Gefangen in alter Schuld: Samantha & Dean - Sara-Maria Lukas - E-Book

Gefangen in alter Schuld: Samantha & Dean E-Book

Sara-Maria Lukas

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Beschreibung

Der Komponist Dean Thomas hat seine Vergangenheit als Mitglied der Mafia hinter sich gelassen, bis jemand seine wahre Identität herausfindet. Er wird erpresst und muss über das Schicksal der Ärztin Samantha Walton entscheiden, wenn sein Leben nicht zerstört werden soll. Samantha Walton ist Ärztin und hat sich einem Geheimbund angeschlossen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die weltweit agierende organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Nach einer anstrengenden Schicht in der Notaufnahme findet sie einen handgeschriebenen Hilferuf in der Tasche ihres Kittels. Ihre Reaktion darauf katapultiert sie in die Hände des Komponisten Dean Thomas, von dem niemand weiß, dass Hass und Gewalt seine Kindheit prägten. Seine Blicke lassen ihre Haut kribbeln und ihr Herz schneller schlagen. Doch wie gefährlich es ist, sich auf Dean einzulassen, muss Samantha erfahren, als er sie kurzerhand entführt. Zwei Menschen als Spielbälle der Mafia. Nur wenn sie mutig genug sind, sich zu vertrauen, werden sie überleben.

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Sara-Maria Lukas

Danger Meets Love Teil 2: Gefangen in alter Schuld (Sam & Dean)

© 2022 Plaisir d’Amour Verlag, D-2 64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

© Covergestaltung: Sabrina Dahlenburg (www.art-for-your-book.de)

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-586-0

ISBN eBook: 978-3-86495-587-7

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses eBook darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

Autorin

Prolog

Er nahm das Foto, betrachtete es und runzelte die Stirn. „Wer ist das?“

„Das sind Katie Fleming und Jayden Laurel. Sie haben meinen Sohn auf dem Gewissen. Merk dir die Gesichter. Wenn du mir die Namen der Leute bringen willst, die zu dieser verdammten Geistergruppe, die uns seit Jahren in die Geschäfte pfuscht, gehören, sind diese beiden der Schlüssel dazu.“

„Sind sie untergetaucht? Zeugenschutz oder so etwas?“

„Nein, sie rennen fröhlich herum und setzen Kinder in die Welt.“

„Wo ist dann das Problem?“

„Sie werden rund um die Uhr von Bodyguards beschützt, als wären sie der Präsident der Vereinigten Staaten. Du brauchst sie lebend, denn sie sind die einzigen Mitglieder, die wir kennen. Nur sie können uns verraten, wie wir an die anderen herankommen, um endlich Rache am Mord meines Sohnes zu üben.“

Carlos stand schwerfällig auf, schlurfte zum Eingang des Besucherraumes und donnerte mit der Faust gegen die Tür. „Ich will zurück in meine Zelle!“

Er hustete röchelnd, als er sich noch mal umdrehte.

Kapitel 1

„Noch etwas mehr Bass“, murmelte Dean und schob den Regler des Keyboards auf seinem Monitor eine Nuance höher. Er tippte auf Start, lehnte sich zurück und rückte die Kopfhörer zurecht.

Die Finger im Takt mitbewegend, hörte er zu. Als das Stück endete, nickte er und speicherte die Datei. Perfekt. Sein Auftraggeber würde zufrieden sein. In der letzten Fassung war der dramatische Höhepunkt zu schnell erreicht, nun passte er auf die Zehntelsekunde, genauso, wie es bei einem Werbespot sein musste. Er mailte die Datei an das Produktionsbüro. Dann nahm er den Kopfhörer ab, legte ihn neben die Tastatur und schaltete den Rechner aus. Er stand auf, reckte sich stöhnend und bewegte Hals und Schultern, um die steife Muskulatur wiederzubeleben. Sein Rücken fühlte sich wie der eines alten Mannes an. Zumindest stellte er sich vor, dass sich der Rücken eines alten Mannes so anfühlen würde. Vielleicht sollte er diese Eilaufträge ablehnen, die ihm Sechzehn-Stunden-Schichten bescherten, weil es die Produktionsfirmen erst mit preisgünstigeren Konkurrenten probierten, um dann doch wieder bei ihm anzurufen, wenn ein billiger Kollege auch nur billiges Geklimper zustande gebracht hatte.

Eigentlich hatte er es gar nicht mehr nötig, sich Stress dieser Art anzutun, und seine Muskeln protestierten neuerdings auch regelmäßig, wenn er so lange am Mischpult saß.

Innerlich schmunzelte er über seine völlig überflüssigen Gedankengänge. Schließlich war es seine Leidenschaft, die passende Musik zu den Werbespots zu kreieren, also würde er auch immer wieder solche Aufträge annehmen. Ganz egal, ob er das Geld brauchte oder nicht.

Er schaltete alle Geräte ab und verließ das Studio. Nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee würde er sich wieder jung fühlen.

Während er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe in den zweiten Stock hinauflief, pfiff er die Melodie vor sich hin. Das Thema war ihm besonders gut gelungen und die Melodie ließ sich noch nicht aus seinem Kopf vertreiben. Er hatte lange an ihr gebastelt. Die Änderungen in der Auswahl der Instrumente hatte es schließlich gebracht. Nun hatte es Ohrwurm-Potenzial, genau das, was einen guten Werbespot zu einem perfekten machte.

Sein Magen knurrte. Es wurde Zeit, endlich etwas zu essen. Aber vorher brauchte er eine Dusche. Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet und fühlte sich, als hätte er seine Klamotten seit drei Tagen nicht gewechselt.

Als er eine halbe Stunde später mit noch nassen Haaren ein frisches T-Shirt überzog und in eine Jeans schlüpfte, war es bereits früher Nachmittag.

Er stieg ins Erdgeschoss hinab und schlenderte durch das riesige Wohnzimmer zum offenen Küchenbereich. Die Sonne schien durch die bodentiefen Fenster herein. Keine Wolke zeigte sich am Himmel. Die Hitzewelle in diesem Jahr würde auch heute nicht mit einem Wolkenbruch enden.

Er schaltete den modernen Kaffeeautomaten ein, holte einen Becher aus dem Schrank darüber und stellte ihn unter den Ausguss. Sein Handy vibrierte auf dem niedrigen Wohnzimmertisch und er warf einen Blick auf die Smartwatch an seinem Handgelenk. Es war Sally. Bevor er jedoch zum Telefon griff, drückte er auf den Knopf der inzwischen bereiten Kaffeemaschine, und das Mahlwerk ratterte los.

Im Wohnzimmer nahm er den Anruf an. „Schwesterherz, was gibt‘s?“

„Hi, Dean.“

Ihre Stimme hörte sich dünn und zittrig an. „Was ist passiert?“, fragte er alarmiert.

Sie schluchzte auf. „Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht. Ich schwöre, ich hatte mir so fest vorgenommen … aber dann …“

Seufzend rieb er sich über die Stirn und kämmte mit den Fingern seine nassen Haare zurück. Es wäre schön, wenn seine kleine Schwester ihr Leben endlich in den Griff bekommen würde. „Brauchst du mal wieder Geld?“

Sie schluchzte auf. „Das reicht diesmal nicht. Er will … er will, dass ich …“

Dean runzelte die Stirn. „Wer ist er?“

Sie heulte auf. „Toni.“

Wer zum Teufel war Toni? Fuck! Sie hatte doch wohl nicht … „Sal, bist du rückfällig geworden?“

„Nein! Es war nur … ich wusste nicht, dass die Pillen … ich hatte bloß Kopfschmerzen und dann …“

„Was dann? Rede!“

„Es waren keine Kopfschmerztabletten, sie machten mich high. Er hat mich reingelegt und ich brauchte mehr und er gab mir Kredit und jetzt will er, dass ich …“

„… dass du bezahlst. Ich verstehe. Wie viel ist es? Tausend? Zweitausend? Dreitausend?“

„Er will viel mehr! Er sagt, ich hätte ihn bestohlen. Das stimmt nicht, aber er glaubt mir nicht und nun soll ich den Schaden abarbeiten. Er will, dass ich mit seinen Freunden … O Gott! Dean! Ich kann das nicht! Bitte hilf mir!“

„Bleib ganz ruhig, Sal. Ich regele das mit dem Typen. Wo bist du?“

„Bei ihm. Bei seiner Familie, sie lassen mich nicht weg.“

Er stand bereits an der Tür, griff zu seiner Brieftasche und dem Autoschlüssel. „Wo ist das?“

Sie nannte ihm eine Adresse in einem der exklusivsten Viertel der Stadt, dann wurde das Gespräch unterbrochen, bevor er noch etwas sagen konnte. Das war nicht Sallys Art. So etwas tat sie nicht. Sie war eindeutig nicht allein, der Erpresser musste zugehört und ihr das Handy aus der Hand genommen haben.

Seine Kiefergelenke schmerzten, weil er in einem Mix aus Zorn und Sorge die Zähne so kräftig zusammenbiss. „Shit, Sal! Du dummes Kind! Wann wirst du endlich erwachsen?!“

Innerlich weiter fluchend, rannte er in das Untergeschoss, am Tonstudio und seinem Fitnessraum vorbei, zur Durchgangstür in die Garage. Er tippte den Code auf dem Panel neben der Metalltür ein und mit einem leisen melodischen Klicken sprang das Schloss auf.

Vermutlich hatte Sally im Rausch mal wieder von ihrem Bruder erzählt, dem superreichen Komponisten, der sie stets aus jeder Notlage befreite, was die Typen dazu animierte, ihm Geld aus der Tasche zu ziehen. Fuck! Wie oft hatte er ihr erklärt, dass er sich bedeckt halten musste, um keine Aufmerksamkeit zu erregen? Warum machte sie immer wieder die gleichen Fehler?

Er sprintete zum Auto, stieg ein, drückte auf die Fernbedienung für das Garagentor und raste hinaus, sobald es sich geöffnet hatte.

Als er die Adresse erreichte und vor einem zwei Meter hohen, schmucklosen Stahltor anhielt, das die Zufahrt zu einem parkähnlichen Grundstück mit einer pompösen Villa versperrte, spürte er einen dumpfen Druck in der Magengegend. Kameras waren nicht nur auf das Tor gerichtet, überall entdeckte er die grauen Kästen mit ihren schwarzen Augen, die die gesamte Grundstücksgrenze und den Park überwachten. Mindestens acht Linsen fielen allein vom Tor aus direkt auf Dean. Wer hier wohnte, hatte nicht nur die normale Angst reicher Leute vor Einbrüchen, sondern brauchte eine Festung, um sich gegen seine Feinde zu schützen. Das dumpfe Gefühl in seinem Bauch mutierte zu Übelkeit. Sally war ausgerechnet in die Gruppe der Bevölkerung hineingezogen worden, die er aus gutem Grund wie die Pest mied. Bei jeder anderen Person wäre er umgedreht, aber hier ging es um seine Schwester, den einzigen Menschen, den er noch hatte.

Also ließ er die Seitenscheibe herunter und drückte auf den Klingelknopf neben der Sprechanlage. Angespannt wartete er, doch der Lautsprecher blieb stumm. Stattdessen stellten sich ihm im Inneren des Grundstücks zwei Typen entgegen, noch bevor das Tor geräuschlos aufrollte. Unter ihren schwarzen Lederjacken konnte Dean deutlich die Konturen von Schulterholstern erkennen.

Er fuhr langsam auf die beiden zu und sofort schloss sich das Tor  hinter ihm wieder. Er war gefangen.

„Motor aus und aussteigen“, verlangte der eine in gelangweilt klingendem Tonfall. Dean gehorchte und entdeckte einen dritten Mann, der von draußen nicht sichtbar gewesen war, weil er an einem der dicken Torpfosten lehnte. Er richtete, lässig Kaugummi kauend, die Mündung eines Maschinengewehres auf Dean.

Verflucht, der Eigentümer dieser Villa schien eine ganze Armee für seinen Schutz zu bezahlen.

Dean wusste, dass eine Diskussion sinnlos war, also gehorchte er und ließ sich durchsuchen. Die Typen überprüften auch das Innere seines Autos, erst danach durfte er wieder einsteigen und sie gaben den Weg frei. Er ließ seinen Wagen langsam die lange Auffahrt zum Haus hinaufrollen und musterte dabei seine Umgebung.

Die Villa wirkte kalt und unnahbar. Alle Fenster waren geschlossen und die Vorhänge zugezogen.

Als er sein Auto vor der doppelflügeligen Eingangstür parkte und ausstieg, fiel ihm auf, dass der Garten, die Terrasse und der Pool ungepflegt waren. Das Wasser wurde offensichtlich seit längerer Zeit nicht gefiltert und die Hecken hatten keine Konturen mehr, waren also in dieser Wachstumsperiode noch nicht geschnitten worden. Ein hohes Maß an Sicherheitsmaßnahmen, aber kein Geld für einen Gärtner?

Von innen wurde die Tür der pompösen Villa geöffnet. Der Kerl, der im Eingang erschien, begrüßte Dean nicht wie ein harmloser, freundlicher Butler. Er winkte ihn mit einer herrischen Geste herein und führte ihn in einen Raum, dessen Möblierung ganz dem Klischee entsprach, das man sich bei reichen Leuten und ihren Arbeitszimmern vorstellte. Allerdings standen benutzte Gläser auf einem Beistelltischchen, Papiere und Aktenmappen lagen wirr verteilt in mehreren Regalfächern und in einer Vase steckte eine umgedrehte Flasche, statt ein Strauß hübscher Blumen.

Ein Schönling mit dunkelblonden, welligen Haaren saß an einem opulenten Schreibtisch vor einem ebenso opulenten Bücherregal und stierte auf den Bildschirm eines Laptops. Dass das wunderschöne Holz des Tisches von klebrigen Glasrändern verunstaltet wurde, störte ihn wohl nicht.

Als sie eintraten, sah er auf und sie musterten sich gegenseitig mit in Stein gemeißelten Mienen. Der Knabe wirkte jugendlich attraktiv, doch kleine Falten in den Augenwinkeln verrieten, dass er sich bereits in Deans Altersgruppe bewegen musste. Das weiße Hemd, das er an den Unterarmen umgeschlagen und am Hals aufgeknöpft hatte, war eines der teuren Marken und bildete einen starken Kontrast zu seiner sonnengebräunten Haut. Eine dunkelrote Krawatte hing ihm lose um den Hals. Dean kam das Gesicht bekannt vor und eine Ahnung kroch kalt seinen Nacken hinauf.

Plötzlich verschwand das Misstrauen aus der Mimik seines Gegenübers, stattdessen grinste er breit. „Dean Jones, kein Zweifel, du bist es wirklich.“

Fuck. Genau der Nachname war es, den Dean seit Jahren auf keinen Fall mehr hören wollte, und plötzlich wusste er, wer vor ihm saß. Es war Anthony Mendoza, Trevors Cousin und Carlos Mendozas Neffe. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er ein Jugendlicher mit Pickeln und beginnendem Bartwuchs gewesen, jetzt war er einer dieser smarten Typen, die sich in Bars rumtrieben, um das Geld ihrer reichen Familien auszugeben.

Dean verzog keine Miene. „Mein Name ist Dean Thomas. Sie müssen mich verwechseln.“

Anthony winkte ab. „Am Anfang dachte ich auch, die Ähnlichkeit und der gleiche Vorname wären Zufall, als Sally mir das Foto von euch beiden zeigte, aber dann gelang es mir, aus deiner kleinen Schwester die Wahrheit herauszukitzeln. Setz dich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und stand selbst auf. „Möchtest du einen Kaffee?“

In Deans Bauch brodelte der Zorn. Er wollte das arrogante Arschloch packen, gegen die Wand schmettern und anschließend seine Faust in seinen Eingeweiden versenken. Doch er wusste, er musste seinen Tatendrang bändigen und intelligent handeln, wenn er Sallys Leben retten wollte. Also gehorchte er, setzte sich und spielte weiter den Unwissenden. „Nein, danke. Wer sind Sie?“

Anthony schlenderte zu einem Sideboard, griff nach einer Thermoskanne, die dort neben einigen Tassen, einem Milchkännchen und einem Zuckerbehälter stand, und goss sich einen Kaffee ein. „Lass die Förmlichkeiten weg. Hast du mich wirklich noch nicht erkannt? Ich bin Anthony, der Neffe vom großen Carlos Mendoza.“

Er betonte den letzten Teil ironisch langgezogenund starrte Dean an, als erwarte er eine Reaktion, doch Dean hielt seine Mimik unter Kontrolle.

„Und? Kennen wir uns?“

Anthony gab Milch und Zucker in seine Tasse und rührte um. „Erspar uns dein schauspielerisches Talent. Wir sind uns damals nicht nur einmal bei meinem Onkel begegnet, wenn Trevor mit seiner Bande dort aufgetaucht ist, und ich erinnere mich noch gut an dich.“ Er zwinkerte. „Verwechslung unmöglich und Sally hat‘s ja auch schon bestätigt.“

Dean reagierte nicht, sondern schwieg mit versteinerter Miene. Er wollte auf keinen Fall versehentlich mehr verraten, als Anthony wusste.

Anthony setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und trank einen Schluck. Er lehnte sich zurück, behielt aber Tasse und Untertasse in der linken Hand. „Okay, kommen wir zur Sache. Ich bin Carlos Mendozas letzter lebender Verwandter und nehme inzwischen die Stelle seines Nachfolgers ein.“ Er strich gemächlich mit dem Zeigefinger über den Rand der Kaffeetasse. „Im Übrigen solltest du jetzt definitiv gesprächiger werden, wenn du deine Schwester lebend und gesund wiederhaben möchtest.“

Dean kapitulierte. Es hatte keinen Sinn mehr, den Unwissenden zu spielen, also Schluss mit dem Vorgeplänkel. „Was willst du von mir?“

Anthony neigte nachdenklich den Kopf. „Wie alt warst du, als du bei uns mitgespielt hast? Vierzehn? Fünfzehn? Ich schätze, du müsstest siebzehn gewesen sein, als du verschwunden bist, stimmt‘s?“

Dean reagierte nicht und Anthony nickte. „Ist ja auch egal. Was wichtiger ist: Du hast damals schon viel intelligenter, als so mancher alte Hase in unserem Metier gehandelt und hast dich um Angelegenheiten gekümmert, ohne Fragen zu stellen, deren Antworten dich nichts angingen.“ Er lehnte sich vor. „Es war Zufall, dass Sally und ich uns begegnet sind und sie versehentlich deinen Namen ausgeplaudert hat. Doch das passt mir gerade sehr gut, denn ich brauche jemanden wie dich für einen Job, bei dem genau diese Fähigkeiten relevant sind.“

Dean verzog spöttisch die Lippen. „Hast du Angst davor, dir selbst die Finger schmutzig zu machen, oder hältst du dich für zu blöd, sodass du jemand Intelligenteren dafür brauchst?“

Anthonys Gesichtsausdruck gefror zu einer ausdruckslosen Maske. „Die Gründe gehen dich einen Scheißdreck an. Mach den Job, danach lasse ich dich mit deiner Schwester ziehen und verrate niemandem deine wahre Identität.“

„Wo ist meine Schwester?“

Anthony lächelte und augenblicklich wusste Dean, warum Sally auf ihn hereingefallen war. Dieser Typ verstand es, seinen Charme zu versprühen, wenn es darauf ankam.

„Keine Sorge, es geht ihr gut.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Sie bewohnt eines unserer gemütlichen Gästezimmer.“

„Ich will sie sehen und mit ihr sprechen.“

„Natürlich.“ Er tippte die Kurzwahl auf dem Handy. „Bring die Kleine zu uns ins Arbeitszimmer.“ Er lehnte sich wieder zurück und musterte Dean als wäre er ein seltenes Tier im Zoo. „Du hättest bleiben sollen. Männer wie du haben beste Chancen, in unseren Kreisen Karriere zu machen.“

„Ich hatte andere Ziele.“

„Musik, ich weiß. Sally hats erzählt. Sie ist stolz auf ihren großen Bruder und sagt, du spielst E-Gitarre, als wärst du mit ihr in der Hand geboren worden.“

Dean antwortete nicht. Die Selbstgefälligkeit des Arschlochs vor ihm machte ihn rasend und er hatte alle Mühe, ruhig zu bleiben.

„Sie sagt, du spielst zwar mehrere Instrumente, aber die Musik, die du teuer verkaufst, entsteht ausschließlich am Computer. Das ist interessant. Was verdient man als Komponist? Lohnt sich dieser Job tatsächlich mehr, als in unserer Familie Karriere zu machen? Ich erinnere mich, dass du damals sehr geschickt mit der Waffe umgegangen bist. Du kannst jederzeit wieder einsteigen.“

„Danke, kein Bedarf.“

Vor der Tür waren Schritte zu hören. Gleich darauf wurde sie von außen geöffnet und der Bodyguard, der Dean ins Haus gelassen hatte, führte Sally herein.

Sie trug ein superkurzes, enges, schwarzes Kleid und war barfuß. Ihre Haare hingen ungekämmt und strähnig herab. Dean sah ihr sofort an, dass sie auf einem Trip war. Aus halb geschlossenen Augen lächelte sie ihm entgegen. „Hi, Dean.“

An ihrem Arm war eine Einstichstelle zu erkennen. Vermutlich hatten sie ihr einen Schuss als Belohnung für den Anruf bei ihrem großen Bruder spendiert.

„Bist du okay, Sal?“

Sie starrte ihn an, schien einen Moment zu überlegen und senkte den Kopf. „Du bist sauer. Ich weiß. Ich habe Mist gebaut. Ich tauge zu nichts“, jammerte sie, holte tief Luft, seufzte und schwankte leicht. „Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid“, begann sie einen leisen Singsang.

„Das reicht.“ Anthony machte eine Handbewegung und der Bodyguard packte Sally an ihren Oberarmen und schob sie wieder hinaus.

„Hey“, protestierte sie lahm, mehr hörte Dean nicht, denn die Tür fiel hinter ihnen zu. Sein Herz zog sich zusammen, aber er blieb äußerlich ruhig.

Anthony verschränkte die Arme vor der Brust. „Du siehst, es geht ihr gut.“

„Was erwartest du von mir?“

„Du wirst dafür sorgen, dass wir eine bestimmte Person in die Finger bekommen, ohne dass es Zeugen gibt.“

„Was willst du von dieser Person?“

„Nichts Besonderes. Sie soll uns nur ein paar Einzelheiten über ihre … ähm … Familie erzählen, dann lassen wir sie wieder laufen. Hier …“, er holte ein Foto aus einer Schublade, kritzelte Buchstaben und eine Zahlenfolge auf die Rückseite und schob es über den Tisch. „Das ist sie. Ihren Namen und die Nummer, unter der du mich erreichst, wenn du sie hast, habe ich hinten drauf geschrieben.“

***

Samantha bog in ihre Straße ein. Locker trabte sie die letzten zweihundert Meter ihrer Joggingrunde. Die Sonne schien bereits warm vom Himmel. Es würde ein neuer heißer Sommertag ohne Chance auf Abkühlung werden. Zum Glück hatte sie keine Pläne. Sie würde den Rest des Tages faul auf dem Balkon liegen, Eis mit frischem Obst essen und einen Krimi lesen, bis sie abends zur Nachtschicht aufbrechen musste.

Die letzten Meter ging sie und machte ein paar Dehnungsübungen, bevor sie die Tür aufschloss und in den Fahrstuhl trat.

Sie musterte ihr verschwitztes Gesicht im Spiegel. Dunkle Ränder hatten sich unter ihren Augen gebildet. Sie sollte Urlaub nehmen, um endlich mal wieder richtig auszuspannen. Ein freier Tag reichte nicht, um sich von Zwölf-Stunden-Schichten zu erholen. Zum Glück liebte sie ihren Beruf, sonst hätte sie längst gekündigt und eine Hausarztpraxis eröffnet.

In der Wohnung angekommen, schlenderte sie in die Küche, öffnete den Kühlschrank, holte die Karaffe mit dem frisch gepressten Orangensaft heraus, die sie vorbereitet hatte, bevor sie zu ihrer Joggingrunde aufgebrochen war, und nahm ein Glas aus dem Schrank. Als sie sich eingießen wollte, ließ ein leises Piepen sie ruckartig innehalten. Das war nicht ihr normales Handy, sondern eins der drei geheimen, bei denen sie rotierend alle paar Wochen die SIM-Karten wechselte. Eins war immer in der Wohnung versteckt, eins lag im Auto unter dem Fahrersitz und eins trug sie während der Arbeit bei sich. Nur die Mitglieder ihres geheimen Freundeskreises bekamen die drei Nummern. Wenn sich einer darüber meldete, musste es wichtig sein.

Sie goss sich schnell das Glas voll und trank auf dem Weg ins Wohnzimmer einen Schluck. Dort zog sie das Telefon aus der Schublade und sparte sich den Blick auf das Display, denn sie alle nutzten diese Leitungen nur mit unterdrückter Nummer. Stattdessen tippte sie sofort auf den grünen Hörer und meldete sich mit einem knappen „Ja“.

„Guten Morgen, Sam.“ Das war Magnus’ tiefe Stimme.

„Guten Morgen. Was ist passiert? Braucht ihr mich?“

„Nein. Wir sind alle bei bester Gesundheit. Ich will dich nur warnen.“

„Wovor?“

„Sie lassen Carlos Mendoza aus dem Knast.“

„Witze dieser Art mag ich überhaupt nicht.“

Magnus lachte leise. „Ich auch nicht, das kannst du mir glauben.“

Sie strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, stemmte die freie Hand in die Taille und ließ ihre Blicke über die herrliche Aussicht aus ihrem bodentiefen Fenster wandern. „Wie hat der Kerl das geschafft?“

„Der Staatsanwalt bezeichnet es als einen Akt der Gnade. Mendoza hat Krebs im Endstadium und wird in wenigen Wochen in ein Hospiz verlegt.“

Samantha schnaubte. „Es ist nicht zu fassen. Von da aus hat er garantiert genügend Möglichkeiten, seinen Clan zu leiten. Wer weiß, ob er wirklich Krebs hat. Vermutlich hat er Millionen dafür ausgegeben, um diese Diagnose zu bekommen.“

„Oder er stirbt wirklich und will vorher noch seinen Rachedurst befriedigen.“

„Das ist auch möglich.“

„Willst du für eine Weile zu uns auf die Finca kommen?“

„Denkst du, ich bin in Gefahr?“

„Wir alle sind in Gefahr.“

„Wie meinst du das?“

„Ich warne gerade alle Mitglieder unseres Kreises. Erinnerst du dich, dass einer meiner Bodyguards, Jeff, der schlanke mit dem Vollbart, vor vier Monaten gekündigt hat?“

„Klar, wir haben ihm doch einen Kinderwagen für das Baby geschenkt, das seine Freundin erwartete.“

„Seine Wohnung wurde gekündigt. Sie sind weggezogen, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen.“

„Oh. Wow. Und du meinst jetzt, die Geschichte von der großen Liebe mit Familiengründung wäre ein Fake gewesen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben ihn ja, wie alle Angestellten, regelmäßig überprüft. Eigentlich hatte Jeff eine blütenweiße Weste, sonst hätte ich ihn gar nicht erst so nah an uns herangelassen, aber man kann nie hundertprozentig sicher sein. Ich kenne einen Psychologen, der behauptet, jeder Mensch wäre auf irgendeine Weise manipulierbar. Vielleicht haben sie seine Frau entführt und erpressen ihn. Vielleicht halten sie ihn irgendwo gefangen und foltern ihn, bis er Namen nennt. Wir sollten auf jeden Fall in der nächsten Zeit sehr vorsichtig sein.“

„Ich passe auf.“

„Ich könnte ruhiger schlafen, wenn du hier wärst, statt allein in der Stadt. Schließlich kenne ich deine Risikobereitschaft.“

Samantha lächelte. „Ich werde es mir überlegen. Vielleicht ziehe ich meinen Jahresurlaub vor und verbringe ihn bei euch.“

„Ich denke, die gefährliche Zeit ist jetzt, vor Carlos Entlassung.“

„Warum?“

„Unser Spitzel meint, Mendozas Nachfolge wäre noch nicht geregelt. Es könnte sein, dass er eine … nennen wir es Ausschreibung, macht.“

„Ich verstehe. Wer meine ärgsten Feinde tötet, wird mein Nachfolger. Trotzdem, ich werde auf keinen Fall meinen Job kündigen, um mich monatelang vor dem Syndikat zu verstecken.“

Magnus seufzte. „Warum wusste ich, dass ich diese Antwort zu hören bekomme?“

Samantha lachte. „Weil wir uns nicht zusammengetan haben, um uns vor diesen Menschen zu verkriechen, sondern um uns ihnen entgegenzustellen.“

„Ich weiß. Aber Mendoza hasst uns mehr als jeder andere, mit dem wir es bisher zu tun hatten, und er ist einer der mächtigsten Mafiapaten. Nimm es nicht auf die leichte Schulter, halte in der nächsten Zeit die Augen offen. Okay?“

„Du hast recht. Ich passe auf und sollte irgendetwas Unnormales vorfallen, melde ich mich sofort.“

„Mach das. Wir sind alle in Alarmbereitschaft. Ich kann dir jederzeit den Jet schicken.“

„Danke, Magnus. Grüße Sina von mir.“

„Das mache ich. Sie ist gerade stinksauer, weil ich darauf bestanden habe, dass sie für eine Weile ihr Studium unterbricht und hierherkommt.“

Samantha lachte. „Ich kann es mir vorstellen.“

„Mach‘s gut, Sam.“

„Mach‘s gut, Magnus.“

Kapitel 2

Von draußen war ein Martinshorn zu hören. Es wurde schnell lauter. Da fuhr also schon der nächste Rettungswagen die Auffahrt zur Klinik hinauf. Susan hatte bereits Bescheid gesagt, dass mal wieder der Teufel los war und sie alle Pausen ausfallen lassen mussten.

Seufzend sah Samantha auf ihre Armbanduhr und beschloss, dass sie sich trotzdem die Zeit für einen Kaffee nehmen würde, wenn schon keine wirkliche Auszeit möglich war. Immerhin war sie seit rund vierunddreißig Stunden im Dienst und die Nacht noch lang.

Sie eilte den Gang entlang. Irgendetwas schepperte. Laute Männerstimmen waren zu hören. Vermutlich mal wieder ein randalierender Betrunkener, der von den Wachleuten hinausgeworfen werden musste. Von der Seite war eine helle weibliche Stimme zu hören. Sie weinte. Im Vorbeigehen warf Samantha einen Blick in den Wartebereich, der immer noch bis auf den letzten Platz besetzt war, obwohl die große Uhr an der Wand bereits nach dreiundzwanzig Uhr anzeigte. Die Stimme gehörte zu einer dürren Frau mit strähnigen Haaren. Eine grauhaarige ältere saß mit einem kleinen Jungen daneben, der mit großen Augen die hemmungslos schluchzende beobachtete. Es bahnte sich eine dieser Nächte in der Notaufnahme an, in der sich die Patienten anscheinend verabredet hatten, zu prüfen, wie stressresistent das Krankenhauspersonal war.

Samantha holte sich einen Kaffee aus dem Automaten, und während sie zur Anmeldung schlenderte, blies sie in den dampfenden Pappbecher, um das bittere Zeug etwas abzukühlen, bevor sie den ersten Schluck nahm.

„Was habt ihr als Nächstes für mich?“, fragte sie, als sie den Anmeldetresen erreichte.

„Verbrennung am Mittelfinger.“ Susan reichte ihr das Klemmbrett und fügte mit leicht spöttischer Betonung „Grad II“ hinzu.

Samantha runzelte die Stirn. „Ein Kind?“

„Nein, ein ausgewachsener Mann.“

„Soll ich ihm eine Brandsalbe draufschmieren, ein Pflasterchen aufkleben und ein Trostlied singen, oder was erwartet der Typ?“

Susan gluckste. „Dass mit dem Lied würde ihm bestimmt gefallen. Er ist Komponist.“

„Ein Promi? Auch das noch!“

„Nein, kein Promi. Ich war neugierig, habe ihn gegoogelt und kaum was gefunden. Er macht wohl vor allem Musik für Werbespots und Serien.“

„Warum kommt der mit so einer Lappalie?“

„Er sagt, seine Finger seien sein Kapital, deswegen hätte er Angst vor einer Entzündung.“

„Ein Spray aus der Apotheke und der Besuch beim Hausarzt am Morgen hätten trotzdem gereicht. Kann das nicht einer der Assistenzärzte übernehmen?“

„Nein, er ist Privatpatient mit dem Recht auf Oberarztbehandlung. Schimpf nicht, genieß es lieber, aber pass auf, dass dein Höschen nicht zu nass wird.“

„Wie bitte?“

Susan zwinkerte. „Der Typ ist die personifizierte Akkumulation von Testosteron. Er wartet in der Zwei.“

Auch das noch! Ein Schönling! Samantha trank ihren Kaffee aus, warf den Pappbecher in einen Papierkorb und atmete genervt durch, bevor sie den Flur entlang ging und die Klinke zu Raum Zwei herunterdrückte.

Die Behandlungsliege stand seitlich zur Tür. Der Patient saß auf der langen Seite und ließ die Beine baumeln. Als sie in den Raum trat, hob er den Kopf und drehte ihr das Gesicht zu. Ihre Blicke begegneten sich nur für den Bruchteil einer Sekunde und trotzdem verstand Samantha schlagartig, was Susan gemeint hatte. Sein Anblick löste ein Prickeln in ihrem Bauch aus, das ein Erdbeben in ihren Nervenbahnen nach sich zog. Es musste am ungewöhnlichen Blauton seiner Augen liegen.

Nur einen Moment später hatte Samantha sich wieder in der Gewalt und kehrte die professionelle Ärztin heraus. „Guten Abend, ich bin Doktor Walton. Sie haben sich eine Verbrennung zugezogen, Mister …“, sie warf einen schnellen Blick auf das Klemmbrett in ihrer Hand, „Mister Thomas?“

„Ja.“ Er nickte knapp und sie konnte nicht anders, als ihn ausgiebig zu mustern. Einen Komponisten mit der übertriebenen Angst vor einer Entzündung hatte sie sich anders vorgestellt. Statt der zierlichen Gestalt eines sensiblen Künstlers mit eigenartigen Allüren saß da ein Typ, der Frauen sabbern ließ. Seine Erscheinung war perfekt. Groß, breite Schultern, schmale Taille, kräftige Beine. Er trug Jeans und ein blaues Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt waren und den Blick auf muskulöse Unterarme mit fein hervortretenden Sehnen und Adern zuließ. Dieser Mann saß garantiert nicht nur am Klavier, sondern trieb regelmäßig Sport.

Ihr Blick wanderte höher und ein leichter Schauer zog durch ihren Körper. Sein Gesicht war nicht schön, aber sehr ausdrucksstark. In seine eher tief liegende Stirn fielen ein paar blonde Strähnen seiner Kurzhaarfrisur, was ihm jugendliche Leichtigkeit verlieh. Doch der Eindruck relativierte sich schnell, denn zwischen seinen Augen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Sein Gesicht war eher rundlich. Hohe Wangenknochen rahmten eine ästhetisch gerade Nase ein. Seine Lippen waren geschwungen und am ausgeprägten Kinn erkannte sie Bartstoppeln. Doch das Ungewöhnlichste an diesem Mann waren seine Augen, die tief in den Höhlen lagen und deren Iriden von einem Blau waren, das von innen zu leuchten schien.

Erste Falten in Augen- und Mundwinkeln deuteten darauf hin, dass er um die vierzig Jahre alt sein musste.

Sein Ausdruck wirkte hart, unnahbar, ernst, doch als er jetzt auf natürliche, fast schüchterne Art lächelte, löste sich dieser Eindruck. Ja, Susan hatte definitiv recht, der Typ verkörperte Erotik in ihrer reinsten Form.

„Sie werden mich vermutlich für einen Idioten halten, dass ich mit einer solchen Kleinigkeit in die Notaufnahme komme, aber mein Agent zwingt mich aus versicherungstechnischen Gründen dazu“, erklärte er mit tiefer Stimme, die Vibrationen bis in ihren Unterleib schickte.

Samantha antwortete nicht, sondern zog sich mit einer schnellen Bewegung den hohen, schmalen Rolltisch heran und deutete darauf. „Zeigen Sie mir die Verletzung.“

Er streckte den Arm aus und ihr Blick fiel auf seine hypermoderne Smartwatch. Sie umgriff sein Handgelenk und platzierte die Hand so auf der Tischplatte, dass sie in seine Handfläche sehen konnte. Seine kräftigen Finger suggerierten, dass er nicht nur am Computer, sondern auch handwerklich aktiv war, und seine Fingerkuppen wiesen die typische Hornhaut auf, die sich entwickelte, wenn man es gewohnt war, die Stahlsaiten einer Gitarre zu drücken.

Sie warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht und seinen Körper. Wie wohl seine Vergangenheit ausgesehen hatte? Er war auf keinen Fall ein Mensch, den man leicht durchschauen konnte.

Sie holte sich ihren Hocker, drehte das am Tisch befestigte Lupenstativ etwas, schaltete die Lampe an der Lupe ein und sah hindurch. Am Mittelfinger prangten zwei Brandblasen dicht nebeneinander, von denen eine aufgeplatzt war. „Wie ist das passiert?“

„Mir ist ein Topf aus der Hand gerutscht, als ich ihn vom Herd nehmen wollte.“

„Was war in dem Topf.“

„Nur Wasser für einen Tee.“

Sie nickte. „Ihr Agent braucht sich keine Sorgen zu machen. Ich desinfiziere die offene Blase und mache Ihnen einen dünnen Verband, damit Luft, aber kein Schmutz drankommt. Es wird in wenigen Tagen verheilt sein, wenn Sie den Finger nicht gerade in eine Pfütze auf der Straße halten.“

„Da wir seit Wochen keinen Regen hatten, sollte es schwierig sein, eine Pfütze für derartige Experimente zu finden.“

Sie sah auf. Er verzog keine Miene, doch aus seinen Augen glitzerte eine Nuance von Heiterkeit. Augenblicklich schienen sie Samantha schon wieder hypnotisieren zu wollen. Sie ließ sich nichts anmerken, sondern schmunzelte nur. „Na, dann steht ja Ihren weiteren künstlerischen Aktivitäten nichts im Wege. Was für ein Instrument spielen Sie?“

„Zum Komponieren vor allem die digitalen Versionen von diversen Instrumenten, aber die E-Gitarre ist mein Lebenselixier.“

„Der Finger wird Sie nicht daran hindern, auch weiterhin darauf zu spielen.“

„Ich brauche die Diagnose schriftlich, für alles andere würde ich ungern Ihre Zeit rauben. Desinfektionsspray habe ich auch zu Hause.“

„Es dauert nur ein paar Minuten. Den Bericht schickt Ihnen die Verwaltung zu.“

Samantha hatte den Kopf sofort wieder gesenkt, doch sie spürte seinen Blick weiterhin auf ihrer Haut.

Eine dermaßen intensive Wirkung hatte schon lange kein Mann mehr auf sie gehabt.

Als sie die Wunde desinfizierte, gab er keinen Ton von sich. Er zuckte auch nicht, sondern hielt entspannt still und plötzlich wurde ihr die körperliche Nähe zwischen ihnen bewusst. Obwohl … oder vielleicht gerade, weil er weder ein aufdringliches Parfüm noch Aftershave benutzte, schien sein Duft ein ganz besonderer zu sein. Er umhüllte sie wie ein unsichtbarer Mantel, unter dem sie sich so fühlte als wäre er kein Fremder. Seine Nähe weckte die Nervenenden tief in ihrem Unterleib und ließ es zwischen ihren Beinen kribbeln. Es fühlte sich aufregend an, definitiv erregend, aber auch vertrauenseinflößend, als wären sie sich auf seltsame Weise nahe. Sie würde es genießen, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren.

Ein derartiges Gefühl, einem fremden Mann gegenüber, hatte sie noch nie gehabt.

Ja, Susan hatte recht, bei dem Knaben musste Frau wirklich aufpassen, dass der Liebessaft nicht aus dem Höschen tropfte. Zum Glück war sie keine Anfängerin und verrichtete trotz seiner Wirkung auf sie souverän ihre Arbeit. Der Mann merkte garantiert nicht, was sie in seiner Gegenwart fühlte.

Nach wenigen Minuten war sie fertig und stand auf. „Das wars schon.“

Sie schob den Tisch zur Seite und setzte sich an den Schreibtisch vor dem Fenster, um schnell das Protokoll zu tippen.

„Vielen Dank, Doktor Walton.“

Seine tiefe Stimme füllte den Raum. Sie sah auf und nickte ihm knapp zu, bevor sie sich wieder auf den Bildschirm konzentrierte. „Gern geschehen. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen.“

Sie hörte, dass er die Tür öffnete, doch sie hörte nicht, dass er sie hinter sich auch wieder schloss. Irritiert drehte sie sich auf ihrem Schreibtischstuhl halb um. Er stand im Türrahmen und sah sie an.

Sie runzelte die Stirn. „Ist noch was?“

„Würden Sie mal einen Kaffee mit mir trinken? Vielleicht morgen?“

Samantha öffnete den Mund, doch bevor sie ihm ihre Standardantwort auf Einladungen dieser Art geben konnte, trat er lächelnd wieder näher.

„Entschuldigen Sie, ich weiß, eine solche Frage gehört sich nicht. Es ist nur so … Wie soll ich es erklären … Ich treffe viele Frauen, die mit mir flirten, aber mir ist seit Langem keine Frau mehr begegnet, die mich so sehr beeindruckt und neugierig macht, wie Sie es tun. Ich möchte Sie unbedingt kennenlernen.“

Ein Hauch seines Duftes erreichte erneut ihre Nase und ihr Herz klopfte schneller, doch Misstrauen war ihr ständiger Begleiter geworden, seit sie mit ihren Freunden aktiv gegen das organisierte Verbrechen kämpfte. Niemals verabredete sie sich mit einem Mann, ohne ihn vorher von Magnus gründlich durchleuchten zu lassen.

„Nein. Vielen Dank, aber ich habe keine Zeit.“

Er nickte. „Okay, ich verstehe. Schade.“

Sie wendete sich wieder dem Computer zu und für einen Moment spürte sie ihn noch neben sich stehen, obwohl sie sich nicht berührten. Dann hörte sie seine Schritte und gleich darauf die Tür zuklappen. Sie atmete auf.

Sie sollte erleichtert sein, doch der dumpfe Schmerz der Enttäuschung drückte auf ihren Brustkorb. Hätte sie die Einladung … Irritiert schüttelte sie den Kopf. Nein. Natürlich nicht. Was für dumme Gedanken.

Sie hatte keine Zeit, weiter über ihre Gefühle für den Komponisten mit den Augen eines tiefen Ozeans nachzudenken. Der nächste Patient wartete mit einem ausgerenkten Schultergelenk. Danach zwei Kinder, die etwas Verdorbenes gegessen hatten, eine Frau mit Platzwunde an der Stirn und ein junges Mädchen, das gestürzt war und nicht auftreten konnte.

Die ganze Nacht war keine Zeit für eine Pause und Samantha seufzte erleichtert, als die Morgensonne durch die Fenster hereinschien, ihre Ablösung kam und sie Feierabend machen durfte.

Vor ihrem Spind in der Garderobe griff sie gewohnheitsmäßig in alle Taschen ihres Kittels, bevor sie ihn auszog und in den Wäschesack stopfte.

In der rechten Außentasche knisterte etwas. Sie stockte, fasste noch einmal hinein und zog einen mehrfach zusammengefalteten Zettel heraus.

Stirnrunzelnd breitete sie ihn aus. Er enthielt eine handschriftlich verfasste Nachricht: Helfen Sie mir! Einzige Chance! Sir-Gordon-Street sieben. Nicht mehr viel Zeit! Keine Polizei! Bitte!

Samantha las den Text zweimal und wollte schon zum Handy greifen, um den Notruf zu wählen. Doch sie zögerte. Wer sich länger mit dem organisierten Verbrechen beschäftigte, wurde paranoid und vermutete hinter jedem Geheimnis und Hilferuf eine Falle der Mafia. Samantha wusste jedoch auch, dass es bei der Polizei genügend Beamte gab, die entweder geschmiert oder erpresst wurden. Sollte sie diese verzweifelt klingenden Zeilen erhalten haben, weil die Person jemanden außerhalb der Behörden brauchte, konnte es deren Leben kosten, wenn sie jetzt die Polizei alarmierte.

War es ein Zufall gewesen? Oder hatte dieser Mensch Samantha gewählt, weil er wusste, dass sie Kontakte zu einer Gruppe hatte, die gegen die Mafia agierte?

Nein. Unmöglich. Sie achtete penibel darauf, dieses Leben sicher von ihrem Leben als Ärztin abzugrenzen. Es musste Zufall sein, dass der Zettel ausgerechnet in ihrer Tasche gelandet war.

Die Schrift wirkte krakelig, als hätte jemand mit zitternder Hand geschrieben. Oder war es eine Kinderschrift?

Während sie duschte und danach eine Jeans und ein T-Shirt anzog, überdachte sie die Nacht. Vielleicht die beiden Kinder, die mit ihrem Vater gleich nach dem Rentner mit der ausgerenkten Schulter da gewesen waren? Sie hatten Fleisch gegessen, was nicht in Ordnung gewesen war, und über Bauchschmerzen geklagt. Oder das junge Mädchen mit der Sturzverletzung. Ihr Freund hatte sie begleitet. War es vielleicht nicht ihr Liebhaber, sondern ihr Zuhälter gewesen? Die Verletzung hätte auch von einem Schlag herrühren können.