich fast genauso lang. Ich krame meine Funktionswäsche aus dem Seitenfach, ziehe sie an und binde mir die Haare zusammen. Sobald wir die komplette Ausrüstung tragen, ist es sowieso egal, ob Junge oder Mädchen druntersteckt – das unterscheidet auf den ersten Blick keiner mehr.

Die Tür schwingt auf, als wir angezogen sind – bis auf Flo, der zu spät kam und sich noch in seinen Brustschutz kämpft.

Falk streckt den Kopf herein und mein Herz macht einen Satz. Gleichzeitig fangen wir an, mit den flachen Händen auf die Sitzbank zu trommeln.

»Freut euch nicht zu früh«, meint er und grinst uns an. »Wir haben einiges vor!«

Hintereinander verlassen wir die Kabine, sammeln unsere Schläger von der Wand und laufen durch den Gang nach draußen. Ich liebe unser Stadion einfach! Ich liebe es, dass wir keine reine Indoor-Arena haben, sondern an zwei Seiten nach draußen gucken können und uns nur ein Zaun vom Freibad trennt, ich liebe die grün gestrichenen Zuschauertribünen und den grimmigen Troll an der Wand zum Stadiongebäude, und am meisten liebe ich es, wenn die Plexiglasscheiben über der Bande bei hoher Luftfeuchte beschlagen und man das Gefühl hat, auf dem Eis in einer eigenen, verborgenen Welt zu sein. Hier draußen ist die Luft warm, aber von unten steigt Kälte auf, und meine Muskeln beginnen zu zucken. Wir drängeln uns auf die zwei Stufen vor dem Eingang und schubsen uns gegenseitig, wie wir es vor zehn Jahren gemacht haben, als wir noch Kinder waren, und dann fängt Gregor an, unseren alten Schlachtruf zu brüllen, so laut, dass die Kids aus der U15, die noch auf dem Eis sind, zusammenzucken und erschrocken zu uns herübergucken. Doch das ist uns egal, wir lassen uns mitreißen, wir, die Großen, und wie die Kinder damals schreien wir: »Wir wolln aufs Eis, ohne Scheiß, wir wolln aufs Eis, ohne Scheiß!«

Falk quetscht sich durch unsere Schubserei und kickt die Tür auf.

»Vorsicht, hier kommt die U7«, ruft er den Kids zu, und dann gibt er Gas, weil wir alle hinter ihm aufs Eis stürmen und ihn mit Kriegsgeheul jagen. Wie jedes Jahr.

Ich bin entschlossen, ihn diesmal zu fangen, aber David kommt mir ausgerechnet von rechts in die Quere, ich sehe ihn nicht rechtzeitig und muss ausweichen, und Falk entwischt hinter das Tor und hebt die Hände zum Zeichen, dass die Jagd vorbei ist.

»Nicht schlecht«, ruft er mir zu. »Hat nicht viel gefehlt, Sofie.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Nicht viel ist zu wenig, aber es ist der erste Tag, gerade mal die ersten Sekunden, da darf mir so was passieren, oder? Wir warten, bis die U15-Kids das Eis verlassen haben, dann fangen wir an, uns warm zu laufen. Kufen auf Eis sind wie Federn in der Luft, sie machen mich schwerelos. Gregor nähert sich auf meiner Innenseite und versucht, mich zu überholen, doch ich lasse ihn nicht, ich bin schneller. Nichts verlernt über den Sommer – ich knüpfe genau da an, wo ich vor fünf Monaten aufhören musste.

Falk lässt uns Schwarzer Mann spielen und schlitternden Pucks ausweichen, und wir schwitzen schon, als es ins erste Spiel geht. Zwei Gruppen gegeneinander. Für jedes Tor der Gegner müssen wir zehn Liegestützen machen, und wir liegen 3 : 5 vorn, als ich drüben am Sprungturm eine Bewegung ausmache. Jemand, der uns von dort zuguckt, jemand mit blonden Locken und Waschbrettbauch. Soll das witzig sein?

»Sofie, pass auf!«

Der Puck kreiselt an mir vorbei und Luis knallt ihn ins Tor.

»Shit«, rufe ich. »Sorry!«

Gregor schnauft, als wir auf die Knöchel gehen. »Eigentlich … sollten wir … abchillen … solange … wir noch … können.«

»Du hast das Abi doch schon in der Tasche, du Streber«, keuche ich zurück. »Du kannst in der Schule abchillen.«

Viel zu schnell ist die Stunde vorbei und wir müssen das Eis räumen. Während die Zamboni anrollt und das Spielfeld für die Trolls glatt zieht, wechseln wir in normale Sportklamotten, dann geht es für uns auf den Asphalt zum Trockentraining. Balance, Geschick und Koordination. Die Übungen sind einfach, ich habe sie den ganzen Sommer lang wiederholt. Wie jedes Jahr. Um mitzuhalten. Die Jungs sind gut, manche sind richtige Sportskanonen. Basti und Luis zum Beispiel. Es ist verrückt, aber zum ersten Mal habe ich nicht das Gefühl mitzuhalten …

Dieses Jahr bin ich besser als sie.

Falk steckt schon im Trikot der Trolls, als er uns zu sich ruft. »Gut gemacht, Leute. Ihr seid fitter, als ich dachte. Am Montag geht es mit dem normalen Training weiter, alles klar?«

Die Jungs tun so, als wären sie überhaupt nicht erschöpft, dabei läuft ihnen das Wasser in Strömen aus den Haaren. Einfach zu warm heute, klar – die haben die letzten Monate auf der faulen Haut verbracht.

Gregor legt mir den Arm um die Schulter, doch Falk versperrt uns den Weg. »Sofie, bleib noch mal kurz.«

Ich schüttle Gregor ab, und Falk wartet, bis die Jungs in Richtung Dusche verschwunden sind. Was kommt denn jetzt? Hab ich was falsch gemacht? Okay, das eine Tor. Das war mein Fehler. Aber sonst …

»Du warst echt gut heute«, stellt Falk fest und lehnt sich gegen die Bande. Auf einmal macht er ein so ernstes Gesicht, dass mir ganz flau wird.

»Warum sagst du das, als wäre es was Schlechtes?«, frage ich vorsichtig.

»Weil du so nicht weiterkommst.« Falk sieht mich durchdringend an. »Sofie, wechsle ins Tor! Du bist flink und mutig, und du hast echt trainiert, das merkt man, aber es wird nicht reichen, um bei den Trolls mitzuspielen. Das ist es doch, was du willst, oder?«

Ich beiße mir auf die Lippe. Und nicke. Langsam. Natürlich will ich das, nichts anderes! Dabei habe ich es Falk nie gesagt. Keinem von ihnen. Es ist das, was alle wollen, weshalb wir hier sind, jahrelang, warum wir den halben Winter auf Kufen stehen und uns anschreien und herumscheuchen lassen und Freiwilligendienste schieben und unsere Wochenenden als Fans an der Bande verbringen: ein Platz im Team der EisTrolls.

Falk stößt sich von der Bande ab. »Die Saison fängt gerade an. Ihr habt euer letztes Jahr in der U17, und wenn du jetzt wechselst, kriegen wir dich bis zu den Spielen fit, bestimmt. Ich helf dir, wo ich kann, Sofie, versprochen! Im Tor hast du eine echte Chance.«

Schlucken, atmen. Ruhig bleiben.

»Aber ich bin Stürmer«, sage ich tonlos. »Schon immer! Das kann ich, darin bin ich gut. Ich will nicht ins Tor, Falk. Ich will spielen!«

Falk seufzt. »Okay. Es gibt eine Frauenmannschaft in …«

»Nein!« Meine Stimme funktioniert wieder. Dafür ist der Groll wieder da, derselbe wie vorhin. Er frisst sich durch meinen Bauch und macht mich schwindlig. Es auszusprechen, ist, als würde ich meinen Traum entweihen, doch die Worte sind raus, bevor ich mich stoppen kann. »Ich will bei den Trolls spielen, im Sturm. Nicht mit anderen Mädchen, nicht woanders. Genau hier, genau … hier.«

Falk schaut mich noch einen Moment lang an und jetzt ist sein Ausdruck fast mitleidig. Hinter ihm sehe ich die Trolls aus der Umkleide kommen, sie strömen aufs Eis, und da ist auch Ed, ihr Trainer, verdammt, ich wollte ihm wenigstens kurz Hallo sagen – zu spät, er steht schon auf dem Eis, und Falk muss auch gehen. Das Gespräch führt zu nichts mehr.

»Überleg es dir, okay? Angebot steht. Ich helf dir, ich bring dich da rein – aber im Sturm wird das nichts. Du bist …« Er wirft die Arme in die Luft, setzt seinen Helm auf und klappt das Visier herunter. »Trotzdem geile Leistung heute. Ehrlich.«

»Für ein Mädchen«, murmle ich, als er zum Eingang hastet. Es ist doch immer dasselbe! Aber wenn Leon behauptet, Eishockey ist nichts für Mädchen, dann ist das einfach nur dummes Gelaber. Falk geht es nicht darum. Er meint das rein physisch. Ein zartes, schmales Mädchen hat in diesem körperlichen Sport das Nachsehen gegenüber ihren männlichen Teamkollegen, und ob mir das passt oder nicht: Ich weiß, dass er recht hat, verdammt.

Aber das ändert nichts an meinem Traum.

Das ändert nichts am Sommer, an allem, was ich gemacht habe, um jetzt hier zu stehen, und es ändert nichts daran, dass ich es tausendmal stärker will als die Jungs zusammen. Denn das ist unser letztes Jahr. Das letzte Mal, dass wir gemeinsam als Mannschaft für diesen Verein spielen. Im nächsten Jahr sind wir zu alt für die U17, wer es dann nicht zu den Trolls geschafft hat, für den wird Eishockey höchstwahrscheinlich nur ein Hobby bleiben.

Ich drehe mich zur Eisfläche, wo die Trolls nun ihre Runden laufen, Schläger in der Hand, und sich gegenseitig anstacheln. Der Boden zittert unter ihren schnellen Kufenschüben und die Luft flimmert vor Energie und Testosteron.

Wo ist Ed abgeblieben? Da, an der Trainerbande. Ich hebe die Hand, winke ihm zu. Aber die Scheiben beschlagen schon wieder und er sieht mich nicht. Die sind dadrin in ihrer eigenen Welt.

Kühle steigt vom Eis her auf und ich beginne zu frösteln. Ich gehe mich besser umziehen. Doch auch als ich das Stadion später mit Gregor verlasse und wir oben an der Straße auf seinen Vater warten, werde ich nicht mehr richtig warm.

Discofieber

»Wie läuft es in der Schule?«

Ich schaue von meinem Schnittlauchbrot hoch und sehe, dass mein Vater die Zeitung weggelegt hat. »Ganz gut, glaub ich.«

»Muss doch aufregend sein. Das letzte richtige Schuljahr vor dem Abi …«

»Es gibt aufregendere Sachen.« Ich grinse ihn über den Tisch hinweg an.

»Sie hat schon das erste Vier-Augen-Gespräch mit ihrem Mathelehrer hinter sich«, mischt Mama sich von der anderen Tischseite aus ein. Sie scrollt auf ihrem iPad herum, obwohl ich mein Handy beim Essen wegpacken muss. Aber angeblich ist das ja Arbeit, was sie da macht.

Papa zieht die Brauen hoch. »Was, nach zwei Wochen schon? Oje. Warum?«

»Bisschen blöd gelaufen in der letzten Stunde«, murmle ich und beiße in mein Brot. »Wird schon, lass mich nur machen.«

»Vielleicht übertreibst du es etwas mit deinem Sport, meinst du nicht? Ich meine, jeden Morgen dieses frühe Aufstehen …«

Ich lasse mein Brot auf den Teller fallen und der halbe Schnittlauchbelag verteilt sich über die Keramik. »Ich muss das machen, wir haben Winter!«

»Na ja, noch ist Herbst.«

»Für mich nicht. Es ist Eiszeit. Also: Winter.«

Papa seufzt und verdreht die Augen. Ja, ich weiß, er versteht das nicht. Er hat ja auch nur Hobbys, die man im Sitzen machen kann.

»Soll ich Paul fragen, ob Gregor dir Nachhilfe gibt? Ihr habt doch früher auch immer zusammen gelernt.«

»Nein, Mama, bitte nicht. Wenn, dann frage ich ihn selbst.«

Mama guckt mich über den Rand ihrer Lesebrille an, ohne mit dem Scrollen innezuhalten. »Dann mach das auch. Noch ist Zeit, was zu verändern.«

Irgendwie erinnert mich das an Falk und seinen Vorschlag, bis Ende der Saison ins Tor zu wechseln. Was das betrifft, habe ich schon was verändert und beschlossen, noch härter zu trainieren und noch besser zu werden, um ihm zu beweisen, dass ich es als Stürmerin ebenfalls schaffen kann. Aber davon will Mama bestimmt nichts wissen, also beiße ich mir auf die Lippe und sammle den Schnittlauch vom Teller, um ihn wieder über mein Brot zu krümeln.

»Sonst irgendwas Neues? In der Schule? Oder auf dem Eis?« Papa grinst, als wüsste er mehr als ich.

»Nö. Wieso?«

»Ach, ich mein ja nur. Die Jungs sind doch langsam alle aus dem Stimmbruch raus. Da verändern sich die Dinge.«

Ich schüttle mich. »Urgh, nein! Die sind doch wie Brüder für mich.« Ich beiße in mein Brot und versuche, nicht an Leon zu denken und an Dinge, die sich verändern könnten. Stattdessen mümmle ich: »Aber ich glaube, Gregor steht heimlich auf Mila.«

Papa und Mama tauschen einen Blick. Dann schiebt Papa mir die Zeitung hin und deutet auf eine kleine Anzeige im unteren Eck.

»Eisdisco startet am 2. Oktober. Ab dieser Woche findet jeden Samstagabend wieder der Discolauf im Eisstadion statt. Jugendliche ab 14 Jahren sind herzlich willkommen, zu moderner Discomusik ihre Runden zu drehen. Der Einlass ist um 18:30 Uhr, Laufzeiten von 19–21 Uhr.«

Ich schiebe die Zeitung zurück und verbeiße mir ein Grinsen. »Wer schreibt so was? Discomusik. Echt, als würde man auf eine Neunzigerjahre-Party gehen.«

»Das hieß auch schon zu meiner Zeit Eisdisco. Hat sich halt niemand ein neues Wort dafür ausgedacht.« Papa legt den Kopf schräg. »Eisdisse. Oder nein: Eis-Tanzveranstaltung …«

Ich muss lachen. »Hör auf, das wird nur schlimmer. Ich gehe da sowieso nicht hin. Da sind mir zu viele Leute auf dem Eis.«

In den nächsten Tagen habe ich das Gefühl, als würde sich mein Leben wieder einpendeln. Das Freibad schließt und erste bunte Blätter fallen von den Bäumen. Ein paar Tage lang ist es noch spätsommerlich warm und trocken, dann stürzt das Thermometer auf einen Schlag um gute zehn Grad, was dem Basilikum auf unserer Veranda den Garaus macht. Die Felder sind in dichten Nebel gehüllt, wenn ich meine Morgenrunde jogge, aber sobald die Sonne aufgeht, beginnt ein unglaubliches Lichtspektakel aus orangegoldroten Schleiern, die die Wiesen in Märchenlandschaften verwandeln. Dann wird es plötzlich noch einmal warm, T-Shirt-Temperaturen, doch das macht nichts – es heißt, wenn das Wetter im Oktober schön ist, steht ein besonders strenger Winter bevor. Darauf freue ich mich. Ich liebe Kälte, Eis und Schnee. Meinetwegen könnte der Sommer ausbleiben, aber ohne Winter würde ich eingehen wie eine Eisblume in der Sonne.

Einen ganzen herrlichen Monat lang haben wir Vereinsspieler das Eis für uns. Gregor und ich gucken Falk und den Trolls beim Training zu, wann immer sich die Gelegenheit bietet, bis es endlich in die Vorbereitungsspiele geht. Wir als Mitglieder haben Freikarten und verpassen kein Spiel.

Nur am letzten Game Day bin ich nicht dabei. An dem Tag ist Elternabend im Kindergarten, und da bleibe ich traditionell bei Mila und helfe ihr, den Wildfang Jonathan ins Bett zu bekommen. Wir lesen mit verstellten Stimmen Kinderbücher vor, aber Jona will lieber Geschichten vom Training hören.

»Was willst du denn wissen?«, frage ich ihn, während Mila unauffällig das Zimmerlicht dimmt.

»Alles«, ruft Jona. »Ich werde nämlich auch Eishockeyspieler.«

»Ach, echt?«

»Ja, echt. Wir haben schon Schlittschuhe gekauft. Für mich.«

Ich werfe Mila einen amüsierten Blick zu, die nur die Augen verdreht. »Dann weißt du doch bestimmt schon alles über Eishockey, oder?«

»Nein. Nicht alles.«

Ich überlege. »Okay, aber du weißt, dass man einen Schläger dazu braucht. Und einen Puck, das ist diese kleine schwarze Scheibe. Die muss beim Gegner ins Tor, so oft wie möglich.«

Jona setzt sich wieder auf. »Ich weiß auch, dass es drei Halbzeiten gibt, nicht wie beim Fußball.«

Ich muss lachen. »Stimmt. Aber beim Eishockey heißen sie Drittel, nicht Halbzeiten. Und was ist ein Bully?«

Jona guckt mich mit großen Augen an, also drücke ich ihn zurück in die Kissen und decke ihn zu.

»Ein Bully ist der Einwurf, wenn der Schiedsrichter den Puck fallen lässt und je ein Spieler aus jeder Mannschaft versucht, ihn zu kriegen. Bei uns macht Tim immer die Bullys, er ist der …« Ich verstumme, als ich merke, dass Jona die Augen zufallen.

»Das waren dann doch zu viele Details.« Mila schubst mich aus dem Zimmer und löscht das Licht und wir machen es uns auf der Couch gemütlich. »Stell dir vor«, erzählt Mila mir lachend, »die neue Kinderpflegerin hat echt gedacht, ich bin seine Mama! Ich meine, hallo? Sehe ich so alt aus? Jona ist sechs, das wäre rein technisch noch gar nicht möglich gewesen.«

Wir spielen zwei Runden Mastermind, und dann reden, reden, reden wir, bis ihre Mutter nach Hause kommt. Es ist so schön, eine Mila zu haben, mit der man einfach abhängen kann, mit der es nie langweilig wird und die mich schweigen lässt, wenn ich über etwas nicht sprechen will.

Wie die Sache im Freibad.

Mila hat Leon mit keinem Wort mehr erwähnt, und ich weiß auch nicht so richtig, wie ich das Thema anschneiden soll. In der Schule versuche ich, ihm aus dem Weg zu gehen, aber als ich ihm einmal zufällig im Bio-Trakt begegne, tut er ohnehin so, als würden wir uns nicht kennen. Er dreht sich zu zwei Mädchen, die mit ihm aus dem Saal strömen, und beachtet mich gar nicht. Ich komme mir blöd vor, wie ich da herumstehe und ihm nachgucke, aber okay, auch recht. Leon Miller interessiert mich sowieso nicht.

Es gibt Wichtigeres im Leben als Jungs.

Im Training läuft es besser als in der Schule. Wir üben Pässe und Torschüsse, und die Jungs gucken nicht schlecht, als ich am Ende die meisten Treffer verzeichnen kann.

»Noch was.« Falk winkt uns zu sich. »Ich weiß, leidiges Thema. Aber wer hat Lust auf Werbung im Vereinsmaskottchen beim ersten Discolauf?«

»Ich bin raus«, ruft Maxi. »Sorry, Mann, in das Kostüm kriegst du mich kein zweites Mal.«

»Kommt schon, Zuschauer sind wichtig. Die Leute gehen zum Schlittschuhlaufen und haben keine Ahnung, was für ein geiles Team hier am Start ist!«

»Lass doch das Gemüse aus der U9 damit rumfahren«, schlägt Gregor vor.

Falk lacht. »Denen passt der Troll nicht, und außerdem hat Ed gesagt, ich soll bei euch jemanden suchen.«

Ed. Meine Füße fangen an zu kribbeln. Ich will keine Kostümfahrt, wir haben das alle schon mal gemacht, und das ist echt kein Spaß unter dem Teil, aber wenn Ed sieht, wie ich mich für den Verein engagiere …

»Tragen wir es aus.« Falk stellt sich vor uns auf. »Also, Freunde, Zweierteams bilden. Ihr spielt euch den Puck zu, die anderen fahren kreuz und quer. Behindert die Spieler, macht es ihnen richtig schwer! Das Team, das die wenigsten Pässe schafft, verliert und muss einen Abend lang der Troll sein.«

Die Jungs protestieren lautstark. Tim und Gregor knobeln aus, wer mit mir zusammengehen darf, und Tim gewinnt. Mir ist es egal, ich habe meinen Plan. Tut mir leid für Tim, aber wir werden heute die Verlierer sein.

Pässe sind normalerweise meine große Stärke. Ich habe das geübt bis zum Umfallen, mit Gregor im Sommer, auf Asphalt und auf den Glice Pads, die sein Vater für die Garage gekauft hat, und ich bin ziemlich sicher, ich könnte die meisten der anderen abhängen. Doch heute passiert das nicht. Ich stolpere, falle hin, verfehle. Ich foule vorbeifahrende Läufer, wenn sie mir zu nah kommen, was Strafpunkte gibt. Tim legt die Hände an seinen Hals und stirbt einen theatralischen Eistod – und Gregor lacht sich kaputt. Er und Felix gewinnen das Battle und Falk überreicht Tim und mir feierlich den Schlüssel zur Trollhöhle.

»Du hättest dich auch gleich freiwillig melden können.« Er grinst mich an.

Die anderen lachen noch, als wir uns umziehen gehen. Nur Tim ist sauer. Ich rolle meinen Tower neben seinen und setze mich neben ihn.

»Hey«, sage ich leise. »Sorry, das war unfair. Du musst den Troll nicht machen, okay? Ich übernehme das allein.«

Tim grummelt besänftigt, verspricht aber, dabei zu sein und mir zu helfen. Ich bin zufrieden mit meinem Plan, auch wenn ich jetzt meinen freien Abend opfern muss. Und vielleicht hat das Ganze doch etwas gebracht … aber das kann ich niemandem sagen, auch Tim nicht. Tim ist Linkshänder und sortiert sich zu gern auf meiner rechten Seite ein. Wenn er die ganze Zeit von rechts geschossen hätte, durch die anderen oder seitwärts von hinten, dann hätte es echte Fehlpässe gegeben. Wir mussten offensichtlich verlieren, sonst wäre das aufgefallen.

Und das darf ich auf keinen Fall riskieren.

Zwei Tage und drei schreckliche Mathestunden später klingelt mein Handy, als ich gerade aus der Dusche komme.

»Wann wolltest du mir das eigentlich sagen?« Milas Gesicht klebt genau vor der Kamera.

»Was genau?«, frage ich und ziehe mir das Handtuch vom Kopf.

»Na, dass du zu diesem Discodingens gehst!«

Ich beiße mir auf die Lippe. »Klar, so was riechst du wieder.«

»Miss Ich-gehe-nicht-aus-ich-muss-trainieren will sich die ganzen süßen Typen dort wohl außer Konkurrenz angucken, was?« Sie runzelt die Stirn und kommt noch näher. »Nicht nett. Miese Freundin. Ganz mies!«

»Also, um das klarzustellen: Der Abend gehört quasi zum Training. Oder zum Plan.« Ich muss grinsen. »Und keine Angst, nicht einer der Typen, die heute auf dem Eis sind, wird mich auch nur annähernd attraktiv finden!«

»Ich komme trotzdem mit.« Ihr Gesicht rutscht ein Stück von der Kamera weg. »Jemand muss ja aufpassen, dass du auch mal einen abkriegst.«

»Von mir aus«, stimme ich zu. »Aber ich warne dich. Es könnte peinlich für dich werden.«

Wir treffen uns vor dem Eisstadion, eine halbe Stunde vor Einlass. Tim ist noch nicht da, aber ich habe ohnehin nicht vor, als Sofie zu diesem Irrsinn zu kommen. Der Hausmeister lässt uns rein, und ich ziehe Mila zum Büro, von wo aus man in die Abstellkammer gelangt.

Die Trollhöhle.

»Oh mein Gott«, haucht sie entsetzt. »Das ist ein Scherz, ja?«

»Nope. Das ist mein Outfit für den Abend.«

»Den ganzen Abend?«

»Ist es dir peinlich?«

Mila grinst ein bisschen hilflos. »Ach … eigentlich … nein, weißt du? Nach dem, was im Freibad gelaufen ist, kann es nicht schaden, die Konkurrenz ein bisschen zu verkleiden.«

Ich schlucke. Keine Lust, jetzt an Leon zu denken. Ob er auch hier ist? Auf einmal bin ich froh über das Kostüm, froh, mich darunter verstecken zu können. Ich glaube, ich bin noch nicht bereit für diese Sachen, das alles, mit Jungs und so. Und außerdem lenkt es nur ab, vom Training und von meinem Traum.

»Also schön, wie rum gehört das?« Mila zupft an dem Trollbauch herum. »Die Farben sind echt unterirdisch scheußlich. Dieses Wald- und-Wiesengrün, hätte man ihn nicht wenigstens lila machen können?«

»He, ein bisschen mehr Respekt bitte. Das sind die Farben der Eis-Trolls«, erkläre ich und ziehe den Troll an seinem Kopf vom Kleiderbügel. Ein bisschen schlaff hängt er da, aber auf dem Trikot um seinen Bauch leuchtet das Vereinslogo. Auf einmal bin ich stolz, das Kostüm tragen zu dürfen – dazuzugehören und irgendwie auserwählt zu sein. Heute Abend bin ich der einzige EisTroll da draußen!

Wir ziehen Schlittschuhe an und Mila hilft mir in den Plüsch-Anzug. Die Beine schlackern so sehr, dass Mila ihre Frisur zerstören und mir ihre Haargummis leihen muss, damit ich den Saum damit zusammenbinden kann. Dafür leihe ich ihr meine Mütze. So laufen wir beide in Vereinsfarben auf.

Die ersten Leute strömen in die Umkleide und gucken mich fasziniert an, also wackeln wir nach draußen und sind die Ersten auf dem Eis. Mila fällt einmal hin, aber sie lacht und zieht sich an meinem pelzigen Arm wieder hoch.

»Siehst du überhaupt was? Das Ding hat Knopfaugen!«

»Ich bin doch wohl hässlich genug, damit mir alle von selbst ausweichen.«

»Na, dann los. Vom Rumstehen friere ich mir den Arsch ab. Eisdisco, ehrlich, was für eine bescheuerte Idee.«

Ich friere nicht, im Gegenteil. Unter dem Trollkopf schwitzt man wie verrückt. Das Ding hat ein ganz schönes Gewicht, obwohl es nur aus Plüsch besteht, und ein paar Runden lang muss ich mich einlaufen, um ihn so auszubalancieren, dass er gerade auf meinen Schultern sitzt und nicht immer zur Seite wegkippt. Seine spitzen Ohren wackeln bei jeder Kurve mit, und die Knollennase zieht das ganze Konstrukt immer wieder nach unten, sodass ich mir selbst einen Stüber verpassen muss, um den Kopf wieder nach vorn gucken zu lassen. Die Leute, an denen wir vorbeifahren, drehen sich alle zu mir und grinsen, und Mila wispert: »So viel zum Thema ›außer Konkurrenz‹.«

Die Musik setzt ein, laut und mit vollem Bass. Ich spüre den Beat durch das Eis, und irgendwie macht es Spaß, im Takt der Töne zu laufen. Die Lichter dimmen herunter, und bunte Leuchtstrahlen tanzen zwischen uns, es ist fast wie ein Spiel, als würden sie etwas unters Eis malen, eine Botschaft, der wir nur zu folgen brauchen …

»Hey, auch hier?« Mila stoppt und umarmt jemanden, der außerhalb meines Blickfelds aufgetaucht ist.

Ich lasse sie zurück und drehe weiter meine Runden, der Song ist perfekt für mein Tempo, doch da rammt mich jemand, und zu beiden Seiten schlingen sich Hände um meine Pelzarme.

»Jetzt wissen wir, warum du das Kostüm haben wolltest«, ruft Felix rechts von mir.

»Du willst uns nur die Show stehlen!« Gregor zieht an meiner linken Hand.

Ich schubse sie beide von mir weg. »Was macht ihr denn hier? Dachte, ihr seid froh, dass ihr nicht herkommen müsst.«

»Also, eigentlich sind wir immer bei der Eisdisco.« Felix hüstelt. »Du müsstest Gregor mal tanzen sehen. Wenn er irgendwann eine abschleppen will, dann klappt das nur hier.«

Gregor lacht.

Jemand schiebt sich an ihnen vorbei und fährt rückwärts vor mir her. Tim, der Angeber. Er schüttelt den Kopf, aber nach einer Runde seufzt er und meint: »Wir tauschen zur Mitte, wenn du willst.«

»Schon gut.« Ich schaue mich nach Mila um. »Ich habe dir doch gesagt, ich mach’s.«

»Wenn sie nicht will …« Gregor wuschelt dem Troll über die borstigen Haare. »Wir sind dann mal unterwegs. Du weißt ja, wo du uns findest.«

»Führt euch nicht so peinlich auf, sonst mach ich das hier umsonst!«, rufe ich ihnen noch nach, dann ziehen sie davon, jagen in einem Affenzahn durch die Grüppchen auf dem Eis. Schneller, wendiger und tänzerischer als alle zusammen. Ich bin ein bisschen stolz auf sie – auf uns, auf das, was wir können.

Erst nach zwei gemächlichen Runden finde ich Mila. Sie steht an die Bande gelehnt vor einem Jungen. Beide lachen – da will ich nicht stören. Moment mal, den kenne ich doch? Ja klar, das ist Leons Kumpel, der aus dem Freibad. Oh nein, dann ist Leon bestimmt auch hier. Ich kann nur hoffen, dass Mila mich nicht verrät – ich bin von der uncoolen Eishockeyspielerin zum EisTroll mutiert.

So langsam wird das Kostüm schwer. Und allein macht es auch nicht solchen Spaß, Kreise zu ziehen, wie mit Mila zusammen. Ich gucke mich nach den Jungs um, aber die haben ein paar Anfängerinnen aufgegabelt und fahren Händchen haltend mit denen durch die Gegend. Irgendwie verschwimmt mein Blick, die flackernden Lichter und die Musik verschmelzen zur Außenwelt, aber ich bin hier, ich bin der Troll, und alles, mein Leben für das Eis, all die Jahre und die Anstrengung, kommen mir auf einmal vor … wie … ein Märchen …

Ein Gesicht, vor mir. Mit großen Augen und blonden Zöpfen. Ich muss blinzeln, und ich muss bremsen, damit ich nicht in das Mädchen hineinrausche. Sie ist jung, viel zu jung für die Eisdisco. Und sie starrt mich an, als hätte sie noch nie einen Menschen in einem Kostüm gesehen.

Einen kurzen, verrückten Moment sehe ich mich selbst, das blonde Mädchen mit den Zöpfen, das unsicher auf dem Eis steht und …

»Wer bist du?«, fragt sie mich mit erstaunlich fester Stimme.

»Ich bin ein EisTroll«, sage ich und versuche, den Troll freundlich nicken zu lassen, nicht dass sie Angst bekommt. »Ich bin das Maskottchen der Eishockeymannschaft, und ich bin hier, damit die Leute zum Zugucken kommen, wenn die richtigen EisTrolls spielen.«

Das Mädchen guckt mich fasziniert an. Dann schüttelt sie den Kopf und meint: »Du siehst leider gar nicht aus wie ein Eishockeyspieler.«

Ich muss lachen. Das Mädchen kann nicht richtig fahren, sie stolpert über die Lichtspuren auf dem Eis. Aber da wird sie aufgefangen, von zwei grauen Armen, die das Mädchen hochheben und herumwirbeln. Ich werfe meinen Kopf zurück, und der Trollkopf rutscht wieder in die Position, in der ich am meisten sehen kann. Wo ist sie hin? Da, eine Gruppe Pärchen fährt zwischen uns. Ich überhole seitlich und folge dem Mädchen. Sie klammert sich an die Hand des Jungen, der sie aufgefangen hat und der ihr mit langsamen Bewegungen zeigt, wie sie weniger stolpert und leichter rutschen kann. Ein Junge in einer grauen Jacke, die Kapuze lässig halb auf dem Kopf. Er trägt keine Handschuhe, und seine Finger sind ein bisschen rot vor Kälte, aber so kann er das Mädchen besser festhalten.

Ich überhole auf der Außenspur. Keiner sieht, wo ich hingucke, weil der Trollkopf alles verdeckt. Jetzt kann ich den Jungen von der Seite sehen. Er hat lange Haare, nicht so lang, aber länger, als Jungs sie gewöhnlich tragen. Er wirft dem Troll einen schnellen Blick zu und lächelt kurz, doch dann gilt seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen. Nach zwei Runden schafft sie es, neben ihm zu fahren, ohne zu stolpern, und noch mal zwei Runden später lässt er sie los, dreht sich und fährt vor ihr her, damit sie auf ihn zurutschen kann. Das Mädchen lacht. Sie ist das einzige Kind heute und der Typ ist auf keinen Fall ihr Vater. Glaube ich. Oder doch? Ich kann sein Alter schlecht schätzen, weil er immer halb unter dieser Kapuze steckt. Seine Haare sind ein bisschen verstrubbelt, so als hätte er nicht groß geplant, zur Eisdisco zu kommen. Und er hat nur Augen für die Kleine, spielt Fangen mit ihr, wippt im Takt zu »Alle Farben« und bringt sie zum Lachen, wenn sie doch einmal hinfällt und sich den Po hält.

Sie erinnert mich total an mich früher. Nur dass ich keinen großen grauen Beschützer hatte, der mich mit zur Eisdisco genommen hat, ich musste es wie alle anderen auch lernen und bin dabei bestimmt hundertmal so oft hingefallen.

»Hier steckst du! Ich hätte dich fast nicht gefunden!« Mila bremst neben mir und hält sich kurz an mir fest.

»Wie kann man mich denn übersehen?«

Mila lacht. »Du solltest wirklich rauskommen aus dem Teil. Es sind echt süße Typen hier!«

»Hm«, mache ich und spüre, wie mein Blick wieder zu dem Mädchen hinüberwandert. Dem Mädchen und ihrem grauen Begleiter.

»Ach so.« Mila stemmt die Hände in die Hüften und verliert dabei fast das Gleichgewicht. »Du hast auch schon einen entdeckt. Niedlich. Aber vergeben, wie man sieht.«

»Was?«

»War ein Scherz.« Sie lacht wieder und guckt ein bisschen zu offensichtlich in dieselbe Richtung wie ich. »Nicht schlecht, Sofie. Der ist definitiv heiß.«

»Hör schon auf, ich hab nur das Mädchen beobachtet.«

»Ja klar!«

»Das ist so süß, wie er ihr Schlittschuhlaufen beibringt.«

»Während einer Eisdisco.« Mila grinst. »Na, war ja klar, dass der dir gefällt. So wie er laufen kann.«

Ich drehe den Kopf ein bisschen zu ruckartig und der Trollkopf verrutscht. Beinahe gibt es eine Kollision mit einem Pärchen – ich muss besser aufpassen, einen peinlichen EisTroll will keiner sehen. Doch es stimmt, was Mila gesagt hat. Warum ist mir das nicht längst aufgefallen? Der Junge in der grauen Jacke kann laufen. Nicht nur Runden ziehen, so wie die meisten hier. Er bewegt sich so sicher vor ihr her, als würden die Kufen aus seinen Füßen wachsen.

»Und du?«, frage ich, um Mila von ihm abzulenken. »Warst du erfolgreich?«

»Hmm«, macht sie nur und verdreht die Augen. »Schon ganz nett, aber mal sehen …« Sie guckt wieder zu dem Jungen in der grauen Jacke. »Weißt du, was? Du bist ja aus dem Rennen heute. Aber ich kann ihn für dich abchecken!«

»Was? Nein, Mila, lass …« Ich will sie am Arm packen, doch die Trollhände sind zu flauschig, und sie gleitet einfach aus meinem Griff.

Mit wenigen Schüben hat sie ihn und das Mädchen erreicht, aber zu meinem Glück tut sie nichts Peinliches, sondern fährt einfach an ihnen vorbei. Eine Runde, noch eine. In der dritten Umrundung steuert sie wieder auf mich zu, doch als sie genau auf seiner Höhe ist, stolpert sie plötzlich und fällt hart auf den Hintern.

Ich halte die Luft an, als der Typ bremst und sich zu ihr hinunterbeugt. Er sagt etwas, dann streckt er die Hände aus und hilft ihr aufzustehen. Sie klopft sich den losen Schnee von der Hose und dann sagt er noch etwas und sie lacht, genau wie das kleine Mädchen. Mila lächelt und er lächelt zurück und mir wird plötzlich kalt unter dem Trollplüsch. Aber da guckt der Junge wieder das kleine Mädchen an und reicht ihr die Hand und die beiden fahren weiter und Mila bleibt allein zurück.

Ich atme vorsichtig aus, als sie zu mir zurückkommt.

»Und?«, frage ich leise.

»Mein Po«, jammert Mila. »Das hat wehgetan. Du schuldest mir was, das weißt du, ja?«

»Jetzt erzähl schon!«

Mila lässt mich noch ein paar Sekunden zappeln, dann beugt sie sich nah zu mir und flüstert: »Er hat so ein Glitzern in den Augen. Und er ist wirklich heiß.«

»Was hat er zu dir gesagt?«

»Zu mir hat er nichts gesagt, sondern zu ihr. ›Siehst du, hinfallen ist cool. Die machen das alle so.‹ Du solltest echt aus diesem Kostüm raus, Sofie.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Das geht nicht. Falk verlässt sich auf mich.«

Mila verdreht die Augen. »Tja, selbst schuld! Dir entgeht was, das weißt du, oder? Ich könnte euch … zusammenschubsen!«

»Da bleibe ich doch lieber ein peinlicher Troll.« Ich nehme Fahrt auf, die Musik wird schneller, es scheint, als würde sie meinen Bewegungen folgen, nicht ich ihrem Takt. Mila keucht, weil sie kaum noch mithalten kann, aber allmählich muss ich mal zeigen, was die EisTrolls draufhaben.

»Was meinst du?«, rufe ich zurück. »Wie alt ist der?«

»Zu jung«, schnauft Mila. »Also, für sie. Nicht für dich!«

Ich merke, wie etwas in mir kribbelig wird, als wir an dem kleinen Mädchen und dem Jungen vorbeisausen, und werde noch ein bisschen schneller. Ich falle nicht, und ich merke, wie die Leute mir automatisch Platz machen. Es tut gut, einfach zu laufen, dadurch werden meine Gedanken klarer, und ich sehe wieder das Eis und die Lichter und nicht nur graue, halb aufgesetzte Kapuzen auf verstrubbelten Haaren.

Und dann sind zwei Stunden um, viel zu schnell. Natürlich strömen alle gleichzeitig vom Eis. Ich schaue mich um, ich suche nicht – suche doch? –, aber das Mädchen ist nirgends zu entdecken. Mila drängelt, ihre Füße sind kalt, und ihre Schlittschuhe drücken, doch ich warte, bis die anderen Leute vom Eis runter sind und die Tore für die Zamboni geöffnet werden. Der Hausmeister winkt mir zu und hebt zwei Daumen – ich darf mir Zeit lassen, die letzten Runden drehen. In der Umkleide ist jetzt sowieso kein Platz für einen wuscheligen EisTroll.

Irgendwann ist das Eis leer, die Musik verstummt. Die schummerigen Flackerlichter werden von hellen Strahlern verschluckt, und ich muss blinzeln, blinzeln und aus meinem seltsamen Traum aufwachen. Der Gang sieht leer aus und ich kann mich gleich in der Trollhöhle umziehen. Ich winke dem Hausmeister zum Abschied und verlasse das Eis. Der Trollkopf rutscht wieder nach vorn, aber egal, ich packe ihn an der Nase, um ihn mir vom Kopf zu ziehen – und laufe in jemanden hinein.

»Entschuldigung«, sage ich schnell und rücke den Kopf gerade.

»Nichts passiert«, antwortet er. Der Junge in der grauen Jacke!

Seine Stimme klingt warm und rauchig, irgendwie anders, als ich sie mir vorgestellt habe, und einen Moment vergesse ich zu atmen. Er guckt mich an und lächelt, und ich lächle zurück, dann fällt mir ein, dass ich ja immer noch ein Troll bin, und komme mir plötzlich unglaublich blöd vor. Er tritt zwei Schritte zurück, um mich vorbeizulassen. Ich will überhaupt nicht weitergehen, aber hier stehen bleiben kann ich auch nicht, also laufe ich schnell weiter, den Gang hinunter, durchquere die Umkleide, die noch voller aufgekratzter Jugendlicher ist, und drücke die Tür zum Büro auf.

In der Trollhöhle lasse ich mich auf den Boden sinken, atme zweimal tief durch und ziehe endlich den Trollkopf herunter. Puh! Was für ein Abend. Ich bin froh, dass er vorbei ist, aber gleichzeitig würde ich am liebsten aufspringen und den Jungen in der grauen Jacke …

Moment mal.

Der kennt mich ja gar nicht! Ich kann als Sofie an ihm vorbeilaufen, und er weiß nicht, dass ich der peinliche Troll war, ich muss mich nur beeilen, denn offenbar hat er nur auf das Mädchen gewartet, und sobald sie ihre Schlittschuhe ausgezogen hat, verschwinden die zwei bestimmt, und ich sehe ihn nie wieder. Also Trollkostüm ausziehen und aufhängen zum Trocknen. Den Kopf daneben. Schlittschuhe von den Füßen und einpacken, schon fertig, das ging schnell. Doch der Gang ist leer, niemand steht mehr dort, und als ich zurück in die Umkleide laufe, sind die meisten Bänke verlassen, und nur vereinzelt sitzen noch Leute herum, aber kein kleines blondes Mädchen, das wäre mir sofort aufgefallen.

Ach, Mist!

Und wo ist Mila? Ich entdecke sie nirgends, also noch mal in den Gang. Oh nein, das darf nicht wahr sein. Ich bin so ein Esel! Gegenüber der Tür, wo ich in ihn reingelaufen bin, ist das Schwarze Brett an der Wand. Genau hier stand er und genau dort hängt das große »Wir brauchen dich«-Plakat mit dem Aufruf der Laufschule für den Eishockeynachwuchs. Ich war der personifizierte Aufruf, ich war lebendige Werbung für unseren Verein – warum habe ich nichts gesagt? Das wäre sogar meine Aufgabe gewesen, aber nein, der Troll hat versagt, der Troll hatte blödes Herzklopfen und hat alles vermasselt.

Noch einmal gucke ich den Gang entlang, den jetzt verlassenen Gang. Ich höre keine Stimmen mehr aus der Umkleide, ich sollte gehen, wenn ich nicht hier übernachten will.

Mila steht draußen, bei Gregor und Felix. Tim lehnt an der Stadionwand, die Arme um ein Mädchen geschlungen, tief versunken in einen Kuss. Na, wenigstens habe ich ihm den Abend gerettet.

»Der EisTroll stand dir super«, begrüßt mich Gregor und grinst. »Wir finden, du solltest das ab jetzt immer machen.«

»Sollte ich mal den Verein wechseln, such ich mir einen mit einem attraktiveren Maskottchen aus«, gebe ich zurück, und die Jungs lachen. Dann flüstere ich Mila zu: »Hast du ihn rauskommen sehen?«

Sie schüttelt den Kopf und antwortet ebenso leise: »Nee, die waren schon weg. Sorry!«

Ich versuche, abzuschalten, den Abend auszublenden, aber es gelingt mir nicht. Felix verabschiedet sich, er wohnt in der anderen Richtung, und Gregor und ich gehen einen Umweg, um Mila nach Hause zu begleiten. Unterwegs beginnt es zu regnen, und weil es sowieso schon kalt ist, stellen wir uns am Rewe unter und rufen Papa an, damit er uns abholt.

Ich merke, wie müde ich bin, Troll spielen war anstrengend, und ich muss morgen früh raus. Schlafen kann ich trotzdem nicht, meine Gedanken drehen die halbe Nacht Kreise, und alles, woran ich denken kann, ist dieser Junge auf dem Eis.

Outside Edge

Ich kenne mich so nicht. Und es nervt total!

Drei Tage ist der Discolauf jetzt her. Drei Tage hatte mein Gehirn Zeit, wieder auf Normalmodus zu schalten und sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren. Aber irgendwas dadrin ist durchgebrannt, funktioniert nicht mehr selbstständig, und das macht mich wahnsinnig.

Natürlich war ich am Sonntag im Eisstadion. Nicht auf dem Eis, nur so. Zugucken. Zum öffentlichen Lauf kommen immer viele Kinder, auch diesmal, doch das Mädchen mit den blonden Zöpfen war nicht dabei. Später bin ich laufen gegangen und am Abend noch mit Gregor und Manuel ins Fitnessstudio, aber wir hatten alle keine rechte Lust. Den ganzen Tag hat es geregnet, und ich hätte eigentlich lernen sollen, eigentlich – wenn mein blöder Kopf das mitgemacht hätte.

In der Schule husche ich wie ein Troll durch die Gänge und hoffe, dass mich niemand sieht. Diesmal halte ich allerdings nicht nach Leon Ausschau, sondern nach ihm. Ich weiß auch nicht, warum das so wichtig ist, warum ich ernsthaft herumlaufe und nach ihm suche, so als hätte ich ihn bislang übersehen oder als müsste er Schüler bei uns sein, einfach nur, damit er keinesfalls der Vater dieses Mädchens ist, aber ich finde ihn nicht, natürlich nicht, und ich komme mir superblöd vor, als Mila mich schließlich dabei ertappt, wie ich Schülergruppen scanne.

»Das ist gut«, meint sie nur. »Ernsthaft!«

»Was ist daran gut? Ich verhalte mich absolut unnormal.«

Da legt sie ihre Arme auf meine Schultern und guckt mir ins Gesicht. »Nein, Süße, das ist ganz normal, glaub mir. Du hast so was nur noch nie erlebt.«

Ich weiß nicht, was sie damit meint. Okay, ich weiß es doch. Aber