Frühjahrstagung, Herbsttagung. - Kathrin Röggla - E-Book

Frühjahrstagung, Herbsttagung. E-Book

Kathrin Röggla

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Beschreibung

Die Schriftstellerin Kathrin Röggla ist in dieser Ausgabe des Kursbuches eingeladen, sich dem Thema "Krisen lieben" losgelöst von jeder Heftdramaturgie zu nähern, und lässt sich in ihrer Erzählung auf Glanz und Elend ausufernder Krisentagungen ein: "Ich merke mir lieber einen Menschen als 100, aber heute müssen es eben immer gleich 100 sein, sonst kommt man nicht vom Fleck."

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Seitenzahl: 26

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Kathrin Röggla

Frühjahrstagung, Herbsttagung

Eine Erzählung

Ich habe mir seinen Namen nicht aufgeschrieben, ich habe ihn mir schon wieder nicht gemerkt. Er hat mir auch kein Visitenkärtchen hingehalten, wie das hier so üblich ist, aber ich kann damit ohnehin nicht wirklich umgehen, ich kann sie hernach nicht mehr zuordnen. Warum hast du Herrn Mißfelder angesprochen, frage ich mich dann, was war der Anlass? Und wer war noch Frau Bloß, im Vorstand der XY AG, oder Herr Schmidt, irgendwas AD? War das nicht der Typ, der mir was über Rückversicherungen erzählen wollte? Er war jedenfalls nicht der Typ, der mir die Schwierigkeiten vor Augen führen wollte, etwas in gewissen G-20-Sitzungen zu deponieren. Überhaupt Bomben in Sitzungen! Wer wann welche Bombe platzen lässt und somit ganze Verhandlungen zum Erliegen bringt – egal, ich schaffe es nicht. Weil es mir schon gar nicht möglich ist, mir wie René ein Album anzulegen, in das ich die Visitenkarten fein säuberlich einklebe, Anlass und Funktion der Person hinzuschreibe, und vor allem: was ich von ihr wissen wollte. René hat sogar Telefonlisten, in denen er verzeichnet, wann er wen anrufen wollte. »Das ist Basiswissen«, meint er, »wenn du das nicht draufhast, dann gute Nacht.« Na, dann gute Nacht, sage ich mir, wie ich dastehe und auf die hektische Betriebsamkeit schaue, dieses Hin- und Herlaufen der Veranstalter, Mikrofon-in-die-Hand-Nehmen, Wiederweglegen, Besprechungsgesichter, die ins Nichts laufen, Rückversicherungen mit der Technik.

Wie immer braucht es einen enormen Aufwand, um öffentlich Stille zu inszenieren. Sie fuhrwerken schon eine ganze Weile an dieser Schweigeminute herum, arbeiten angestrengt am Innehalten für einen Moment, dabei gibt es sie ja zuhauf, die Inseln der Nicht-Kommunikation inmitten der Extremkommunikation in diesem Raum, aber nicht nur hier, inmitten des politischen Dauergeschäfts auf allen Kanälen. Aber so was muss ja in eine konzertierte Aktion überführt werden, um ein Zeichen zu setzen, ein wirkliches Zeichen, sonst verwechselt man es noch mit einem Stolpern, einem kommunikativen Aussetzer oder der berühmten Radiostille, die ganze Nationen in Angst und Schrecken versetzen kann. Insofern wurden wir schon mehrfach darauf hingewiesen, dass jetzt gleich die Schweigeminute beginnt. Und tatsächlich, es sieht so aus, als hätten sich die Leute extra hinpostiert, sie richten sich alle nach vorne, wo aber niemand steht, auf die leere Bühne sozusagen hin, den Blick nach innen gewendet, als könne man das nicht machen: schweigen und sich ansehen. So stehen sie still, ein jeder für sich und doch alle zusammen. Man wird der Opfer von F. genau 60 Sekunden gedenken, dann wird wieder weitergemacht. Schließlich muss ein Ergebnis erzielt werden – hier im Hotel Späth in Berlin.