Franz Schnyder - Ursula Kähler - E-Book

Franz Schnyder E-Book

Ursula Kähler

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Beschreibung

Der Schweizer Filmemacher Franz Schnyder (1910-1993) lockte in den 1950er-Jahren mit "Uli der Knecht", "Heidi und Peter" und weiteren Filmen Millionen von Schweizerinnen und Schweizern in die Kinos. Schnyder wuchs in Burgdorf auf und begann seine Karriere als Schauspieler und Theaterregisseur in Deutschland. Der patriotische Streifen "Gilberte de Courgenay" machte ihn 1941 auf einen Schlag berühmt. Doch Schnyder drehte auch andere, kritische Filme, etwa "Wilder Urlaub" (1943) oder "Der 10. Mai" (1957). Seine Laufbahn als Regisseur endete 1968 mit "Die 6 Kummer-Buben". Der Neue Schweizer Film brachte eine cineastische Wende, Schnyders Zeit war abgelaufen. Einsam, verwirrt und verbittert starb er 1993 im Psychiatriezentrum Münsingen. Mit dieser ersten umfassenden Biografie über Leben und Werk von Franz Schnyder füllen die Autorin und der Autor eine filmhistorische Lücke. Zahlreiche Bilder aus Schnyders Leben und eine vollständige Chronologie runden den Blick auf ein Stück prägende Schweizer Filmgeschichte ab.

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Franz SchnyderRegisseur der Nation

Ursula KählerRaff Fluri

HIER UND JETZT

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild:

Franz Schnyder bei den Dreharbeiten zu «Geld und Geist», 1964.

Lektorat:

Rachel Camina, Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz:

Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

Bildbearbeitung:

Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-503-9

ISBN E-Book 978-3-03919-963-1

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Inhalt

Vorspann

Familie Schnyder 1910–1929

Die Theaterjahre 1929–1940

Die ersten drei Spielfilme 1941–1943

Alternative Wege 1944–1953

Mit Gotthelf auf den Zenit 1954–1964

Der Kulturclash – «Papas Kino» wird verdrängt 1965–1983

Das letzte Jahrzehnt 1983–1993

Nachspann

Anhang

Vorspann

Die Sonne scheint schwach durch den leicht bewölkten Himmel über der Emmentaler Kleinstadt Burgdorf am Vormittag des 12. Mai 1992. Ein ganz normaler Dienstag. Das Zähringerschloss thront über der malerischen Altstadt und den darunter liegenden Quartieren. Gegen 8.30 Uhr geht ein alter Mann mit schnellen, kurzen Schritten die Jungfraustrasse entlang.1 Seine Haut ist blass, sein Haar schütter, die Haltung leicht gebeugt über einen Spazierstock. In der Jackentasche umklammert er eine Walther-Pistole, Kaliber 22. Er ist wütend. Und er braucht Geld. Von seiner Villa ist es nicht weit zur Kunstgalerie W. Gerade mal 200 Meter. Aber die 82 Jahre machen sich mit jedem Schritt bemerkbar. Er reisst sich zusammen.

Frau W. hat schon lange das Gefühl, dass Franz Schnyder nicht mehr ganz bei sich ist. Über ihre Galerie haben sie und ihr Mann regelmässig Bilder für den Filmemacher erworben, darunter sehr wertvolle. Alle diese Geschäfte haben sie genau dokumentiert, Expertisen abgelegt, Quittungen aufbewahrt. «Da habe ich auch heute noch ein gutes Gefühl, ein sauberes Gewissen. Nach fast vierzig Jahren», sagt Frau W. Anfang der 1990er-Jahre war Schnyder öfter vorbeigekommen. Dabei hatte er immer wieder mit Strafanzeige gedroht und den Kunsthändlern vorgeworfen, mit seinem Beistand, dem Juristen Franz Zölch,2 unter einer Decke zu stecken und ihn zu betrügen. Doch nicht nur das Ehepaar W. geriet in Schnyders Visier: Auch der Burgdorfer Stadtpräsident und ein Druckereibesitzer hatten bereits Drohbriefe erhalten.

An jenem Morgen steht die freundliche, klein gewachsene Frau mittleren Alters mit den hellen, wachen Augen hinter dem Ladentisch. «Und dann sehe ich ihn. Ich rufe noch nach hinten ins Büro: ‹Achtung, der Schnyder kommt!› – und schon steht er vor mir in hellem Anzug, weissem Hemd und schwarzer Krawatte. Seine senkrechte Ader auf der Stirne, nicht blau ist sie, sondern dunkel, fast schwarz. Unheimlich sieht er aus, wie er mich so fixiert. Blitzgeschwind zückt er eine Pistole. Er richtet sie auf mich! Ich starre auf die Waffe, unbeweglich, trotzdem irgendwie gefasst, und höre zum wiederholten Male seine Vorwürfe. Ich versuche, ruhig zu bleiben. ‹Das hat doch keinen Sinn›, will ich ihn beschwichtigen. ‹Wir können doch reden miteinander. Legen Sie bitte die Pistole auf den Tisch.› Das tut er dann auch, platziert Stock und Pistole zwischen uns. Langsam, ganz langsam, während ich beruhigend auf ihn einrede, versuche ich, die Pistole wegzuschieben. Bevor ich richtig reagieren kann, fasst er aber seinen Stock und schlägt mir damit auf die Hand. ‹Wenn Sie die Pistole noch einmal anfassen›, schreit er mich an, ‹werde ich abdrücken!› Er fordert mich auf, die Ladentüre abzuschliessen und die Storen herunterzulassen. So stehen wir einander gegenüber. Hinten im Büro hat mein damaliger Mann inzwischen die Stadtpolizei angerufen. Rasch, zum Glück, erscheint die Streife, betritt von hinten das Geschäft und verhaftet Franz Schnyder.» Kaum ist er abgeführt, öffnet Frau W. die Ladentüre, zieht die Storen wieder hoch und macht sich erneut an die Arbeit. Sie tut so, als ob nichts geschehen wäre. Erst eine Stunde später kommt der Schock. Sie beginnt zu zittern und bricht zusammen.

Um 8.40 Uhr war der Anruf des Galeristen bei der Stadtpolizei eingegangen. Zwei Polizisten rückten sofort aus. Um 9.06 Uhr erschienen sie mit Franz Schnyder auf der Wache, die Waffe hatten sie ihm bereits im Geschäft abgenommen. Sie war gesichert und nicht durchgeladen. Es befand sich keine Kugel im Lauf, aber vier Patronen im Magazin. Nach einem standardmässigen Vorgehen wurden zunächst Beistand Zölch und dann der Untersuchungsrichter, der Chef der sozialen Dienste sowie der Amtsarzt informiert. Letzterer veranlasste eine Überweisung in die Psychiatrische Klinik Münsingen. Als Schnyder davon erfuhr, rastete er aus und wollte sich mit einem Messer die Schlagader am Handgelenk aufschneiden. Das Messer konnte ihm aber entrissen werden. Um 10.15 Uhr begleiteten ihn zwei Beamte nach Münsingen, wo er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.

Während des Klinikaufenthalts tippte der Patient auf einer Schreibmaschine seine Version der Verhaftung zu Papier: «Am 12. Mai 1992 wurde ich mit Brachialgewalt in die Spinnmühle, Münsingen, eingeliefert. Ich war mutterseelenallein in der Fälscherwerkstatt des Ehepaars W. Die Eheleute hatten sich längst vorher mit ihrem Auto davongemacht. ‹Geschichten›, die um die vorausgehende Untat – von mir begangen – ranken, sind pure Erfindungen. Um gezielt die gemeine Festnahme zu rechtfertigen. Wahr allein ist, dass 6 Parasiten der Stadtpolizei, Burgdorf auf mich los stürzten – jubelnd, und hellbegeistert – und nach Schweizer ungewaschenem Hintern stinkend –, mich misshandelten, duzten, wie einen ‹Kopin› aus Krauchthal – und dann den eher mittelmässigen Allgemeindoktor [Dr. Bandi] telefonisch informierten: ‹Sie hätten einen Frauenmörder dingfest gemacht› – nicht verwunderlich, dass der naive Benvenuto Bandi – ohne auch nur mich zu sehen – sofort einen der Kriminellen der Spinnmühle, ein Dr. Kohli, um ‹Unterkunft› für mich bettelte. […] Ich gestehe es (als letzter Gedanke?): ich bin seit 1291 der berühmteste Eidgenosse, mit einem ungeheuren Lebenswerk – (dafür mit vielen, vielen Freunden, die alle es vorzogen, zu schweigen […]: Charakterlos, feige, irreligiös – zum Untergang verurteilt …).»3

Nach rund neun Monaten in der Psychiatrie verstarb Franz Schnyder am 8. Februar 1993 im nahe gelegenen Bezirksspital im Alter von 82 Jahren. Nur drei Monate zuvor erlag sein Zwillingsbruder Felix Schnyder einem Krebsleiden. Der Überfall war der Beginn des tragischen Endes dieses Ausnahmekünstlers. Schnyders Werk prägte den Schweizer Film von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre und zog ein heute kaum vorstellbares Millionenpublikum in die Lichtspielhäuser. Er gilt weithin als erfolgreichster Schweizer Filmemacher, war ein Mann mit Vision, Überzeugungskraft und Talent – ob als Theaterschauspieler, Regisseur für Bühne und Film, Filmproduzent, Drehbuchautor oder Konzertorganisator. Er beherrschte sein Metier, war ein exzellenter Schauspielerführer, entdeckte Talente wie Hannes Schmidhauser («Uli der Knecht», 1954) und Elisabeth Berger («Geld und Geist», 1964) und versuchte, so lang es ihm möglich war, das grosse Publikum zu erreichen und sich für seine Idee von einem «Nationalen Kino» einzusetzen. Doch nach dem letzten, erfolglosen Kinofilm und der ebenfalls daraus entstandenen, jedoch populären TV-Serie «Die 6 Kummer-Buben» (1968) gelang es ihm nicht mehr, finanzielle Mittel für weitere Projekte zu erhalten. Die 1963 eingeführte staatliche Filmförderung bevorzugte den Neuen Schweizer Film, deren jüngere Vertreter mit ihren Autorenfilmen kommerzielle Produktionen verdrängen wollten.4 Mit Schnyders Werk konnte der Nachwuchs wenig anfangen und stempelte es lange als antiquiert und reaktionär ab. Da diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, wählte Schnyder den Rückzug ins Private, von wo aus er zwar noch Drehbücher verfasste, aber vor allem wütende Briefe an Bundesräte und Filmfunktionäre verschickte. Seine zuvor in kreativen Schaffensprozessen entladene positive, kraftvolle Energie wandelte sich in eine bittere, destruktive, die langsam aber stetig dazu führte, dass der einstige Filmkünstler und tüchtige Kaufmann seinen Platz in der – seiner Meinung nach dem Untergang geweihten – modernen Gesellschaft nicht mehr finden konnte. Altersstarrsinn, Zorn und Einsamkeit überschatteten die letzten Lebensjahre.

Nach seinem Tod begann eine neue Rezeption von Schnyders Produktionen. In der Presse blieben die Konflikte mit Filmpolitik und Filmszene zwar nicht unerwähnt, doch schien man sich in einem Punkt einig: Ein Grosser war gegangen. Jemand, der mit Leib und Seele Filme über die Schweiz und für die Schweiz gemacht hatte. Franz Schnyder ist und bleibt auch heute noch präsent. Zu bedeutend ist der Grossteil seines Werks, das eine persönliche künstlerische Handschrift trägt und sich in das kulturelle Gedächtnis der Schweiz eingraviert hat. Das Schweizer Fernsehen zeigt es weiterhin regelmässig, und man gedenkt Schnyders runden Geburtstagen. Zum 40. Jubiläum von «Uli der Knecht» erschien 1995 ein Bildband,5 Schnyders 100. Geburtstag wurde 2010 in Burgdorf mit einem Festival gefeiert, und 2014 widmete das Gotthelf Zentrum in Lützelflüh dem ersten «Uli»-Film eine Sonderausstellung.

Fast zeitgleich kamen wir, Autorin und Autor, auf die Idee, eine Biografie über Franz Schnyder zu schreiben. Sie sollte eine Kombination von persönlicher Lebens- und Schweizer Filmgeschichte sein. Dass bisher noch keine auf unabhängigen Recherchen beruhende Darstellung existiert, ist verblüffend, besticht doch seine Vita über eine relativ lange Zeitspanne hinweg durch vielseitige künstlerische, unternehmerische sowie private Höhen und Tiefen. Trotz dünner Quellenlage versuchten wir, in diesem Buch den Fokus auf die persönliche Entwicklung zu richten, vom einst so lebenslustigen, jungen, talentierten Mann – wie etwa in seinen Ausbildungsjahren in Deutschland oder später als Leiter der Migros-Klubhaus-Konzerte – zum grollenden, sich nach Aufmerksamkeit sehnenden, kranken Greis. Bald wurde uns bewusst, dass lediglich eine Annäherung an den Menschen und Filmemacher Schnyder gelingen kann. Das Ziel, eine vollständige Abbildung seines Wesens und die Gesamtheit aller auffindbaren Fakten wiederzugeben, hätte den Blick auf das Wesentliche versperrt. Die entscheidenden Fragen lauteten: Woher kam Franz Schnyder? Welches waren die wichtigsten Stationen in seinem Leben? Was und wer hat ihn geprägt? Auf der Suche nach den Antworten bildeten sein Werk und dessen Wirkung und, soweit wir es einschätzen konnten, einige wenige ihm nahestehende Personen zentrale Motive.

Neben der Aufarbeitung aller in diversen Archiven in Deutschland, Polen, der Schweiz sowie im digitalen Umfeld auffindbaren Dokumente führten wir auch Interviews mit Zeitzeugen und versuchten so, ein möglichst genaues Bild eines in vielerlei Hinsicht extremen und widersprüchlichen Lebens entstehen zu lassen – unter besonderer Berücksichtigung von Schnyders Filmen, die seinen persönlichen Erfolg, aber letztlich auch seinen Niedergang verursachten. Sich diese anzusehen, wird sicherlich auch in Zukunft ein anregendes Vergnügen bleiben, nicht nur für Fans, sondern auch für den filmischen Nachwuchs.

Familie Schnyder1910–1929

«Oh Vaterli, Vaterli!», hörte man öfters im Hause Schnyder eine weibliche Stimme rufen.6 So nannte Fanny Louise Schnyder ihren Ehemann Maximilian, genannt Max, Ingenieur und Lehrer am Burgdorfer Technikum. Der bärtige, stattliche und liebenswürdige Ingenieur aus Kriens im Kanton Luzern und die so hübsche wie intelligente Primarlehrerin Louise aus Aarau heirateten im Jahr 1905. Bald darauf kamen ihre drei Söhne in Burgdorf zur Welt: am 16. Juni 1906 Konradin Wolfgang und am 5. März 1910 die Zwillinge Felix und Franz.

Die Familie wohnte im bürgerlichen Wohnquartier Gsteig, auf einem der drei Burgdorfer Hügel, zunächst an der Pestalozzistrasse 21, wo Felix und Franz geboren wurden, und zog bald darauf in eine repräsentative Villa mit grossem Garten an der Jungfraustrasse 28.7 Ein Fotoalbum zeigt Aufnahmen des Wohnzimmers im Erdgeschoss, behaglich eingerichtet, mit hohen Vitrinenschränken, kleinen gerahmten Bildern, Polstermöbeln, Teppichen und zahlreichen, kleinen und grossen Topfpflanzen. Zum Aussenbereich gehörte eine Terrasse mit Sitzgruppe und Sonnenschirm sowie ein Garten mit einem rechteckigen Wasserbecken mit Seerosen, einem Gemüsebeet sowie einer Rasenfläche – sicherlich zur Freude der Kinder und Haustiere. In diesem Haus wohnte Franz Schnyder phasenweise auch wieder nach dem Tod seiner Eltern im Jahr 1965 bis zu seinem Münsinger Klinikaufenthalt, meistens allein. Über der Haustüre befindet sich noch heute ein Wappenportal, in das er die Initialen «FRS» hat eingravieren lassen, wobei das «R» für keinen weiteren Vornamen steht; er hatte es eher des harmonischeren Dreiklangs wegen hinzugefügt.

Eine Schulkameradin der Schnyder-Brüder, Elsa Rickenbacher, erinnerte sich in ihrem Text für das Burgdorfer Tagblatt zum 80. Geburtstag von Felix und Franz Schnyder: «Man war damals begeistert von der Familie Schnyder, weil sie für uns das Aussergewöhnliche verkörperte. Der Vater, Dipl. Ing. ETH und ‹grand Seigneur›, der stets eine weisse Nelke im Knopfloch trug; die Mutter, grosszügig, gediegen, für mich die erste emanzipierte Frau, die ich kannte; die drei Söhne, die sich individuell stark voneinander unterschieden und sich grundlegend doch so ähnlich waren.»

Louise – Gattin und Mutter

Kindheit, Jugend und Erziehung der Buben wurde vor allem durch die Mutter geprägt. Zu ihr hatte Franz stets ein enges Verhältnis. Briefe, welche er während seiner Engagements an verschiedenen deutschen Theaterhäusern an sie schickte, beendete er häufig mit «Ich liebe Dich sehr und grüsse Dich herzlichst mit guten Gedanken immer Dein Franz». Louise, geboren am 28. September 1882, war eine gebildete Frau, die sich für Kunst interessierte, Fremdsprachen beherrschte und sehr belesen war. Zu ihren Lieblingsautoren gehörte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung. Aufgewachsen mit drei Schwestern und drei Brüdern in Aarau, als Tochter eines Grossbauern, zog es sie nach der Ausbildung zur Lehrerin in die Westschweiz. An der Universität Lausanne studierte sie 1902/03 Französisch, was neben Sprache und Lesen auch Übersetzen, Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur beinhaltete. Anschliessend entfernte sich Louise noch weiter von ihrer Heimat: In Belfast, das im damals noch ungeteilten Irland lag, besuchte sie ein Jahr lang das Internat The Lodge, eine Art Höhere Töchterschule. Hier lernte sie neben der englischen Sprache kochen sowie Handarbeit und nahm an Kursen in Geografie, Geschichte und Botanik teil.

Louise Schnyder, Anfang der 1940er-Jahre. Die studierte Lehrerin hatte stets ein enges Verhältnis zu ihrem Sohn Franz. Die Rolle als Hausfrau und Mutter entsprach jedoch nicht ihrer Vorstellung von Selbstverwirklichung.

Das Reisen im In- und Ausland gehörte auch in späteren Jahren zu Louises Lieblingsbeschäftigungen, wobei sie besonders gerne Kunstmuseen besuchte. Ihre Beziehung zu Franz war vertraut und herzlich. Er unternahm mit seiner Mutter nach Beginn der ersten beruflichen Erfolge oft Ausflüge oder Kurzreisen, zum Beispiel nach Venedig, und verwöhnte sie mit Aufenthalten in den schönsten Hotels. Gerne hätte Louise in ihrem Beruf weitergearbeitet, doch wurde Lehrerinnen damals bei der Heirat nahegelegt, ihre Profession aufzugeben. Louise hatte, so wie die meisten Schweizer Mütter aus bürgerlichen Familien, die Erzieherinnen- und Betreuerinnenrolle zu erfüllen. Eine eigenständige Stellung ausserhalb der Familie war ihr gemäss damaligen Geschlechterrollen nahezu verwehrt. Der zentralen mütterlichen Position in der Kindererziehung und -versorgung stand die des Vaters als Ernährer und familiärer Vertreter für die Aussenwelt gegenüber. Das Mutter-Kind-Verhältnis entwickelte sich deshalb als so bedeutend, dass es den Vater nahezu ausschloss.8 Diese Rollenverteilung galt so auch im Hause Schnyder.

Aus der fehlenden Erwerbstätigkeit entstand eine lang anhaltende Frustration, die Louise Schnyders Wesen stark beeinflusste und zu Spannungen innerhalb der Familie führte. Kindermädchen blieben nicht lange; meist zerstritten sie sich so sehr mit der Hausherrin, dass sie bereits nach wenigen Tagen das Weite suchten. Hausarbeit und Kochen verrichtete Louise nur ungern, und auch die Untervermietung von Zimmern an Studenten des Technikums geschah gegen ihren Willen. Das Nachtessen bestand für den Vater häufig nur aus Milch, Schokolade und einem Stück Brot. Wenn mal ein Knopf lose war, blieb ihm oft nichts anderes übrig, als in ein Burgdorfer Café oder Restaurant zu gehen, wo ihm eine Serviertochter diesen wieder annähte. Louise träumte insgeheim von einem anderen Leben – an der Seite eines reichen Mannes, der ihr ein Leben in Luxus ermöglichen könnte. Was Max ihrer Meinung nach fehlte, versuchte sie schliesslich, mithilfe ihrer Söhne zu kompensieren. In deren Erziehung förderte sie die Entwicklung von Ehrgeiz und Disziplin, damit sie später im Beruf reüssierten.

Louise war eine starke, in mancher Hinsicht auch moderne Frau. So besass sie bereits 1925 eine Fahrbewilligung für einen «Motorwagen Zünd». Sie überragte ihren Gatten mit ihrer Körpergrösse um ganze sechs Zentimeter und äusserte mit ihrer selbstbewussten, dominanten Persönlichkeit gerne und deutlich ihre Meinung. Ein Brief an ihre zwölf Jahre jüngere Schwester Ida Steiner (1894–1923) verdeutlicht ihre Lebenseinstellung. Rund ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb sie am 14. Dezember 1914: «Liebes Idali, das Leben ist eine Schule in welcher es heisst: Du musst; auch wenn Du nicht willst. Und wenn es einem in dieser Schule hart geht, so soll man denken, offenbar ist es dem Lehrer Mühe wert mich hart anzufassen. […] Es ist keine Kleinigkeit, in dieser Welt die Dinge zu begreifen. Es kommt hie und da vor, dass man vor 2, 3 Wegen steht. […] Diese Scheidewege aber sind nicht so häufig, gewöhnlich steht dem Menschen nur eine Strasse zur Verfügung auf der er gehen muss.» Ihr Mann litt im Verlauf der Ehe stark unter den inneren Konflikten seiner Frau. In einem Brief aus dem Jahr 1964 an Franz schrieb der 87-Jährige: «Die übermässige Konzentration auf ihre eigene Person, die sie nicht erkennen will, ist das grosse Übel. Vor ca. 30 Jahren habe ich ihr schon gesagt, dass dieses übermässige ‹Ich-Gefühl› wie eine Schlange auf sie wirkt, die sich selbst auffrisst. Sie ist sehr unglücklich, weil sie zu sehr grübelt.» Die Ursache für ihr Leiden sehe sie nicht bei sich selbst, sie mache ihr Umfeld dafür verantwortlich. Als Mutter jedoch sei «sie Euch allen gut», so Max Schnyder im Brief an seinen Sohn.9

Max – Der Ernährer

Indes als «ganz lieb» bezeichnet Barbara Lamparter, Tochter von Felix Schnyder, ihren Grossvater Max Schnyder. Zu Hause hatte er nicht viel zu sagen. Er suchte sich daher Tätigkeitsfelder, wo seine Meinung zählte, wie in der Burgdorfer Kommunalpolitik. Auch wenn der Vater einen völlig anderen Beruf ausübte als sein Sohn Franz, einte beide doch ein gewisses schöpferisches Talent sowie die Fähigkeit, Produktionsprozesse detailliert und effektiv zu planen.

Der intelligente und lebhafte Architektensohn Maximilian Schnyder wurde am 13. Oktober 1877 inmitten der Industrialisierung in der Gemeinde Kriens geboren. Er studierte Bauingenieurwesen an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Ab 1900 verbrachte er erste berufliche Jahre in Frankreich sowie in Lemberg, Polen, als Leiter eines technischen Büros einer grossen Bauunternehmung. 1906, mit 29 Jahren, waren für ihn die Lehr- und Wanderjahre vorbei. Es zog ihn zurück in die Schweiz in ein solides, bürgerliches Leben, auch, weil er im Jahr zuvor geheiratet hatte und im Juni sein Sohn Konrad zur Welt gekommen war. So trat er eine Stelle als hauptamtlicher Lehrer am Kantonalen Technikum in seiner Wahlheimat Burgdorf an, wo er 40 Jahre lang Baustatik, Eisenbeton-, Stahl- und Brückenbau unterrichtete. Bei seinen Studenten war Max Schnyder sehr beliebt. «Diese erkannten rasch, dass sie nicht bloss graue Theorie zu lernen hatten, sondern ihnen die Gelegenheit geboten war, sich ein solides Fundament für die Praxis zu erwerben. Bei seinem Rücktritt im Frühjahr 1946 vom Lehramt wurde deshalb nicht nur von der Schulleitung aus sein Wirken sehr lobend gewürdigt, sondern eine grosse Zahl ehemaliger Schüler fand sich zu einer besonderen Feier ein, um ihrem einstigen Lehrer, Berater und Freund ihre Verehrung, Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu bekunden»,10 so der ehemalige Burgdorfer Stadtschreiber Fritz Fahrni 1965.

Neben der Lehrtätigkeit führte Schnyder senior sein eigenes erfolgreiches Ingenieurbüro. Aufträge kamen aus dem In- und Ausland. Er entwarf und konstruierte insbesondere Brücken und Silos, etwa den der Handelsmühle Dür in der Burgdorfer Buchmatt, ein «schönes, imposantes Wahrzeichen wirtschaftlicher Initiative». Dank seiner «gewaltigen Schaffenskraft» gelang es ihm, sich neben Lehramt und Ingenieurarbeiten in seiner Freizeit auch noch politisch zu engagieren. Von 1922 bis 1955 wirkte er als Vertreter der Freisinnig Demokratischen Partei (FDP) in rund einem Dutzend städtischer Behörden, unter anderem als Stadtratsmitglied, Mitglied des Gemeinderates sowie Präsident der Baukommission.

Max Schnyder war aufgeschlossen, fortschrittlich und uneigennützig, besass einen scharfen Verstand und eine menschlich warme, humorvolle Art.11 Es drängt sich der Gedanke auf, dass Vater Schnyder, nicht zuletzt wegen der häufig unzufriedenen Gattin, nicht ungern viel Zeit ausserhalb seines Zuhauses verbracht haben mochte. Trotz alledem mag folgender Satz der Wahrheit entsprochen haben: «Er genoss in seinem schönen Heim auf dem Gsteig, an der Seite seiner Lebensgefährtin, immer wieder erbauliche Stunden der Erholung.»

Maximilian Schnyder, Ende der 1940er-Jahre. Der Ingenieur war am Kantonalen Technikum in Burgdorf tätig und bei Kollegen wie Studenten sehr beliebt. Franz’ Filme erfüllten ihn mit Stolz.

Die Beziehung zu den Söhnen war kameradschaftlich. Dabei verfolgte Max Schnyder beglückt deren erfolgreiche berufliche Laufbahn, die nicht nur bei Franz aussergewöhnlich verlief: Konrad wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und Inhaber der Firma CWS, welche die berühmten Handtuchspender international handelte. Felix arbeitete nach seinem Jurastudium als hochrangiger Diplomat, unter anderem als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge in Genf. Die Söhne blieben bis in Max Schnyders hohes Alter seine grösste Freude und ein beliebtes Gesprächsthema. In einem Brief aus dem Jahr 1958 verdeutlicht er seinen Stolz und dass er seine Rolle als Vater, aber auch die der Mutter, durchaus kritisch reflektierte: «Ein Testament mache ich nicht, da ich wohl weiss, dass meine Söhne sehr anständige Bürger geworden sind. Obschon Ihr mir nie viele Mühe gemacht habt und [mir] Euer beruflicher Erfolg ausserordentliche Freude bereitet, so nehme ich doch an, dass mir in Eurer Erziehung viele Fehler passiert sind, die Ihr mir vergeben müsst, da Euch ja nichts anderes übrig bleibt. Es ist mir gleich gegangen, wie allen Vätern.» Nachdem er erläutert hatte, wie und wo er begraben werden wollte, schrieb er abschliessend: «Das sind meine Wünsche, die ich Euch ausspreche, nebst dem Dank für die Freude, die Ihr mir gemacht, in einem Masse, wie es sie nicht jeder Vater erleben darf.»12

Noch bis in die letzten Wochen seines Lebens war Max Schnyder beruflich aktiv. Am 7. April 1965 starb er schliesslich mit 87 Jahren ohne längere Krankheit einen sanften Tod. Seine Gattin folgte ihm nur wenige Monate später, am 18. September, in Zürich. Beide wurden auf dem Burgdorfer Friedhof beigesetzt. Später fanden hier auch Felix und Franz ihre letzte Ruhe.

Der junge Franz

Franz Schnyders Kindheit und Jugend waren, wie damals vielerorts üblich, von erzieherischer Strenge und Verzicht geprägt. Als er vier Jahre alt war, brach in Europa der Erste Weltkrieg aus. Im Grossen und Ganzen wuchs Franz zwar ohne finanzielle Not auf, doch bestanden zu Kriegszeiten auch in der Schweiz Versorgungsengpässe, welche die Familie Schnyder mitbetrafen. In Franz Schnyders Nachlass befinden sich noch einige Lebensmittelmarken aus dieser Zeit, die zum Kauf bestimmter rationierter Waren berechtigten. Aufgestanden wurde jeden Tag um fünf Uhr morgens, sogar an den Wochenenden. Alle drei Buben besuchten zunächst die Burgdorfer Primarschule und anschliessend das dortige Gymnasium, an dem Franz häufig Theater spielte.13 In der Freizeit las er viel, spielte Klavier und war Mitglied der Hörspielgruppe Bern. Mit Tennis, Skifahren und Schwimmen kam auch der Sport nicht zu kurz. Felix und Franz waren ausserdem bei den Pfadfindern.

Gegen aussen schien eine gewisse Fassade gewahrt, nämlich die der klassischen gebildeten Mittelstandsfamilie. Zu dieser zählte im Falle der Familie Schnyder ein stattliches Haus, ein angesehener Vater, eine treusorgende Ehefrau und Mutter sowie die drei gesunden, tüchtigen Söhne. Doch bei näherer Betrachtung entdeckt man Risse – keine grossen, aber vielleicht entscheidende, die gewiss auf Franz’ Persönlichkeitsentwicklung Einfluss hatten. Sein Innenleben heutzutage zu erfassen oder bloss zu skizzieren, mehr als ein Jahrhundert nach seiner Geburt und 26 Jahre nach seinem Tod, ist ein schwieriges Unterfangen, weil die wichtigsten Verwandten und etliche Weggefährten bereits verstorben sind. Ausserdem besass er nur wenige gute Freunde und längere, dauerhafte Beziehungen. Der Umstand, dass er über sein Privatleben öffentlich kaum und nur ungern sprach, schwächt die Quellenlage, sagt aber wiederum etwas über seine verschlossene Persönlichkeit aus. Anhand von Aussagen von Zeitzeugen, autobiografischen Dokumenten und Briefen lässt sich allerdings ein relativ umfassendes Bild seines Charakters erkennen.

In seiner im Jahr 1990 im Alter von 80 Jahren verfassten, unveröffentlichten – und vermutlich auch nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmten – Autobiografie mit dem Titel «Gläubet Ihr nicht, so bleibt Ihr nicht» gewährt Franz Schnyder immerhin mal kürzere, mal längere Einblicke in verschiedene Lebensphasen und Gemütslagen. Sie ist eine Mischung aus biografischen Anekdoten, Bibelzitaten, Briefen und kommentierten Pressetexten und liest sich wie eine schonungslose Abrechnung mit der Schweizer Filmpolitik, dem Schweizer Filmschaffen sowie der Presse. Beim Lesen dieses Textes ist aber Vorsicht geboten. Zwar mag es sich hier auf den ersten Blick um eine wertvolle Originalschrift handeln, die wichtige Informationen sowie intime und private Einsichten enthält. Die Art und Weise, wie das Schriftstück – formal und inhaltlich – verfasst wurde, lässt aber den Eindruck entstehen, dass der Geisteszustand des Autors damals bereits instabil war. Stellenweise ähnelt das Dokument einem Gedicht. Die Seiten sind dort nur zur Hälfte gefüllt, scheinbar willkürlich sind manche Sätze in grösserer Schrift getippt als andere.

Ende 1920er-Jahre: Felix und Franz Schnyder im Freibad Burgdorf. Das Schwimmen gehörte zu ihren Leidenschaften, die Zwillingsbrüder spielten aber auch Tennis und fuhren Ski.

Da sind etliche sehr kurze, versatzstückartige Textstellen und oftmals drei Punkte zwischen einzelnen Wörtern gesetzt. Inhaltlich hält sich Schnyder in seinen Erzählungen nur selten an die Chronologie der Ereignisse; gerne springt er vom Dritten Reich zur Französischen Revolution oder von den 1980er-Jahren zurück zur Entstehungszeit von «Gilberte de Courgenay» ins Jahr 1940. Die wiedergegebenen Ereignisse und Szenen sind von extrem unterschiedlicher Länge und ergeben für die Leserin, den Leser zeitweilig auch keinerlei Sinn, da sie Anspielungen enthalten, die nur bestimmte Personen verstehen können, beispielsweise Journalisten oder Politiker. Manche Texte wirken wie im Rausch geschriebene innere Monologe, die durchaus unterhaltsam zu lesen sind und im Folgenden auch an geeigneten Stellen zitiert werden.

Die Brüder Felix und Konrad

Das Verhältnis der Zwillinge Felix und Franz war bis ins hohe Alter positiv und fürsorglich. Kurz vor beider Tod soll es zwar einen heftigen Streit gegeben haben,14 doch im Grossen und Ganzen hegten sie ein starkes gegenseitiges Interesse am Berufs- und Privatleben des anderen. Für regelmässige Treffen scheute Franz keine Transatlantikreisen, so etwa mehrmals in die USA, wo Felix lange im diplomatischen Dienst tätig war. Letzterer tat sein Möglichstes, um an den Filmpremieren des Bruders teilzunehmen.

In der autobiografischen Schrift existiert eine bemerkenswerte Passage mit der Überschrift «Felix»:

«So ein heimeliges Schlafzimmer … Blumen, Blumen, Blumen. Und es krähte, spektakelte … Oh, das süsse Kindlein … Da war grosses Staunen! Der Herr Doktor Mosimann und meine gute Mutter, die beiden täschelten, küssten das Knäblein … Und der hilfreiche Arzt bettete es in eine reizende Wiege … richtig gerührt. ‹Felix› so soll’s getauft werden! Jubelte glücklich meine Mutter … ‹Felix› Da guckte der Herr Mosimann auf seine Uhr. ‹Hab’s eilig … ein anderes Mutti …› ‹Heee!› schimpfte ich. ‹Will doch auch ans Licht …› Da fuhren Mutti und Doktor zusammen, nicht eben erfreut … ja, eher enttäuscht … Doch das ging mich gar nichts an … Und so kam ich auf die Welt … ‹15 Minuten und 38 Sekunden nach dem lieben Felix!› So hat’s der Mosimann gestoppt. ‹Und diese runden 15 Minuten begleiteten mich mein Leben lang.›»15

Offenbar litt Franz zeitlebens unter dem Vergleich mit seinem Bruder Felix, oder zumindest phasenweise, etwa während der Schulzeit ab 1916. Franz war ein fleissiger, guter Schüler. Aufgrund der besseren, gar exzellenten Noten seines Bruders stand er aber meistens in dessen Schatten. Eine Mitschülerin empfand Felix bereits damals als «Gentleman britischen Zuschnitts» und eine «Respektsperson».16 In Franzens Zeugnissen sind fachliche Schwächen nicht zu übersehen: in der Primarschule im Fach Schreiben und am Gymnasium in Französisch und Italienisch. Im Turnen und Freihandzeichnen gelang ihm jedoch meistens die Bestnote. Sein Betragen war stets «ziemlich gut» bis «gut». Im Schülertheater spielte er bereits die Hauptrolle. In seiner «Autobiographie II. Teil» – einer losen, selbst getippten Blattsammlung, die er zwischen 1992 und 1993 in der Psychiatrie verfasste – erinnert er sich: «Dann in der Tertia unseres Gymnasiums führten wir Goethes ‹Iphigenie› auf. Ich durfte den Orestes mimen. Und das bestimmte meine Berufswahl. Schauspieler …»17 Seine nicht an die von Felix heranreichenden schulischen Leistungen aber wurden schliesslich zu solch einer Belastung, dass man das Brüderpaar separierte und in unterschiedliche Klassen einteilte.

Detailgenau schildert Franz Schnyder in der «Autobiographie» ausserdem einen Vorfall, der sich während der letzten Jahre im Gymnasium ereignet haben soll und dessen Nacherzählung, falls sie der Wahrheit entspricht, Schnyders selbstbewusstes Verhalten gegenüber Obrigkeiten verdeutlicht: «In der Sekunda wurde ich – über Nacht – zum Rebell. Ein Deutschlehrer – Leo Wolf, aus Germanien – meinte: ‹Schreibt einen Aufsatz über Das Berner Bauernhaus.› Ich lieferte ganze drei Sätze ab: ‹Es hat mir geträumt … Sie, Herr Wolf, wollen näheres über das Berner Bauernhaus erfahren? Gucken Sie selber bei einer Bauernfamilie nach …› Totenbleich, fassungslos erschien der überraschte Wolf: ‹Schnyder! Sie sind verrückt!› ‹Das …›, so meinte ich gelassen, ‹ist nicht von Gewicht. Sie wiederum, verehrter Herr Wolf, sollten sich beschränken, mir nach Gusto eine Note zu geben …› Am Nachmittag erschien dann der Rektor – Lutherbacher – bei meinem Vater.»

Im weiteren Verlauf ihrer Leben entwickelte sich Felix dann zu demjenigen, der, so der Regisseur Christoph Kühn, im Gegensatz zu Franz, «kein Träumer» und «am Boden geblieben» war. In seinem Dokumentarfilm «FRS – Kino der Nation» (1984), einem so sensiblen wie intelligenten Porträt, begleitete Kühn das Brüderpaar nach Burgdorf. Die betreffende Sequenz zeigt zunächst Franz, der auf dem Perron des dortigen Bahnhofs auf Felix’ Ankunft wartet. Erfreut blickt Franz auf die Gleise, dann ungeduldig auf die Bahnhofsuhr und schliesslich zum einfahrenden Zug. Als Felix – vornehm gekleidet in Anzug, Krawatte und mit Einstecktuch – auf der Ausstiegstreppe erscheint, begrüsst ihn Franz mit: «Mäusi!» [Schweizerdeutsch für «kleine Maus»], und nimmt ihm sofort den Koffer ab. Eine Umarmung findet nicht statt, ebenso kein Handschlag. Die beiden gehen respektvoll und leicht distanziert miteinander um. Während sie in ein nahe gelegenes Restaurant zum Essen und anschliessend zum Grab der Familie gehen, hört man im Off ein Gespräch zwischen Felix Schnyder und Regisseur Kühn. Darin wird Felix gefragt, ob er nie Konkurrenz zu seinem Bruder empfunden habe. Ohne Zögern antwortet dieser: «Konkurrenz habe ich nie empfunden, weil unsere Lebenswege so weit voneinander entfernt waren. Ich bin jahrzehntelang fast immer im Ausland gewesen. Aber immer wieder, wenn wir in der Schweiz zusammengekommen sind, waren wir so vertraut wie früher. […] Franz gehört zu den Menschen, die mir am nächsten stehen. Und wahrscheinlich auch umgekehrt.»

Angesprochen auf Gemeinsamkeiten erklärt Felix weiter, dass Franz, im Gegensatz zu ihm, schon früh im Leben eher literarische Interessen gehabt habe. Franz habe viel gelesen und dafür weniger Sport getrieben. Ausserdem fuhr Felix gerne in den Ferien in die Pfadfinderlager, wohin Franz nie mitkam. Die Brüder verband jedoch die Eigenschaft, «unsere Aufgabe vor unsere Person zu stellen». Louise Schnyders erzieherischen Einfluss auf die Ambitionen ihrer Söhne kommentierte Felix anschliessend: «Die Mutter selbst war auch von einem unbändigen Willen beseelt, immer wieder mehr zu erleben, mehr zu erfahren, mehr zu wissen. Sie hat uns sicher Ehrgeiz mitgegeben, vielleicht aber eher eine Unternehmungslust, die uns das ganze Leben begleitet hat. Der Franz hat sicher davon mehr mitbekommen als ich.» Barbara Lamparter empfand ihren Vater als «brav und angepasst», also völlig anders als Franz, der auch noch ziemlich «dickköpfig» war. Ausserdem soll Franz mehr Geld ausgegeben haben, etwa für modische Kleidung, denn er war «sehr eitel». Dagegen war Lamparters Vater ausgesprochen sparsam. Franz bezeichnete seinen Bruder in diesem Zusammenhang gerne als «Eichhörnchen, das Nüsse verscharrt», denn Felix war finanzielle Sicherheit sehr wichtig.

Die heranwachsenden Brüder Franz und Felix (rechts), aufgenommen in einem Burgdorfer Fotoatelier in den 1920er-Jahren. Äusserlich ähnlich – in Anzug und Krawatte –, waren die beiden jungen Männer in ihrem Wesen sehr unterschiedlich.

Im Gegensatz zu Franzens verlief Felix’ berufliche Laufbahn geradlinig steil nach oben: Nach dem Rechtsstudium in Bern war er ab 1938 zunächst in der Privatwirtschaft tätig. Zwei Jahre später begann er für das Eidgenössische Politische Departement18 zu arbeiten, was seine diplomatische Karriere einleitete. Zahlreiche Auslandseinsätze folgten: Moskau, Berlin, Washington, Tel Aviv. Von 1958 bis 1961 war Felix Schnyder als ständiger Beobachter der Schweiz bei den Vereinten Nationen (UN) in New York und als Vertreter der Schweiz bei der Unicef tätig. In den Jahren 1961 bis 1965 wirkte er als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge in Genf und von 1966 bis zu seiner Pensionierung 1975 als Schweizer Botschafter in Washington. Verheiratet war er mit Sigrid Bucher; die gemeinsame Tochter, Barbara Lamparter, wurde 1943 geboren. Die Ärztin und Bildhauerin lebt heute in Zürich und im Tessin.

In einem Nachruf in der Neuen Zürcher Zeitung von 1992 steht geschrieben: «Die Aufzählung der beruflichen Stationen, so eindrücklich sie auch ist, vermag aber der Statur von Felix Schnyder nicht voll gerecht zu werden, wenn nicht auch sein Wesen und seine Persönlichkeit gewürdigt werden. Wer ihn kannte, weiss – über das Professionelle hinaus – um seine lebendige Vielseitigkeit, seine Offenheit den Mitmenschen gegenüber, seine geistige Beweglichkeit, die Originalität seines Denkens. Dazu kamen seine Führungsqualitäten, gepaart mit dem Enthusiasmus, den er seinen Mitarbeitern […] einzuflössen vermochte. Nie war es eintönig in seiner Gegenwart. Geist, Ideenreichtum und Initiative begleiteten ihn bis ins hohe Alter.»19

In Franz Schnyders Nachlass befindet sich ein Tagebuch seines älteren Bruders Konrad, das dieser 1927 im Alter von 21 Jahren zu schreiben begann. An diesem fällt zunächst auf, dass der Verfasser seinen Vornamen hier nicht mehr mit «K», sondern mit «C» schrieb – wahrscheinlich, weil es ihm schlichtweg besser gefiel. Später wurde diese Schreibweise auch im Namen seiner Firma CWS (Conrad Wolfgang Schnyder) berücksichtigt. An die Geburt seiner Brüder erinnert er sich im November 1927 folgendermassen: «Ich war 4 Jahre alt, damals, als meine Brüderlein auf die Welt kamen. Nicht, dass mir dieser Umstand selbst einen tiefen Eindruck gemacht habe – Nein, nur ein Bild des Zimmers, wo die Neugeborenen schliefen (später befand sich im Raum das Bureau) ist mir geblieben. Dunkel, Betten, ein breites Nachtgeschirr, und eine einäugige, hässliche Hebamme …»20 Offenbar beeindruckte ihn die Ankunft der Zwillinge weniger als die Umgebung und das Aussehen der Geburtshelferin.

Eine Passage in Franz’ Autobiografie dokumentiert, dass das Verhältnis zu Conrad während der Kindheit problematisch war: «Und wir liebten uns innig, Felix der ältere, und Franz der jüngere … Doch da zeigte sich noch einer: Conrad Wolfgang … volle 4 Jahre älter …: Felix, der ältere und Franz, der jüngere: unbarmherzig verdrosch er uns … schrien, wimmerten, klagten, litten stumm … unmenschlich, ganz ohne Mitleid …» Louise schrieb an ihre Schwester Ida im Januar 1920 über den 14-jährigen Sohn: «Er [Konrad] ist stark und gross und hat, wenn es ihm nicht darauf ankommt noch ein böses Maul!» Dennoch war Conrad ihr Lieblingssohn. An zweiter Stelle folgte Franz, zuletzt kam Felix. Barbara Lamparter bezeichnete Conrad als «originell», als jemand, «der immer ganz verrückte Sachen» machte. Der Vater trug in seinem Portemonnaie eine Fotografie seines Ältesten bei sich, auf dem sich dieser mit nur einem Arm an der Regenrinne des Burgdorfer Gymnasiums festhält.

Dort hing der junge Conrad in luftiger Höhe so lange er konnte und zur Freude eines staunenden Publikums. Diese auch heute noch spektakulär wirkende Aufnahme zeigte Max Schnyder gerne und voller Stolz jedem, der sie sehen wollte.

Conrad Wolfgang Schnyder, der spätere Gründer der Firma CWS, als junger Mann am Dach des Burgdorfer Gymnasiums hängend. Ein waghalsiger Stunt oder eine Fotomontage?

Im Jahr 1927 verbrachten die Schnyders ihre Sommerferien in der französischen Hafenstadt St. Malo. Ein aussergewöhnlicher Urlaub, da solche Reisen zur damaligen Zeit eher wohlhabenden Familien vorbehalten waren. Zwei Wochen danach schrieb der 21-jährige Conrad – vermutlich hatte er gerade seine kaufmännische Ausbildung absolviert – in sein Tagebuch, dass es während der Ferien zu Spannungen zwischen der Mutter und einem seiner Brüder gekommen war. Selbstkritisch reflektierte er sein eigenes damaliges Verhalten: «Vor 14 Tagen bin ich aus den Ferien in St. Malo zurück gekehrt. Trotz dem ich viel Vergnügen gehabt habe – und noch mehr hätte haben können – so verursacht mir die Erinnerung an die 14 Tage Bretagne schmerzliche Gefühle; Gefühle, die bei mir nur entstehen können, wenn ich mich selber anzuklagen habe. Ich klage mich an einer schlechten Aufführung, Nervosität und Ungeduld der Mutter, dem Bruder gegenüber. Da, sogar als es regnete, wo ich Sonnenschein wollte, habe ich den Weltorganismus verflucht! Nicht genug damit dauerte der Zustand der Halt- u. Würdelosigkeit drei Wochen nach den Holidays an. Jetzt erst habe ich den Faden wiedergefunden.»

Conrad schrieb ausserdem, dass es ihm ein Bedürfnis sei, den Grund dieser Vorfälle zu ermitteln, und dass er diesen zunächst in seiner eigenen, zu hohen Erwartungshaltung an die Ferien sah. «Ich sagte zu mir: Ich will geniessen wenigstens 14 Tage im Jahr. Gut. Der in der Vorstellung blaue Himmel war nun grau – ich fluchte. Der vermutete reibungslose Verkehr mit Mutter und Bruder wurde in Wirklichkeit anders – weil es eben andere Naturen als ich sind und auch persönliche Willensäusserungen haben. Sie wollten Dinge, die ich im Programm nicht vorgesehen hatte, so war ich ungehalten. Ich beachtete nicht, dass die Mutter von der Arbeit auch ermüdet war und deshalb manchmal nervös wurde, dass der Bruder aber noch ein Kind ist und von ihm nicht eine meiner Leistung entsprechende erwartet werden kann. Und ferner wolle ich nun einmal sehr viele Liebschaften in dieser kurzen Zeit durchbringen – das brachte auch wieder eine Abhängigkeit in dieser Frage mit sich.»

Sein Resümee fiel bitter aus, und die Analogie zur pessimistischen Geisteshaltung der Mutter, wie etwa im zuvor zitierten Brief an die Schwester Ida beschrieben, ist auffällig: «Das Ziel darf nie aus dem Auge verloren werden. Das Ziel bedeutet wachsen. Wenn ich also wieder in die Ferien gehen werde so werde ich vorher zu mir sagen: ‹ich gehe in die Ferien. Es wird der Zug vor der Nase wegfahren, ich werde die Brieftasche verlieren, ich werde mich erkälten […].› Doch ich werde die Haltung nicht verlieren, denn ich werde zu mir sagen: ich ging nicht nur in die Ferien, um mich zu freuen, sondern auch um meine Haltung zu bewahren. […] Gewöhne Dich daran zu sagen: der Wille befiehlt nur dies und jenes. Dies nun ist nun zu tun; denn ich habe gar keine Möglichkeit mich dem Befehl zu widersetzen. Du sagst Dir jeden Tag: Dein Wille ist heilig, dein Wille ist heilig. Und wenn der Körper in der Entwicklung nicht schritthalten will, so heisst es: Befehl – widerspruchslos!! […] Bewahre die Haltung, schweige, und sei genügsam.»

Conrad verliess sein Elternhaus endgültig im März 1928, um nach Karatschi in Indien zu reisen. Dort arbeitete er fünf Jahre lang bei der Firma Gebrüder Volkart, die damals das in der Schweiz führende Unternehmen im Handel mit Kolonialwaren und Baumwolle war und weltweit 7600 Mitarbeitende zählte. Der Stammsitz befand sich in Winterthur, Zweigstellen gab es neben mehreren in Indien auch in London, New York und Singapur. Für Louise Schnyder bedeutete dieser Schritt eine schwierige Trennung. Am 13. März 1928 schrieb sie ihrer Schwester Johanna: «Heute segelt Konrad von Venedig ab und ist ca. 3 Wochen auf dem Meere, gestern morgen 8 Uhr hat er von mir Abschied genommen; damit überlasse ich ihn dem Leben.» Im Mai informierte sie Johanna erneut: «Konradli geht es gut in Indien, aber ich glaube er leidet an Heimweh. Er ist doch noch gar jung für so weit fort zu sein. Vielleicht schreibst Du ihm auch einmal eine Karte, er freut sich.»

Auf Besuch bei seiner Familie in Burgdorf brachte Conrad ein besonderes Geschenk mit. Neben Disziplin und Strenge wurde erfreulicherweise auch eine gewisse Libertinage zugelassen, jedenfalls was das Halten von Tieren, genauer gesagt mehreren Hunden und zeitweilig bis zu 30 Katzen, betraf. Barbara Lamparter amüsierte diese Erzählung als junges Mädchen, und sie erinnert sich auch heute noch gerne an sie: «Conrad war in jungen Jahren in Afrika gewesen und hat von dort ein Puma-Baby nach Hause mitgebracht. Mit dem sind sie spazieren gegangen. Irgendwann hat es dann der Milchfrau, die immer die Milch gebracht hat, ein Ohr und den Sonntagshut angefressen. Und dann mussten sie es in einen Wanderzirkus geben. Dort hat es aber nicht gut gefressen. Huscheli haben sie es genannt. Huschi heisst auf Schweizerdeutsch ‹kleines Ding›. Weil es nicht gefressen hat, mussten die Jungs dem Wanderzirkus nachreisen, jeden Sonntag, und es füttern.»

«Spiegelbild» schrieb Franz auf die Rückseite dieser Aufnahme, die ihn als 19-Jährigen zeigt. In einem Waschraum entstanden, zeugt sie von seiner frühen künstlerischen Experimentierlust.

Im Jahr der Weltwirtschaftskrise, 1929, bestand Franz am Burgdorfer Gymnasium die Matura. Er legte die Prüfungen ein Jahr nach seinem Bruder Felix ab, da er 1923/24 ein Schuljahr am Progymnasium hatte wiederholen müssen. Das Gymnasium an der Pestalozzistrasse 17, gegründet 1873 als grösste Maturitätsschule im Kanton Bern, befindet sich noch heute unweit des Elternhauses, die Buben hatten also keinen weiten Schulweg. Sie waren nun stattliche junge Männer geworden, die endlich die Welt ausserhalb Burgdorfs kennenlernen wollten. Aus der Zeit existieren zwei Porträtfotos der Zwillingsbrüder, auf denen die unterschiedlichen Charaktere deutlich erkennbar sind. Während Felix in einem Fotoatelier abgelichtet wurde, in Anzug und Krawatte, die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt, selbstbewusst in die Kamera blickend, handelt es sich bei Franz’ Foto um ein Selbstporträt, das er vor einem grossen Wandspiegel, vermutlich in einem Waschraum, aufnahm. Die Kamera mit beiden Händen haltend, ebenfalls in Anzug und Krawatte gekleidet, blickt er prüfend von unten in sein Antlitz im Spiegel.

Die Tanten Ida, Hanni und Frieda

Gewissenhaft sorgte Louise dafür, dass ihre Söhne bereits in jungen Jahren die schulischen Pflichten sorgfältig erfüllten, um später die besten beruflichen Chancen zu erhalten. Im Januar 1920 schrieb sie an ihre Schwester Ida: «Es geht ihm [Konrad] nun gut in der Schule, aber mit den Kleinen muss ich tapfer lernen, denn sie müssen im Frühjahr die Prüfung ins Gymnasium machen.» Eine ständig beschützende, kontrollierende Mutter war Louise dennoch nicht. Sonst hätte sie ihre Kinder nicht so häufig in die Obhut einer ihrer drei Schwestern gegeben, um ihren Mann auf beruflichen Reisen ins Ausland, etwa nach Lemberg oder Wien, zu begleiten, sich auf diese Weise von ihren familiären Aufgaben zu erholen und Anregungen zu finden, die ihr in Burgdorf fehlten. Verschiedenen Briefen und Postkarten kann man entnehmen, dass das Verhältnis der gesamten Familie Schnyder zu Louises drei Schwestern, insbesondere zu Ida und Johanna, sehr gut war und diese beiden Tanten Vertrauenspersonen für Franz und seine Brüder waren.

Als die Schnyder-Zwillinge sieben Monate und Konrad vier Jahre alt waren, kümmerte sich Ida Steiner, die damals in Aarau wohnte, um ihre Neffen. In einem Brief vom 8. September 1911 schrieb ihr Louise: «Gellt, liebes Idali, Du schaust lieb zu den Kindern, ich bringe Dir dann in 14 Tagen eine Ferienchrömli mit. Ich möchte diese Zeit wäre vorüber und ich könnte dann bei Euch sein, aber ich sehe gut, dass es Zeit ist, für mich etwas zu tun. Der Winter ist wieder lang, und die Haushaltung erfordert viel Kraft von mir. […] Konradli war im Zuge sehr müde und wollte nachher sofort schlafen, er war furchtbar müde. Die Kleinen werden nun auch süss schlafen. Idali, tu sie aufs Häfeli morgens, wenn sie erwachen, dann ist es ihnen wohl, nachher noch ein wenig im Trockenen zu ruhen.» Im Jahr darauf schrieb sie ihrer Schwester: «Franzeli spricht immer von Dir, der hat dich so lang er lebt in sein Herz geschlossen.»

Für ihre Ausbildung zur Krankenschwester zog Ida Steiner 1917 nach Lausanne, wo sie am Institut de gardemalades La Source eine dreijährige Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte. Anschliessend folgten berufliche Aufenthalte in Belgien und England. Doch dann erkrankte sie an Tuberkulose, weshalb sie 1922 einen Kuraufenthalt in einem Davoser Sanatorium verbrachte. Ein Jahr später verstarb Ida Steiner mit nur 29 Jahren.

Die Verbindung zu Tante Johanna (1887–1968), genannt Hanni, war offenbar noch wichtiger und enger als die zu Ida, was in zahlreichen Briefen aller drei Schnyder-Söhne sowie von Louise ersichtlich wird. Auch Johanna war Lehrerin und wohnte zunächst wie Ida in Aarau, später dann im nahe gelegenen Gränichen. Bei ihr verbrachten die drei Buben häufig die Ferien. Die Besuche sollten auch im Erwachsenenalter nicht enden. Als 18-Jähriger schrieb ihr Franz: «Es hat mich gefreut, dass ich Dich besuchen konnte, hoffentlich hat Dich unser Geplauder nicht angestrengt. Im Sommer, wenn es etwas wärmer ist, werde ich Dich wieder einmal besuchen, wenn Du es erlaubst.» Auch als Felix und Franz bereits gestandene Männer waren, schrieben sie ihrer Tante weiterhin, erkundigten sich nach ihrem Gesundheitszustand und erzählten von ihrer Arbeit, dem damit verbundenen Heimweh (Franz), und versprachen, bald wieder zu ihr zu reisen.

Frieda Steiner (1886–1931) war Louises dritte Schwester. Auch sie wird in Louises Briefen, etwa an Johanna, erwähnt – doch eher im Zusammenhang mit der elterlichen Erbschaft und Friedas Spitalaufenthalten ab 1928. Frieda gehörte zu den wenigen Frauen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Schweiz ein Medizinstudium absolvierten. 1918 legte sie an der Universität Genf ihr Examen ab, zwei Jahre später erlangte sie an der Universität Lausanne den Doktorgrad. Über ihre weitere berufliche Tätigkeit ist nichts bekannt. In einem 1928 verfassten Brief von Louise an Johanna steht, dass Frieda damals Patientin im Kantonsspital Zug war, wo Louise sie auch besuchte. Frieda Steiner starb 1931 – genau wie acht Jahre zuvor ihre Schwester Ida – an Tuberkulose.

Die Theaterjahre1929–1940

Den mutigen Schritt zum Künstlertum und damit auch zu seiner Selbstverwirklichung beschrieb der alte Franz Schnyder rückblickend: «1929 im Herbst … Seltsam: über eine unendliche Zahl von Kilometern findet sich kein Beispiel … Wie kam denn ich dazu, nach Berlin zu wallfahren, um mich mit dem Leben des Theaters und schliesslich der Filmwelt vertraut zu machen? Der innere Kern liegt in meiner charakterlichen Anlage … Seit ich bewusst lebe, lehne ich mich gegen jegliche Bevormundung auf … Sicherlich zu unrecht … Keiner meiner Lehrmeister hatte im Sinn, mich zu unterdrücken, zu liebesdienerischem Gehorsam zu bewegen … So kam für mich ein bürgerlicher Beruf nicht in Frage … Es war wohl ‹Glück› …»21

Die Matura in der Tasche, ging Schnyder ohne Umweg an das nächstgelegene Bühnenhaus. Am Stadttheater Bern begann er, als Assistent in der Bühnendekorationsmalerei von Ekkehard Kohlund, dem Vater des bekannten Schauspielers und Regisseurs Erwin Kohlund, zu arbeiten. Gleichzeitig nahm er Phonetikstunden bei Paula Ottzenn, die festes Ensemblemitglied des Stadttheaters war.

Schnyders Arbeit in Kohlunds Maleratelier dauerte jedoch nur wenige Monate. Auf Empfehlung von Kohlund, Ottzenn und Hans Kaufmann, Direktor des Stadttheaters, beschloss Max Schnyder, seinen Sohn für die Schauspielschule von Louise Dumont und Gustav Lindemann in Düsseldorf anzumelden. Dumont und Lindemann waren die Gründer und Leiter des Schauspielhauses Düsseldorf, dem auch die renommierte Schauspielschule angeschlossen war, zu der nur noch «ganz hervorragende Begabungen» zugelassen wurden: «Wenn Ihr Sohn auf diese Gefahr hin die Reise hierher machen will, kann er an der nächsten Prüfung am 3. Januar nachmittags 5 Uhr teilnehmen und zu diesem Zwecke einige dramatische Scenen oder Monologe vorbereiten.»22 Ottzenn unterstützte Schnyders Bewerbung mit einem Empfehlungsschreiben an Dumont, in dem sie am 30. Dezember 1929 über ihn berichtete: «Franz Schnyder wollte hier als Voluntär anfangen […]. Es ist aber für den Schweizer, der in der Umgangssprache le patois spricht, auch bei grösster Begabung fast unmöglich, den dialektischen Beiklang abzulegen. Deshalb riet ich den Eltern des sehr begabten – sprachlich aber sehr gehemmten Franz Schnyder, keine Zeit zu verlieren und [ihn] in Deutschland studieren [zu lassen]. Er ist aussergewöhnlich intelligent, literarisch für sein Alter unheimlich versiert und sehr persönlich in seinen Auffassungen.»23 Am letzten Tag des Jahres 1929 schrieb Vater Schnyder an das Schauspielhaus Düsseldorf, dass er seinen Sohn in Deutschland ausbilden lassen wolle, «da er in der Schweiz sich die Weichheit der deutschen Sprache nicht aneignen könne, indem diese Weichheit in seinem täglichen Umgange wieder verdorben würde», und wies nochmals auf die für die Deutschen ungewohnte Aussprache seines Sohnes hin, die für einen Schweizer ganz natürlich sei und die Franz dank seines grossen Eifers sicherlich rasch korrigieren werde.

Sowohl er wie auch seine Eltern hätten damals nicht abschätzen können, was ihn erwartete, erinnerte sich Schnyder in reiferem Alter. Hätten sie gewusst, dass nur ein kleiner Teil der Schauspielschüler mit Erfolg von diesem Beruf würden leben können, hätten sie ihn nicht gehen lassen. «Die Nervenprobe ist sehr gross, und man muss gutes Glück haben», sagte er im Jahr 1965.24

Franz Schnyder 1930, am Anfang einer verheissungsvollen Theaterkarriere in Deutschland. Experimentelle Mehrfachbelichtung vor der Tonhalle Düsseldorf.

Die Schauspielschule in Düsseldorf

Sein Vorsprechen war erfolgreich, und so zog Schnyder am 2. Januar 1930 an die Kronprinzenstrasse 18 in Düsseldorf und trat drei Tage später in die Hochschule für Bühnenkunst am Düsseldorfer Schauspielhaus ein. Die Ausbildung dauerte zwei Jahre und wurde in den Fächern Sprechtechnik, Rhythmik, Rezitation, Rollenstudium, Dramaturgie, literarische Besprechung der Schauspielwerke, Gesichtspunkte der Regie, szenische Improvisationen, Theater- und Kunstgeschichte, Unterricht im Schminken und Französisch erteilt.25 Im Februar 1930 schrieb er seiner Tante Johanna, dass er sehr beschäftigt und Düsseldorf eine schöne, grosse Stadt sei. Nur die Luft sei sehr schlecht, wobei er sich zwar sehr gut fühle, aber «trotz Ortswechsel nun 2 kg abgenommen» habe.26

Die Schauspielschule von Dumont und Lindemann schien Schnyder dann doch nicht besonders zu entsprechen, weshalb auf ihn wenig Verlass war und es vorkommen konnte, dass er gar nicht zu Aufführungen erschien. Am 2. Juni erhielt er eine erste Verwarnung: «Sehr geehrter Herr Schnyder! Es wird gemeldet, dass Sie in der Aufführung am 30.5. so spät in die Garderobe kamen, dass es Ihnen nicht möglich war, in Ihrem Auftritt im 3. Akt mitzuwirken. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass wir im Wiederholungsfalle nach den Bestimmungen der Hausordnung handeln werden und Sie die Konsequenzen dann tragen werden müssen. Wir können es nicht verantworten, Schüler für die Bühne vorzubereiten, die nicht im Vollbesitz des hier notwendigen Verantwortungsgefühls sind.»

Gemeinsam mit einem Schweizer Studienkollegen reichte Schnyder ein Gesuch ein, im Juli schon etwas früher in die Ferien verreisen zu dürfen, da sie eine weite Reise auf sich nehmen müssten und überzeugt seien, dass die Schule gut auf sie beide verzichten könne. Im Verzeichnis der Schüler der Hochschule für Bühnenkunst steht, dass Franz auf den 1. September 1930 ausgetreten sei. Dennoch musste er weitere Auftritte wahrnehmen. Mitte Monat wurde er erneut ermahnt, weil er bei einer Vorstellung von «Sturm im Wasserglas» gefehlt hatte.27 Dies schien wohl der Moment gewesen zu sein, in dem sich Schnyder definitiv zum Verlassen der Schule entschieden hatte. Am 25. September verabschiedete er sich schriftlich beim Intendanten Lindemann. «Wollen Sie meine grosse Dankbarkeit entgegennehmen: ich habe an Ihrem Institut ausserordentlich viel gelernt und gesehen; was ich von Düsseldorf mitnehme wird [mir] für mein ganzes Leben wichtig und notwendig sein. Mit grösster Hochachtung Ihr ergebener Fr. Schnyder.»28

Zum ersten Mal in Berlin

Anschliessend zog Schnyder in die deutsche Hauptstadt, wo er an der Witzlebenstrasse 20 wohnte. Zu seiner Vermieterin Gertrud Grünbaum, einer älteren Dame, pflegte er eine enge, persönliche Beziehung. Zunächst nahm er privaten Schauspielunterricht und traf auf Ellen Widmann,29 eine Schweizerin, deren Theaterlaufbahn ebenfalls in Deutschland begonnen hatte.30 Mit ihr arbeitete er später in der Schweiz noch oft zusammen, sowohl im Theater als auch im Film.

Im November 1930 begann er das Studium bei Ilka Grüning und Lucie Höflich. Es gab daneben noch zwei andere Theaterschulen in Berlin: die Schauspielschule des Deutschen Theaters, gegründet 1905 von Max Reinhardt, und die Berliner Schauspielschule des Deutschen Bühnenvereins und der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger. Grüning und Höflichs Schule war unabhängig und deshalb nicht als solche offiziell im «Deutschen Bühnenjahrbuch» registriert. Jedes Jahr wählten die beiden Lehrerinnen zwölf junge Damen und Herren aus, die sie zwei Jahre lang unterrichten würden. Eine davon war die deutsche Schauspielerin Lilli Palmer. In ihrer Autobiografie «Dicke Lilli – gutes Kind» schrieb sie, dass es in ihrer Klasse ein Mädchen gab, das ihr «in puncto Talent das Wasser reichen» konnte. Es war Juana Sujo, die zehn Jahre zuvor mit ihren Geschwistern von Buenos Aires nach Berlin gekommen war, ehe sie auf Schnyder und Palmer traf.

«Der Lehrplan war einfach. Jeder Schüler hatte seine wöchentliche Privatstunde, das heisst, man spielte seine Rolle, während jemand die Stichworte las, und die anderen sahen zu. Frau Grüning oder Frau Höflich unterbrach oder machte ihre Bemerkungen hinterher. Dadurch lernten wir aus dem Unterricht der anderen genau so viel wie aus dem eigenen. Natürlich wussten wir in kürzester Zeit, bei wem sich das Zusehen lohnte. […] Juanitas Unterricht war immer überfüllt. Sie war allen weit voraus», erinnerte sich Palmer.31

Die Sommerferien verbrachte Franz meistens in der Heimat. Im August 1931 hatte er viele Proben für «Jedermann», ein Stück aus der Feder Hugo von Hofmannsthals, das seit 1920 jedes Jahr bei den von Max Reinhardt und von Hofmannsthal gegründeten Salzburger Festspielen aufgeführt wurde. Nun sollte es auch in Burgdorf unter freiem Himmel zur Aufführung kommen. Franz hatte sich bereit erklärt, während der Sommerferien unter der Regie der lokalen Theatergrösse Franz Della Casa senior mitzuspielen. Er fand es jedoch «eine langweilige Sache – es wäre gescheiter gewesen, ich hätte es nicht gemacht», schrieb er an Tante Johanna.