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1819: Der englische Matrose Jacob und der Händler Nicholas stranden nach einem schweren Sturm auf einer abgelegenen Insel im Indischen Ozean. Dort müssen sie nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern auch mit unvorhergesehenen Gefühlen... Nach ihrer Rettung von der Insel reisen Nicholas und Jay über Indien zurück bis nach London. Doch in Nicholas’ Elternhaus warten nicht nur sein Bruder und dessen Familie auf ihn, sondern auch ungeahnte Schwierigkeiten. Wird ihre Liebe das alles überstehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Titelei und Vorbemerkung
Inhaltswarnungen
Teil 1 - Gestrandet und gefunden Kapitel 1
Gestrandet und gefunden Kapitel 2
Gestrandet und gefunden Kapitel 3
Gestrandet und gefunden Kapitel 4
Gestrandet und gefunden Kapitel 5
Gestrandet und gefunden Kapitel 6
Gestrandet und gefunden Kapitel 7
Gestrandet und gefunden Kapitel 8
Gestrandet und gefunden Kapitel 9
Gestrandet und gefunden Kapitel 10
Gestrandet und gefunden Kapitel 11
Gestrandet und gefunden Kapitel 12
Teil 2 - Freiheit und Fernweh - Kapitel 1
Freiheit und Fernweh Kapitel 2
Freiheit und Fernweh Kapitel 3
Freiheit und Fernweh Kapitel 4
Freiheit und Fernweh Kapitel 5
Freiheit und Fernweh Kapitel 6
Freiheit und Fernweh Kapitel 7
Freiheit und Fernweh Kapitel 8
Freiheit und Fernweh Kapitel 9
Freiheit und Fernweh Kapitel 10
einige historische Anmerkungen
Danksagung
Quellenangaben
Impressum
Frei und doch verbunden
Historische Gay Romance Novelle
bestehend aus den Teilen
Gestrandet und gefundenund Freiheit und Fernweh
© Amalia Zeichnerin 2017
Vorbemerkung:
In dieser Geschichte werden teilweise negative historische Ausdrücke für Homosexuelle genannt. Aufgrund des historischen Hintergrundes ist eine Verwendung entsprechend negativ besetzter Begriffe kaum zu vermeiden. Ich persönlich distanziere mich in aller Form von Homophobie sowie von Diskriminierungen jeder Art,beispielsweise aufgrund sexueller Orientierung oder Identität. Dieser Sammelband enthält explizite, homoerotische Szenen.
Inhaltswarnungen zu dieser Novelle
Queerfeindlichkeit (wird erwähnt, nicht gezeigt), explizite Sexszenen
Teil 1
1
Sonnabend, 8. Mai 1819
Das Meer brüllte wie ein zorniges Ungeheuer. Die Morning Sun schlingerte wie ein betrunkener Seemann auf dem Wasser und bekam immer wieder Schlagseite. Ein greller Blitz fuhr mit einem ohrenbetäubenden Zischen in den hinteren Mast der Brigantine.
Jay schloss geblendet die Augen, doch nur für einen Moment, denn er hörte das Holz bersten. Während ihm der Regen ins Gesicht peitschte, beobachtete er mit einem Gefühl von Ohnmacht, wie das Herzstück des Schiffes auseinanderbrach. Donnernd fielen die Reste auf Deck, so dass Splitter umher spritzten und Teile der Reling zertrümmert wurden. Instinktiv duckte er sich, voller Angst um sein Leben und das der anderen. Die Brigantine würde sinken und sie alle in den Tod reißen!
Die Wucht des Blitzes hatte ein Loch ins Deck gerissen und einen der Matrosen erwischt, der nicht einmal mehr schreien konnte. Eine Welle, die über Bord spülte, verhinderte weiteren Feuerschaden. In der Ferne donnerte es grollend.
Einige Matrosen waren eben über Bord geschleudert worden; niemand hatte sie retten können. Zwei Männer hatten sich danach mit Seilen im hinteren Teil des Decks festgebunden, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Jay fürchtete, dass ihnen das nicht helfen würde. Wenn das Schiff sank, würden sie garantiert ein nasses Grab im Meer finden.
„Das bringt doch nichts!”, rief er ihnen zu.
Einer machte eine wegwerfende Geste, der andere brüllte: „Halt die Klappe, Mann!”
Er sah ein, dass sie nicht auf ihn hören würden. Verfluchte Sturköpfe!
Der Seegang wurde immer schlimmer. Jay rutschte auf den knarrenden Planken des Decks hin und her, stolperte über eines der Segel, welche die Matrosen vom vorderen Mast heruntergeholt hatten. In seiner Nähe brüllte der Kapitän Befehle, doch es war kaum noch jemand da, um diese auszuführen.
Als sich das Schiff erneut auf einer gewaltigen Welle hob und Schlagseite bekam, verlor er das Gleichgewicht, taumelte gegen die Reste der Reling. Er ächzte, als das Holz seine Beine traf.
Das Schiff neigte sich immer mehr dem Meer entgegen. Kaltes Wasser spülte über ihn hinweg. Er taumelte seitwärts, versuchte sich an der Reling festzuhalten, doch die Woge riss ihn mit sich fort, über Bord. Einen Moment lang hing er mitten in der Luft und konnte nicht fassen, was geschah.
Sekunden später landete er im dunklen Meer. Eiskalte Wellen schlugen über ihm zusammen. Er kämpfte sich nach oben, spuckte salziges Wasser aus. Nur jetzt nicht aufgeben! Vielleicht war es noch nicht zu spät, zum Schiff zurück zu gelangen. Aber er hatte nie richtig schwimmen gelernt. Es versetzte ihn in Panik, keinen Boden unter den Füßen zu spüren. Mit ungeübten Bewegungen paddelte er auf die Brigantine zu, aber die Wellen trieben ihn immer weiter davon weg. Er versuchte vergeblich sich dagegen zu stemmen, hatte das Gefühl, als ob er schwere, eisige Berge wegdrücken wollte, die ständig ihre Form veränderten. Die Kälte kroch in sein Inneres, seine Gliedmaßen wurden allmählich taub. Er fühlte, dass seine Kräfte nachließen. Lange würde er sich nicht mehr über Wasser halten können. War das sein Ende?
Jay wollte sich nicht dem Meer ergeben, nicht hier in diesem finsteren Nirgendwo sterben. Mit dem Mut der Verzweiflung paddelte er weiter. Die Todesangst mobilisierte alles, was ihm noch geblieben war.
„Hier, halten Sie sich daran fest!“, rief ihm jemand zu.
In dem schäumenden Wasser vor sich sah er eine große, an einer Seite abgebrochene Planke, die aus der Schiffswand gerissen sein musste. Einer der Passagiere, ein Mann von ungefähr Mitte Dreißig, hatte sich daran geklammert. Jay schwamm zu ihm hinüber und packte die gegenüberliegende Seite des Bretts.
Das Holz war rissig und spröde, er fühlte Splitter, die sich in seine Handfläche bohrten. Doch das war nicht wichtig. Wenn dieses verdammte Brett ihm das Leben rettete, war ihm jeder einzelne Splitter recht.
Er sah noch andere Matrosen im Wasser, erkannte den alten Stephen. Dieser trieb mit leeren, gebrochenen Augen auf der Wasseroberfläche. Schaudernd wandte Jay den Blick ab. Andere Körper trieben auf den Wellen, wurden vom Wind unter Wasser gedrückt.
„Ist da noch jemand?“, schrie er gegen den Sturm an.
Niemand antwortete.
Er war zornig und traurig zugleich. Was für ein grausamer Gott tat ihnen das an? Er fühlte Tränen in sich aufsteigen und war froh, dass sein Gegenüber diese bei all der Nässe von Oben und Unten nicht bemerken würde. Der Himmel wurde immer dunkler; der unvermindert tobende Sturm trieb sie vom Schiff fort. Jay presste sich an die Planke, doch er hatte nicht die Kraft, gegen die Wellen anzukämpfen. Dem Passagier ging es sicher ähnlich, aber in dem schummrig-grauen Licht konnte Jay dessen Miene nicht genau erkennen. Bald war die Morning Sun nicht mehr zu sehen.
„Was immer auch geschieht, lassen Sie nicht los“, sagte der Mann. Er hustete, spuckte Wasser aus. „Wer weiß, wie weit wir vom Festland entfernt sind...“
Der Kerl klang erstaunlich zuversichtlich. Aber vielleicht wollte er ihnen beiden einfach nur Mut machen.
Jay hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Eine ganze Weile waren sie schweigend weitergetrieben. Die Kälte und Nässe setzten ihm zu, er fühlte seine Finger und Zehen schon lange nicht mehr. Der Regen stach ihn wie tausende eisige Nadeln, doch noch schlimmer war die Kälte des Meeres, die seine Gliedmaßen betäubte.
Irgendwann wurde die Erschöpfung zuviel. Mit einer letzten Anstrengung hievte er sich schräg auf die Planke, denn er hatte keine Kraft mehr, sich daran festzuhalten. Danach schloss er die Augen und achtete auch nicht mehr auf den Mann, der auf ihn einredete. „Nicht einschlafen! Machen Sie die Augen wieder auf!“
Jay war viel zu müde, um darauf zu hören. Um ihn herum wurde alles schwarz, das Tosen des Meeres verschwand.
2
Sonntag, 9. Mai 1819
Als Jay wieder zu sich kam, lag er auf sandigem Boden. Durch die geschlossenen Lider nahm er Helligkeit wahr. Es war überraschend ruhig, nur ein sanftes Brandungsrauschen war in der Nähe zu hören. Eine leichte, warme Brise strich über sein Gesicht. Er öffnete die Augen und richtete seinen Oberkörper auf. Dabei wurde ihm schwindlig, er musste sich abstützen.
Er lag an einem Strand, den er nicht kannte. Vor sich das Wasser und ein endloser Horizont. Möwen zogen ihre Kreise über dem Meer, ihre Schreie hallten weithin.
Rasch blickte er sich um. In einiger Entfernung sah er einen Mann, der sich ebenfalls am Strand umschaute. Als sich ihre Blicke trafen, erschien ein Lächeln in dessen Gesicht. Der Passagier, erinnerte sich Jay.
„Wie… wie sind wir hierhergekommen?“, fragte er. Ein stechender Schmerz zog sich durch seine Hand, vermutlich ein Splitter. Er betrachtete seine Handfläche, konnte aber auf den ersten Blick nichts entdecken. Darum würde er sich später noch kümmern müssen.
„Als Sie eingeschlafen sind, habe ich Sie festgehalten. Die ganze Nacht habe ich kein Auge zugetan. Am Morgen kam die Insel in Sicht. Die Strömung hat uns direkt hierher getrieben. Es sieht so aus, als seien wir fürs Erste hier gestrandet.“
Jay erhob sich vorsichtig. Er nahm sein helles Halstuch ab und betrachtete sein Hemd. Es war zerknittert, aber nicht weiter beschädigt. Seine Hose war unten an den Säumen zerrissen, seine Stiefel durchweicht und mit weißen Salzspuren bedeckt.
Der andere Schiffsbrüchige sah ähnlich mitgenommen aus, aber immerhin trug er noch einen Gehrock. Seine dunklen Haare waren salzverkrustet, ebenso wie die Wimpern über den azurblauen Augen. An seinem Kinn wuchs ein Dreitagebart und er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, welches Jay auf eigentümliche Weise an einen Greifvogel erinnerte.
Er streckte ihm seine Hand hin. „Mein Name ist Jacob Ealing. Aber alle nennen mich Jay.“
„Angenehm. Nicholas Aldersmith.“ Aldersmith schüttelte ihm die Hand. „Haben Sie eine Ahnung, welche Insel das hier sein könnte?“
Jay überlegte. „Wir hatten die Seychellen bereits passiert, als der Sturm kam. Aber bis nach Indien ist es noch weit. Wir wären noch ungefähr drei Wochen bis nach Kerala unterwegs gewesen. Also ich vermute, das hier ist eine der Inseln im Indischen Ozean. Aber ich weiß nicht welche. Deshalb kann ich auch nicht sagen, ob sie bewohnt ist.“
„Dann sollten wir das herausfinden. Wenn wir Glück haben, gibt es hier einen Hafen.“
Jay sah Aldersmith zweifelnd an. Zumindest das, was vom Strand aus sichtbar war, machte nicht den Eindruck, als ob hier in letzter Zeit Menschen gewesen wären. Ein tropischer Wald lag vor ihnen, der wild vor sich hin wucherte, ohne Spuren menschlichen Eingreifens. Aber vielleicht täuschte das auch.
„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich muss mich noch etwas ausruhen. Auf jeden Fall ist es eine gute Idee, wenn wir uns nachher umschauen. Wir sollten nach Trinkwasser und etwas Essbarem suchen.“
„Ich habe auch nichts dagegen, noch etwas zu schlafen. Ich frage mich nur, ob das hier draußen nicht gefährlich ist”, erwiderte Aldersmith.
„Das mag ja sein, aber früher oder später werden wir schlafen müssen. Denn ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass wir heute Abend wieder an Bord eines Schiffes sind, das uns hier wegbringt.”
„So viel Hoffnung habe ich gerade auch nicht.”
„Ich schätze, wir werden einfach das Risiko eingehen müssen.”
„Und wenn wir abwechselnd schlafen? Einer von uns könnte Wache halten.”
Jay ließ sich das durch den Kopf gehen. „Vielleicht ist das keine schlechte Idee, bis wir etwas mehr über diese Insel herausgefunden haben. Wollen Sie anfangen? Ruhen Sie sich aus, ich übernehme die Wache.”
„Danke. Ich werde mich dort unter den Baum legen, da ist etwas Schatten.” Der Baum, auf den Aldersmith zeigte, befand sich ganz in der Nähe.
Er zog seinen Gehrock aus und lockerte den hohen Kragen seines Hemdes. Danach zog er eine Taschenuhr aus seiner Weste, klappte den Deckel auf, schüttelte die Uhr leicht. „Schade, sie scheint das Wasser nicht überstanden zu haben. Aber vielleicht kann ich sie später zu Hause reparieren lassen.”
Jay bewunderte Aldersmiths Optimismus. Wer vermochte schon zu sagen, ob sie je wieder nach Hause kamen? Der Mann legte sich in den Halbschatten. „Wecken Sie mich einfach in etwa einer Stunde, ja? Schätzen Sie einfach die Zeit.”
„In Ordnung.”
Aldersmith breitete den Gehrock über sich aus. Jay amüsierte diese Geste. Als der Andere seinen Blick bemerkte, sagte er: „Es ist eigentlich nicht notwendig in dieser Wärme, aber ich mag das Gefühl, beim Schlafen eine Decke zu haben.”
„Das kann ich verstehen. Schlafen Sie gut.”
Aldersmith schloss die Augen und ließ Jay allein mit seinen Gedanken. Eine Weile schaute er hinauf aufs Wasser, lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen. Wie ruhig das im Vergleich zu dem Sturm klang…
Vom Wald her war Vogelgezwitscher zu hören. Einige Möwen kreisten träge am Himmel. Jay legte sich halb hin, stützte sich mit den Ellenbogen im Sand auf. Die Luft roch nach Salz und Meer. Er genoss die friedliche Atmosphäre einige Zeit lang. Nach der vergangenen Nacht war das eine richtige Wohltat. Bis er wieder den leichten Schmerz in seiner Hand bemerkte. Er untersuchte sie auf Splitter. Es dauerte nicht lange, bis er den Übeltäter fand, aber er musste eine ganze Weile herumdrücken, bis er diesen entfernen konnte.
Jay merkte erst jetzt, wie durstig er war. Wenn er eines auf See gelernt hatte, dann, dass man besser kein Salzwasser trinken sollte. Er sah hinüber zu Aldersmith. Dessen Brust hob und senkte sich sacht und langsam, er schlief also bereits.
Jay stand leise auf, denn er wollte sich ein wenig in der näheren Umgebung umschauen. Er würde einfach in Sichtweite bleiben, für alle Fälle.
Vertrocknete Äste lagen auf dem Boden, Kieselsteine und zerbrochene Muscheln, deren Farbe an bleiche Knochen erinnerte. Knirschend zerbrachen diese unter seinen Stiefelsohlen. Jay war froh, nicht barfuß gehen zu müssen. Palmen und Büsche wuchsen hier, Farne und raues Gras. Er kannte sich nicht gut mit Pflanzen aus, als Matrose verbrachte er nun einmal den Großteil seiner Zeit auf See. Ein Baum mit runden, grünlichen Früchten kam in sein Blickfeld. Diese Früchte hatten ungefähr die Größe von Kokosnüssen.Ob sie wohl essbar waren? Vielleicht wusste Aldersmith etwas darüber?
Jay merkte plötzlich, dass er längst außerhalb dessen Sichtweite war, zumal die Vegetation hier immer dichter wurde und er zwischen all den Blättern und Ästen nicht mehr viel vom Strand sehen konnte. Pflanzen waren hier also reichlich zu finden, doch er sah weder einen Bach, noch einen See, nicht einmal eine Pfütze. Allmählich machten ihm Kopfschmerzen zu schaffen, die wohl von dem Mangel an Flüssigkeit herrührten. Seine Beine fühlten sich schwer an. Das lag nicht nur an der Hitze, er war noch immer erschöpft. Jay unterdrückte ein Seufzen und machte sich auf den Rückweg. Vielleicht hatten sie mehr Glück mit der Suche nach Trinkwasser, wenn sie sich später zu zweit umsahen.
Kurz darauf legte er eine Hand auf Aldersmiths Schulter, um diesen zu wecken. Aldersmith fuhr zusammen und riss die Augen auf. „Ach, Sie sind es… ich habe einen leichten Schlaf.”
„Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.”
Aldersmith winkte ab. „Es ist kein Problem. Jetzt können Sie sich ausruhen.”
„Danke.” Jay legte sich hin und merkte jetzt erst richtig, wie stark seine Erschöpfung mittlerweile geworden war. Außerdem fühlte sich seine Zunge pelzig an, die Lippen waren spröde und rissig. Die Gedanken an den Sturm und die Insel, an seinen Leidensgenossen verblassten, als er in den Schlaf hinüberglitt. Zuletzt fühlte er noch, wie der Andere seinen Gehrock über ihn breitete.
Jay wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Aldersmith ihn schließlich weckte. Er fühlte sich nicht gerade besser, denn er war noch durstiger als vorher und die Kopfschmerzen pochten hinter seiner Stirn.
Beim Aufstehen taumelte er leicht. Aldersmith griff nach seinem Arm, um ihn zu stützen. Jay wehrte die Hilfe ab. „Es geht schon. Ich muss nur dringend etwas trinken, ich habe schon Kopfweh vor lauter Durst.”
„Dann hoffe ich mal, dass wir bald trinkbares Wasser finden.”
„Ihr Wort in Gottes Ohr.”
Als sie in den Wald gingen, machte er Aldersmith auf den Baum mit den runden Früchten aufmerksam.
„Ich habe solche auf Märkten in Kerala und auf Ceylon gesehen. Also gehe ich davon aus, dass sie essbar sind. Aber fragen Sie mich nicht, wie man sie zubereitet oder ob die schon reif sind”, erklärte dieser. „Ich weiß auch nicht, ob man die überhaupt roh essen kann.”
„Jedenfalls finde ich, wir sollten diesen Baum hier im Hinterkopf behalten.”
Jay zuckte zusammen, als er eine Bewegung im Gebüsch bemerkte. Irgendein kleines Tier huschte vorbei.
„Achten Sie auf Schlangen und Spinnen“, sagte Aldersmith.
Er nickte. „Was führt Sie nach Indien?“
„Ich bin Händler, ich kaufe und verkaufe Kolonialwaren. Ich war auf einer Geschäftsreise dorthin unterwegs.“
„Womit genau handeln Sie denn?“
„Vor allem Stoffe. Die liefere ich an Schneider und Manufakturen in England.“
„Ich dachte, die East India Trading Company hätte dafür immer noch eine Vormachtstellung? Die handeln doch auch mit Baumwolle, Seide und anderen Gütern, nicht wahr?“
„Ja, dieses Unternehmen ist ein Gigant – es gibt sie ja auch schon seit über zwei Jahrhunderten, allerdings haben sie vor rund sechs Jahren ihre Handelssonderrechte verloren. Im Vergleich mit der East India bin ich ein Niemand. Aber die Geschäfte reichen für meinen Lebensunterhalt. Mein Vater hat mir das Handelsunternehmen unserer Familie vererbt.“
„Ohne eigenes Handelsschiff?“
„Ja. Wir hatten früher eines, aber es war insgesamt zu teuer. Ich wollte von Indien mit einem Schiff zurückreisen, das sowohl Fracht als auch einige Passagiere mitnimmt.“ Aldersmith lächelte versonnen, sein Blick verlor sich in der Ferne. „Aber wer weiß, vielleicht kann sich unser Familienunternehmen später doch wieder ein eigenes Handelsschiff leisten...“
In dem Urwald, den sie durchquerten, fanden sie nach einiger Zeit einen kleinen Wasserfall, der in einen Teich mündete. Endlich! Jay trank hastig; er hielt einfach seinen Kopf mit geöffnetem Mund in den Wasserfall. Die klare Flüssigkeit kam ihm umgehend wieder hoch, würgend spuckte er sie aus.
Aldersmith ließ das Wasser in seine zu einer Schale geformten Hände fließen und trank nur schluckweise.
Jay wurde rot, verärgert über die eigene Dummheit. Er ahmte Aldersmith nach und ließ sich mehr Zeit.
Der Händler schüttete sich das Wasser über den Kopf und rubbelte sich über die Haare.
Weiter im Inneren des Urwalds fanden sie eine wilde Bananenpflanze, an der bereits einige gelbgrüne Früchte hingen. Jay kannte diese aus dem südafrikanischen Hafen Kapstadt und deutete darauf. „Die sind essbar. Ich hole uns welche. Ich bin das Klettern gewohnt, wegen der Masten und Segel an Bord.“
„Danke.“ Aldersmith stellte sich in die Nähe des Baumes, während Jay hinauf kletterte. Der Stamm war nicht besonders dick, aber es reichte, um ihm Halt zu bieten. Er zog zwei Stauden herunter und warf sie auf den Boden. Er wollte nach weiteren greifen, aber Aldersmith hob die Hand. „Später. Falls wir noch welche brauchen, sollten wir sie erst dann holen. Das ist besser, als alle zu pflücken. Wir haben nichts, wo wir sie lagern könnten.“
Jay nickte und kletterte wieder nach unten. Er hatte zwar schon Bananen gesehen, aber noch nie welche gegessen. Einen Moment lang kämpfte er mit der Schale, bis er merkte, dass sie sich am besten an den Enden der Frucht öffnen ließ. Das weichere, helle Innere hatte einen ungewöhnlichen Geschmack und eine leicht mehlige Konsistenz, war aber nicht unangenehm.
Eine Weile saßen sie einfach nebeneinander und aßen schweigend. Jay wurde erst jetzt bewusst, wie hungrig er gewesen war.
Sie waren noch stundenlang unterwegs, oder zumindest fühlte es sich so an. Um sie herum war alles grün, meistens in hellen Schattierungen. Hier und da sprenkelten die bunten Farbtupfer exotischer Blumen den Boden und auf manchen Ästen wuchsen Orchideen. Abgesehen von zwitschernden Vögeln auf den Zweigen und Insekten, die durch das Unterholz krabbelten, sahen sie keine Lebewesen.
„Ich fürchte, wir könnten hier noch ewig unterwegs sein, dieser Wald ist riesig“, sagte Jay.
„Wir sollten uns später einen Unterschlupf für die Nacht suchen“, erwiderte der Händler.
Bis zur Dämmerung wanderten sie noch durch den Urwald, dann reichte es ihnen beiden. Einen richtigen Unterschlupf fanden sie nicht, deshalb legten sie sich einfach unter einem großen Baum auf den Boden, nachdem sie diesen von einigen Steinen und Ästen befreit hatten.
Jay konnte lange Zeit nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn es im Wald knisterte und knackte, fuhr er zusammen. Er hörte das rhythmische Zirpen von Grillen. Neben ihm erklangen bald die gleichmäßigen Atemzüge von Aldersmith, der offenbar ziemlich schnell eingeschlafen war. Beneidenswert.
Mitten in der Nacht wachte Jay zitternd auf. Er richtete sich zum Sitzen auf und rieb sich über die frierenden Gliedmaßen. Das nützte allerdings wenig. Warum ist es nur so verflucht kalt geworden? Aldersmith konnte er als dunklen Umriss auf dem Boden erkennen – der schnarchte leise. Jay legte sich wieder hin, aber er fror noch immer und fand nicht zur Ruhe.
Deshalb richtete er sich wieder auf und betrachtete den schlafenden Mann neben sich. Er rutschte hinüber zu ihm und berührte ihn an der Schulter. Der Andere zuckte zusammen, gab einen unwilligen Laut von sich.
„Aldersmith. Nicholas.“ Als der Händler nicht reagierte, sagte er es noch lauter.
Der Händler gab ein Gähnen von sich. „Was ist denn?“, fragte er schlaftrunken.
„Ich kann nicht mehr schlafen. Mir ist furchtbar kalt.“
„Da kann ich Ihnen auch nicht helfen, tut mir leid. Ich habe nichts, womit wir auf die Schnelle ein Feuer machen könnten. Aber warm ist mir auch nicht gerade.“
„Und wie wäre es… wenn wir uns ganz dicht aneinander legen?“, fragte Jay zögernd.
„Sie meinen, wegen der Körperwärme? Ja, das könnten wir ausprobieren. Sie könnten sich dicht an meinen Rücken legen.“
Aldersmith drehte sich herum. Jay folgte dessen Vorschlag und spürte tatsächlich nach kurzer Zeit die Wärme, die von dem Körper des Mannes ausstrahlte.
Jay konnte sich nicht daran erinnern, jemals sein Lager mit einem anderen Menschen auf diese Weise geteilt zu haben. Er war nie verlobt gewesen, von einer Ehefrau ganz zu schweigen. Und selbst mit den Huren in den Bordellen hatte er nie so eng zusammen gelegen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Aber das hier waren schließlich besondere Umstände...
Aldersmith seufzte leise, bewegte sich leicht hin und her. Jay versuchte, so still wie möglich zu sein und ertappte sich dabei, dass er den Atem anhielt. Irgendwann war die Müdigkeit stärker als er.
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Montag, 10.
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