Gedächtnislücken - Peter Ensikat - E-Book

Gedächtnislücken E-Book

Peter Ensikat

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Beschreibung

Zwei deutsche Legenden erinnern sich Egon Bahr, Grandseigneur der deutschen Sozialdemokratie, enger Wegbegleiter Willy Brandts, und Peter Ensikat, einer der bekanntesten Kabarettisten und Intellektuellen der DDR, sind seit vielen Jahren befreundet. Immer wieder trafen sie sich zu langen Gesprächen, in denen sie einander ihr Leben erzählten und ihr Nachdenken über die deutsche Nachkriegs- und Nachwendegeschichte teilten. Das Elend der Nachkriegszeit, der Mauerbau, der Aufstand am 17. Juni 1953, die zaghafte Politik des „Wandels durch Annäherung“ der beiden deutschen Staaten, die Bahr maßgeblich bestimmte, bis hin zum Fall der Mauer und den Debatten der Nachwendezeit – dieses Buch bietet einen ebenso kurzweiligen wie prägnanten Überblick über die jüngere deutsche Geschichte. "Während Egon Bahr und Peter Ensikat amüsant und schlagfertig mit einander parlieren, bringen sie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf die Reihe -- den beiden ist ein Meisterstück geglückt." Franziska Augstein, Süddeutsche Zeitung „Ein spannendes und aufregendes Gespräch. Greifen Sie zu diesem Buch!“ Dieter Hildebrandt

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Egon Bahr; Peter Ensikat

Gedächtnislücken

Zwei Deutsche erinnern sich

Impressum

Egon Bahr, Peter Ensikat – Gedächtnislücken

Herausgegeben von Thomas Grimm

Egon Bahr und Peter Ensikat sitzen im April 2006 zwei Tage lang in einem Fernsehstudio und erzählen einander ihr Leben. Dazu angestiftet hat sie der Dokumentarist Thomas Grimm von „ZeitzeugenTV“. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Sie bilden die Grundlage des vorliegenden Buches.

ISBN E-Pub 978-3-8412-0427-1

ISBN PDF 978-3-8412-2427-9

ISBN Printausgabe 978-3-351-02745-2

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Januar 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke der

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg / Andreas Heilmann

unter Verwendung einer Illustration von Marion Brandes

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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|5|Kein Wandel durch Annäherung

Seine Stimme kannte ich schon, als ich im RIAS vor allem den Kinderfunk-Onkel Tobias hörte und später den Theaterkritiker Friedrich Luft – die Stimme von »Egon Bahr aus Bonn«. Was er so sagte, verstand ich nicht immer, aber seine Stimme fiel mir schon damals auf. Später, längst erwachsen geworden, sah ich ihn dann im Fernsehen, wenn er von seinen Verhandlungen mit Moskau, Warschau oder Ostberlin sprach, von dem beabsichtigten »Wandel durch Annäherung« zwischen den Blöcken, der uns Ostdeutschen Hoffnung machte, vom Westen nicht ganz vergessen und abgeschrieben zu sein. Willy Brandt und Egon Bahr hatten sich nicht abgefunden mit der Teilung Deutschlands, Europas und der Welt in zwei feindliche Lager.

Der schlaue Strippenzieher imponierte mir, wie er beharrlich das betrieb, was die SED »Aggression auf Filzlatschen« nannte. Nach Jahrzehnten der Politik der großen Reden, die nichts gebracht hatten als wachsende Entfremdung, begann er nun im Auftrag von Willy Brandt mit der »Politik der kleinen Schritte«, die den Vorteil hatte, dass ihre Ergebnisse spürbar wurden. Dass Politik etwas Gutes für die kleinen Leute bringen konnte, war damals eine neue Erfahrung.

|6|Wenn man heute, Jahrzehnte später, mit Egon Bahr durch Berlin geht, passiert es immer wieder, dass ihm unbekannte Männer und Frauen dankbar die Hand drücken wollen, obwohl das, was er getan und mit seinem Tun bewirkt hat, doch längst Geschichte ist. Dass ich ihm vor etwa fünfzehn Jahren persönlich begegnen durfte, verdanke ich einem gemeinsamen Freund – Peter Bender, der einst die neue Ostpolitik journalistisch begleitet hatte. Egon hatte ein Buch von mir gelesen und Bender gesagt, dass er den Autor gern kennenlernen würde. Das nahm mich natürlich noch mal ganz besonders für ihn ein. Der Zufall wollte es, dass ich am selben Abend mit ihm bei Bender eingeladen war.

Diese erste Begegnung war allerdings enttäuschend. Wir wussten einander einfach nichts zu sagen. Ich jedenfalls nicht. Mich bei ihm für seine Ostpolitik zu bedanken, erschien mir etwas verspätet, aber etwas anderes fiel mir nicht ein. Ihm schien auch nichts einzufallen. Na ja, dachte ich, man soll eben Leuten, die man verehrt, nicht zu nahe kommen. Das ist fast immer enttäuschend. Wenig später trafen wir uns dann regelmäßig zu Premieren in der »Distel«, und bei den Gesprächen danach fehlte es uns nie an Unterhaltungsstoff. Inzwischen sind wir Freunde. Ein Wandel in meiner Hochachtung für Egon Bahr ist aber trotz dieser Annäherung nicht entstanden, eher im Gegenteil.

Inzwischen spielen wir auch ab und zu Skat miteinander. Und da muss ich jedes Mal wieder erkennen, was für ein schlauer Fuchs er ist. Ich spiele auch nicht ganz schlecht. Aber bisher hat immer er gewonnen.

|7|Egon Bahr und Peter Ensikat sitzen im April 2006 zwei Tage lang in einem Fernsehstudio und erzählen einander ihr Leben. Dazu angestiftet hat sie der Dokumentarist Thomas Grimm von »Zeitzeugen TV«. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Sie bilden die Grundlage des vorliegenden Buches.

EGON BAHR: Wo fangen wir an? 1933, als die Nazis an die Macht kamen, hat mir mein Vater gesagt: »Hitler bedeutet Krieg.« Aber 1934 gab’s keinen Krieg, 1935 auch nicht. 1936 kam die Welt nach Berlin und machte den Kotau vor unserem Führer und Reichskanzler. 1937 und 1938 – kein Krieg. 1939 begann es dann doch. Aber wie? Na fabelhaft! Zehn Tage Polen! Sechs Wochen Frankreich! Das hatte der Kaiser nicht mal in vier Jahren geschafft. Und dann noch »nebenbei« Norwegen und Dänemark. Das war damals für mich ungeheuer eindrucksvoll. Ich fühlte sogar ein bisschen Stolz. Aber dann kam der berühmte 21./22. Juni 1941, der Überfall auf die Sowjetunion. Es war ein Sonntag. Da habe ich zum ersten Mal die Fanfare gehört, diese geniale Bearbeitung von Liszts »Les Préludes«. Ich hatte das Gefühl, jetzt fängt die Erde an |8|zu beben. Das war der Anfang vom Ende. Mein Vater hatte doch recht.

PETER ENSIKAT: Ihnen war also schon 1941 klar, das würde das Ende sein?

BAHR: Niemand hatte Russland besiegt, niemand kann es besiegen. An Russland hat sich noch jeder verhoben. Mein Vater sagte damals: »Jetzt kannst du nur noch versuchen, mit dem Arsch an die Wand zu kommen, damit du überlebst.«

ENSIKAT: Meine erste Erinnerung ist der Tag, an dem meine Mutter die Nachricht bekam, dass mein Vater gefallen ist. Da war ich knapp drei Jahre alt. Ich glaube aber mich zu erinnern, dass ich in dem Moment ahnte, dass was Schreckliches passiert war. Natürlich wusste ich nicht, was. Die nächste Erinnerung ist dann der 28. April 1945, der Tag nach meinem vierten Geburtstag. Wir wohnten in Finsterwalde, und die Russen marschierten ein, ohne dass ein Schuss fiel. Ein paar mutige Leute hatten am Wasserturm, dem höchsten Gebäude von Finsterwalde, eine riesige weiße Fahne gehisst. Die Russen marschierten einfach ein, und die »Verteidiger« waren so verblüfft, dass sie selbst auch nicht schossen. Wir vom Kirchplatz 7 saßen zusammen im Vorderhaus und mussten schließlich runter auf den Hof. Da standen dann wirklich Leute mit solchen Mongolengesichtern, wie ich sie von den Plakaten kannte. Bloß ohne Messer zwischen den Zähnen. Und längst nicht so groß, wie diese Teufel in meiner Vorstellung gewesen waren. Sie waren viel kleiner und sahen eigentlich eher jämmerlich |9|aus. Mir fiel damals auf, dass der Saum an ihren Militärmänteln nicht umgenäht war. Und überhaupt – wie abgerissen die daherkamen. Zu uns Kindern waren sie sogar meist freundlich. Das hat aber unser Bild von Russen als Untermenschen allgemein nicht verändert. Das hielt sich lange, bis in die fünfziger Jahre. Obwohl wir sie anders erlebten, hielt die Wirkung der Nazi-Propaganda an.

BAHR: Ich habe ganz andere Erinnerungen daran, wie die Russen kamen. Ich war vorher zwei Jahre beim Kommiss, also bei der Wehrmacht, gewesen. Aber ich hatte das Glück, 1944 entlassen zu werden, weil sich herausgestellt hat, jedenfalls für die Nazis, dass meine Großmutter Jüdin war. Also wurde ich am 20. Juli entlassen. Ausgerechnet an dem 20. Juli, an dem die Offiziere vergeblich versucht hatten, Hitler umzubringen. Danach starben bis zum Ende des Krieges mehr Soldaten und Zivilisten als in den vier Kriegsjahren zuvor. Auf der Kriegsschule hatte ich gelernt, dass man eine Halbinsel schwer verteidigen kann. Und wo nicht verteidigt wird, wird auch nicht angegriffen. Also zog ich mit meiner Mutter auf so eine Halbinsel, nach Tegel Ort. Alles mit dem Fahrrad, schwer beladen. Und da wurde dann auch nicht gekämpft. Die Russen kamen eines Nachts einfach so an. Wir saßen im Keller und sahen, wie ein Bajonett um die Ecke kam. Nach dem Bajonett kam ein Soldat. Der ging durch, blieb aber plötzlich erschrocken stehen. Unterhalb des Stützbalkens hatte er einen Draht entdeckt. Ich weiß nicht, was er sich bei |10|dem Draht gedacht hat. Wir sagten zu ihm, um ihn zu beruhigen: »Nur ein Radio.« Haben es angestellt. Nette Unterhaltungsmusik kam da raus. Dann ging er mir aber doch an die Kehle und wollte mich … Ich weiß nicht, was … Meine Mutter schrie schrecklich, meine spätere Frau auch. Da ließ er mich dann auch wieder los. Aber für uns begann jetzt die Zeit der Angst. Die haben sich natürlich die Frauen genommen. Meine Frau, die unübersehbar meinen späteren Sohn unterm Herzen trug, kroch einmal vor Angst mit ihrem dicken Bäuchlein unter ein Bett, kam dann aber allein nicht mehr raus, und wir mussten das Bett anheben, um sie zu befreien. Nein, angenehm war das alles nicht. Da spielte es auch keine Rolle, dass sie uns mal von ihrer wunderbar fetten Kohlsuppe was abgaben, sogar einen Schluck Wodka. Unsere Gefühle waren gemischt, sehr gemischt, jedenfalls nicht sehr angenehm. Man fühlte sich ihrer Willkür ausgeliefert. Aber den Eindruck, von dem Sie sprachen, hatte ich auch – das waren eigentlich arme Würstchen. Einer hat mal angesichts des fließenden Wassers bei uns in der Küche und im Klo in gebrochenem Deutsch gefragt: »Warum ihr Krieg?« Und es stimmt ja – wir waren im Vergleich zu denen so reich.

ENSIKAT: Von diesen Vergewaltigungen haben wir Kinder in Finsterwalde auch gehört. Immer wieder hörten wir von schlimmen Verbrechen der Russen oder der polnischen Fremdarbeiter, die sich jetzt an den Deutschen rächten. Selbst habe ich nichts davon erlebt. Es wurde damals aber sehr viel darüber gesprochen. |11|Über deutsche Verbrechen habe ich kein Wort gehört. In meiner Erinnerung gab es in Finsterwalde ja auch plötzlich keine Nazis mehr.

BAHR: Ich wusste, dass es KZs gegeben hatte. Was dort passiert ist, die industrielle Menschenvernichtung, man konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Wehrmacht an solchen Verbrechen beteiligt war. Ich muss auch gestehen, dass ich in solchen Dimensionen damals gar nicht gedacht habe. Mein Gefühl nach dem 8. Mai war: Du hast es überstanden. Gesund. Hoffentlich kommt auch dein Vater bald zurück. Und dann wollte ich von Tegelort zurück nach Weißensee, nachsehen, wie es da in unserer Wohnung aussah, die zerbrochenen Fensterscheiben vielleicht durch Pappe ersetzen, was zum Heizen ranschaffen. Angesichts der Trümmerwüste war man ganz primitiv mit Überleben beschäftigt.

ENSIKAT: Ja, daran erinnere ich mich auch. Es ging nur ums Essen und im Winter ums Heizen. Ich erinnere mich, dass mein Bruder, der vier Jahre älter ist als ich, immer Kohlen klauen ging oder Kartoffeln. Meine Mutter wollte das nicht. Man klaut nicht! Wir hätten aber ohne zu klauen gar nicht überlebt.

BAHR: Ich auch nicht.

ENSIKAT: Meine Mutter hat dann natürlich die geklauten Kartoffeln gekocht, aber meinen Bruder dabei beschimpft, dass er sie geklaut hatte.

BAHR: Ich hatte kein Geld, nicht mal so viel, um das bisschen zu kaufen, was es auf Lebensmittelkarten gab. Weil ich dummerweise gedacht hatte: Reich zu |12|Ende, also auch Reichsmark zu Ende. Das war ein Irrtum. Dann dachte ich, ich könnte mit Schreiben was verdienen. Auch ein Irrtum. Die erste Zeitung, die in Berlin aufmachte, hieß »Tägliche Rundschau« und war das Organ der Roten Armee. Dahin wollte ich nicht. Die zweite Zeitung war die »Berliner Zeitung«. Die nannte sich eine »unabhängige deutsche Zeitung«. Hab ich gedacht, da gehst du mal hin. Ich bin auch hingegangen – von Weißensee nach Neukölln. Das war weit, ohne Verkehrsmittel. Man musste über zerstörte Brücken klettern. Also, das war zu Fuß ein Tagesausflug. Als ich da ankam, hab ich sofort gesehen, wie naiv ich war. Denn die Ersten, die mir da begegneten, waren natürlich Russen. Ein russischer Major war der Chef, ein Hauptmann sein Stellvertreter. Komischerweise war das dann bei den Amis und ihrer »Allgemeinen Zeitung« genauso. Der Chef Major, der zweite Hauptmann. Da habe ich dann angefangen zu arbeiten, als Reporter. Bei den Amis in Tempelhof habe ich das Handwerk gelernt. Wann, wer, wie, wo, was – das muss gleich im ersten Satz stehen. Als ich mal eine Meldung im Zweifingersystem in die Maschine tippte, guckte mir einer von ihnen über die Schulter und fragte: »Wollen Sie ›Krieg und Frieden‹ neu schreiben?« Eine unglaubliche Zeit. Wir hatten Hunger, haben gefroren und uns von Kultur ernährt. Denn nun brachten alle vier Besatzer das Beste, was sie hatten, nach Berlin. Es begann der Kampf um die Seelen der Deutschen.

|13|ENSIKAT: Davon war leider in Finsterwalde wenig zu spüren. Da waren die Russen allein, klar. Natürlich drangen sie auch plötzlich in unseren Alltag ein. Wir mussten eines von unseren drei Zimmern untervermieten, und unsere Untermieterin, sozusagen ein »deutsches Fräulein«, hatte einen russischen Freund. Was meine Mutter natürlich auch verurteilte. Aber dieser russische Soldatenfreund, Pjotr hieß er, hatte einen großen Vorteil: Er mochte Kinder. Er hat uns Zucker mitgebracht. Würfelzucker! Eine absolute Köstlichkeit damals. Auch dank dieser Liebschaft unserer Untermieterin mit einem russischen Soldaten haben wir überlebt. So komische Geschichten gab es. Und dann gab es natürlich auch die Hilfe von Finsterwaldern, denen es etwas besser ging als uns. Die Hilfsbereitschaft war damals sehr groß. Meine Mutter, allein mit drei Kindern! Ich weiß nicht, ob wir in Berlin überlebt hätten. Das haben wir nur geschafft, weil uns die Nachbarn geholfen haben, obwohl sie selbst ganz wenig hatten.

BAHR: Ich verdanke mein Überleben erstens der Tatsache, dass ich bei den Amerikanern war, bei der »Allgemeinen Zeitung«, übrigens ein fabelhaftes Blatt. Gleich nach der ersten Nummer bekamen wir eine warme Mahlzeit, nicht doll, aber damals das Beste, was man haben konnte. Die Amis haben sehr darauf geachtet, dass man nichts mit rausnahm. Es sollte wirklich nur für die sein, die für sie arbeiteten. Der zweite Grund fürs Überleben war ein Onkel, der an die Stelle seines gefallenen Kameraden trat, der Bäckermeister |14|gewesen war. Mein Onkel lernte also Bäcker, obwohl er eigentlich einen ganz anderen Beruf hatte. Von ihm bekamen wir ab und zu ein Brot, das wir dann auch mal gegen Koks tauschen konnten. Den schleppten wir die drei Treppen hoch am Schulenburgring in Tempelhof, kippten ihn auf den Fußboden und zerkleinerten ihn mit dem Hammer, damit er in den kleinen – wie hießen diese Öfchen damals?

ENSIKAT: Kanonenofen.

BAHR: Danke, damit er in den Kanonenofen passte. Das Rohr des Ofens war nicht lang genug. Ich hab also Ziegelsteine geklaut, auf die wir den Ofen gestellt haben, damit das Rohr bis ans Fenster reichte. Um zu überleben, brauchte man ja wenigstens einen Raum, in dem man sich ein bisschen aufwärmen konnte. Aber das alles war trotzdem nicht das Wichtigste. Noch wichtiger war, dass man wieder ins Theater gehen konnte, sehen durfte, was man nicht kannte. Wir haben die Kultur damals förmlich aufgesogen, wie Schwämme.

ENSIKAT: Meine Erinnerung an diese Nachkriegskindheit ist wesentlich bestimmt vom Hungern und vom Frieren. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, eine schlechte Kindheit gehabt zu haben. Das hängt natürlich mit meiner Mutter zusammen, weil sie uns Kindern viele Freiheiten gelassen hat. Wir durften manches, was andere nicht durften. Sie hatte ja auch kaum die Zeit, uns viel zu verbieten. Als Verkäuferin fing sie morgens um acht an und kam abends um acht |15|zurück. Rings um Finsterwalde gibt es wunderbare Wälder. Da spielten wir Indianer. Etwas später wurde ich Pionier. Das war auch so eine Art Indianerspiel. Ich gehörte zu den ersten Pionieren in Finsterwalde. Wir waren eine Minderheit, fünf oder sechs, und wurden von den anderen verprügelt. Das schweißte uns natürlich zusammen. Bei aller Not, meine Kindheit war nicht unglücklich.

BAHR: Verstehe ich sehr gut. Diese Not hat man ja nicht immer gespürt.

ENSIKAT: Man kannte es nicht anders.

BAHR: Ja, man kannte es nicht anders. Meine nächste Erinnerung ist dann die Luftbrücke. Wir wohnten 1948 noch immer im Schulenburgring in Tempelhof, mit dem Kanonenöfchen. Das Geräusch der ein- und ausfliegenden Maschinen direkt über unserm Haus, das war Musik. Ich bin nachts aufgewacht, wenn mal eine Maschine ausfiel. Da fehlte plötzlich was. Als die Luftbrücke begann, wusste keiner, ob das funktionieren würde. Anfangs war das ganz unwirklich. Aber die Berliner, also die Westberliner, zeigten damals eine ungeheure Moral. Es war der Anfang der heroischen Zeit in Westberlin. Für die amerikanischen Zeitungen und Radiosender war das die erste positive Nachricht aus Deutschland: Deutsche riskierten etwas, um frei zu sein und zu bleiben. Mit anderen Worten: Die Deutschen waren nicht nur schlecht. Und für uns war es eine Frage des Stolzes. Die Sowjets hatten angeboten, dass jeder Westberliner, der in den Ostsektor kommt, sich dort versorgen |16|lassen konnte mit Kartoffeln, Mehl und frischer Milch. Davon haben nur ganz wenige Gebrauch gemacht und sich lieber von Kartoffelmehl oder Milchpulver ernährt. Das war eine Frage des Stolzes. Ich habe dann viel später, in den siebziger Jahren, meinem sowjetischen Verhandlungspartner gesagt: »Ihr habt damals mit dem Einsatz der Hungerwaffe den Kampf um die Seelen der Deutschen verloren.« Da hat er genickt und gesagt: »Das stimmt. Aber die Amerikaner haben in derselben Zeit China verloren.« Stimmt auch. Selbst Amerika konnte sich nicht zwei solcher Luftbrücken leisten. Sie mussten entscheiden, Tschiang Kai-schek zu retten oder Berlin. Ich war, offen gestanden, sehr froh, dass die Amerikaner damals gesagt haben: »Europe first.«

***

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