Laufendes Verfahren - Kathrin Röggla - E-Book

Laufendes Verfahren E-Book

Kathrin Röggla

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Beschreibung

»Wir werden die sein, die sich wundern«: Kathrin Rögglas Roman zum NSU-Prozess »Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen. Der Roman »Laufendes Verfahren« war für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert.

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Seitenzahl: 211

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Kathrin Röggla

Laufendes Verfahren

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

»Kein Schlussstrich!« Das war die Forderung vieler Stimmen aus der Nebenklage nach dem Urteil des NSU-Prozesses. Zu wenig wurde aufgeklärt, zu viel politisch versprochen. Was genau aber passiert mit einem Prozess, um dessen Grenzen so nachhaltig gestritten wird? Wer beobachtet die dritte Gewalt bei ihrer Arbeit, wenn es um rassistischen Terror und den Angriff auf unsere Demokratie geht? Kathrin Röggla erzählt nicht in der üblichen Vergangenheitsform von einem abgeschlossenen Fall, und sie nimmt die bewusst unprofessionelle Perspektive eines »Wir« ein, das oben auf den Zuschauerrängen sitzt. Doch wer sind »wir« eigentlich, wenn jedes »Wir« durch den Prozess in Frage gestellt wird? Mit großer Genauigkeit, aber auch mit erstaunlicher Komik und Musikalität erzählt Rögglas Roman von den Rollen und Spielregeln des laufenden Verfahrens, um zu einer radikal offenen, vielstimmigen Form der Aufklärung zu kommen. Es ist ein Buch über die aktive Teilhabe all der Menschen, die das Gericht zu einem lebendigen Ort der Demokratie machen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, lebt in Berlin. Sie arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Italo-Svevo-Preis, den Anton-Wildgans-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis; ›wir schlafen nicht‹ wurde mit dem Preis der SWR-Bestenliste und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher ›Niemand lacht rückwärts‹, ›Abrauschen‹, ›Irres Wetter‹, ›really ground zero‹, ›wir schlafen nicht‹, ›die alarmbereiten‹, das mit dem Franz-Hessel-Preis geehrt wurde, sowie gesammelte Essays und Theaterstücke unter dem Titel ›besser wäre: keine‹. Zuletzt erschien ›Nachtsendung. Unheimliche Geschichten‹ (2016).

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Inhalt

»Sie haben wie [...]

I. Das Gebirge

Anklage

Zeugen

Aussagen

Asservatensammlung

Explosion

Die Gänge

II. Die Gruppe

Hauptfiguren

Sackgassen

Vom Ende der Beweisaufnahme

Trauer

Witze erzählen

III. Manöver

(Grundsatzyildiz)

(Der Gerichtsopa)

(Omagegenrechts)

(Bloggerklaus)

(Der O-Ton-Jurist)

(Montag und Freitag)

(Ich)

(…)

IV. Urteil

In Gedenken an [...]

In Gedenken an [...]

»Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert.«

Ayse Yozgat

I. Das Gebirge

Über Stunden hinweg werden wieder ihre Besetzungsrügen und Anträge zu hören sein. Damit wird es anfangen, damit fängt es doch immer an, die Verteidiger positionieren sich eben. D.h. vor dem Verhandlungsbeginn werden mehr als zwanzig Minuten lang ausgewählte Fotografen und Kameraleute Aufnahmen von den Angeklagten machen, die sich abwenden werden oder unbeeindruckt zeigen, vielleicht etwas in ihren Kapuzen verschwinden. Danach erst werden die Richter den Saal betreten, und der Vorsitzende wird begrüßen. D.h., nachdem wir uns erhoben haben oben auf der Empore. Es werden Präsenzlisten vom Vorsitzenden Richter durchgegangen werden, etwas ausdruckslos wird er die Namen aller anwesenden Rechtsanwälte aufrufen, die der Bundesanwaltschaft, die der Verteidigung, die der Nebenklagevertreter. Ablehnungsgesuche und Befangenheitsanträge werden das Erste sein, was daraufhin zu hören sein wird. Damit wird jedenfalls das Gericht tagelang beschäftigt sein. Immer wieder wird es deswegen Unterbrechungen geben, Pausen, in denen Zigaretten geraucht werden können, draußen in der Spätfrühlingsonne auf dem Vorplatz, schnell ein Kaffee getrunken. Aber vorerst wird es um Gleichbehand-lung und um Vorverurteilung gehen, vor allem um die mediale Vorverurteilung, die doch irgendwann den Senat erreichen könnte. Es wird um emotionale Nötigung gehen. Es wird die hohe Gefahr der Adhäsionsklagen durch die Nebenklage erwähnt werden. Es wird das Aufblitzen der Aufschrift »Waffenbrüder« an einem Kleidungsstück wahrzunehmen sein und Hakenkreuze in einem Brief eines Angeklagten an seine Familie erwähnt werden. Jemand im Gerichtssaal wird lautstark seine Verwunderung darüber kundtun. Und der eine oder die andere wird da unten immer wieder anmerken, dass Kollegen die Grundregeln der Strafprozessordnung nicht verinnerlicht hätten. Das wird sich wiederholen. Wir werden noch nicht alle da sein, wir werden erst so nach und nach eintreffen, über die Jahre hinweg wird immer wieder jemand dazu kommen und jemand wegbleiben, manche werden auch nie wiederkommen, ohne sich recht verabschiedet zu haben, und uns wird es erst einmal auch nicht auffallen. Mit unserer Vollzähligkeit wird ohnehin nicht zu rechnen sein. Wir wissen noch nicht, auf was wir uns da einlassen. Keiner im Saal weiß das so genau, in diesem Sitzungssaal, in dem sich so vieles wiederholen wird. D.h. unten auf dem Verhandlungsniveau werden sie schon etwas wissen, hier oben auf der Empore werden sie auch etwas wissen, zumindest die Medienvertreter, die Journalistinnen und Rundfunkmenschen, die hier neben uns sitzen und mitschreiben, die ihre Laptops und Notebooks mit hineintragen dürfen ins Gericht, immer weiter hinein, bis sie ganz angekommen sind, während wir immer ein kleines Stück draußen bleiben. Während man uns nur einen Stift und etwas Papier erlaubt, ein Notizbüchlein, werden sie ihre Geräte hineintragen, ihre Geräte und ihre kollegialen Gespräche, die sie immer bereits haben und nicht erst entwickeln müssen wie wir, mühsam auswickeln, aus den Umständen herausholen: »Und was führt Sie hierher?« Die Anwesenheit der Medienvertreter versteht sich von selbst. Sie werden sich auf die rechte Seite setzen, von uns aus gesehen, während uns die linke Seite zugewiesen wird. Aber auch in unserem Teil sitzen einige, die sich bereits eingerichtet haben, eingeschossen auf das Gericht. Die Uninformierten werden anfangs ja auch nicht zu erwarten sein, die nur zufällig Reingeschneiten, die kommen erst später, wenn sich dieser Prozess herumgesprochen haben wird wie ein Gerücht, wenn er die Medienplätze allzu lange beansprucht hat, so dass er Alltag geworden ist, unser Münchner Alltag, wird es heißen, wie er durchaus auch ein Düsseldorfer Alltag hätte sein können, oder Stuttgarter Alltag, unser Berliner täglich Brot, denn bis vor kurzem wird noch nicht klar gewesen sein, wo genau es sich abspielen wird, dort, wo eine Tatorthäufung zu vermerken ist, also der Plausibilität nach München, also Oberlandesgericht München. Das Tatortprinzip wird greifen, wie es immer greift, wenn man sich der Sache gerichtlich nähert. Wir werden auftauchen, weil wir gehört haben, »da muss man einmal dabei gewesen sein!« Oder weil man uns zu verstehen gegeben hat als eine Art lakonischer Auftrag: »Geht da mal rein. Seht euch das an!«, als ob es da etwas zu sehen gäbe.

Und so werden wir reingehen. Wir werden den Ort ganz leicht finden, den modernen Siebzigerjahrebau, der nicht so zugewachsen wirkt von seiner Zeit, wie man es von anderen Siebzigerjahrebauten her kennt, aber dennoch über genügend Unübersichtlichkeit verfügt, um ein veritables Gericht darzustellen. Direkt an einen U-Bahnausgang herangerückt hat man das Strafzentrum, als wolle man mit aller Macht das Gebäude in der Stadt verorten, obwohl in ihm gerade die Stadt zu verschwinden droht. Die Stadt bleibt ja immer stärker zurück hinter Gerichtstüren als hinter anderen Türen, in diesem Fall wird sie sehr weit draußen bleiben, zu weit draußen. Die Stadt wird ihre Gedenktafel erst Monate nach dem Prozessbeginn anbringen, sie kann sich eben erst sehr spät dazu entschließen, der Morde zu gedenken, die hier passiert sind. Freilich nicht direkt an diesem Platz mit seinem Price-Waterhouse-Coopers-Gesicht, den Büro- und Wirtschaftsgroßbauten, in deren Erdgeschossen diverse Restaurants, dean&david, Italiener und Coffeeshops eingebaut sind, für die Mittagspausen, aus denen die Gegend manchmal alleine zu bestehen scheint.

Wir werden also wie eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe der Zuhörenden und Weghörenden wirken, denn manchmal muss man auch weghören, manchmal muss man einfach abschweifen, denn die Dinge werden sich ja wiederholen. Wir werden das alles bald kennen. Wir sind dann der Mittwochskreis oder der Donnerstagstreff und die Dienstagsrentner, die wissen wollen, wie das mit ihrem Rechtsstaat läuft, die wachen Bürger, wie es immer heißt, die sich nicht Aktivist*innen nennen wollen, oder Interessensgruppe, die, die fürs Ganze stehen wollen und mit allen reden können, selbst mit »den Rechten«. Wir werden die sein, die man nicht wirklich wahrnimmt im Gericht, aber von denen man weiß, dass sie da sein müssen. Die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen, sondern dem Handwerk des Richters zusehen wollen, dem Funktionieren der Maschine, die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern.

Aber jetzt geht es erst einmal darum, überhaupt in den Saal hineinzukommen. Die Zeiten, in denen man sich nachts anstellen muss, um einen Sitzplatz auf der Empore zu ergattern, werden schnell vorbei sein, ist erst einmal die Anklageschrift verlesen, wir werden bald alle bis zur Polizistin an der Sicherheitsschleuse beim Eingang vordringen können, der Beamtin mit den gefärbten Haaren, die immer da sein wird, all die Jahre. Die all die Gesichter sehen wird, die Gesichter der Interessierten, der Angehörigen, des Publikums, die an ihr vorbeimüssen. Der Publikumsandrang wird nur an den sogenannten Höhepunkten des Prozesses wieder anschwellen, den sogenannten Aussagetagen, den Schlussplädoyers und dem Urteil. Dazwischen liegen die Weiten des Gerichts, die unendlichen prozessualen Mühen, die eine jahrelange Zwangsgemeinschaft ergeben in den Räumlichkeiten des Saals 101. Jetzt stehen wir etwas erschöpft vor der Beamtin, die man sicher nicht fotografieren darf, aber so genau wissen wir das nicht. Wir haben auch kein Problem, ihr zu begegnen bei dem Laufband für die Sicherheitskontrolle, installiert zur Gefahrenabwehr. Denn ins Gericht dürfen keine Gefahren kommen, zumindest nicht von unserer Seite. Wir werden die Dame in Uniform jedenfalls freundlich grüßen, und sie wird freundlich zurückgrüßen, doch sie wird mit uns freilich noch kein Schwätzchen halten, das werden wir uns erst erarbeiten müssen.

Vielleicht aber wird es bei uns von Anfang an nicht so wirken, als ob wir die zwei Stockwerke hinauf zur Empore überwinden müssten, es wird vielmehr den Anschein haben, als säßen wir immer schon drinnen im Saal und hätten uns bereits eingerichtet wie Geister, die man in Kauf nimmt bei so einem Verfahren. Von dort aus werden wir jedenfalls in aller Ruhe zusehen, wie sich die Rechtsanwälte positionieren, wie sie sich in Stellung bringen, vor allem die Verteidiger, die sich mal einen Schlips aus der Innentasche eines Jacketts holen und auseinanderrollen, mal die Robe einfach anziehen, mal den Sichtschutz auf ihre Notebookbildschirme kleben. Wir werden uns über dies und das wundern, ganz im Gegensatz zu den Journalistinnen und Juristen, die sich selten wundern, weil sie die Vorgänge schon lange kennen aus anderen Gerichten, von anderen Prozessen her, dem Kunstfälscherprozess, dem Kachelmannprozess, dem Zumwinkel- und Cumexprozess, dem Mannesmannprozess, sich aber auch wiederbegegnen werden beim Gröning- und Lübckeprozess, dem Freitalprozess, dem Prozess um die Oldschoolsociety und Halleprozess, dem Hoeneßprozess, dem Krankenpflegerprozess, dem Mordprozess um das Horrorhaus in Höxter oder dem Rockerprozess in Berlin.

Wir wollen einfach sehen, was in diesem Land geschieht, und wo kann man es deutlicher sehen als in den Gerichtssälen dieses Landes, vor allem in diesem historischen Prozess, den man einmal den Nachwendeprozess schlechthin nennen wird. Wir werden diesen Ort, der unsere Demokratie absichert, betreten müssen, denn betreten haben wir bisher eher so ein Rechthabenwollen, unser Bedürfnis nach dem Richtspruch, schon morgens nach dem Aufstehen dieses Bedürfnis, auf der richtigen Seite zu stehen, unsere Sehnsucht nach dem Urteil, das uns hierherbegleitet hat. Ja, wir werden einen Fuß hineinsetzen wollen in den Ort, an dem jetzt schon von einem Parallelverfahren die Rede ist, hier oben auf den Rängen, das bereits durch die Medien laufe und verurteilt hätte, wo doch erst zu urteilen ist, wie die Verteidiger nicht müde werden im Lauf des Prozesses zu betonen, und zwar durch ein rechtsstaatliches Verfahren, dem gewisse Grundsätze und Prinzipien zugrunde liegen. Haben wir bereits etwas verpasst? »Keine Sorge«, ruft man uns zu, »wir fangen erst an.« Aber das stimmt natürlich nicht. Nur hier im Saal fangen sie erst an. Nur hier drinnen richten sich erst alle auf ihren Plätzen ein, nur für uns haben sich die Gerichtstüren noch nicht geöffnet, und die Richter mit ihrem Vorsitzenden sind noch nicht erschienen, nur wir haben uns noch nicht erhoben und wurden vom Richter noch nicht mit einem dreifachen »Guten Morgen« begrüßt. Die unerhörte Medienaufmerksamkeit ist auch noch dabei, sich zu sammeln und zusammenzuballen, um dann wieder abzuebben und in den Redaktionen als Überdruss festzuwachsen. Aber keiner, das möchten wir an dieser Stelle betonen, wirklich keiner kann behaupten, der Prozess gehöre nur ihm und niemandem sonst. Das Gebirge, als das er bezeichnet werden kann, wird sich bald schon hochschieben und über die Jahre wachsen, und am Ende wird der Raum voll mit ihm sein, bis es kaum noch Luft gibt zu atmen.

Anklage

Aber ob das Gericht für eine schnellstmögliche Verlesung der Anklage sorgen könne? »Das Gericht könne doch dafür sorgen, dass es endlich zum Kern der Sache vordringt«? Wer das geäußert hat, ist erst einmal schwer für uns einzuordnen. Das war vermutlich der Jurist, der hier unbedingt das Wort ergreifen muss, denn wo kommen wir hin ohne juristische Schützenhilfe. Doch wo ein Jurist ist, ist mit Sicherheit auch ein zweiter, und wo zwei Juristen sind, herrschen drei Meinungen, das weiß man ja. Wir allerdings haben keine Ahnung, wir verstehen einfach nichts von der Sache, nicht wann und wo wir sind, denn das Verlesen der Anklageschrift ist nicht der Anfang, der liegt im Ermittlungsverfahren, informiert man uns auch schon, wir sitzen immer nur neben den Halb- und Volljuristen, Erklärburschen erster Güte. »In einem Prozess dieser Größenordnung«, sagen unsere Sitznachbarn auch schon, »gibt es immer mindestens zwei von uns.« So stellen sie sich dann lachend vor, in den Rängen sitzend, auf der Empore, aus ihrem Berufsalltag kommend, aus ihrem Bescheidwissen. Für solche wie uns aus dem Tal der Ahnungslosen würden sie wie gerufen kommen. Wir seien anscheinend noch nicht ausreichend orientiert, setzt der nach, den wir probehalber den O-Ton-Juristen nennen, der Herr Kollege, als ob wir nicht ausreichend reagiert hätten. Er wolle einmal bei dem Prozess vorbeischauen und ist auch tatsächlich erschienen, was er selbst nicht ganz glauben kann, schließlich habe er da einen Termin in Stuttgart oder in Nürnberg, man weiß es nicht genau, ein Herr ist er auf jeden Fall, denn O-Ton-Juristen und Kollegen sind immer noch männlich, sie stehen auf und sagen was und sind männlich. Er aber sitzt eher, d.h., er sitzt eher fest, in anderen Verhandlungen, wo er sich stets auf der Verteidigerseite befindet. Dort, wo man Bauunternehmer, Betrüger und Wirtschaftskriminelle verteidigen kann, »Staatsschutz und Kapitalverbrechen mache ich nicht«. Er wird also nicht jeden Tag da sein können und jeweils nur kurz vorbeischauen, und so ist es nur gut, dass er einen Auswechselspieler hat, den Gerichtsopa. Jemand mit mindestens einer Beamtenlaufbahn im Nacken, mit mindestens ein, zwei oder drei Behörden hinter sich, wo andere sie vor sich sehen. Und dennoch bezeichnet er sich bloß als einen der Donnerstagsrentner, die sich hier tummeln und später noch in der Kantine zusammenkommen werden – obwohl er strenggenommen jeden Tag hier sei, er verpasse nicht einen einzigen. »418 an der Zahl!« – »aber nein, über Zahlen streitet man sich doch noch«, widerspricht er uns gleich, denn die Zukunft steht noch nicht fest, und am Anfang weiß keiner, wie lange so etwas dauern wird. Mit fünf Jahren rechnet jedenfalls niemand. Und es stimmt: Über Zahlen streiten wir uns am häufigsten. Der Gerichtsopa sei jedenfalls keine von den Eintagsfliegen, setzt er seine Selbstvorstellung fort, nicht so, wie diese Kunststudentin, die hier ihren Zeichenkurs abhält, nur um dann wieder zu verschwinden. Oder der Rechtswissenschaftler, der nur einmal vorbeischaut, um sich ein Bild zu machen, um dann wieder zu verschwinden. Die Politologinnen, Schülergruppen, Antifas, die ihre Exkursionen hierher planen, aus anderen Bundesländern, um einen schnellen prüfenden Blick auf unseren Rechtsstaat zu werfen und dann wieder abzuziehen. Ja, alle, alle werden sie verschwinden, aber unser Gerichtsopa ist von seiner Anwesenheitsgründlichkeit am ehesten vergleichbar mit der Frau aus der türkischen Botschaft, die stets ein gerichtsfremdes Buch bei sich trägt, vermutlich einen Roman oder die Biographie eines Schauspielers, denn wir werden nachgefragt haben, ganz sicher.

Jetzt aber fragt einer: Ob das Gericht für eine schnellstmögliche Verlesung der Anklage sorgen könne? Das kam von unten, Nebenklage oder Verteidigung, die doch stets auf dem Beschleunigungsgrundsatz des Gerichtes beharrt, um an die Untersuchungshaft seiner Angeklagten zu erinnern. Der Block der Nebenklagevertreter ist von uns oben nicht einzusehen, weil er sich direkt unter uns befindet und die Videoübertragung am Ende des Saales keine Einzelpersonen erkennen lässt, nur eine Ansammlung von Menschen, die immer als »die Nebenklage« adressiert wird, obwohl es sich um fünfzig, mal sechzig, im Prinzip um die neunzig Anwälte handelt, die die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden vertreten, damit sie neben dem Staat, der in diesem Fall der Kläger ist, auch eine Stimme haben, damit auch sie ein Fragerecht haben, »denn das Fragerecht ist das Wesentliche in der Beweisaufnahme«, fährt er fort, »und die ist hierzulande ebenso wie alle prozessualen Momente dem Prinzip der Mündlichkeit unterworfen«. Hier wird also gesprochen werden, dürfen wir annehmen, wenn Beweisstücke gezeigt werden, »ja, und zwar immer im Hier & Jetzt«, versichert uns der Herr Kollege weiter, und wir überlegen uns eine Weile, ob das Hier & Jetzt etwas Tröstliches hat oder etwas Entsetzliches, angesichts der langen Zeitstrecke, die es abzudecken gilt. Dass die Worterteilung das Thema sein wird, welches immer wiederkehrt, ebenso wie der Verdacht der Prozessverschleppung, können wir allerdings jetzt noch nicht ahnen.

Über die Unübersichtlichkeit des Prozesses machen wir uns noch keine Gedanken, auch wir werden immer weiter wollen, die ganzen Präliminarien, wie wir sie eine Weile noch bezeichnen werden, interessieren uns nur insofern, als wir sagen können, sie gehören dazu. »So ist halt die Juristerei«, kommt bereits fachmännisch aus unseren Mündern, als wäre das Fachmännische irgendeine ansteckende Krankheit, die man sich hier schneller als anderswo zuziehen kann.

»Die eigentliche Frage ist doch«, so unterbricht uns eine Person hinter uns, »ist das Morden schon vorbei?« – »Wissen Sie«, kommt sofort standardmäßig von uns, »wir sind ja keine Juristen, wir können da keine Auskunft erteilen«, informieren wir die junge Frau. Diese wiederholt aber: »Ist das Morden schon vorbei? Ist die Angeklagte mit den Katzenkörben ein für allemal an uns vorübergegangen und kehrt nicht wieder, vielleicht in einer anderen Version?« Wir zucken mit den Achseln. So was wissen wir nicht. Sie erwartet ohnehin keine Antwort. »Oder«, spricht sie schon weiter, »ist nicht längst eine andere nachbarschaftsfreundliche Person unterwegs, mit anderen Sportsfreunden an ihrer Seite auf ihren Fahrrädern, die von Geschäftstür zu Geschäftstür gehen und manchmal abdrücken, manchmal auch nicht? Sind nicht in Wirklichkeit andere unterwegs, die sich aufs Video- und Bombenbasteln verstehen, um den großen Bevölkerungsaustausch zu verhindern, von dem sie immer faseln?« Wir wollen die junge Frau nicht unterbrechen, aber man versteht ja gar nicht mehr, was da unten abläuft, wenn sie nicht aufhört zu reden. Ob sie mal still sein könne, wir wollten zuhören, das Gericht sei ja eher der Ort fürs Stillsein, zumindest für unsereins, setzen wir hinzu, doch die Frau denkt gar nicht daran, still zu sein. »Aber ja«, fügt der Gerichtsopa gutmütig hinzu, das könne man sich schon vorstellen, worauf die junge Frau hinauswolle. – »Was können Sie sich vorstellen?«, blafft diese ihn an. Der Gerichtsopa schweigt einen Moment. »Wie das ist, wenn der eigene Vater unter den Opfern sein könnte, der eigene Bruder, der eigene Sohn?« Dazu sagt er erst einmal nichts. Bevor eine peinliche Stille entsteht, geben wir bekannt, dass sich unser Vorstellungsvermögen auch erst in den kommenden Wochen und Monaten von Zeugenaussagen entwickeln wird, noch seien wir nicht so weit, wir alle nicht. Vorerst lässt auch der O-Ton-Jurist um Ruhe bitten. Der Gerichtsopa lässt um Ruhe bitten, die Figuren rund um uns machen psssst, da haben die Justizvollzugsbeamten gar nichts mehr zu tun.

Insofern wird die Frage, ob eine andere Katzenfrau noch unterwegs ist, erst einmal weitgehend unbeantwortet bleiben. Die Erklärburschen finden solche Überlegungen von vorneherein unsinnig, denn wenn das Gericht beginnt, setzt automatisch eine Vergangenheitsform ein. Etwas ist vorbei, garantiert es uns, und das ist ja gerade das Erleichternde. Über Zukünftiges kann man nicht richten, das ist ja logisch, die Sache muss als abgeschlossen definiert sein, das ist die Aufgabe der Staatsanwälte, und das haben sie ja wohl gemacht, das zumindest wohl. Und wenn später einige im Saal die Dinge offenhalten wollten, dann sei das ihr Problem, »das hat mit dem Wesen des Gerichts nichts zu tun«, werden wir bald allen erklären, ob sie es hören wollen oder nicht.

Inzwischen haben wir uns ja auch mit den Räumlichkeiten vertraut gemacht, wir kennen diesen Gerichtssaal beinahe in- und auswendig mit seinem indirekten Licht, das den gesamten Prozess beherrschen wird trotz der zahlreichen Tageslichtsimulationen. Keine Gegenlichtprobleme können hier entstehen wie in anderen Prozessen mit anderen räumlichen Situationen, eher Lichtlosigkeitsprobleme. Von der Empore oben wird kaum wahrzunehmen sein, dass die Bundesanwaltschaft etwas erhöht sitzt, sozusagen auf Richterniveau, während der Rest, Verteidigung, Angeklagte, Nebenklage und Zeugen, von unten aufsieht zum Vorsitzenden. An dieser Sitzordnung wird während des ganzen Prozesses nicht gerüttelt werden, das ist ja der Witz, flüstert der Gerichtsopa, dass die Sitzordnung bestehen bleibt. Der Witz kommt bei uns wohl nicht ganz an, weil wir bereits wissen, dass die Hauptangeklagte daran sehr wohl rütteln wird wollen.

»Zukunftsmusik!«, werden wir aber schon unterbrochen, das sei die reinste Zukunftsmusik, was wir da äußerten, und jetzt haben wir die Verlesung der Anklageschrift wohl übersehen, wir haben den Prozessauftakt und die Verlesung der Anklageschrift verpasst, oder warum ist jetzt die Rede davon, dass bei der Kanzlei des sogenannten Szeneverteidigers aus Cottbus eine Scheibe eingeschlagen worden ist, und warum ist jetzt bereits eine Unterbrechung notwendig, weil ein Angeklagter wegen medizinischer Probleme kurz behandelt werden muss? Wir, sagt der O-Tonler, hätten nicht einkalkuliert, dass der Prozess in Wirklichkeit schon länger laufe, d.h. vor allem die Untersuchungshaft laufe schon, sie laufe während der Vorbereitungszeit, der Ermittlungsphase, und sie laufe mit der Zeit ihnen davon, deswegen das Beschleunigungsgebot, auf das alle Prozessteilnehmer zu achten hätten. Wir hier oben haben auf kein Beschleunigungsgebot zu achten, wir sind ja auch nur Beobachter und befinden uns lediglich immer nur in der Hauptverhandlung, die um 11.50 für die Mittagspause unterbrochen werden wird. In der Hauptverhandlung, in der im Prinzip schon alle Würfel gefallen sind durch die Anklageschrift, die einen engen Zirkel gezogen hat um ein Trio, ein kleines fachmännisches Trio mit vier mutmaßlichen Helfern, das das alles alleine angestellt haben soll, die zehn Morde, die Kölner Bomben, die Banküberfälle, mitsamt den ganzen Recherchen, wie der 10000er Liste, in der zehntausend Personen aus ganz Deutschland zu potenziellen Angriffszielen erklärt werden – Politiker, Juristinnen, Ärzte, Künstlerinnen. Das ist ja ganz schön viel Arbeit, die die unternommen haben müssen, und ein Wissen, das sie ganz alleine zusammengetragen haben, ätzt die junge Frau, der wir bereits den Namen Yildiz verpasst haben, weil sie sich nur mit dem Vornamen vorgestellt hat, und so nennen wir sie deswegen Vornamenyildiz, als hätten wir schon eine Nachnamenyildiz im Kopf, die man irgendwann verabschieden kann.

»Ihr glaubt doch nicht, dass man so was alleine anstellen kann!«, setzt sie nach. Bei diesem Trio und den vier Mutmaßlichen wird es aber bleiben, »da fährt die Eisenbahn drüber, zumindest in diesem Prozess«, erwidert der Gerichtsopa, auch wenn es zahlreiche Beweisanträge der Nebenklage hageln wird, die aber oft genug vorbeihageln werden an diesem Gericht, kaum Treffer, so wird es aussehen. Die Anklageschrift lege fest, was am Ende rauskommen könne. Wissen wir, auf die warten wir doch!

Irgendwann später wird sie dann doch verlesen, und die Taten werden zum ersten Mal zu hören sein und deren Brutalität deutlich werden. Ein Flüstern wird beginnen, das Flüstern, das einen ganzen Prozess durchziehen kann, und das wir abzustellen nicht in der Lage sind. Einen Moment lang wird z.B. die Abtrennungsgefahr im Verfahren die Runde machen. Ein ganzer Tatort aus der Tatortserie könnte hinten runterfallen, wird uns zugeflüstert, weil die Nebenkläger zu viele sein werden, ein Kölner Tatort mit seinem Bombenanschlag, und die diesem Kölner Tatort zuzurechnenden Nebenkläger auch zahlreich, wird jemand neben uns weiterflüstern. Wir werden einen Moment nicht aufgepasst haben, waren abgelenkt durch irgendetwas, haben uns gebückt, um etwas vom Boden aufzuheben, das zuvor heruntergefallen ist, ein Kugelschreiber, ein Bleistift, das Taschentuch, das wir mitnehmen durften. Hier drinnen kann einem ja gar nicht viel herunterfallen, so viel ist klar, das meiste wurde einem abgenommen. Selbst den Kugelschreiber werden wir aus Sicherheitsgründen bei der Durchsuchung in seiner Funktionstüchtigkeit vorgeführt haben müssen, »denn was habe man nicht schon alles erlebt!« Das ist aber die Aussage der Beamtin bei der Sicherheitsschleuse, die nun doch angefangen hat, mit uns zu sprechen.

Gewisse Personen hätten Mikrokameras, eingebaut in Kugelschreiber, ins Gericht geschmuggelt, um zu filmen, »und danach haben sie jemanden erpresst!«, setzt sie hinzu und freut sich an unseren erschreckt blickenden Gesichtern. Unsere Ausrufe: »Nein wirklich! Was es alles gibt!«, sammelt sie amüsiert ein und nimmt uns alles Weitere ebenfalls ab, um es in die polizeilichen Ablagefächer zu legen. Und da liegen sie, all die Dinge, die den ganzen Prozess über unten bleiben müssen, die Tüten und Rucksäcke, die Notebookcases und Handtaschen, die Köfferchen und Schals, die Mäntel und Jacken. Wir fragen uns: Was geben die Gerichtsrentner ab? Was wollen sie eigentlich hineintragen und was nicht? Und was wollen die Studentinnen und Schülergruppen eigentlich loswerden? Und was die organisierten Fahrgemeinschaften, die rechtsextremen Freundschaftsvereine, was die juristischen Kollegen und was die dezidierten Neonazis, von denen wir stets sagen, dass wir sie noch nicht zu Gesicht bekommen haben. Wir sehen sie einfach nicht.