Gabriel - Amelia Blackwood - E-Book
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Gabriel E-Book

Amelia Blackwood

4,8

Beschreibung

Gabriel, der General der Königin der Vampire, wird von allen geschätzt und respektiert. Jedoch weiß niemand etwas über seine Vergangenheit. Er ist darum bemüht, keinen Vampir zu nah an sich heran zu lassen. Er verschließt sich vor allem, bis ihn die unterdrückten Gefühle übermannen und er sich eingestehen muss, dass er noch eine Rechnung offen hat. Nämlich mit sich selbst. Lucy, eine Vampirin, die ihm nahe steht, bringt die Mauer, die er um sich herum errichtet hat, zum Einstürzen. Doch für Gabriel kommt es nicht in Frage, etwas mit einer Vampirin anzufangen. Schon gar nicht, wenn der Herzensbund ins Spiel kommt. Lieber flieht er vor seinen Gefühlen - nicht ahnend, dass er sich damit beinahe selbst zugrunde richtet.

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Gabriel

Gebundene Herzen 4

Amelia Blackwood

Gabriel – Gebundene Herzen 4

Amelia Blackwood

© 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt

© 2023 Neuauflage Sieben Verlag, 64395 Brensbach

© Covergestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 978-3-96782-122-2

ISBN eBook: 978-3-96782-123-9

www.sieben-verlag.de

Für Herman, meine große Liebe.

Meinem Engel, der mich auf Händen trägt.

Inhalt

Prolog

Aufbruchsstimmung

Abschied

Keine Spur …

(Zu-)Geständnisse

Erste Hinweise

Anti-Gabe

Freundschaft & Feindschaft

Rettung des Engels

Besiegelung des Schicksals

Andere Wege

Ein neues Zeitalter

Neue Verbündete

Schachmatt gesetzt

Klärende Worte

Kopfgeld

Die Jagd ist eröffnet

Weitere Opfer

Zu viele Opfer in zu vielen Formen

Abrechnung

Neue Wege

Epilog

Danksagung

Jemand wird kommen

Er wird stürzen

Sein eigen Blut wird siegen

Samtene Nacht, des Ozeans Blau

Prolog

Auszug aus den Chroniken der Vergessenen:

Man nennt mich Claudio, den Schreiber. Mir wurde die Aufgabe zuteil, unsere Geschichte niederzuschreiben. Auf dass sie niemals vergessen werden würde. Es ist das Jahr 1705 der menschlichen Zeitrechnung.

Einst lebten die Clans der Sangualunaris und der Delcours in Eintracht miteinander. Doch durch den Wahnsinn eines Einzigen wurden Freundschaften zerstört, Familienbanden zerschlagen und sowohl Vampire als auch Menschen mussten ihr Leben lassen …

Menschen, was sind Menschen? Für uns sind sie nichts anderes als Vieh, das wir ohne ihr Wissen halten, um uns zu nähren und uns zu unterhalten. Sie sind dumme Herdentiere, die sich für größer halten, als sie tatsächlich sind. Zu welchem anderen Zweck sollten sie existieren, wenn nicht, um mit ihrem Lebenssaft unsere Bedürfnisse zu stillen? Blutsklaven sind sie, nichts anderes kann ihre Bestimmung sein.

Unser König ist schwach, er zwingt uns, von unserer eigenen Spezies zu trinken. Er befiehlt uns, Kannibalen zu sein, obwohl genug andere Nahrung direkt vor unserer Nase lebt. Wir werden das nicht länger akzeptieren. Wir werden aufstehen und unsere Freiheit erkämpfen! Das Joch des Kannibalismus und des Versteckens wird fallen …

Der Krieg tobt seit Dekaden. Beide Seiten bluten aus körperlichen und seelischen Wunden. Das Volk ist entzweit mit verhärteten Fronten.

Unsere Seite hat schwere Verluste erlitten. Des Königs Truppen gehen erbarmungslos gegen uns vor. Uns gehen die Krieger aus. Vor einigen Jahren haben wir begonnen, uns mit Menschenfrauen zu paaren. Sie werden entführt und zu den stärksten und besten Männern unseres Lagers gebracht. Menschenfrauen haben einen schwachen, leicht zu beeinflussenden Geist, weshalb für die Vereinigung selten Gewalt angewendet werden muss. Leider sind unsere Versuche neue Krieger zu züchten, fehlgeschlagen. Die Menschenfrauen gebären durchwegs nur menschliche Kinder …

Wir haben eine neue Art Vampir erschaffen. Einige der Sprösslinge unserer Verbindungen mit Menschen haben sich zu Vampiren gewandelt, nachdem sie von einem von uns gebissen worden waren. Darius biss seinen Sohn Leander im Zorn, da dieser nur menschlich und daher vernachlässigbar war. Kurz darauf trat eine Veränderung im Körper des Jungen auf, welche ihn innerhalb weniger Stunden zum Vampir werden ließ. Leander krümmte sich vor Schmerzen und er schrie die ganze Nacht. Wir konnten hören, wie seine Knochen von selbst brachen und sich danach wieder zusammenfügten.

Darius war durch diesen Zauber wie geblendet und eilte in die Zimmer seiner anderen drei Söhne. Jeden biss er und wartete ab. Igor und Janus wandelten sich, nur Erik blieb ein Mensch. In seiner Wut tötete Darius sein eigen Fleisch und Blut, indem er ihn blutleer trank …

Wer hätte gedacht, dass das dunkle Zeitalter noch dunkler werden könnte? Darius ist tot, der König ist ebenfalls gefallen und seine Gemahlin, die Königin, dem Wahnsinn verfallen.

Leander, Igor und Janus haben nun das Kommando über uns. Auf der feindlichen Seite stehen Orion und Andromeda an der Spitze. O Schicksal, steh uns bei! Der Krieg ist in die Hände von jungen Vampiren gefallen, die beinahe noch Kinder sind. Leander ist ruhig und darum bemüht, weise zu entscheiden. Igor ist ein Hitzkopf und Janus erfüllt von Brutalität und Gewalt.

Wie es um Orion und seine Schwester Andromeda steht, vermag ich zu diesem Zeitpunkt nicht zu sagen …

Ich schreibe nun im Namen des Hauses Sangualunaris. In Zeiten wie diesen muss jeder sich für eine Seite entscheiden …

Es ist das Jahr 2012 der menschlichen Zeitrechnung. Der gute König Orion ist tot. Er ist im Kampf gegen den Feind gefallen. Seine Nichte, Siria Leandra Sangualunaris, Tochter der Andromeda und des Leander Delcours, regiert mit Umsicht und Geduld. Sie folgt den Fußstapfen ihres Onkels Orion.

Sie hat Zwillinge geboren. Die ersten Vampire seit unzähligen Jahrzehnten, die auf diese Art das Licht der Welt erblickt haben …

Eine Krankheit hat von unserem Volk Besitz ergriffen. Vampire, die sich regelmäßig von der lebenden Quelle nähren, verfallen einer Art Blutgier. Die Wissenschaftler der Königin sind auf der Suche nach einem Heilmittel. Sogar unsere Führerin steht ununterbrochen in den Laboratorien.

Anscheinend wird die Krankheit durch Mikroorganismen, die sich im puren menschlichen Blut befinden, ausgelöst. Die Zeit drängt, da auch Draconis Orion, der Bruder der Königin, davon betroffen ist …

Andromeda und die abtrünnigen Vizekönige schlagen immer wieder aus dem Hinterhalt zu. Sie können jedoch kaum Siege verbuchen, da die Kämpfer der Sangualunaris ein dichtes Netzwerk an Spionen und Spähern aufgebaut haben. Der Krieg ist nun offiziell ausgebrochen und wir laufen Gefahr, von den Menschen entdeckt zu werden …

Die Seuche wütet ungehindert weiter. Durch sie werden diejenigen entlarvt, die sich nicht an das wichtigste Gesetz halten: Es ist verboten, uns an der lebenden Quelle zu nähren.

Die Königin hat jedoch die Todesstrafe, die auf dieses Verbrechen steht, abgeschafft. Sie hegt den Verdacht, dass die Infektion inzwischen auch über andere Wege übertragen wird. Sie möchte niemanden bestrafen, der möglicherweise unschuldig ist. Sie ist jedoch die Einzige, die an diesen Ansteckungsweg glaubt. Die meisten ihrer Anhänger halten weiterhin an der direkten Infektion durch das Nähren aus der lebenden Quelle fest. Deshalb wurde Draconis dazu verurteilt, sich von Menschen fernzuhalten. Ihm wurde ein striktes Verbot auferlegt, Menschen zu beißen. Ob mit oder ohne deren Einwilligung und das bis an sein Lebensende …

Nach Orions Trauerzeremonie haben die Angriffe der Outlaws und der Abtrünnigen an Stärke gewonnen. Siria hat aber in Gabriel einen guten General, auf den sie sich verlassen kann. Er schlägt gnadenlos zurück und nur seinen wachsamen Spähern ist es zu verdanken, dass unsere Existenz noch nicht entdeckt worden ist.

Menschen, die zwischen die Fronten geraten, werden eliminiert …

Andromeda, auch bekannt als Delilah Delcours, wurde verraten und ist nicht mehr am Leben. Daniele Foresta, Tommaso Aurelios Bruder, hat Andromeda gestürzt und ihren Platz eingenommen. Er hat das Volk der Vampire für Geld an den menschlichen Geheimdienst verkauft. Gabriel und seinen Männern ist es gelungen, den Schaden zu begrenzen. Doch wie lange noch?

Daniele Foresta hat eine krankhafte Obsession zu unserer Königin entwickelt. Er will sie an seiner Seite und sich selbst über alles stellen. Über Vampir und Mensch. Er will die Weltherrschaft. Er ist ein gefährlicher Soziopath und wird vor nichts zurückschrecken …

Draconis Orion, bekannt als Irbis, der Königin Bruder, hat die Seuche überwunden. Er ist aber nur knapp dem Tod durch Enthauptung entkommen. Drei von den vier verbündeten Vizekönigen waren korrupt und haben sich von den Outlaws bezahlen lassen. Sie wollten um jeden Preis den Prinzen zum Tode verurteilen, da er gegen das in erster Instanz ausgesprochene Urteil verstoßen hat. Er hat sich mit einer nicht gewandelten Trägerin verbunden, was die Vizekönige zum Anlass nahmen, an ihm ein Exempel zu statuieren. Da jedoch die Korruption bewiesen war, konnte die Königin ihrem Bruder das Leben retten und die Vizekönige wurden von Gabriel wegen Verrats hingerichtet …

Gabriel wird nun in die Welt entsendet, um im Namen der Königin neue Vizekönige zu ernennen …

Aufbruchsstimmung

Gabriels Abreise war bei einer gewissen Dame sehr schlecht angekommen. Sie hatte ihm sogar vorgeschlagen, ihn zu begleiten, nur um sicherzugehen, dass es ihm gut ging. Sie war ein Schatz von einer Vampirin. Selten war ihm ein derart sanftmütiges Wesen begegnet und zu allem anderen war sie auch noch wunderschön.

Aber Gabriel war vorsichtig in Herzensdingen. Vor rund dreihundert Jahren hatte sich sein Herz an eine Vampirin gebunden. Sie hatten sich zeremoniell vereinigt und schon bald hatte sie sein Kind empfangen. Es war gerade die Zeit des offenen Kriegs zwischen den beiden großen Vampirclans gewesen. Durch Darius Delcours’ Kreuzungen zwischen Menschenfrauen und männlichen Vampiren kämpfte Gabriels Spezies mit den Folgen dieses Experiments. Die Vampirinnen wurden steril und die Menschen trugen das Vampgen in sich, ohne es zu wissen und wurden zu Trägern. Wurde ein Träger von einem Vampir gebissen, so wurde das schlafende Vampirgen durch ein Enzym im Vampirspeichel aktiviert und der Mensch wandelte sich zum Vampir. Das war über Jahrhunderte die einzige Möglichkeit gewesen, neue Vampire zu erschaffen, da gewandelte Trägerinnen, wie bereits erwähnt, steril waren.

Seine Diana war eine der Letzten, die ein Vampirkind ausgetragen hatte. Leider gab es bei der Geburt Komplikationen und sowohl Diana als auch sein Sohn verloren dabei ihr Leben. Er hatte lange gebraucht, um über diesen Verlust hinwegzukommen. Hatte den Schmerz tief in sich vergraben und wie einen Fremdkörper eingekapselt.

Auch wenn es möglich gewesen wäre, er hatte bislang kein Bedürfnis an einer erneuten Bindung gehabt. In der Regel band sich ein Vampirherz nur einmal. Es soll jedoch vereinzelte Fälle gegeben haben, bei denen sich der Herzensbund wiederholte. Wer wusste das schon so genau? Vielleicht waren das alles auch Ammenmärchen.

Gott stehe ihm bei! So einen Verlust würde er kein zweites Mal überleben. Dann lieber einsam alt werden, und wenn die Zeit gekommen war, allein sterben.

Gabriel stand in seinem Quartier in Schwarzenberg und überprüfte gerade sein Marschgepäck, als es zaghaft klopfte. „Herein.“ Er klang heiser, als hätte er seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen. Dieser Trip fiel ihm ungewöhnlich schwer und ihm war schleierhaft weshalb.

Die Tür ging auf und wieder zu, ehe er aufsehen konnte. Blue war zu ihm gekommen, um sich allem Anschein nach zu verabschieden.

„Bist du schon bereit?“, fragte sie, stand dabei etwas unschlüssig wirkend mitten im Raum und hielt einen Stapel Umschläge in der Hand.

„Ja, alles ist gepackt und in einer Stunde geht es los.“ Sie wirkte seltsam fehl am Platz und die dunklen Ringe unter ihren Augen waren ihm Beweis genug, dass sie übermüdet war. „Was hast du da? Soll ich das mitnehmen?“ Er wies auf die Umschläge in ihrer Hand. Sie zuckte zusammen, als hätte sie die Kuverts völlig vergessen.

„Ach ja, richtig. Die sollst du bei dir haben, falls du auf unerwarteten Widerstand triffst. Sie enthalten alle die schriftliche Vollmacht, in meinem Namen die Vizekönige zu ernennen. Ich erwarte zwar nicht, dass sich jemand querstellt, aber die aktuellen Ereignisse haben mich eines Besseren belehrt. Ich vertraue nur noch einer Handvoll Leute in meinem Umfeld.“

In Blues Seele schien etwas zerbrochen zu sein. Als er sie kennengelernt hatte, war sie impulsiv, ja fast unberechenbar gewesen. Und sie hatte sich für seinen Geschmack zu naiv verhalten. Dennoch hatte er sie anziehend gefunden und hätte nichts gegen ein kurzes, unverbindliches Techtelmechtel gehabt. Leider hatte sie sich an Tom gebunden und der passte nun wirklich gut zu ihr.

In letzter Zeit war jedoch sehr viel passiert und Blue hatte deutliche Narben davongetragen. Er dachte dabei nicht an die offensichtlichen, so gut wie verblassten Narben, die sie am ganzen Körper trug, von grausamen menschlichen Forschern zugefügt. Nein, es waren ihre seelischen Narben, die ihm Sorge bereiteten.

„Also, dann gib sie schon her, sonst zerknitterst du sie noch, so wie deine Hände arbeiten.“ Sie drückte ihm stumm, aber fahrig die Briefumschläge in die Finger und er konnte nichts dagegen tun, dass er Mitleid für sie empfand. „Ich versuche, alles so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen. Behalte jetzt einfach noch einen Moment die Nerven, okay?“

Sie ließ sich auf den Stuhl in der Ecke fallen und holte tief Luft. „Wenn das so einfach wäre. Irbis kann so lange nicht zurückkommen, bis du das erledigt hast. Er fehlt mir jetzt schon. Klar, ich könnte ihn besuchen, aber damit würde er Gefahr laufen, entdeckt zu werden. Und du wirst mir auch fehlen. Was soll ich denn ohne deine Ratschläge und Unterstützung tun? Wer soll mir den Kopf waschen, wenn ich wieder einmal Mist baue und du nicht da bist?“

Gabriel spürte, wie sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl. „Ich wüsste da schon jemanden. Seine Initialen trägst du auf dem linken Handrücken und vielleicht solltest du einfach versuchen, keinen Scheiß anzustellen.“

Ihre Mundwinkel hoben sich leicht und er war froh, dass er der ganzen Situation die Spitze hatte nehmen können. Gabriel verstand voll und ganz, dass Blue bedrückt war. Ihr Bruder und seine Frau im Blute, mit der er sich vor Kurzem zeremoniell verbunden hatte, mussten sich versteckt halten. Irbis war von korrupten Vizekönigen zum Tod verurteilt worden, weil er sich nicht an das ihm auferlegte Verbot gehalten hatte, einem Menschen zu nahe zu kommen. Er war dazu verdonnert worden, weil er sich unrechtmäßig an Menschen genährt hatte. Er war damals an der Blutgier erkrankt und hatte sich in dieser Hinsicht nicht im Griff gehabt. Gabriels Stimme sowie der Tatsache, dass die Krankheit grassierte und Blue deshalb die Todesstrafe für dieses Verbrechen grundsätzlich abgeschafft hatte, war es zu verdanken, dass Irbis noch lebte.

Leider hatte niemand damit gerechnet, dass Irbis sich kurze Zeit später an eine Trägerin, eine Menschenfrau, die noch nicht gewandelt war, binden würde. Es war eine verzwickte Situation gewesen, an deren Ende die drei Vizes den Tod fanden und Irbis mit Devina hatte fliehen und untertauchen müssen.

Aus diesen Gründen musste er nun aufbrechen und in Blues Namen neue Vizekönige ernennen. Leider hatte er keinen blassen Schimmer, wer für dieses Amt infrage kam. Aber das hatte er seiner Königin verschwiegen. Sie hatte schon genug um die Ohren.

Blue erhob sich und strich ihre Kleidung glatt. „Pass auf dich auf und lass dir nicht zu viel Zeit. Ich bin erst beruhigt, wenn meine Familie wieder bei mir ist. Und das schließt dich mit ein.“

Gabriel konnte nicht anders, er musste sie kurz an sich drücken. Sie wusste gar nicht, wie recht sie hatte. Er betrachtete sie auch als seine Familie. Sonst hatte er niemanden mehr. Alle waren tot und er hatte sie lange Zeit in seinem Unterbewusstsein in den hintersten und dunkelsten Ecken vergraben. Die Ereignisse der letzten Monate hatten alles wieder ans Licht gezerrt. Orions Tod, der zwar schon mehr als ein Jahr zurücklag, hatte den Prozess in Gang gesetzt. Der sogenannte Stein des Anstoßes, wenn man so wollte.

Er wusste nicht genau, wann diese Gefühlswälzerei angefangen hatte. Es war schleichend passiert. Jeden Tag eine Krume mehr. Erst hatte er sich dagegen gewehrt, doch bald gemerkt, dass das zwecklos war. Darum blieb ihm nichts anderes übrig, als sich seinen Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen stumm zu stellen. Er wollte weder Mitleid noch kluge Ratschläge und schon gar nicht mitfühlende Blicke. Deshalb kam ihm diese Mission gar nicht so ungelegen. Dennoch ließ er Blue nicht gern allein. Die ganze Lage war extrem unsicher. Sie liefen noch immer Gefahr, von den Menschen auf breiter Front entdeckt zu werden und das, obwohl er und seine Leute den Schaden begrenzen konnten, den Daniele Foresta verursacht hatte. Foresta war der neue Anführer der Outlaws. Zu allem Übel war er auch der leibliche Bruder Toms, dem gebundenen Partner von Blue.

Nachdem Blue gegangen war, ließ er noch einen letzten Blick durch sein Quartier schweifen. Hatte er alles Nötige eingepackt? Seine Waffen trug er am Körper. Ersatzmunition hatte er bestellt und die war wahrscheinlich bereits im Flieger. Er griff nach dem Seesack und schob mit der freien Hand die Schreiben, die Blue gebracht hatte, in eine der Taschen seiner Jacke. Er ging ruhig durch die Korridore Schwarzenbergs und prägte sich automatisch alles ein. Wer wusste schon, ob er diesen Bunker jemals wieder zu Gesicht bekommen würde. Er war sich für einen kurzen Augenblick nicht sicher, ob er überhaupt zurückkehren wollte. Klar waren da Blue, Tom und die Schattenlords. Ja, und seine Verpflichtungen, natürlich. Manchmal hatte er aber auch schlichtweg die Schnauze voll. Sicher hatte Blue gesagt, dass er ihr fehlen würde und er bald zurückkehren sollte, aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, gab es nur einen einzigen Grund zurückzukommen. Nur ein einziger und der war auch nur als Hirngespinst zu bezeichnen.

Zumindest dachte er es so lange, bis er sich vor der Tür zu ihrem Quartier wiederfand. Was zur Hölle …? Er sollte nicht hier sein. Sie hatte ihm nur wenige Stunden zuvor mehr als deutlich ihren Standpunkt dargelegt. Ohne dass er es hätte verhindern können, hob er seine rechte Faust, um anzuklopfen. Im letzten Moment riss er sich am Riemen und legte einfach die flache Hand auf das Türblatt. Wenn sie doch nur verstehen würde … Er konnte keine Beziehung haben und eine Blutsbindung zwischen ihnen war schon gar nicht möglich, da sie beide bereits ihren wahren Partner gefunden hatten. Leider hatte das Schicksal brutal zugeschlagen und ihnen die große Liebe wieder geraubt.

Ruckartig, als hätte er sich die Handfläche versengt, senkte er den Arm und ging steif davon. Er kannte sie schon lange und hätte nie gedacht, dass sie sich durch die Hintertür in seine Seele schleichen würde. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er sich je wieder auf diese Art um eine Vampirin scheren würde.

Seine Füße trugen ihn weiter durch die unterirdischen Gänge. Sie kannten den Weg. Schließlich war er beim Bau dabei gewesen. Sein Ziel war der Wagenpark, wo ein Fahrer auf ihn wartete, der ihn zum kleinen Flugplatz in Mollis brachte, von wo aus er seine Reise antreten musste.

Bevor er in den Audi einstieg, drehte er sich noch einmal um. Das Kitzeln in seinem Nacken sagte ihm, dass er beobachtet wurde. Doch gerade in dem Moment, als er sich dem Ausgang des Wagenparks zuwandte, sah er nur noch, wie sich ein Schopf blondes Haar in die Schatten zurückzog. Bestand am Ende doch noch Hoffnung? Er wagte es nicht, zu lange darüber nachzudenken. Ohne einen weiteren Blick zurück stieg er ein, lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze und schloss die Augen. Er war jetzt nicht in der Lage, sich stupiden Hoffnungen und Ängsten hinzugeben.

*

Lucy stand wie eine Verbrecherin im Schatten und beobachtete Gabriel, wie er sein Gepäck verlud und sich danach in den Wagen setzen wollte. Er schien sie bemerkt zu haben, denn er drehte sich unvermittelt zu ihr um. Der sechste Sinn eines Kriegers war seine stärkste Waffe. Verflucht nochmal!

Sie hatte sich gerade noch rechtzeitig zurückziehen können. Das hoffte sie zumindest. Sie wollte nicht, dass er sie sah. Nicht jetzt, nicht nach ihrem letzten Gespräch und sowieso konnte sie es einfach nicht. Das alles nicht.

Die klaffende Wunde, die Orions Tod in ihr zurückgelassen hatte, war noch zu groß und zu schmerzhaft. Sie war ein Wrack und sie wollte sich nie wieder an einen Vampir binden. Glücklicherweise waren solche Vampirbindungen eher selten und geschahen, wenn überhaupt, nur ein Mal im Leben. Zumindest, soviel sie wusste …

Dieser Herzensbund war eine schreckliche Laune der Natur. Lucy war davon überzeugt, dass damit nur Leid und Schmerz verbunden waren. Nichts, was sie noch einmal miterleben wollte. Sie hatte Orion über alles geliebt. Sie war überglücklich gewesen, als sich ihre Herzen so überraschend gebunden hatten. Kaum hatten sie den Bund mit der Blutzeremonie besiegelt, wurde er ihr wieder genommen. Sie hatten nur wenige gemeinsame Wochen gehabt. Seither trauerte sie und sie hatte keine Ahnung, wie sie jemals wieder fröhlich werden konnte, geschweige denn, ob sie das auch wollte. Sie war seit mehr als einem Jahr Witwe und hatte jeden Tag das Gefühl, in ihrem Leid ertrinken zu müssen. Sie verlor sich zusehends selbst und nur ihr neuer Job als Babysitterin für die königlichen Zwillinge hielt sie irgendwie über Wasser.

Kaum vorstellbar, aber dennoch wahr, sie vermisste ihr Leben als Prostituierte zu Zeiten des Dark Evil. Es war eigentlich schizophren, doch ihr fehlte die Zuwendung, die sie ihren Kunden hatte geben können. Nicht den bezahlten Sex per se, aber sie liebte es, sich um männliche Vampire und Menschen zu kümmern. Das lag an ihrer Gabe. Sie brauchte ein männliches Wesen nur zu berühren, um dessen fundamentalste Bedürfnisse zu erfahren. Gleich darauf verspürte sie den starken Drang, alles ihr Mögliche zu tun, um diese Bedürfnisse zu befriedigen. Nach vollendeter Tat war sie immer mit sich selbst im Lot und glücklich.

Nachdem Orion und sie den Herzensbund geschlossen hatten, war sie nicht mehr dieser horizontalen Berufung bei Fremden nachgegangen, sondern hatte sich nur noch um ihren Mann gekümmert. Das hatte ihr völlig genügt. Doch seit seinem Tod war alles anders. Sie fühlte sich überflüssig. Natürlich hätte sie sich wieder der Prostitution widmen können, doch das wollte sie nicht. Es kam ihr so vor, als würde sie Orions Andenken damit schänden. Hin und wieder hatte sie sich als Nahrungsquelle zur Verfügung gestellt, aber dieses positive Gefühl hatte nie lang angehalten.

Als Gabriel vor ein paar Stunden zu ihr gekommen war, um sich zu verabschieden, war sie in Panik geraten. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was ihm auf dieser Reise alles zustoßen konnte.

Sie hatte ihm in ihrer Naivität sogar vorgeschlagen, ihn zu begleiten. Natürlich hatte er abgelehnt. Jetzt wusste sie, dass er es gut gemeint hatte. In jenem Moment war sie aber völlig ausgetickt. Sie hatte sich minderwertig und abgewiesen gefühlt. Gabriel hatte ihr versichert, dass es nur zu ihrem Besten sei. Sie liege ihm am Herzen und er könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passieren würde.

Seine Worte hatten sie berührt, doch der seltsame Unterton, der darin mitschwang, hatte ihre Angst in eine ganz andere Dimension katapultiert. Er hatte eine Sehnsucht in ihr ausgelöst, die sie nicht mehr zu fühlen geglaubt hatte. Sie wollte das nicht. Nicht jetzt und niemals mehr. In ihrem emotionalen Chaos hatte sie ihn kurzerhand aus ihrem Quartier geworfen und ihm gesagt, er sollte sich zum Teufel scheren. Jetzt tat es ihr leid, dass sie ihn so schlecht behandelt hatte. Er war ein anständiger Vampir und hatte so ein Verhalten nicht verdient. Was war, wenn seine Mission schiefging und er vielleicht nicht zurückkehrte? Sie durfte gar nicht daran denken.

Abschied

Lucy blickte sich in ihrem Quartier, tief in den Katakomben von Schwarzenberg, um. Obwohl sie hier viel Zeit verbracht hatte, war es nie zu ihrem Zuhause geworden. Nur die wenigen gemeinsamen Wochen mit Orion hatten ihr hier Glück beschert. Seit er nicht mehr bei ihr war, war ihr Leben fade und ohne jeden Grund zur Freude.

In ein paar Minuten wurde sie von einem der Schattenlords nach Zürich gebracht, wo sie sich ihrem Job als Nanny widmen musste. Die Zwillinge waren süß, aber sie erinnerten Lucy daran, was sie durch Orions Tod für immer verloren hatte. Es war ein verdammt zweischneidiges Schwert. Schmerz, Leid und Freude und Liebe, alles zusammen.

Entschlossen schüttelte sie den Kopf und packte ihre Siebensachen zusammen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und musste mit Blue reden. Blue würde nicht erfreut sein, doch sie war auch Lucys Freundin und würde sie bestimmt verstehen. Für Lucy war klar, dass sie nicht mehr so weitermachen konnte. Sie musste gehen. Überall sah sie Orion vor sich und das brachte sie fast um. Jeden Tag erlebte sie den Verlust aufs Neue. Als sie dann Gabriels Zuneigung gespürt hatte, war der Fluchtgedanke zur Realität geworden.

Bloß nie wieder ein solches Auf und Ab der Gefühle erleben, war ihr einziger Gedanke gewesen. Sie wollte, um ehrlich zu sein, überhaupt nichts mehr empfinden. Wäre sie damals in jener unsäglichen Nacht nur auch gestorben. Das wäre auf jeden Fall besser gewesen als dieser Zustand, in dem sie das Gefühl hatte, von innen und außen langsam von Säure zersetzt zu werden.

Ein zweimaliges Klopfen riss sie aus ihrem Bad des Selbstmitleids. Es war Zeit aufzubrechen. Sie griff nach den beiden Taschen und öffnete danach die Tür. Umbro sah sie warmherzig an. Er war der ruhigste und sanfteste der vier Schattenlords. Sie erkannte leichte Spannungsfältchen um seine Augen. Die Ereignisse der letzten Zeit hatten auch bei ihm Spuren hinterlassen. Bei wem auch nicht?

„Hast du alles?“ Das warme Timbre in seiner Stimme ließ sie etwas entspannen. Als ihr Blick jedoch auf Umbros Kleidung und Waffenarsenal fiel, das er sich umgeschnallt hatte, kam die bekannte Kälte schnell wieder zurück. Sie hatte die Nase voll von diesem Krieg und dem Leid, das ständig über alle hereinbrach.

„Ja, lass uns von hier verschwinden.“ Umbro nahm ihr die Taschen ab und sie gingen schweigend zum Wagenpark, wo das Auto stand, in dem er sie nach Zürich bringen sollte. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, dass sie vor zwei Wochen wie eine Verbrecherin in den Schatten gestanden und Gabriels Abreise beobachtet hatte. Sie würde ihn wohl kaum wiedersehen. Denn wenn er seine Mission erledigt hatte, war sie schon über alle Berge. Zumindest war das der Plan.

Die Fahrt nach Zürich verlief ruhig und Lucy nahm sie nicht mal richtig wahr. Sie hatte eigentlich keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Ihre Familie war in alle Windrichtungen verstreut, und nachdem sie ins Rotlichtmilieu gegangen war, um dort zu arbeiten, hatten alle den Kontakt zu ihr abgebrochen. Die Einzige, die sich sporadisch gemeldet hatte, war ihre Cousine. Doch auch von ihr hatte sie seit etlichen Monaten nichts mehr gehört.

Sie waren beide als Trägerinnen aufgewachsen und tatsächlich Cousinen ersten Grades gewesen. Sie waren bereits als menschliche Mädchen von einer Vampirfamilie aufgenommen worden, als das Sippenoberhaupt gemerkt hatte, dass sie Trägerinnen waren. Er hatte sie dann auch gleich darauf gewandelt.

Er war ihr ein strenger, aber wohlwollender Ziehvater gewesen. Die Probleme hatten erst angefangen, als sie von ihrer Gabe fast erdrückt worden war. Jedes Mal wenn sie jemanden berührt hatte, war der Drang, die Bedürfnisse desjenigen zu erfüllen, übermächtig gewesen. Vor allem bei männlichen Lebewesen, egal, ob Mensch oder Vampir, war es am schlimmsten gewesen. Sie hatte dann starke Krämpfe und Kopfschmerzen bekommen und war in einem solchen Zustand Gefahr gelaufen, sich selbst zu verletzen, um den Schmerz in ihrem Inneren zu überdecken.

Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, als Prostituierte zu arbeiten. So hatte sie wenigstens den Zwang ihrer Gabe befriedigen können. Ihre Seele jedoch hatte Schaden genommen und sie hatte sich mit Koks betäubt. So lange, bis Orion sie dabei ertappt und zur Rede gestellt hatte. Er hatte eine Entscheidung von ihr verlangt. Entweder hörte sie mit den Drogen auf und er würde im Gegenzug dafür sorgen, dass sie nur noch die Mädchen betreuen musste und keine Freier mehr, es sei denn, sie brauchte es. Sollte sie sich weigern, würde er sie auf die Straße werfen. Es war genau der Moment gewesen, wo sich ihre Herzen aneinander gebunden hatten. Mit diesem Rückhalt war es ihr überraschend leichtgefallen, sich von den Drogen zu verabschieden. Tatsächlich hatte Orion dafür gesorgt, dass sie keine Freier mehr bedienen musste. Er war unvorstellbar zuvorkommend und zärtlich gewesen. Wann immer sie von ihrer Gabe überwältigt wurde, hatte er ihr zur Verfügung gestanden. Er war im wahrsten Sinne des Wortes immer für sie da gewesen. Und er hatte sie wirklich geliebt. Das hatte sie in jeder Berührung und in jedem Blick gespürt, die sie getauscht hatten.

Plötzlich brannte ihre Kehle und sie musste sich zwingen, tief durchzuatmen. Schluss damit! Sie musste aufhören, sich in der Vergangenheit zu verlieren. Ihr altes, glückliches Leben war für immer vorbei. Es war an der Zeit, das alles zu vergraben und irgendwo neu anzufangen. Auch wenn sie wusste, dass das unmöglich war.

Du bist ein Feigling, Lucinda DeMarco, wisperte das Stimmchen der Vernunft in ihrem Kopf.

*

2 ½ Monate später …

Blue stand auf dem Autobahnrastplatz und fror sich den Hintern ab. Sie wartete auf zwei Kolumbianer, die ihr zehn Kilo reines Kokain bringen sollten. Das Geld für die Transaktion lag im Kofferraum, der von Tom im Auge behalten wurde. Sie vertraute niemandem mehr, außer Tom und sich selbst.

Irbis war untergetaucht und Gabriel in ihrem Auftrag in aller Welt unterwegs. Shadow, Umbro und Dark sicherten die Straßen Zürichs und damit war ihre Liste an vertrauenswürdigen Personen zu Ende.

Ein Wagen näherte sich. Ein Audi, wie besprochen. Sie wollte dieses Geschäft so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie hatte solche Termine schon gehasst, als sie noch für Orion, genannt Boss, gearbeitet hatte.

Der Audi parkte direkt neben ihrem Camaro. Die beiden Kolumbianer stiegen schweigend aus und sahen sich erst um. Es schien, als wollten sie sichergehen, dass kein unerwarteter Mist passierte. Als ob Blue nicht auch daran gelegen wäre.

Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass alles seine Richtigkeit hatte, holten sie die Ware aus ihrem Wagen. Blue nickte Tom zu, der das Geld anschließend aus dem Kofferraum holte. Blue überprüfte die Lieferung und übergab den Kolumbianern das Geld. Ein Betrag in Höhe einer durchschnittlichen Eigentumswohnung.

Zurück im Lagerhaus übergab sie die zehn Kilo ihrem Giftmischer, damit dieser die Ware strecken konnte. Sie wollte das nicht, doch leider blieb ihr nichts anderes übrig. Nur so generierte sie das nötige Kleingeld, das sie für diesen elenden Krieg benötigte. Glücklicherweise lief beim Wiederaufbau des Dark Evil alles glatt. Nicht mehr lange und sie konnten eröffnen. Dann war so vieles wieder in Ordnung. Leider wurde ihr in letzter Zeit immer mehr bewusst, dass Orion weg war … für immer … Gabriel noch nicht zurück war … und Irbis sich auch nicht blicken lassen durfte. Blue hatte sich selten einsamer gefühlt als in den vergangenen Monaten. Ach ja, Lucy war auch nicht mehr da. Wie mochte es ihr gehen?

Als Lucy ihr vor einigen Wochen gesagt hatte, dass sie zu ihrer Familie gehen wollte, war Blue völlig schockiert gewesen. Familie? Welche Familie denn? Blue hatte immer gedacht, dass sie alle Lucys Familie waren. Aber da hatte sie sich wohl getäuscht.

Seit Lucys Abreise hatte sie nichts mehr von ihrer Freundin gehört. Es war, als wäre Lucy vom Erdboden verschwunden. Blue hatte das unbestimmte Gefühl, dass Lucy nicht gefunden werden wollte und das verletzte sie noch mehr.

Blue hätte es verstanden, wenn Lucy einfach ein wenig Abstand gebraucht hätte. Aber dass sie den Kontakt vollständig abgebrochen hatte, war für Blue unbegreiflich.

Manchmal hatte Blue das Gefühl, in tonnenweise dampfender, stinkender Scheiße zu ertrinken. Langsam, mit jedem Atemzug etwas mehr. Sie fühlte sich isoliert von allem, was ihr wichtig war. Auch Tom schien oftmals meilenweit entfernt. Er liebte sie und sie liebte ihn, da bestand kein Zweifel. Doch der Alltag, der Krieg und die Sorgen hatten sie eingepackt wie eine Löschdecke. Diese Decke ließ weder Luft noch Licht noch Wärme zu ihr durch, was die Empfindung von Einsamkeit nur noch verstärkte.

Keine Spur …

Gabriel saß im Privatjet der Sangualunaris-Familie und versuchte sich zu entspannen. Doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er einen blonden Engel vor sich. Er wünschte sich die Landung in Mollis sehnlichst herbei. Er hatte sich in den letzten drei Monaten immer wieder mit schlechtem Gewissen gequält und auch die Sehnsucht nach ihr hatte ihn fast aufgefressen. Wie mochte es ihr gehen? Er hatte es nicht über sich gebracht, sie auch nur einmal anzurufen. Ja, vielleicht war er feige, aber er hätte es nicht ertragen, eine Abfuhr zu bekommen.

Dieses stundenlange, untätige Herumsitzen in dieser Höllenröhre ließ ihn fast den Verstand verlieren. Er hatte das Gefühl, am ganzen Körper Juckreiz zu haben und seine Füße wippten unruhig auf und ab.

Er wurde von zwei Soldaten begleitet, die ihm während seiner Reise nicht von seiner Seite gewichen waren und die ihn jetzt immer wieder prüfend ansahen. „Was?“, fauchte er sie genervt an. Beide wandten die Blicke umgehend ab und einer stammelte etwas, das sich für Gabriel wie nichts anhörte.

Er stand auf und ging gebeugt zur Bordbar. Dieses verdammte Flugzeug war bestimmt zwei Schuhnummern zu klein, was seine heimliche Flugangst nicht gerade positiv beeinflusste. Es war einfach alles ein totaler Bockmist. Er riss die Bar auf und krallte sich die erstbeste Flasche. Dann ging er zurück zu seinem Sitz und warf erst einen Blick auf das Etikett, als er sich gesetzt hatte. Grey Goose, wunderbar. Genau das, was er jetzt brauchte.

Er war froh, dass diese nervenaufreibende Zeit endlich ein Ende nahm. Die Ernennung der Vizekönige hatte sich als ziemlich zermürbende Angelegenheit erwiesen. Es hatte genug Freiwillige gegeben, doch die waren allesamt nicht vertrauenswürdig gewesen. Diejenigen, die für dieses Amt infrage kamen, waren zum einen dünn gesät und zum anderen nur schwer zu überzeugen gewesen. Dennoch waren nun endlich alle freien Vizeposten besetzt und Gabriel konnte Blue bald berichten, dass er gute Vampire hatte einsetzen können.

Der nächste Punkt auf seiner „Postarrival-To-Do-Liste“ war Lucy. Er wollte noch einmal das Gespräch mit ihr suchen. Verdammt, er hatte sie vermisst. Nicht, dass er das jemals jemandem gegenüber zugegeben hätte. Er hatte nie ihre „Dienste“ in Anspruch genommen und genährt hatte er sich auch nicht an ihr. Dennoch hatten sie viele Stunden gemeinsam verbracht. Sie hatten zusammen um Orion getrauert, einander aufgefangen und getröstet.

Nach ein paar Monaten hatte er bemerkt, dass sich etwas in ihm verschoben hatte. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut, obwohl er gedacht hatte, dass er es nie wieder erfahren würde. Es hatte ihn alle Mühe gekostet, diese üble Laune der Natur zu ignorieren und sich davon zu distanzieren.

Diese Reise war für ihn gerade recht gekommen. Doch sie hatte ihm auch deutlich vor Augen geführt, was in seinem Leben schieflief. Ihm war der Streit mit Lucy kurz vor seiner Abreise näher gegangen, als ihm lieb gewesen war. Und genau das wollte er so bald als möglich wiedergutmachen.

Sein Fahrer hielt am Lagerhaus. Eine Halle mitten in Zürich, die Orion seinerzeit erworben hatte. Es war zum Hauptquartier in der Stadt bestimmt worden. Hier wurden Befragungen durchgeführt, Gefangene verwahrt und Sitzungen abgehalten.

Anfangs hatten sie sich bei Blue oder im Dark Evil getroffen. Nachdem der Club abgebrannt war, hatte Orion/Boss klammheimlich das Lagerhaus erworben und es mit einem unterirdischen Zellentrakt versehen. Nur Gabriel hatte davon gewusst. Orion war irgendwann in diesem Krieg an den Punkt gelangt, an dem er niemandem mehr bedingungslos vertraute. Das und die Tatsache, dass sie damals bei Davids Verrat, David in Blues Trainingsraum gefangen halten mussten, hatte den König zu diesem Schritt genötigt. Das Lagerhaus war kurz nach Orions Tod fertig geworden.

Gabriel ging die Treppe hinunter und betrat gleich darauf das Sitzungszimmer, in dem er sich mit Blue, seiner Königin, treffen wollte. Sie war noch nicht da, weshalb er sich auf den Stuhl fallen ließ. Gleichzeitig stellte er seine Tasche auf den Boden. Er war müde und deshalb streckte er seine Beine unter dem Tisch aus. Er würde in diesem Moment alles für eine heiße Dusche und ein saftiges Steak geben. Doch das musste noch warten. Er legte sein Kinn auf die Brust, verschränkte die Arme und schloss für einen Augenblick die Lider.

Als Gabriel hörte, wie die Tür geöffnet wurde, bemerkte er, dass er geschlafen hatte. Er wollte aufstehen, wie es ihm der Anstand gebot, doch eine Hand auf der Schulter ließ ihn innehalten.

„Bleib sitzen, Gabriel. Du musst müde sein.“ Blues Stimme war wie Balsam für seine Ohren, die immer noch vom Flieger brummten. Sie setzte sich neben ihn und sah ihn an. Sie hatte immer noch dunkle Schatten unter den Augen. Allem Anschein nach hatte sich hier auch nicht viel verändert. Und das, obwohl er zwölf Wochen weg gewesen war.

„Ja, die Reise war nicht wirklich erholsam, aber dafür haben wir nun gute Männer als Vizekönige rekrutieren können. Jetzt müssen wir abwarten und sehen, wie sie mit dem Druck umgehen. Ich bezweifle zwar, dass sie sich kaufen lassen, aber man kann es nie im Voraus wissen. Es sind aber allesamt ehemalige Armeeangehörige, die sich als sehr königstreu und korrekt erwiesen haben.“

Blue lehnte sich erleichtert zurück. Eine große Last schien von ihren Schultern gefallen zu sein. „Hoffen wir, dass dich dein Gefühl bei ihnen nicht getrogen hat. Wann glaubst du, können Irbis und Devina zurückkehren?“

Die verzweifelte Hoffnung, die in Blues Frage mitschwang, versetzte ihm einen kleinen Stich. Er wusste, dass er seine Königin enttäuschen musste. Die Lage war immer noch zu unsicher. „Es ist besser, wenn er sich noch nicht aus dem Versteck wagt. Wir müssen erst sehen, wie sich die Sache mit den neuen Vizes entwickelt. Wenn sie sich als wirklich vertrauenswürdig erweisen, können Irbis und seine Frau nach Hause kommen. Vorher ist es einfach zu riskant.“

Zu sehen, wie sie resigniert die Schultern hängen ließ, tat ihm weh. Sie hatte sich mühsam aufrecht gehalten, bis er zurückgekommen war. Das erkannte er jetzt klar und deutlich. Er hasste sich dafür, dass er ihr diese Hoffnung hatte nehmen müssen. „Hey, Kopf hoch, Hübsche. Das gibt doch nur Falten. Glaub mir, dein Bruder kommt schneller zurück, als du dir vorstellen kannst. Warte noch vier bis sechs Wochen.“

Sie nickte zögernd. „Ich weiß, dass du es gut meinst und deine Ratschläge haben sich immer als wertvoll erwiesen. Aber mein Bruder war schon einmal lange eingesperrt und jetzt ist er es wieder. Das ist nicht richtig. Verstehst du? Das hat er nicht verdient.“

Ja, Irbis war viele Monate in Sicherheitsverwahrung gewesen, weil er an der Blutseuche erkrankt war. Doch das hier konnte man nicht mit der Vergangenheit vergleichen. „Hör mal, Blue. Jetzt ist er ja nicht in einer Zelle. Er genießt die Zweisamkeit mit seiner frisch gebundenen Partnerin in einer ziemlich luxuriösen Villa. Also ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.“

Bei diesem Gedanken wurde seine Brust eng, denn er sah sich zusammen mit Lucy in einem gemütlichen Chalet. Vor dem offenen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Sie beide auf einem weichen Lager aus Lammfell und jeder Menge Kissen, damit seine Prinzessin auch bequem lag. Er wollte sie berühren, zärtlich zu ihr sein und sie mit allem lieben, was ihm zur Verfügung stand. Das Verrücken eines Stuhls holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Er erhob sich, da Blue es ihm vorgemacht hatte.

„Ich sollte dir recht geben, doch es fühlt sich einfach falsch an“, entgegnete sie.

Gabriel wusste, was sie damit sagen wollte. Sie würde Irbis und Devina nach Hause holen. Sie war ein Sturkopf. Aber gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er wahrscheinlich auch so handeln würde, wäre er an ihrer Stelle.

„Vielen Dank für deinen Einsatz, Gabriel. Geh nach Hause und ruh dich aus.“

Er deutete eine Verbeugung an und wandte sich um. Bevor er jedoch das Sitzungszimmer verließ, musste er noch eine letzte und für ihn wichtige Frage stellen. „Passt Lucy jetzt gerade auf die Zwillinge auf oder hat sie frei?“ Er wusste, dass ihn seine Worte verrieten, doch wenn Lucy gerade bei Leander und Eos war, würde er sich als Erstes zu Blues Wohnung beamen. Blue machte seltsamerweise ein betretenes Gesicht und verwandelte damit sein Blut in Trockeneis.

„Weißt du es noch nicht?“

Gabriel wurde schwindlig, doch es gelang ihm Haltung zu bewahren, damit Blue ihm nichts ansah. „Was weiß ich noch nicht?“ Glücklicherweise hielt seine gesprochene Tonlage. Seine innere Stimme jedoch schrie: Was ist mit ihr passiert? Mach endlich den Mund auf!

Blue trat einen Schritt auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. „Sie hat mich gebeten, dir nichts zu sagen, weil sie es selbst tun wollte.“

Plötzlich schien sich die Luft verdickt zu haben. Er hatte Mühe zu atmen. „Was sollte mir Lucy sagen?“

Blue lehnte sich müde an die Tischkante. „Sie ist weg, Gabriel. Zwei Wochen, nachdem du verreist warst, ist sie gegangen.“

Das Herz in seiner Brust schien zu implodieren und ein schwarzes Loch zu hinterlassen, in dessen Sog sich sein ganzes Sein aufzulösen drohte. „Wohin? Warum?“ Mehr brachte er nicht über seine Lippen.

„Sie hat es hier nicht mehr ausgehalten. Sie trauert noch immer um Orion und brauchte Abstand. Lucy hat gesagt, sie ginge zu ihrer Cousine. Mehr wollte sie mir nicht anvertrauen.“

Gabriel suchte den Halt des Tischs. Er kam nicht mehr umhin sich einzugestehen, dass sich sein Herz an Lucys gebunden hatte. Auch wenn das als unmöglich galt. Bisher wurde nur darüber gemunkelt und spekuliert. Man war von Mythen ausgegangen. Doch allem Anschein nach war er zur lebenden Legende geworden. Ja, ja, sehr witzig. Was hatte er jetzt davon, wenn Lucy vor der Erinnerung an Orion und ihren Gefühlen für ihn, Gabriel, geflohen war?

„Hast du in letzter Zeit von ihr gehört?“ Ein Entschluss formte sich und er wusste, dass er alles dafür geben würde, um seinen Plan umzusetzen.

„Nein. Sie hat sich kein einziges Mal bei mir gemeldet. Ich habe versucht sie aufzuspüren, aber ohne Erfolg.“ Das Ganze erklärte auch Blues Niedergeschlagenheit. Irbis und Devina waren nicht hier und Lucy, Blues beste Freundin, war ebenfalls untergetaucht. War es möglich, dass es jemanden gab, der noch einsamer war als er selbst?

Gabriel hatte das Gefühl, dass ihn jemand an der Kehle gepackt hatte und nun erbarmungslos zudrückte. Dieser Jemand war das sogenannte Schicksal: brutal, überraschend und ohne Gnade. Warum war er zu feige gewesen, sich bei Lucy zu melden? Dann hätte er nämlich schon viel eher entdeckt, dass sie die Flucht ergriffen hatte. Aber was dann? Er hätte nichts tun können. Blues Auftrag hatte absoluten Vorrang gehabt.

*

Es war kalt und die Feuchtigkeit des Nebels kroch ihr wie Giftgas in die Knochen. Sie zitterte wie Espenlaub und versuchte die Schmerzen zu verdrängen. Zu der seelischen Not war eine körperliche Pein gekommen. Die Nebenwirkungen ihrer Gabe nahmen ihr jede Energie und brachten sie fast um den Verstand. Wie hatte sie nur glauben können, dass sie allein, ohne Unterstützung ihrer Freunde zurechtkommen könnte?

Sie war sich auch längst darüber bewusst geworden, dass der unmögliche Fall eingetreten war: Ihr Herz hatte sich gebunden, zum zweiten Mal. Es war für sie jedoch undenkbar, jemals wieder eine solche Verbindung einzugehen. Dazu fehlte ihr sowohl die Kraft als auch der Mut. Natürlich war diese unerfüllte Verbindung mit verantwortlich, dass sie sich in einem solchen miserablen Zustand befand. Ihr Körper und ihr Geist schrien nach der Vollendung dieses verfluchten Teufelsbundes.

Sie betrat die stinkende Garderobe des Etablissements, in dem sie arbeitete, und versuchte sich in der Wärme etwas zu entspannen.

„Cindy, du hast Kundschaft!“ Na toll, ihre Schicht hatte noch nicht einmal angefangen. Sie versuchte das beklemmende Gefühl, das drohte von ihr Besitz zu ergreifen, zu unterdrücken. Sie hätte sich vor etwas mehr als einem Jahr nicht träumen lassen, dass sie jemals wieder an den tiefsten und schwärzesten Punkt ihres Lebens zurückkehren würde. Zurück auf Anfang. Doch nun war es so. Sie arbeitete wieder als Nutte und das Einzige, was sie überleben ließ, war das Heroin. Es betäubte alles: Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Alles, was zurückblieb, war ein dumpfer, pochender Schmerz hinter dem Brustbein, der sich an manchen Tagen bis in die äußersten Spitzen ihres Körpers ausbreitete.

Cindy, bis vor vier Monaten bekannt unter dem Namen Lucinda DeMarco. Sie hatte ihr Leben abgestreift wie ein altes Kleidungsstück und in den Müll geworfen. Sie verfluchte sich deswegen. Wieso war sie nicht mutiger gewesen und hatte sich ihren Dämonen gestellt, anstatt feige davonzurennen? So wie sie jetzt war, konnte sie unmöglich nach Hause zurück. Ja, nach Hause. Schwarzenberg war ihr Zuhause gewesen und Blue und die anderen ihre Familie. Sie war so dumm gewesen.

„Cindy!“ Ach ja, ihr Zuhälter verlangte nach ihren Diensten. Er war ein Mensch und grausam. Doch immerhin versorgte er sie mit dem, was sie am meisten brauchte. Mit H. Sie konsumierte das Gift immer intranasal. Nichts war bei einer Hure hässlicher als Einstichmale. Auch jetzt zog sie sich eine Linie rein, wischte sich die letzten Spuren von der Nasenspitze und richtete ihre Kleidung. Sie war kurz, knapp und wohl eher als Fetzen zu bezeichnen.

Lucy verließ mit gestrafften Schultern und professionell aufreizender Miene die Garderobe. Wahrscheinlich hatte sie es nicht anders verdient, als wieder in einem solchen Loch zu hocken. Nur wer mutig war, wurde vom Leben belohnt. Mit der Erinnerung an bronzefarbene Augen im Kopf schluckte sie die durchbrechenden Tränen hinunter und tat, was man von ihr erwartete.

*

Daniele Foresta, Führer der Outlaws und Abtrünnigen und derjenige, der die mächtige Andromeda entthront hatte, tigerte auf und ab. Wie so oft in letzter Zeit. Er war dazu gezwungen, in diesem Rattenloch zu hausen. Er, dem Besseres zugestanden hätte. Er war dazu bestimmt, der Führer des ganzen Vampirvolks und Herrscher über die Menschen zu sein, mit Blue an seiner Seite als Dekoration. Und gerade er hockte in diesem unterirdischen, ausgemusterten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Nicht sein Stil und definitiv nicht für einen Monarchen bestimmt.

Er war jetzt schon seit Monaten gezwungen, sich im Untergrund zu verkriechen wie eine Kakerlake und das schmeckte ihm überhaupt nicht. Er verfluchte im Stillen seinen Bruder Tom und dessen Schwager Irbis dafür, dass sie ihm all seine Pläne zunichtegemacht hatten. Seinen Schrein hatten sie zerstört. Dieser Schrein war seine Motivation und sein Kunstwerk gewesen. Eine Hommage an Blue, den Idioten Irbis und den Waschlappen von seinem Bruder. Sie hatten ihm seine angenehme Bleibe genommen, den Blutsklavenschwarzmarkt aufgemischt und dafür gesorgt, dass die Vizekönige, die er bezahlt hatte, hingerichtet wurden. Sein sorgfältig aufgestellter Plan war zunichte. All seine Mühen für die Katz. Und er durfte gar nicht daran denken, wie viel Kohle er dadurch verloren hatte.

Sein ohnehin schon brodelnder Zorn hatte sich um ein Vielfaches gesteigert, wie selbst er es nicht für möglich gehalten hatte. Man hatte ihm erneut alles zerstört, doch dieses Mal würde seine Rache brutal und vollständig sein.

Er hatte sich schon einmal gerächt und es war ein überwältigendes Gefühl gewesen. Er war vor der Haustür der Schlampe aufgetaucht, die ihn geboren hatte. Sie hatte ihn nicht mal erkannt, diese verdammte Hure! Sie hatte doch tatsächlich angefangen, ihn anzumachen. Hatte ihn begrabscht und sich an ihm gerieben. Beim Gedanken daran spülte sich der alte Hass wieder nach oben.

Er würde ihr Gesicht nie mehr vergessen, als er sich ihr zu erkennen gegeben hatte. Einfach unbezahlbar. Als sie dann jedoch angefangen hatte, einen auf überglückliche, liebevolle Mutter zu machen, hatte er die Schnauze voll. Er hatte sie an der Kehle gepackt und durch den Korridor an die andere Wand geschleudert, wo sie benommen liegen geblieben war. Er war auf sie zugegangen, hatte sie auf die Beine gezerrt und ihr die Fänge in den Hals geschlagen.

Er hatte sich an ihrer Angst gelabt, die ihrem Blut eine besondere Note verliehen hatte, und sie anschließend blutleer fallen lassen. Was er danach getan hatte, mochte manch einer als gottlos schimpfen, doch für ihn war es eine bewusstseinserweiternde Erfahrung gewesen. Ganz nach dem Motto Wie du mir, so ich dir hatte er sich am Leichnam seiner Mutter vergangen. Nekrophilie hatte seinen Reiz, das musste er zugeben. Vor allem, weil er fand, dass nur tote oder gefesselte und geknebelte Frauen fickbar waren.

Damals, nachdem er sich mit dem Blut seiner Mutter genährt hatte, hatte sich etwas in ihm verändert. Er hatte sich stärker gefühlt und seine Gabe hatte sich das erste Mal gezeigt. Er war zum Seher geworden und hatte einen Blick auf seine Zukunft werfen können. Neben diesen subtilen Veränderungen gab es auch solche, die deutlich sichtbar waren. Er hatte klauenartige Hände bekommen, seine Kiefer waren massiver geworden und seine Muskeln ausgeprägter. Er hatte sich übermächtig gefühlt und war enttäuscht gewesen, als er bemerkt hatte, dass die äußere Wirkung nach ein oder zwei Tagen bereits wieder zu schwinden begann. Er war zwar nie schmächtig gewesen, aber auch nicht muskulös. Wohl eher gehörte er zum Durchschnitt. Er wollte jedoch nicht durchschnittlich sein, denn er war zu Höherem bestimmt.

Daniele hatte danach angefangen, Menschen willkürlich zu töten und dabei bemerkt, dass diese Wirkung immer dann einsetzte, wenn das Opfer beinahe umkam vor Angst und Schmerzen. Deshalb hatte er sich seinen Folterkeller eingerichtet. So konnte er zum einen seinen Vorlieben frönen und gleichzeitig seinen Schuss „Anabolika“ gewährleisten.

Leider war mit dem Schrein auch seine Vergnügungskammer Tom und Irbis zum Opfer gefallen. Daniele konnte jetzt schon spüren, wie die Entzugserscheinungen an ihm fraßen.

Wo blieb der Schlappschwanz, den er losgeschickt hatte, um einen Menschen einzufangen? So schwierig war es doch auch wieder nicht. Genau in diesem Moment klopfte es an der Tür und der Laufbursche trat ein.

„Wurde aber auch Zeit!“

„Sorry, Capo. Aber die Gefangene hat sich als wehrhafter entpuppt als erwartet. Aber sie ist jetzt im Vorratsraum. So wie Sie es gewünscht haben.“

Arschkriecher! Wenigstens hatte er anscheinend gute Arbeit geleistet. Eine Furie, sehr gut. Das verhieß jede Menge Unterhaltung. In jeder Hinsicht.

(Zu-)Geständnisse

Gabriel stand hinter Blue und Tom und beobachtete die beiden, wie sie das neue Dark Evil begutachteten. Der Neubau fügte sich optimal in die umliegenden Gebäude am Bellevue und von außen unterschied es sich nicht groß vom alten Club, den die Outlaws abgefackelt hatten.

Aber der Innenausbau war etwas ganz anderes. Blue hatte zwei Ebenen errichten lassen. Unten war eine große Tanzfläche, die gleichzeitig das Fundament mehrerer Säulen im griechischen Stil bildete. Auf diesen kreisförmig angeordneten Säulen thronte eine runde Galerie, die die verschiedenen Bars beherbergte.

Im rückwärtigen Teil befanden sich neben drei Büroräumen und den Garderoben für das Personal, zehn weitere Zimmer. Eines diente dem illegalen Glücksspiel und die restlichen neun standen den Mädchen und ihren Freiern zur Verfügung.

Blue hatte bei der Stadtverwaltung eine Bewilligung zum Bordellbetrieb beantragt und diese auch bekommen. Sie wollte damit etwaigen regelmäßigen Razzien vorbeugen. Um für die Sicherheit der Dienstleisterinnen zu sorgen, hatte sie in jedem dieser Zimmer Alarmsysteme eingebaut. Stimmgesteuerter Notruf, Pfefferspray in Reichweite und zu guter Letzt Kameras, deren Aufnahmen für achtundvierzig Stunden gespeichert und danach automatisch wieder gelöscht wurden. Diskretion und Sicherheit waren essenziell in diesem Business.