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Die ewige Frage, die es in diesen Kriminalerzählungen zu beantworten gilt, lautet: Wer ist wichtiger, der Mörder oder sein Opfer? Für den Juristen ist die Antwort eindeutig. Natürlich ist es der Mörder, denn mit diesem hat man es ja live vor Gericht zu tun. So ein Mörder ist ungleich interessanter als sein Opfer, weil neben der Schwere der blutigen Tat gerade seine Beweggründe von besonderer Wichtigkeit für die Festsetzung des Strafmaßes sind. Mit derlei langweiligen Überlegungen geben sich die Geschichten in „FRL. M. ORD“ indes nicht ab, weil für sie das Opfer im Vordergrund steht. Der Leser trifft auf Menschen mit den unterschiedlichsten Vorlieben und Abneigungen, die ihnen selbst oder anderen zum Verhängnis werden. Genau damit und vor allem mit den Folgen beschäftigt sich eine ehemalige Vorsitzende Richterin, die nach ihrer Pensionierung die Seiten gewechselt hat. ENDSTATION SENIORENRESIDENZ behandelt dieses Thema kurz und schmerzvoll. Auch der Selbstmord ist ein Mord. Nur, dass hier Täter und Opfer ein und dieselbe Person sind. Ist es für den Außenstehenden überhaupt möglich, eine derartige Konstellation zu verstehen? Was heißt es, wenn man sich IM GRIFF DES KONJUNKTIVS befindet? Darf man als Studentin sein Bafög erotisch aufbessern? Insbesondere, wenn man auf der Schattenseite des Lebens steht? VORSPIEL ZUM UNTERGANG öffnet menschliche Hintergründe, die mehr als überraschen. Bei der Motivlage des Täters tun sich nicht selten tiefe Abgründe auf. Was treibt einen Gefängnisdirektor dazu, einen wildfremden Menschen in seine Gewalt bringen zu wollen? TÖTET DEN MANN AM KLAVIER fordert auf, dass man diesen ausschalten und umerziehen will. Was aber ist, wenn für ein psychisch geschädigtes Opfer ganz neue Wege beschritten werden, um es zu heilen? Wo liegt da der therapeutische Nutzen? Liegt er AUF MEINER THERAPEUTIN oder unter ihr? Hilft es den Frauen, die unter dem Mann seit der Erschaffung der Menschenwelt gelitten haben, wenn sie ihn nun für alle Zeit bestrafen wollen? Etwa dadurch, dass man dessen Selbstbewusstsein durch eine symbolische Kastration zerstört? Was genau treiben die sieben Potenzbeschwörerinnen in MAGISCHES VIAGRA? Ist FRÄULEIN M. ORD nur frivol oder sogar geldgierige Täterin? Warum lässt sie sich auf ein riskantes Abenteuer ein, wo sie doch wissen müsste, wie folgenschwer so etwas enden kann? Und warum verstehen biedere Ehefrauen in derlei Dingen absolut keinen Spaß?
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Seitenzahl: 183
Veröffentlichungsjahr: 2013
Über den Autor
Jahrgang 1948, verheiratet, von 1998 bis 2001 Aufenthalt in Namibia, lebt jetzt in Schlangenbad.
Studium der deutschen Sprache und Literatur, Politologie und Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe - Universität in Frankfurt am Main. Erstes und Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien; 1982 Promotion zum Doktor der Philosophie. Studienrat am Gymnasium in Frankfurt am Main.
Veröffentlichungen:
Der lange Tod der Hibiskusblüte
Im Haus der Nachtkatze
Africamerone
Hommage to Africa (in der Anthologie
„Meandering Paths“)
Moderation Mord (2011)
Colour Undetermined- Farbe unbestimmt (2011)
Stories for Africa (2012)
Der E-Eater (2012)
Spiel mit mir „Ich töte dich“! (2012)
Die schönen Töchter der MORBID INVEST (2013)
Für meine Freunde
Maria – Luise und Klaus Guth
Fräulein
M. Ord
Tot in allen Lebenslagen
Von Johannes O. Jakobi
www.tredition.de
© 2013 Johannes O. Jakobi
Umschlaggestaltung: Brigitte K. Jakobi
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN:978-3-8495-4420-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
ENDSTATION SENIORENRESIDENZ
IM GRIFF DES KONJUNKTIVS
VORSPIEL ZUM UNTERGANG
TÖTET DEN MANN AM KLAVIER
AUF MEINER THERAPEUTIN
MAGISCHES VIAGRA
FRÄULEIN M. ORD
VORWORT
Die ewige Frage, die es in diesen Kriminalerzählungen zu beantworten gilt, lautet: Wer ist wichtiger, der Mörder oder sein Opfer? Für den Juristen ist die Antwort eindeutig. Natürlich ist es der Mörder, denn mit diesem hat man es ja live vor Gericht zu tun. So ein Mörder ist ungleich interessanter als sein Opfer, weil neben der Schwere der blutigen Tat gerade seine Beweggründe von besonderer Wichtigkeit für die Festsetzung des Strafmaßes sind. Mit derlei langweiligen Überlegungen geben sich die Geschichten in „FRL. M. ORD“ indes nicht ab, weil für sie das Opfer im Vordergrund steht. Der Leser trifft auf Menschen mit den unterschiedlichsten Vorlieben und Abneigungen, die ihnen selbst oder anderen zum Verhängnis werden.
Genau damit und vor allem mit den Folgen beschäftigt sich eine ehemalige Vorsitzende Richterin, die nach ihrer Pensionierung die Seiten gewechselt hat. ENDSTATION SENIORENRESIDENZ behandelt dieses Thema kurz und schmerzvoll.
Auch der Selbstmord ist ein Mord. Nur, dass hier Täter und Opfer ein und dieselbe Person sind. Ist es für den Außenstehenden überhaupt möglich, eine derartige Konstellation zu verstehen? Was heißt es, wenn man sich IM GRIFF DES KONJUNKTIVS befindet?
Darf man als Studentin sein Bafög erotisch aufbessern? Insbesondere, wenn man auf der Schattenseite des Lebens steht? VORSPIEL ZUM UNTERGANG öffnet menschliche Hintergründe, die mehr als überraschen.
Bei der Motivlage des Täters tun sich nicht selten tiefe Abgründe auf. Was treibt einen Gefängnisdirektor dazu, einen wildfremden Menschen in seine Gewalt bringen zu wollen? TÖTET DEN MANN AM KLAVIER fordert auf, dass man diesen ausschalten und umerziehen will.
Was aber ist, wenn für ein psychisch geschädigtes Opfer ganz neue Wege beschritten werden, um es zu heilen? Wo liegt da der therapeutische Nutzen? Liegt er AUF MEINER THERAPEUTIN oder unter ihr?
Hilft es den Frauen, die unter dem Mann seit der Erschaffung der Menschenwelt gelitten haben, wenn sie ihn nun für alle Zeit bestrafen wollen? Etwa dadurch, dass man dessen Selbstbewusstsein durch eine symbolische Kastration zerstört? Was genau treiben die sieben Potenzbeschwörerinnen in MAGISCHES VIAGRA?
Ist FRÄULEIN M. ORD nur frivol oder sogar geldgierige Täterin? Warum lässt sie sich auf ein riskantes Abenteuer ein, wo sie doch wissen müsste, wie folgenschwer so etwas enden kann? Und warum verstehen biedere Ehefrauen in derlei Dingen absolut keinen Spaß?
Über den zu dieser späten Zeit nur spärlich erleuchteten Gang huscht eine kleine, agile Frau. Sie bewohnt das Zimmer 11 im ersten Stock der renommierten Seniorenresidenz und ihr Ziel, welches sie möglichst unerkannt erreichen will, ist das Zimmer 49 in der vierten Etage. Warum sie von niemandem gesehen werden will, ist klar. Um diese Zeit sollten alle Bewohner bereits in ihren Betten liegen und nicht etwa herumschleichen und nächtliche Besuche machen. Gegen diese Regel will Isolde Abendschein freilich keineswegs verstoßen. Sie wandelt nicht etwa auf Freiersfüßen, hat genug nackte Männer in ihrem langen Arbeitsleben gesehen; ihr Bedarf ist gedeckt. Nein, Isolde Abendschein war keine Prostituierte, eher das Gegenteil davon. Sie hat ihre Männer niemals im wahrsten Wortsinne „live“ erlebt, sondern deren Bekanntschaft erst gemacht, nachdem diese bereits verstorben waren. Weinende Witwen brachten ihre toten Männer zu Isolde, obgleich diese oftmals argwöhnte, ob die zur Schau gestellte Trauer auch wirklich echt und nicht etwa nur gespielt war. Nun, diese Frauen wollten ihre armen Männer natürlich nicht loswerden, weil sie deren überdrüssig geworden wären, sondern sie beauftragten das professionelle Bestattungsunternehmen „Abendschein“ mit der pietätvollen Entsorgung ihrer nunmehr entseelten Ehegatten. Mit Fug und Recht konnte also Isolde von sich behaupten, dass sie sich um unzählige Männer und deren letzte Belange sorgfältig und diskret gekümmert habe. Damit kokettierte sie gerne, hielt das Missverständnis, welches bei der schlichten Erwähnung so vieler Männer unweigerlich auftauchte, möglichst lange am Leben. Isolde Abendschein hatte jedoch nicht nur fremde Männer liebevoll betreut, auch ihr eigener Gatte lag irgendwann vor ihr und harrte ihrer stillen Professionalität. Heute freilich betreut Isolde keine Männer mehr, gleichgültig ob tot oder lebendig, hat ihre gutgehende Pietät an eine jüngere Frau, ihre Nichte, auf monatlicher Rentenbasis abgegeben. Davon will sie dann leben. Mit ihrem eigenen, im Laufe der Jahre ersparten Geld hat sie sich in diese nicht eben billige und somit exklusive Seniorenresidenz eingekauft.
Zeitgleich mit Isolde verlässt eine weitere Frau ihr Zimmer 26 im zweiten Stock, äugt misstrauisch um die Ecken der Flure und Korridore, um dann die Treppen hinauf zum Zimmer 49 in der vierten Etage zu steigen. Rebecca Sandrock ist eine ehemalige Kriminalhauptkommissarin, der ein reicher, verstorbener Onkel genügend Geldmittel hinterlassen hat, um ihr diesen Aufenthalt hier in der Seniorenresidenz zu ermöglichen, denn dafür würde ihre nicht gerade üppige Beamtenpension schwerlich ausgereicht haben. Einst war Rebecca eine wahre Spürnase gewesen, die es meisterlich verstanden hatte, sich in die verkorksten Psychen speziell von gewalttätigen Männern hinein zu denken und –zu fühlen. Je makabrer der Fall, desto sicherer witterte sie den Braten. Anders als ihre Freundin Isolde Abendschein, die die Männer nur als stille Gesellen kannte, hatte Rebecca jenen berühmten heißen Draht zu ihnen. Sie lagen nicht einfach da und warteten teilnahmslos darauf, dass eine kundige Frauenhand sie für die Ewigkeit vorbereitete und, soweit erforderlich, auch noch schminkte. Rebeccas Männer streckten auch nicht brav ihre derben Handgelenke vor, um sich Handschellen anlegen zu lassen. Nein, sie wehrten sich, waren keineswegs zimperlich einer Frau gegenüber, und die Kriminalhauptkommissarin Sandrock hatte nicht selten einen gezielten Schlag auf die Brust oder einen gemeinen Tritt in den Bauch hinnehmen und verdauen müssen. Doch am Ende waren sie gleichfalls so zahm wie Isoldes Männer, wenn Rebeccas zupackender Polizeigriff ihre Gefühlsaufwallungen abrupt beendete.
Oben, in Zimmer 49, wartet bereits die ebenfalls pensionierte Vorsitzende Richterin an der dritten Strafkammer beim Landgericht. Maria Tschetsch ist unverheiratet geblieben, weil sie, was zu ihrer Zeit und in ihrer Stellung damals als gänzlich unmöglich galt, eben nur Frauen liebte. Das bekamen die Männer zu spüren, die es gewagt hatten, sich gegen Recht und Gesetz aufzulehnen. Am liebsten hätte sie die Mordbuben zum Tode verurteilt, um Isolde Abendschein weitere Kundschaft zukommen zu lassen. Doch das ging nun einmal nicht, weil eine nach einer neuen Rechtsauffassung allzu laxe Gesetzgebung sich vom alttestamentarischen Talionsprinzip „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ abgewendet hatte und Strafen vorsah, die keinen mehr abschreckten. Die Todesstrafe ward abgeschafft, aus dem erbarmungslosen Mörder wird nun ein simpler Delinquent. Und aus dem Delinquenten gar, absolut verharmlosend, ein Deviant – ein Abweichler also!
Genau das war auch der Grund, weshalb Rebecca Sandrock auf all die Hiebe und Tritte in ihrer Laufbahn nur mit einem schlichten Doppelnelson reagieren durfte. Oft genug freilich stand ihr der Sinn danach, mit einem sauberen Genickbruch die leidige Angelegenheit aufs beste zu bereinigen. Diese etwas rigorose Ansicht wird allerdings keineswegs von Isolde Abendschein geteilt, getreu ihrem moralischen Credo, dass auch böse Männer im Tode wieder gute Männer seien. Hatten sie erst diesen privilegierten Status erreicht, dann wurden sie zwar nicht alle gleichbehandelt, denn das ging aus Kostengründen schon nicht, aber auch den Bösesten, Frechsten und Gemeinsten wurden die Hände mit sanfter Gewalt zum letzten Gebet gefaltet.
Doch Männer, weder im Allgemeinen noch im Besonderen, interessieren nicht mehr. Zu gering ist ihre Zahl in der ansonsten vorwiegend weiblichen Seniorenresidenz. Jene Männer, die hier am Ort fehlen, sitzen entweder noch hinter Gittern, gefangen von Rebecca Sandrock und verurteilt von Maria Tschetsch, oder liegen bereits seit Jahren unter der Erde, in Särgen oder Urnen, sorgsam verpackt von Isolde Abendschein. Freilich hat diese Exklusivität ihren Preis. Wer hier residieren darf, muss schon tief in die krokodillederne Handtasche greifen. Die toten Männer in ihren Gräbern haben brav für ihre Frauen gesorgt, und den noch lebenden in den Gefängnissen wird selbst nach vorzeitiger Entlassung wegen guter Führung das nötige Geld fehlen, hier Wohnsitz nehmen zu können. Von ihnen geht demnach keine Gefahr mehr aus. Was aber bringt die tugendhafte Isolde dazu, in dieser späten Stunde der Nacht zum Zimmer 49 hinauf zu steigen? Dort befindet sich kein Mann, der auf ein Rendezvous mit ihr hofft. Und auch Rebecca muss nicht eingreifen und die Freundin schützen. Kurz nach Isolde betritt sie das Zimmer von Maria Tschetsch. Diese hat Sherrygläser und Knabberzeug bereit gestellt. Wie es ihre Art ist, eröffnet sie die Abendrunde mit einem knappen Gruß:
„Willkommen, ihr Lieben! Nehmt Platz und bedient euch! Isolde, wenn du willst, kannst du sofort beginnen.“
Während Isolde nickt, einen Sherry einschenkt, und Rebecca sich bei den gerösteten Erdnüssen bedient, zündet sich die Richterin einen schwarzen Zigarillo an, obwohl Rauchen hier von der Leiterin der Residenz nicht sehr gerne gesehen wird. Isolde steckt zuerst ihre kleine Katzenzunge in das Glas, um die Güte des Sherrys zu prüfen, dann genehmigt sie sich ein ordentliches Schlückchen, leckt sich genießerisch die Lippen und beginnt:
„Wie ihr ja wisst, habe ich mein Bestattungsunternehmen an meine Nicht übergeben. Zu einer fairen monatlichen Rente, von der ich hier in diesem Haus ganz gut leben kann. Das habe ich aber auch für meine Nichte getan, denn mein Institut war bestens eingeführt. Auf dem freien Markt hätte ich gewiss wesentlich mehr dafür verlangen können.“
Maria Tschetsch unterbricht Isoldes Bericht etwas unwirsch. Sie mag keine Umschweife und Umwege im Redefluss, kann dies auf den Tod nicht leiden. Stets hat sie das gerügt und gerüffelt, bei den Staatsanwälten, bei den Verteidigern und besonders bei den Tatverdächtigen, wenn diese mit wehleidigem Gejammer um den Brei herum mäanderten.
„Zur Sache, Schätzchen! Komm zum Punkt, Isolde, sonst sitzen wir hier noch die ganze Nacht! Wer hat wem was und mit welchen Mitteln getan?“
Isolde reagiert keineswegs verschnupft, verschränkt ihre Finger wie zum Gebet:
„Ja, wenn ich das selbst nur wüsste. Aber die Sache ist keineswegs einfach, eher reichlich obskur und unverständlich. Entschuldige, Maria, aber ich muss ein wenig ausholen, sonst wird für euch einfach nicht klar, wo das Problem liegt. Also folgendermaßen …“
Isolde erzählt schon etwas umständlich, aber die gestrenge Maria lässt es zu, weil sie als geschulte Richterin sofort spürt, dass hier einiges nicht mit rechten Dingen zugeht. Quasi über Nacht, so Isolde, sei das Geschäft ihrer Nichte zum Erliegen gekommen. Diese habe den Eindruck, dass keine Leute mehr stürben. Niemand komme mehr zu ihr in das Institut, um ein Begräbnis arrangieren zu lassen. Sie, die Nichte, sehe sich bald außerstande, ihrer Tante Isolde die monatlichen Gelder auszubezahlen. Sie, Isolde, habe sich angesichts dieser existenziellen Bedrohung sodann höchstselbst in die Stadt begeben, um dort genauer nachzuforschen. An der Lage und der Ausstattung ihres ehemaligen Bestattungsunternehmens könne es nicht liegen. Diese seien nach wie vor tadellos. Ihre Nichte habe sogar sehr dezent in zusätzliche Werbung investiert. Hier also könne die Ursache für das Fernbleiben der Klientel nicht gesucht werden. Interessant jedoch sei, dass in einer der umliegenden Seitenstraßen eine neue Pietät eröffnet habe. Diese, so Isolde, sei von Menschenmassen umlagert gewesen, und als sie endlich einen Blick ins Schaufenster habe werfen können, sei ihr ein Licht aufgegangen: Ein Billiganbieter für Beerdigungen in Polen und Tschechien!
„Na, da hast du doch den Grund für den Umsatzrückgang gefunden. Du kannst Konkurrenz eben nicht verbieten. Deine Nichte wird sich umstellen müssen. Der Markt hat seine eigenen Gesetze. Gilt selbst für den Tod, meine liebe Isolde.“
Während Maria noch eine ganze Weile über Anbieter und Nachfrager auf einem heiß umkämpften Polypol spricht, über die Preisfindung und die „invisible hand“ bei Adam Smith räsoniert, bleibt Rebecca seltsam schweigsam. Ihr kriminalistischer Instinkt signalisiert sofort in grellroten Warntönen, dass hier mehr als nur die übliche Billigkonkurrenz dahinter steckt. Sie zermartert sich das Gehirn, ist sich sicher, schon mal von einem ähnlichen Fall gehört zu haben. Deshalb fragt sie mitten hinein in Marias marktphilosophische Betrachtungen:
„Sag mal, Isolde, ist hier nicht vor einigen Tagen eine Mitbewohnerin verstorben? Wäre das denn nichts für deine Nichte gewesen?“
„Doch, doch, Rebecca, du hast recht. Aber das ist ja das Befremdliche. Ich hatte das Ableben unserer Hilde Haferkorn sofort meiner Nichte gemeldet. Als diese jedoch kam, um Hilde abzuholen, war diese bereits weg. Und weißt du, Rebecca, dass unsere Seniorenresidenz eine meiner besten Kunden gewesen ist. Mein Bestattungsinstitut hatte praktisch die Exklusivrechte an den hier Entschlafenen.“
Maria mischt sich ein, hat realisiert, worauf Rebecca hinauswill, und sofort umgeschaltet:
„Dann, Isolde, vergiss alles, was ich vorhin über die Preiselastizität der Nachfrage und Angebotsoligopole gesagt habe. Hier manipuliert jemand das Marktgeschehen und dessen Gesetze zu seinen Gunsten. Da ist was oberfaul! Das darf nicht hingenommen werden!“
Als ehemalige Richterin an Entscheidungen gewöhnt, fordert sie nun ihrerseits die vormalige Kriminalhauptkommissarin Rebecca Sandrock auf, mit ihr dieser neuen Pietät einen Besuch abzustatten, um dort mit der Recherche zu beginnen.
Bereits am nächsten Tag betreten Maria und Rebecca in dezenter Kleidung die Geschäftsräume. Da sich trotz des Klingeltons an der Tür noch niemand vom Personal um sie kümmert, haben sie ausreichend Gelegenheit, sich genauer umzusehen. Einige Särge sind für die Kunden zur Ansicht aufgereiht, aber selbst für die ungeübten Augen der beiden Frauen wird erkennbar, dass es sich hierbei nur um billige Holzsärge handelt, die trotz ihrer Lackierung eher wie Transportkisten aus Pressspan wirken. Dieser Negativeindruck wird noch verstärkt durch die weitere Ausstattung. Wo sonst bei Isoldes Produkten das Innere mit weißer oder cremefarbener Seide ausgeschlagen war, ist hier billigstes Nylon aus recycelten Pet-Flaschen verwendet worden, so dünn, dass man die unschöne Maserung im Sargboden und an den Wänden durchschimmern sieht. Auch die Gestecke, die als Grabbeigaben dem Toten eine gewisse ruhige Würde verleihen sollen, sind aus drahtverstärktem Tüll und wirken, als hätte sie jemand an einer Bude auf dem Jahrmarkt geschossen. Und erst die Kreuze, die dem oder der lieben Entschlafenen zwischen die gefalteten Hände geschoben werden. Sie sind aus dunklem Hartplastik in Holzstruktur, bei denen die hinteren Kanten der Kreuzbalken noch nicht einmal abgeschliffen sind. Ihre Provenienz ist auf der Rückseite deutlich ablesbar: Product of the People’s Republic of Red China. Kung Fu statt Konfuzius. Maria und Rebecca schaudert es.
„Suchen die beiden Damen etwas Bestimmtes?“
Eine unangenehm metallisch klingende Stimme wie aus dem Cyber Off unterbricht ihre wortlose Inspektion. Sie wenden sich um zu dem Sprecher, und das Erstaunen ist auf beiden Seiten groß. Es ist Maria, die sich zuerst von der Überraschung erholt:
„Erwin Kölig, wenn ich mich nicht irre! Was treiben sie denn hier? Haben sie die Seiten gewechselt? Begraben jetzt die Toten, die sie vorher ermordet haben? Verdienen doppelt daran? Komisch, ich wähnte sie noch im Knast.“
Der so Angesprochene lächelt säuerlich, hat aber seine Haltung wiedergefunden:
„Wegen hervorragender Führung vorzeitig entlassen, Frau Richterin, wie? Elf Jahre und sieben Monate, obwohl ich unschuldig war, was? Aber das wollten sie mir ja damals nicht glauben, wie?“ Er grinst frech. „Und die Frau Kriminalhauptkommissarin ist auch dabei, wie? Welche Ehre, welche Freude, was?“ Dann setzt er eine gespielte Jammermiene auf, heuchelt Beileid. „Ein trauriger Anlass, wie? Gatte plötzlich verstorben, und jetzt erinnern sie sich meiner, was? Wollen eine würdevolle Bestattung, die nicht teuer ist, nicht die Welt kostet, wie? Da liegen sie bei mir goldrichtig, meine Damen, was? Erwin Kölig macht’s möglich, wie? Pietätvoll und diskret, was?“
„Halt endlich dein verdammtes Maul, Erwin!“ Rebecca erträgt sein Gefasel nicht länger, äfft ihn nach. „Sehen wir wie Witwen aus, was? Tragen wir Trauer, wie? Wollen wir hier in deinem schäbigen Chinaladen beerdigt werden, was? Glaubst du, du kannst uns verarschen, wie? Wir haben genug gesehen, was, wie? Von uns kriegst du lebenslänglich, Erwin Kölig. Wie, was? Verlass dich drauf!“
Jetzt, da die ersten Schritte getan sind, bleibt man auf der Fährte. Angewidert verlassen die beiden Frauen diese pietätlose Pietät. Ohne sich abgesprochen zu haben, denken beide das Gleiche, biegen in die Hauptstraße ein, wo Isoldes einstiges Geschäft liegt. Zuerst fällt nichts Besonderes auf, doch irgendetwas stimmt hier nicht. Rebecca sieht sie zuerst, stößt Maria an.
„Dort drüben, das ist Karsten Schrenn, na klar! Und dort lungert dieser, wie heißt er doch schnell? Erinnere dich, Maria, den du ebenfalls verdonnert hast! Ja, genau! Stosz. Miroslav Stosz! Das ganze Trio infernal: Kölig, Schrenn und Stosz! Und weißt du, was die beiden hier machen? Die bewachen den Laden und lassen niemanden rein! Da kann Isoldes Nichte lange warten. Erst machen sie ihr das Geschäft kaputt mit Dumping Preisen und Kundenterror. Und wenn sie dann entnervt aufgibt, übernehmen sie alles für Knopp und Klicker und erhöhen anschließend die Preise. Mit den Toten kann man’s ja machen, da droht kein Gefängnis. Alles vordergründig legal und korrekt. Na, denen werden wir in die Suppe spucken!“
Nachdem man sich also augenfällige Gewissheit darüber verschafft hat, worin der Grund für den scharfen Rückgang in Kundenfrequenz und Umsatz bei Isoldes Nichte besteht, muss nach einem Ausweg aus dieser Existenzkrise gesucht werden. Was die wütende Rebecca und die gleichermaßen aufgebrachte Maria aber nicht wissen konnten, darüber aber umgehend von Isoldes Nichte informiert werden, ist, dass die drei Ganoven noch eine weitere Perfidie in ihrem Repertoire haben. Nicht nur, dass sie die Preise unterbieten und absolut minderwertige Ware liefern. Auch ihre „Dienstleistungen“ können sich sehen lassen. Im Auftrag der trauernden Angehörigen überführt man die Toten nach Polen und Tschechien, wo sie, wie man glauben sollte, entsprechend mit Würde und Andacht beerdigt werden. Dies, freilich, geschieht nur, wenn die Angehörigen auch vor Ort sind und der Begräbniszeremonie persönlich beiwohnen. Verlassen sie sich dagegen auf die falsche Pietät des kriminellen Trios, dann passiert es, dass die geliebte Person niemals an ihrem Bestimmungsort ankommt, sondern unterwegs einfach verloren geht, weil der Sattelschlepper mit den Särgen irgendwo auf einem abgelegenen Parkplatz „gestohlen“ worden ist.
Zunächst indes wird beratschlagt, was man konkret gegen das Gangstertrio unternehmen könnte. Zur Polizei zu gehen, davon rät Rebecca, als Kennerin der internen Szene, energisch ab.
„Zwischen den deutschen Polizisten und ihren polnischen Kollegen herrscht so etwas wie negative Amtshilfe. Man gönnt dem anderen keinen Erfolg, man schenkt sich nichts. Ein Ersuchen, von welcher der beiden Seiten auch immer, führt unweigerlich dazu, dass sofort jedwede Fahndung eingestellt wird. Nein, so kommen wir nicht weiter.“
Auch Maria kennt die Rivalitäten, bestätigt Rebeccas Ausführungen, fügt noch ergänzend hinzu:
„Wir könnten noch nicht einmal auf der Ebene der deutschen Justiz etwas ausrichten. Alles, was mit ehemaligen Strafgefangenen zu tun hat, wird naturgemäß misstrauisch beäugt. Aber wenn die Ex-Knackis einer geregelten Beschäftigung nachgehen oder sogar einen so ehrenvollen bürgerlichen Beruf ausüben, dann winkt jeder Staatsanwalt sofort ab und der Untersuchungsrichter verlangt gleich doppelte Beweise. Also auch hier ist nichts zu holen.“
Isolde ist den Tränen nahe, sieht bereits ihr Lebenswerk vernichtet, erhebt sich protestierend von ihrem Stuhl:
„Ich werde hingehen und diese Menschen bitten, von ihrem Tun abzugehen. Zumindest meine Nichte persönlich sollen sie in Ruhe lassen, selbst wenn sie diese in ihrer eigenen Pietät mit Billigangeboten und keineswegs kostendeckenden Preisen unterbieten.“
„Herzchen, du wirst nicht dorthin gehen und vor allem nicht alleine!“
Doch Isolde will sich von ihrem Vorhaben keinesfalls abbringen lassen, mögen auch Maria und Rebecca bitten, soviel sie wollen. Sie möchte auch nicht, dass die schlagkräftige Rebecca sie begleitet, weil sich dadurch die andere Seite bedroht fühlen könnte. Isolde glaubt noch an das Gute in jedem Menschen, hat noch Ideale und will sich diese auch nicht nehmen lassen. Ihre Argumentation ist durchaus schlüssig, weil sie eine andere Perspektive wählt:
„Ihr beide seid mir bei weitem überlegen, seid hochkompetent in eurer Arbeit. Richtige Profis eben. Aber auch ich kenne die Männer. Im Tode fällt alles Verwerfliche von ihnen ab und sie werden wieder zu unseren Brüdern. Deshalb müssen wir ihnen, so lange sie noch leben, eine echte Chance geben. Wenn ein Verbrecher seine gerechte Strafe abgesessen hat, dann ist er kein Verbrecher mehr. Man darf es ihm nicht länger nachtragen, denn er hat genug gebüßt. Dann muss er von gleich zu gleich behandelt werden. Wenn wir damit warten, bis er stirbt, ist es zu spät. Tätige Reue verlangt nach tätigem Verzeihen. Deshalb gehe ich, um von Mensch zu Mensch mit ihnen zu reden!“
Maria und Rebecca werfen sich bezeichnende Blicke zu, stöhnen innerlich, widersprechen aber nun nicht mehr. Sie merken, die gute, alte Dame Isolde ist wie ein Kind, das seine Erfahrungen mit dem heißen Ofen selbst machen muss. Alles Gerede bleibt akademisch abstrakt; Isolde muss mit ihren eigenen Händen be-greifen lernen.
Nun zieht sie los und kehrt erst spät abends wieder zurück. Aber wie sieht sie aus? Isoldes Mantel ist verkehrt geknöpft und ihr Atem riecht auffallend nach Alkohol. Ihr ganzer Aufzug ist ein Bild der Zerstörung und der Verzweiflung. Die Erkenntnisse, die sie gewonnen hat, müssen niederschmetternd gewesen sein. Das unschuldige Kind scheint tatsächlich das heiße Eisen mit bloßen Händen angefasst zu haben. Eine ganze Weile ist außer heftigen Schluchzern nichts aus Isolde herauszubringen. Dann erst stößt sie kurze, abgehackte Sätze hervor.
„Sie waren so gemein zu mir. ‚Alte Vettel‘ haben sie mich genannt. Wollten mich gar nicht anhören. Lachten mich aus. Demütigten mich! Haben mich rausgeworfen! Auf die Straße! In den Regen!“