Gegen Chancengleichheit - César Rendueles - E-Book

Gegen Chancengleichheit E-Book

César Rendueles

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Beschreibung

Freiheit und Gleichheit waren lange gleichrangige Ziele. Trotz anderslautender Lamentos steht Freiheit weiterhin hoch im Kurs, während kaum eine Partei radikale Maßnahmen zur Reduzierung der materiellen Ungleichheit im Programm hat. Der kleinste gemeinsame Nenner ist Chancengleichheit: In der Konkurrenz um knappe Ressourcen sollen alle an derselben Startlinie loslaufen. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung übersetzt sich das in Begriffe wie »Chancenbudget« und »Kinderchancenportal«.
Die Logik der Chancengleichheit ist die Ideologie einer Gesellschaft, die sich nur noch als Wettbewerb aller gegen alle denken kann. Ihre Basis, so César Rendueles, ist die Zunahme der Ungleichheit seit den achtziger Jahren. Dabei sind wir Menschen, zeigt der spanische Soziologe, eine ausgesprochen egalitäre Spezies. Allerdings beruht Gleichheit auf einem entsprechenden Ethos und Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat. Wollen wir diese wiederherstellen, müssen wir begreifen, dass es um eine Gleichheit der Ergebnisse geht, dass dieser Kampf nie abgeschlossen sein wird – und dass wir ihn nur gemeinsam gewinnen können.

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Titel

3César Rendueles

Gegen Chancengleichheit

Ein egalitaristisches Pamphlet

Aus dem Spanischen von Raul Zelik

Suhrkamp

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Die spanische Originalausgabe dieses Buches erschien 2020 unter dem Titel Contra la igualdad de oportunidades. Un panfleto igualitarista im Verlag Seix Barral (Barcelona).Die Übersetzung dieses Buches wurde unterstützt durchAcción Cultural Española, AC/E.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

Deutsche Erstausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Umschlagillustration: Marie Schwab

eISBN 978-3-518-77476-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung: Das Trauma der Ungleichheit

1. Das Ende der Gleichheit

Die große Kompression

Es gibt keine Alternativen

Eine Restauration verlorener Gleichheit?

2. Echte und komplexe Gleichheit

Die Gleichheit des Elitismus

Gleichheit als komplexes Resultat

Von Natur aus Egalitaristen

3. Die Verpflichtung der Gleichheit

Die meritokratische Erpressung

Jenseits des Marktes

4. Gleich wie die anderen und gleich mit den anderen

Individualismus und Arbeitsmarkt

Gleichheit und kollektives Handeln

Die unlesbare Gleichheit

5. Materielle Gleichheit organisieren

Licht und Schatten der Universalität

Grenzen der Vereinfachung

Die organisierte Wirtschaft

6. Frauen, Männer und alle anderen

Geschlechtergleichheit als Modell

Liebe und Familie

Männer und andere Überbleibsel der Vergangenheit

7. Gleichheit mit allen

Gemeinsam?

Gleichheit und Kohäsion

Egalitäre Institutionen

8. Politische Gleichheit und Partizipation

Die Grenzen der direkten Partizipation

Grenzen der Deliberation

Deliberation als demokratische Sozialisation

9. Bürokratische Gleichheit und Gewalt

Licht und Schatten der Bürokratie

Gleichheit und Stärke

10. Die Bildungsideologie und die Niederlage der Gleichheit

Die spanische Bildungsanomalie

Die egalitäre Lähmung

11. Die Kultur der Gleichheit

Die kulturelle Blase

Gegenkultur und sozialer Elitismus

Gleichheit im Sport

12. 

How to be good?

Ein Ende der gemeinsamen Welt

Die Revolution als Exzess und als Bremse

Eine exzessive Bremse

Moralisten oder Gleiche

Die Wahrheit der gegenseitigen Hilfe

Epilog

Fußnoten

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7Einleitung: Das Trauma der Ungleichheit

Verglichen mit anderen Gesellschaften, verbringen Eltern im Westen viel Zeit damit, mit ihren Babys zu sprechen. Sie fördern das Brabbeln der Kinder, indem sie ihre Laute wiederholen, sie reden Babysprache und imitieren dabei den Tonfall der Kleinen. Diese Praxis ist so verbreitet, dass sie Eingang in die Untersuchungen der Kinderärzte gefunden hat, die von den Eltern wissen wollen, ob diese auch genug mit ihrem Nachwuchs sprechen, und die Ergebnisse danach beurteilen, wie viele Wörter die Kinder kennen und wiederholen können. Diese kommunikative Anstrengung war insofern erfolgreich, als die Kinder im Westen früher sprechen lernen als anderswo in der Welt. Aber insofern auch absolut überflüssig, als die Angehörigen anderer Gesellschaften genauso gut sprechen lernen wie wir.

Ganz allgemein illustriert die Obsession mit der frühkindlichen Förderung das Verständnis von Sozialisationsprozessen, wie es sich in den letzten Jahrzehnten in westlichen Ländern durchgesetzt hat. Wir sind fast alle davon überzeugt, dass die Erfahrungen, die wir in der frühen Kindheit sammeln und für die fast ausschließlich die Eltern der Kernfamilie verantwortlich sind, unauslöschliche Spuren in unserer Persönlichkeit hinterlassen – auch wenn wir uns später nicht an diese Erfahrungen erinnern. Eine Flut an wissenschaftlich nicht besonders rigoroser Literatur flößt uns Angst vor Fehlentwicklungen ein, zu 8denen es kommen kann, wenn wir nicht genug Energie in die Förderung der geistigen und emotionalen Fähigkeiten von unseren Kindern investieren, die noch nicht stehen können und ohne jeden Einwand akzeptieren, dass ein magisches Nagetier nachts unter ihr Kissen kriecht, um Geschenke gegen ausgefallene Milchzähne zu tauschen.[1]  Hingegen waren viele Gesellschaften früher möglicherweise ganz zu Recht der Ansicht, dass die Kindheit eine eher unwichtige Phase in der Persönlichkeitsentwicklung darstellt. Die Entscheidungen, die uns als Menschen prägen, finden in der Pubertät statt, im Übergang zum Erwachsenenalter. Es gibt ein ganzes und sehr interessantes Subgenre der Literatur, das sich mit diesem Thema beschäftigt: den Bildungsroman.[2]  In solchen Werken wird beschrieben, wie ein Jugendlicher Lernprozesse durchläuft und Erfahrungen sammelt, die seinen Charakter formen, sein Schicksal beeinflussen und durch die er die Kindheit wie bei einer Häutung abstreift. Eventuell ist es symptomatisch für unsere Epoche, dass dieser Prozess in der Literatur, im Kino und in Fernsehserien auf die Schilderung erwachender Sexualität reduziert wird.

Im selben Maße, wie wir davon überzeugt sind, dass Eltern durch ihr Verhalten die Zukunft ihres Nachwuchses formen, unterschätzen wir systematisch, welche Folgen die Sozialisation unter Gleichaltrigen für Kinder hat. 9Wahrscheinlich ist der Einfluss, den die Eltern auf die Persönlichkeit ihrer Sprösslinge nehmen, viel geringer, als wir meinen. Erstens aus dem Grund, dass genetische Vererbung – auch wenn uns das als fortschrittliche Menschen skandalös erscheinen mag – sehr wohl von Bedeutung ist. Möglicherweise sind aggressive Kinder nicht allein deshalb aggressiv, weil sie in einer konfliktreichen sozialen Umgebung aufgewachsen sind, sondern einfach auch deshalb, weil sie als Kinder aggressiver Menschen geboren wurden. Zweitens gibt es in Beziehungen wechselseitige Einflüsse: Die Kinder erziehen auch uns. Wir Erwachsenen sehen uns selbst gerne als vollendete Stücke einer Art individueller Goldschmiedekunst. Tatsächlich jedoch übt die soziale Interaktion das ganze Leben lang eine Wirkung auf uns aus, und der Kontakt mit den Kindern verändert uns genauso wie sie. Der Sozialtheoretiker Jon Elster erzählt dazu folgenden Witz: »›Mit Dani muss man Geduld haben, er kommt aus einer kaputten Familie‹, sagt ein Lehrer zu seinen Kollegen. ›Das glaube ich gerne‹, antwortet ein anderer, ›Dani kann alles kaputt machen.‹«

Drittens gibt es Peergroups, und Kinder beeinflussen sich auch untereinander. Eltern und Lehrer können das Verhalten der Kinder in ihrer Anwesenheit formen, aber mehr auch nicht. Eltern können vor allem einige Merkmale jener Kinder auswählen, mit denen ihr Nachwuchs zu tun hat: die Nachbarschaft, die Schule, das soziale Umfeld etc. Darüber hinaus sind Kinder aber sehr aktive Akteure ihrer eigenen Sozialisation. Sie nehmen nicht nur Inputs von außen auf, sondern bringen sie energisch, mit 10gelegentlich beunruhigenden Resultaten und trotz gegenteiliger Anstrengungen von Angehörigen und Lehrern selbst hervor. Deshalb reproduzieren sie in ihren Spielen bestimmte Normen und Konventionen, obwohl sie in ihrem unmittelbaren Umfeld über Gegenbeispiele verfügen. Die Psychologin Judith Rich Harris schildert den Fall eines Mädchens, das beim Puppenspielen zu ihrer Freundin sagt: »Mädchen können keine Ärzte werden, nur Krankenschwestern.« Dabei arbeitete ihre eigene Mutter als Ärztin in einem Krankenhaus.[3] 

Im Allgemeinen tendieren wir dazu, den Einfluss unserer Mitmenschen auf unser Verhalten zu unterschätzen. Doch die Beziehung zu Peergroups hat sehr starke Auswirkungen auf uns. Harris erwähnt eine Untersuchung der Soziologin Anne-Marie Ambert, die ihre Studierenden aufforderte, sich an ihr voruniversitäres Leben zu erinnern. Eine ihrer Fragen lautete: »Was macht dich ganz besonders unglücklich?« Im Gegensatz zur Hollywood-Mythologie, laut der beispielsweise die Abwesenheit von Vätern bei Baseballspielen ihrer Söhne schlimme Folgen haben soll, nannten nur 9 Prozent der Befragten Ablehnung oder Vernachlässigung durch ihre Eltern. 37 Prozent hingegen verwiesen auf negative Erfahrungen mit Gleichaltrigen, die sie dauerhaft verunsichert hätten.

Möglicherweise sind Kränkungen unter Gleichen deshalb besonders verletzend, weil die Ungleichheit selbst er11niedrigend ist. Nur ein gewaltiger Fetischismus erlaubt es uns, diese tief in unseren Körpern verankerte Realität zu ignorieren. Die Ungleichheit ist für eine erschütternde Zahl beschädigter Lebensläufe und kollektiver Dilemmata verantwortlich. Gleichheit ist nicht in erster Linie die Voraussetzung für irgendetwas anderes – für persönlichen Erfolg, Rechtsstaatlichkeit etc. –, sondern ein Ziel an sich, weil sie eine der Grundlagen unseres gemeinsamen Lebens darstellt. Die Gleichheit gehört zu den biologischen und kulturellen Fundamenten der menschlichen Soziabilität, unseres Vermögens und Bedürfnisses, zusammen zu leben. Die Ablehnung der Ungleichheit und die kollektive Missbilligung mächtiger Individuen sind tief in unserer Evolutionsgeschichte verwurzelt: Wir sind sehr viel weniger hierarchische Tiere als andere Primaten. Zudem zeigt die historische Erfahrung, dass wachsende Ungleichheit mit gesellschaftlichem Zerfall, einem Verlust an Solidarität und der Zunahme kollektiven Misstrauens verknüpft ist. Die Ungleichheit zerstört die sozialen Bindungen, die für jedes Projekt eines guten Lebens unverzichtbar sind.

Dieses Buch will diese These – der zentralen sozialen, kulturellen und ethischen Bedeutung der Gleichheit – aus der Perspektive aktueller emanzipatorischer Bewegungen vertiefen. Gleichheit ist gleichermaßen eine Voraussetzung für die soziale Organisation der menschlichen Spezies als auch für unsere individuelle persönliche Entwicklung und Autonomie. Der Psychoanalytiker Donald Winnicott definiert das Trauma – ein trotz seiner häufigen Verwendung recht schwammiger Begriff – als »Riss in der Konti12nuität des Seins«. Die allgemeine Ungleichheit unserer Gesellschaften ist ein kollektives Trauma, ein gesellschaftlicher Riss, der sich auf unsere Fähigkeit auswirkt, Beziehungen zu anderen zu knüpfen, und der erschreckende politische und persönliche Folgen hat. Trotzdem nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projekts sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut. Bei der Chancengleichheit handelt es sich meiner Ansicht nach jedoch um eine meritokratische Perversion des Egalitarismus; die Empörung ist folgenlos oder führt zumindest nicht sonderlich weit. In den ersten drei Kapiteln werde ich versuchen, die Grundzüge eines konsequenten Egalitarismus zu skizzieren, um dann im weiteren Verlauf einige Elemente eines realistischen egalitären Projekts für die Bereiche Ökonomie, Arbeit, Geschlechterbeziehungen, Bildungswesen, Kultur, Ökologie und politische Partizipation zu präsentieren. Letztlich beschreibe ich Gleichheit als einen steinigen, von Uneindeutigkeiten und Ungewissheiten geprägten Weg, den wir dennoch dringend einschlagen müssen.

Auch wenn manche Linke dies unterstellen, ist materielle Gleichheit keineswegs die Lösung aller Probleme. Tatsächlich ergeben sich aus der Gleichheit eine Reihe ganz eigener Probleme, was Gruppendruck, die Anerkennung von Leistung, persönliche Selbstbestimmung und die Natur sozialer Bindungen in komplexen Gesellschaften an13geht. Richtig ist aber auch, dass die Überwindung der materiellen Ungleichheit – im Unterschied zu anderen existenziellen Problemen, die uns bisweilen in Ratlosigkeit und Verzweiflung stürzen – vergleichsweise einfach ist; wir wissen in etwa, wie sie zu bewerkstelligen wäre, und sind kognitiv, kulturell und ethisch darauf vorbereitet.

Dieses Buch ist das Ergebnis einer mehr als zehn Jahre andauernden Beschäftigung mit sozialer Gleichheit und Ungleichheit. Ich habe mich mit eher technischen Studien zu unterschiedlichen Aspekten der Ungleichheit und ihrer Messung befasst und mit der Geschichte egalitärer Politik in verschiedenen gesellschaftlichen und historischen Kontexten; mit der Entwicklung der Gleichheit zwischen Frauen und Männern, aber auch mit Gleichheit in der Arbeitswelt, in der Kultur, in Familien oder im Bildungswesen. Ich begann im Mai 2011 während der Demonstrationen der 15-M-Bewegung, als die Indignados auf zahlreichen spanischen Plätzen gegen ökonomische und politische Missstände protestierten, über diesen Essay nachzudenken und beendete die Niederschrift schließlich ein knappes Jahrzehnt später im April 2020 während des Corona-Lockdowns. Diese Daten markieren zwei Momente unserer jüngsten Geschichte, in denen die kollektiven Dilemmata der Ungleichheit – beispielsweise hinsichtlich des universellen Rechts auf Gesundheit und Wohnraum – in öffentlichen Debatten, aber auch in unserem Alltag und in unseren persönlichen Beziehungen besonders sichtbar wurden. Tatsächlich gibt es wenige Dinge, die mein Gewissen so belasten wie meine träge 14Teilhabe an Systemen der sozialen Stratifikation und mein fehlender Mut, diesen Systemen so entschieden die Stirn zu bieten, wie ich es eigentlich sollte. Ich bin ein europäischer, heterosexueller Mann mittleren Alters mit einem sicheren Arbeitsplatz in einem gesellschaftlich relativ anerkannten Beruf – die mit meiner Lebenssituation verbundenen Privilegien bieten also genug Anlass, über bestimmte moralische Fragen nachzudenken. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat diese Unruhe in ganz unterschiedlichen Publikationen – von wissenschaftlichen Artikeln bis hin zu politischen Texten – Ausdruck gefunden. Einige der dort entwickelten Ideen greife ich in diesem Essay auf, um sie versuchsweise in eine umfassendere, genauere und (zum Guten wie zum Schlechten) leidenschaftlichere Argumentation einzubauen. Letzteres hat (von meinem eigenen Charakter einmal abgesehen) damit zu tun, dass ich immer wieder der Agitation bezichtigt wurde, wenn ich öffentlich die zentrale Bedeutung egalitärer Politik in einer demokratischen Gesellschaft verteidigt habe, die sich dieses Attributs als würdig erweisen soll. Ich habe daher beschlossen, mich auf Augenhöhe der Anschuldigungen zu begeben und ein Pamphlet im eigentlichen Sinne des Wortes zu verfassen.

151. Das Ende der Gleichheit

Der Disney-Film Zoomania kam 2016 in die Kinos. Er spielt in einem gleichnamigen Land, das von Säugetieren mit anthropomorphen Persönlichkeiten bewohnt wird. Große Raubtiere leben mit Pflanzenfressern und kleinen Nagern zusammen. In Zoomania gibt es wie in der menschlichen Gesellschaft Verbrechen und Gewalt, es handelt sich dabei jedoch um soziale Phänomene, nicht um einen darwinschen Überlebenskampf (die Drehbuchautoren haben geflissentlich jeden Hinweis vermieden, von was zur Hölle sich die Fleischfresser ernähren; möglicherweise sind sie Veganer geworden).

Nichtsdestotrotz spielen biologische Eigenschaften eine wichtige Rolle. So sind alle Polizisten von Zoomania große Säugetiere. Die Hauptperson des Films ist Judy, ein kleines Kaninchen, das seit seiner Kindheit davon träumt, Polizistin zu werden. Sie schafft es auf die Polizeischule, und dank ihrer Intelligenz und Opferbereitschaft besteht sie alle körperlichen Tests, die eigentlich für viel stärkere, größere und schnellere Tiere gedacht sind. Leider sind ihre Schwierigkeiten damit noch nicht zu Ende: Als sie ihren Abschluss in der Tasche hat, beginnt die Diskriminierung im Beruf. Ihre Vorgesetzten und Kollegen auf der Polizeiwache, der sie zugeteilt wird, erkennen ihre Leistungen nicht an und kommandieren sie ab, den Verkehr zu regeln. Aber Judy lässt sich nicht entmutigen, und obwohl ihre Vorgesetzten ihr alle möglichen Steine in den 16Weg legen, schafft sie es, eine Reihe von Morden aufzuklären.

Zunächst denken alle, die Raubtiere von Zoomania seien in ihren natürlichen Zustand zurückgefallen und würden deshalb andere Bürger angreifen – als wäre die animalische Natur unter einer dünnen zivilisatorischen Schicht hervorgebrochen. Judy entdeckt jedoch, dass die Fleischfresser die Kontrolle über sich verlieren, weil ihnen jemand eine psychotrope Substanz einflößt, die sie aggressiv macht. Sie findet heraus, dass alles Teil einer Verschwörung von Pflanzenfressern ist, die sich über ihre untergeordnete soziale Stellung empören. Die Herbivoren wollen Macht gewinnen, indem sie die Bewohner von Zoomania glauben lassen, die Raubtiere seien von Natur aus gefährlich. Anführerin des Komplotts ist die stellvertretende Bürgermeisterin, ein Schaf, das allein repräsentative Aufgaben hat und vom Bürgermeister, einem Löwen, wie eine Sekretärin behandelt wird.

Der Film wurde von der Kritik als ein Plädoyer für Chancengleichheit und gegen die Naturalisierung der Ungleichheit verstanden. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit: Zwar wird die vermeintliche biologische Determiniertheit als Täuschungsversuch einiger Pflanzenfresser entlarvt, die sich gegen die Karnivoren verschworen haben; die Herbivoren sind jedoch ihrerseits struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Die Raubtiere stellen die politische und gesellschaftliche Elite und besetzen die Posten, die Privilegien und Macht garantieren. Die stellvertretende Bürgermeisterin hat gute Gründe, aufzubegehren. Sie wird vom Bürgermeister erniedrigt, einem Al17phamännchen, das dem Amt des Schafs den Respekt verweigert.

Zoomania verwirft die These der biologischen Determiniertheit unseres Verhaltens, um unmittelbar darauf zu behaupten, wir seien als Individuen unseres eigenen Glückes Schmied. Die Moral des Films – oder zumindest eine Moral – lautet, dass kollektives Handeln zur Überwindung der ererbten Privilegien der Eliten genauso absurd und ungerecht wäre wie ihre Darstellung als wilde Tiere, deren Verhalten im Wesentlichen von ihren biologischen Eigenschaften bestimmt ist. Deswegen kann die Antwort auf die Ungleichheit nur darin bestehen, es Judy nachzutun und sich gegenüber den oberen Klassen auf ihrem eigenen Terrain zu beweisen: akademisch, ökonomisch und kulturell erfolgreich zu sein. In gewisser Hinsicht handelt es sich also um eine vehemente Rechtfertigung der vererbten Unterordnung.

Man kann Zoomania als eine hervorragende Parabel für eine dramatische politische Veränderung lesen, die in den letzten drei oder vier Jahrzehnten fast alle Länder der Welt erfasst hat: Der gemeinsame Kampf für materielle Gleichheit wurde an den Rand der Debatte verdrängt, und diese Verschiebung wurde als der Preis dargestellt, den wir für die Wahrung oder Erweiterung der individuellen Freiheit entrichten müssen.

Die Ungleichheit hat seit den späten siebziger Jahren stetig zugenommen. Damals durchliefen die westlichen Gesellschaften eine umfassende Transformation ihrer ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Struktur. Die Jahre 1978 bis 1980 markieren den An18fang dieser Entwicklung: Der chinesische Präsident Deng Xiaoping begann, die Wirtschaft seines Landes zu liberalisieren, Paul Volcker übernahm die Leitung der US-Notenbank, und Margaret Thatcher sowie Ronald Reagan gewannen Wahlen mit dem Versprechen, die Gewerkschaften zu brechen und den Wohlfahrtsstaat zu demontieren. In der Folge wurden die westlichen Demokratien einer beschleunigten Vermarktlichung unterworfen, die man in Staaten wie Argentinien oder Chile zuvor mithilfe von Diktaturen und Staatsterrorismus erprobt hatte.[4]  Innerhalb kürzester Zeit vollzogen praktisch alle Länder der Welt diese turbulente Kehrtwende, die unter dem etwas irreführenden und überstrapazierten Begriff der neoliberalen Globalisierung berühmt wurde.

In diesen Jahren implodierte der gesellschaftliche Pakt, der nach dem Zweiten Weltkrieg den Horizont für demokratische politische Interventionen abgesteckt und in den meisten marktwirtschaftlich geprägten Ländern eine breit geteilte staatsbürgerliche Kultur hervorgebracht hatte. Einer der einschneidendsten Effekte des darauf folgenden politischen und ökonomischen Regimes bestand darin, dass eine kleine Elite enorme Vermögen anhäufen konnte – eine Tendenz, die von der globalen Krise der Jahre 2008ff. weiter beschleunigt wurde. 2015 besaßen die 62 reichsten Bewohner des Planeten so viel persönliches Nettovermögen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölke19rung. 60 Plutokraten hatten mehr Reichtum angehäuft als 3,5 Milliarden Menschen.[5]  In Spanien besaßen 20 Personen mehr als die ärmeren 30 Prozent der Bevölkerung.

Wir stellen uns diese gigantischen Vermögen gewöhnlich als das Produkt natürlicher Zufälle vor. Als exzentrische Ausnahmen, die nur wenige betreffen und die mit unseren Sorgen nichts zu tun haben. Ein wenig wie bei Lottogewinnern: Es mag dumm und ungerecht sein, eine Handvoll Menschen durch ein Glücksspiel derart zu begünstigen, aber insgesamt ist das Ganze harmlos. In Wirklichkeit haben wir es jedoch mit etwas kategorial anderem zu tun: Die ökonomischen und politischen Prozesse, die die Vermögen der Superreichen ermöglichen, beruhen auf katastrophalen Veränderungen in der politischen Architektur vieler Gesellschaften. Wenn wir dies nicht sehen, dann weil wir Schwierigkeiten haben, uns das astronomische Ausmaß des Reichtums der Multimilliardäre vorzustellen.

Eine Million Euro ist für die meisten Menschen in westlichen Ländern eine enorme Menge Geld. Genug, um nie wieder arbeiten zu müssen. Angenommen, jemand würde einen Euro pro Sekunde verdienen – wie lange müsste er oder sie arbeiten, um eine solche Summe anzusparen? Ein Euro pro Sekunde macht 60 Euro pro Minute, 203600 Euro pro Stunde und eine Million in 12 Tagen … Doch um Milliardär zu werden, würde diese Person 30 Jahre benötigen. 2018 besaß Jeff Bezos, der reichste Mensch der Welt, gut 100 Milliarden Dollar. Würde er rund um die Uhr arbeiten, bräuchte er bei einem Verdienst von einem Dollar pro Sekunde mehr als 3000 Jahre, um sein Vermögen anzuhäufen. Eine Person, die ihr Gehalt in Höhe von 1200 Euro monatlich – 2017 das mittlere Einkommen in Spanien, mit Sonderzahlungen etwa 17 ‌000 Euro im Jahr – vollständig sparen würde, hätte in fünf Millionen Jahren so viel Geld wie Bezos.

Dieses Ausmaß an Reichtumskonzentration ist nur dank einer erbarmungslosen gesellschaftlichen Orthopädie möglich. Es ist ein grundlegender Bestandteil der Morphologie des zeitgenössischen Kapitalismus. Diese historische Wirklichkeit sticht auch deshalb ins Auge, weil die Welt vor dieser Explosion der Ungleichheit einen entgegengesetzten Prozess durchlaufen hatte. Diese Phase war kurz, aber sehr intensiv und stellt eine unersetzliche Quelle politischer Lehren dar.

Die große Kompression

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen oder vertieften die meisten Gesellschaften, die sich nicht für den sowjetischen Weg entschieden hatten, umfassende ökonomische Reformen. Diese zielten darauf ab, die Freiheit des Marktes zu begrenzen und die materielle Ungleichheit drastisch zu verringern. Das entsprechende Pro21jekt läuft unter verschiedenen Namen (Wohlfahrtsstaat, Keynesianismus, Sozialstaat), es fand seinen Ausdruck in unterschiedlichen rechtlichen sowie institutionellen Mechanismen und hatte ambivalente politische Folgen, die bis zur Erschöpfung diskutiert worden sind. Nichtsdestotrotz hatte es in all seinen Varianten eine spektakuläre Verringerung der Ungleichheit und vor allem den Einbau egalitärer Mechanismen in die Strukturen entwickelter Demokratien zur Folge. Der republikanische US-Präsident Dwight D. Eisenhower brachte es 1954 folgendermaßen auf den Punkt:

Sollte irgendeine politische Partei versuchen, die Sozialversicherung oder die Arbeitslosenversicherung abzuschaffen und Arbeitsgesetze und Agrarprogramme zu eliminieren, würde man von dieser Partei nie wieder hören. Es gibt selbstverständlich eine winzige Gruppe von Dissidenten, die glauben, diese Dinge seien möglich […]. Ihre Zahl ist zu vernachlässigen, und sie sind dumm.[6] 

Politische Maßnahmen, die heute als bolschewistische Experimente betrachtet würden, waren damals nicht nur allgemein akzeptiert, sie galten sogar als alternativlos. In den fünfziger Jahren waren Spitzensteuersätze – beispielsweise ab einem Jahresgehalt von 100 ‌000 US-Dollar – in Höhe von 70 Prozent, ja sogar von bis zu 90 Prozent in den meisten westlichen Staaten nicht ungewöhnlich (in 22Großbritannien lagen sie in den vierziger und dann noch einmal in den siebziger Jahren bei 98 Prozent). Ab einer bestimmten Summe behielt das Finanzamt also neun der zehn zusätzlich verdienten Pfund Sterling, D-Mark oder Peseten ein. Interessant daran ist erstens, dass die damit erzielten Steuereinnahmen zunächst relativ unbedeutend waren, da es nicht besonders viele Menschen gab, die mehr als 100 ‌000 Dollar verdienten. De facto handelte es sich nämlich um einen kaschierten Einkommensdeckel. Das Ziel von Steuersätzen über 80 Prozent bestand darin, als obszön und gesellschaftlich schädlich geltenden Einkommen ein Ende zu bereiten. Außerdem handelte es sich zweitens nicht um eine spezifisch linke Steuerpolitik. Einige der höchsten Einkommens- und Vermögenssteuern wurden in Staaten mit konservativen Regierungen erhoben, unter anderem in den entschieden antikommunistischen USA.

In einigen Fällen kam es sogar zu Maßnahmen zur Enteignung und Umverteilung von Großvermögen. All dies in kapitalistischen Ländern, die sich in einem andauernden Konflikt mit dem sozialistischen Lager befanden, inklusive eines selbstmörderischen nuklearen Wettrüstens. Während der Besatzung Japans implementierte die US-Armee ein extrem aggressives Programm zur Demokratisierung der Arbeit und gegen die Konzentration der Produktionsmittel. Teil dieses aufsehenerregend erfolgreichen Plans war ein ganzes Arsenal von Steuern, die konfiskatorischen Charakter hatten und innerhalb kürzester Zeit für die Umverteilung von 70 Prozent des Vermögens der 5000 reichsten Familien und von 30 Prozent der ökono23mischen Aktiva sorgten. Gleichzeitig führten die Maßnahmen dazu, dass nur vier Jahre nach Ende des Kriegs 60 Prozent der japanischen Arbeiter gewerkschaftlich organisiert waren.[7]  Als die britische Labour-Regierung Anfang der fünfziger Jahre die Rationierung von Lebensmitteln und Benzin aufzuheben begann – eine Bedingung der USA für die Gewährung von Hilfen aus dem Marshall-Plan –, sah sie sich mit einer Welle der Empörung konfrontiert. Wie die Historikerin Selina Todd schreibt, verlangten viele Menschen nicht weniger, sondern mehr Eingriffe sowie Preiskontrollen und hatten »gute Gründe, sich Sorgen zu machen. Nach 1951 begannen die Unterschiede im Kalorienkonsum zwischen den Ärmsten und Reichsten wieder zu wachsen.«[8] 

Gelegentlich lasse ich meine um die Jahrtausendwende geborenen Studierenden im Einführungskurs in die Soziologie eine Liste der ihnen bekannten öffentlichen Unternehmen erstellen. Gewöhnlich kennen sie kein einziges. Höchstens die spanische Post. Sie sind bass erstaunt, wenn sie erfahren, dass öffentliche Unternehmen in der spanischen Wirtschaft noch bis in die achtziger Jahre eine enorme Rolle spielten. Während meiner Kindheit war der öffentliche Sektor unter anderem für Telekommunikation, das Gasnetz, den Tabakvertrieb, die Stromversorgung, das Fernsehen, die meisten Tankstellen und einen beträchtli24chen Teil der Automobilindustrie zuständig. Die Banken, bei denen die meisten Lohnabhängigen ihr Girokonto hatten, waren öffentliche Sparkassen, deren Stiftungen einen Großteil der kulturellen und sozialen Aktivitäten finanzierten. Es gab mit Iberia eine staatliche Fluglinie und mit Grupo Marsans eine öffentliche Reiseagentur, die nach ihrer Privatisierung von Gerardo Díaz Ferrán erworben wurde, der ab 2007 auch Vorsitzender des spanischen Unternehmerverbandes CEOE war und schließlich wegen Veruntreuung, Geldwäsche und Steuerbetrug im Gefängnis landete.

Der Fall Marsans steht in gleichsam parodistisch verdichteter Form für die Privatisierungen, die den öffentlichen Unternehmen ab Ende der achtziger Jahre systematisch den Garaus machten. Allgemein lief das Vorgehen darauf hinaus, öffentliche Gewinne zu privatisieren und private Verluste zu vergesellschaften. Einer der erschütterndsten Fälle ist der von Endesa, einem 1944 gegründeten staatlichen Konzern, der noch in den neunziger Jahren das größte Unternehmen des spanischen Energiesektors war. Nach seiner Privatisierung wurde es 2003 von Enel aufgekauft, einem italienischen Staatsunternehmen. Seither hat Enel in Form von Gewinnausschüttungen dreißig Milliarden Euro aus Endesa herausgezogen. Mit anderen Worten: Erst finanzierten spanische Steuerzahler über Jahrzehnte den Aufbau gewaltiger Infrastrukturen – ein Unterfangen, das keine Privatfirma hätte tragen können –, anschließend wurden mehrere Milliarden aus einem spanischen Unternehmen an den italienischen Staat transferiert. Es gab Zeiten, nicht unbedingt unzivi25lisierter als unsere, in denen sehr viel weniger nötig war, um wegen Hochverrats füsiliert zu werden.

Es geht aber nicht nur um die schiere Anzahl der öffentlichen Unternehmen, ihre Bedeutung in strategischen Bereichen oder den mit ihrer Privatisierung verbundenen Betrug an der Gesellschaft. Diese Unternehmen waren zudem ein – zugebenermaßen bisweilen schwerfälliger und dysfunktionaler – Bestandteil eines umfassenden und sehr komplexen gesellschaftlichen Projekts zur Dekommodifizierung zentraler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wo wichtige Bedürfnisse nicht länger wie Waren behandelt werden sollten. Vor einigen Monaten sah ich bei YouTube ein Video, in dem eine Mutter ihre jugendlichen Töchter auffordert, ein analoges Telefon mit Drehscheibe zu bedienen. Nach einigen Minuten der Ratlosigkeit begreifen die Töchter endlich, wie sie die Scheibe drehen müssen. Dann verwählen sie sich und fragen verzweifelt: »Wie kann man die letzte Zahl löschen?« Doch es gelingt ihnen immer noch nicht, eine Verbindung herzustellen: Sie wissen nicht, dass man zuerst den Hörer abheben muss. So ähnlich geht es uns heute mit der gesellschaftlichen Mechanik, die die Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg radikal reduzierte: Wir meinen sie zu verstehen, weil wir sie als eine mit unserer Gegenwart zusammenhängende Vergangenheit interpretieren, in Wirklichkeit hat jedoch ein dramatischer historischer Bruch stattgefunden. Dieses Gefühl der Kontinuität, diese Naturalisierung des Bestehenden lässt Veränderungen unmöglich erscheinen.

26Es gibt keine Alternativen

Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, mich der fiktionalen Literatur zu widmen. Ich habe sogar schon einige Notizen für das erste Kapitel eines Romans, der teilweise auf einer realen Geschichte beruht. Meine Erzählung beginnt in Bad Homburg, einem vornehmen Vorort von Frankfurt am Main. An einem Morgen Ende November 1989, also nur wenige Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, verlässt ein 59-jähriger Mann seine stark gesicherte Villa in einem gepanzerten Mercedes. Sein Name ist Alfred Herrhausen. Ihn begleiten zwei Fahrzeuge, in denen Leibwächter sitzen. Nach nur einigen hundert Metern Fahrt kommt es zu einer heftigen Explosion. Eine auf einem Fahrrad am Straßenrand deponierte Bombe tötet Herrhausen. Die Leibwächter hingegen bleiben unverletzt, auch der Fahrer überlebt.

Herrhausen war Vorstandssprecher der Deutschen Bank und damit einer der wichtigsten Akteure der Wirtschafts- und Finanzwelt der Bundesrepublik Deutschland. Die Presseerklärung, die die Polizei am selben Tag abgibt, ist sehr kurz. Sie hält fest, die Fahrradbombe sei im Eigenbau hergestellt worden, und ordnet den Anschlag der Roten Armee Fraktion (RAF) zu. Einige Journalisten zweifeln die Version der Polizei vorsichtig an. Die Wucht und Präzision des Sprengsatzes, der die Panzerung des Fahrzeugs durchbrach, seien nicht mit einer selbstgebauten Bombe vereinbar. Außerdem stützt sich die Version der Polizei zunächst nur auf ein in der Nähe des Tatorts gefundenes Blatt mit einem RAF-Logo. Tatsächlich hatte die Rote 27Armee Fraktion seit einigen Jahren keinen Anschlag in Deutschland mehr durchgeführt, und Experten waren der Ansicht, es mangele ihr an operativen Fähigkeiten.

Einige Tage später bekommt ein Mitarbeiter der Finanzredaktion einer großen deutschen Tageszeitung einen anonymen Umschlag, der zwei mit dem Tod Herrhausens in Verbindung stehende Dokumente enthält. Das Thema gehört eigentlich nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, und der Redakteur ist kurz davor, den Umschlag an einen Kollegen aus der Inlandsredaktion weiterzugeben, als er doch einen Blick auf die Unterlagen wirft. Das erste Dokument ist ein Polizeibericht, der feststellt, dass es sich bei der Bombe um einen hoch präzisen, durch eine Lichtschranke ausgelösten Sprengkörper handelte, der vermutlich von einem Profi gebaut und deponiert wurde. Das zweite Dokument ist das Manuskript einer Rede, die Herrhausen nur wenige Tage nach seinem Tod in New York hätte halten sollen. Es ist ein eher technischer Bericht, in dem Eckpunkte für die Gründung einer Entwicklungsbank in Polen definiert werden und der sich an der Kreditanstalt für Wiederaufbau orientiert, die beim sogenannten deutschen Wirtschaftswunder nach 1945 eine Schlüsselrolle spielte. Die von westlichen Fonds finanzierte Bank sollte es Polen ermöglichen, sich schrittweise in eine Marktwirtschaft zu verwandeln und einen tragfähigen Wohlfahrtsstaat aufzubauen. Der Journalist merkt, dass er eine Nachricht enormer politischer Tragweite in den Händen hält, und beginnt zu recherchieren …

Das ist in etwa die Handlung des ersten Kapitels meines zukünftigen Romans. Was mich an der Geschichte inter28essiert, sind nicht die Verschwörungstheorien, die sich um diesen Fall ranken, sondern die hypothetische Frage, ob durch den Anschlag eine Restrukturierung der Weltwirtschaft verhindert wurde, die das neoliberale Globalisierungsprojekt infrage gestellt hätte. In jenen Jahren, während des Zusammenbruchs des sozialistischen Lagers, wurde nämlich in verschiedenen politischen und ökonomischen Gremien in Europa erörtert, ob die Europäische Union unter Führung Frankreichs und Deutschlands einen mit der Sowjetunion koordinierten Marshall-Plan für Osteuropa auflegen solle, der die marktwirtschaftliche Transformation dieser Länder unter Bedingungen des Wirtschaftswachstums und nicht der Depression erlaubt hätte. Ein solches Projekt hätte das Modell der Europäischen Union, wie wir sie kennen, komplett verändert und den Einfluss der USA in der Welt beschränkt. In Wirklichkeit passierte genau das Gegenteil: Die deutsche Wiedervereinigung war der Startschuss für eine Schocktherapie, die auf Austerität setzte, die Macht der USA stärkte, sich wie eine Walze über die osteuropäische Peripherie bewegte und schließlich ab 2008 die Mittelmeerländer und insbesondere Griechenland erreichte.

Interessant am Mord an Herrhausen ist der Umstand, dass er uns hilft, die Kontingenz unserer Gegenwart zu verstehen, und die Alternativen aufzeigt, die in der Vergangenheit erörtert wurden und die uns auf ganz andere historische Pfade hätten führen können. Realistische, auf gesellschaftlicher Kooperation beruhende Alternativen, die von staatstragenden Personen, ja sogar von Bankern unterstützt wurden, erscheinen uns heute freilich nicht ein29fach als unwahrscheinlich, sondern als unvorstellbar. Sie sind wie politischer Ultraschall. Wir hören sie nicht, weil sich das Wertesystem seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts grundlegend verändert hat. Die Ungleichheit ist uns in die Knochen gekrochen und hat unsere Wahrnehmung der Welt transformiert. Nicht nur in den Theorien von Professorinnen, Essayisten und Politiker:innen stößt sie auf allgemeine Akzeptanz. Die Billigung der Ungleichheit ist auch Teil der Alltagswahrnehmung, unserer Überlebensstrategien und persönlichen Ziele geworden; der Form, wie wir Beziehungen zu anderen knüpfen.

In der Politik bedeutet dies, dass praktisch keine mehrheitsfähige politische Kraft sich materielle Gleichheit heute noch als eine Hauptforderung auf ihre Fahnen schreibt. Wie groß diese Leerstelle ist, wird deutlich, wenn man ihr Schicksal mit dem gleichzeitigen Aufstieg der Freiheitswerte vergleicht, zumindest in ihrer individualistischsten Form. Der Verweis auf die Wahlfreiheit ist ein allgegenwärtiges Argument, sobald Debatten über entfremdende oder zumindest moralisch fragwürdige Praktiken – von Prostitution bis Leihmutterschaft – unterbunden werden sollen. Die verantwortungslose, egoistische oder auch einfach nur lächerliche Anrufung einer radikalen persönlichen Freiheit ist zum Normalfall geworden. 2007 hielt der konservative spanische Ex-Regierungschef José María Aznar in Valladolid eine legendäre Rede, bei der er, offensichtlich betrunken, das Recht der Autofahrer einforderte, über Geschwindigkeit und Alkoholpegel nach Gutdünken selbst zu entscheiden. So absurd diese Idee 30sein mag, kommt sie uns doch vertraut und halbwegs plausibel vor, was man von einem egalitaristischen Äquivalent – nehmen wir einmal an, ein Kandidat träte bei einer Bürgermeisterwahl in den USA mit dem Vorschlag an, Bankerinnen und Manager sollten von nun an in Clownskostümen zur Arbeit erscheinen – nicht behaupten kann. Dabei wurde diese Forderung in einer anderen Zeit tatsächlich erhoben: von Jello Biafra, dem Sänger der Punkband Dead Kennedys, der 1979 als Kandidat einer gegenkulturellen Bewegung bei den Kommunalwahlen in San Francisco antrat.

Aus einer anderen Perspektive kann man diese antiegalitäre Wende freilich auch als Rückkehr zu einem Zustand sehen, der über einen relativ langen historischen Zeitraum als normal galt. »What happens in Vegas, stays in Vegas«, lautet ein Marketingslogan für die Kasinometropole in Nevada, und etwas Vergleichbares scheint auch für den Wohlfahrtsstaat zu gelten. Die Theoretiker der Ungleichheit bezeichnen die Jahrzehnte in der Mitte des 20. Jahrhunderts bisweilen als Große Kompression, weil es den Sozialstaaten damals gelang, eine hartnäckige gesellschaftliche Fehlentwicklung umzukehren: die Verbindung von Wirtschaftswachstum, technologischer Innovation und zunehmender materieller Ungleichheit. Doch kaum war diese kurze Epoche vorüber, war die Erinnerung daran auch schon wieder verblasst.

Seit der neolithischen Revolution vor etwa 12 ‌000 Jahren gingen Produktivitätssteigerungen und der Aufbau des staatlichen Gewaltmonopols – mit stehendem Heer, Zentralregierung, Bürokratie etc. – über Jahrtausende mit 31einer Zunahme der Ungleichheit einher. Diese elitäre Wende wiederum bedeutete einen Bruch mit dem für unsere Spezies über Zehntausende von Jahren charakteristischen Zustand weitgehender Egalität. Bei dieser Entwicklung handelte es sich keineswegs um einen zwangsläufigen Prozess, er beruhte nicht auf einer freiwilligen Übereinkunft und brachte nicht allen Beteiligten Vorteile. Die Zunahme der Ungleichheit war auch nicht, wie oft unterstellt wird, das fast unvermeidbare Resultat des Umstands, dass einige wenige eben erfindungsreicher sind und größere technische Fähigkeiten haben. Vielmehr handelte es sich um den kumulierten Effekt der Strategien von Eliten, die sich dank verschiedener Herrschaftsinstrumente eine privilegierte Stellung eroberten und erfolgreich behaupteten.

Obgleich die Elitenherrschaft kurzfristig immer mit Widerstand und Krisen konfrontiert war, erwies sie sich langfristig als überraschend stabil. Nur einige heftige historische Schocks konnten sie erschüttern und manchmal sogar reduzieren. Mitte des 14. Jahrhunderts wütete die Pest in Europa und raffte viele Millionen Menschen, ein Viertel der europäischen Bevölkerung, dahin. In den am heftigsten betroffenen Ländern wie England starb sogar die Hälfte der Einwohner. Als die apokalyptische Plage im 15. Jahrhundert abebbte, war die Arbeitskraft in ganz Europa knapp, und die Plebejer stellten fest, dass ihre Verhandlungsposition gegenüber den Eliten sich deutlich verbessert hatte, was sich günstig auf ihre materielle Lage und ihre politische Macht ausübte. Die historische Bedeutung dieser demografischen Krise, die eine entscheidende Rolle beim Übergang von der Feudalgesellschaft zur Mo32derne spielte, ist kaum zu überschätzen. In gewisser Hinsicht kann der Aufstieg des Kapitalismus als eine Reaktion der Eliten auf die Bedrohung durch immer unzufriedener werdende subalterne Klassen verstanden werden.

Fünf Jahrhunderte später, Anfang des 20. Jahrhunderts, kam es zu einer Katastrophe, die noch heftiger war als die Pest, die ihren Ursprung aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen hatte und einen Großteil der Welt erfasste. Die Spannungen, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts herausgebildet und verschärft hatten, eskalierten in Form einer Weltwirtschaftskrise und bis dahin nicht da gewesenen militärischen Konfrontationen: Mindestens 100 Millionen Menschen starben in den beiden Weltkriegen, und die Zerstörung der ökonomischen Infrastruktur erreichte fürchterliche Ausmaße. Allein in der Schlacht von Verdun starben mehr als eine Million Menschen. Noch heute liegen in der Region Hunderttausende nicht explodierte Geschosse, und in einigen Gegenden ist die Arsenkonzentration 35 ‌000-mal höher als normal. Zwischen 1914 und 1945, zwischen der Beschießung Belgrads durch österreichische Truppen und dem Atombombenabwurf über Nagasaki, verwandelte sich die Welt in ein großes Verdun: mit der Hyperinflation in Deutschland, der Weltwirtschaftskrise, den stalinischen Säuberungen, dem japanischen Imperialterror und Auschwitz als zentralen Akten. Wie bei der Pest bestand allerdings eine der Nebenwirkungen darin, dass sich die Tendenz steigender Ungleichheit umkehrte.

Führt man sich diese Entwicklung vor Augen, die dann ja immerhin drei, vier Jahrzehnte anhielt, ist weniger über33raschend, wie schnell viele Apologeten der gnadenlosen Marktkonkurrenz ihre Meinung nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie änderten und angesichts der Bedrohung durch das Virus plötzlich staatliche Eingriffe verlangten, die sie wenige Wochen zuvor noch als bolschewistisch abgetan hätten. In einer Meinungskolumne der Financial Times, die sich las, als hätten ihre Verfasser einen Trip eingeworfen, hieß es am 3. April 2020:

Radikale Reformen – die der vorherrschenden Richtung der Politik der letzten vier Jahrzehnte entgegenwirken – müssen auf die Tagesordnung gesetzt werden. Regierungen werden eine aktivere Rolle in der Wirtschaft zu übernehmen haben. Sie müssen die öffentliche Infrastrukturen eher als Investitionen denn als Belastungen sehen und nach Möglichkeiten suchen, die Arbeitsmärkte weniger unsicher zu machen. Umverteilung wird wieder auf der Agenda stehen; die Privilegien der Älteren und Wohlhabenden müssen hinterfragt werden. Politische Maßnahmen, die noch vor Kurzem als exzentrisch galten – beispielsweise ein Grundeinkommen und Vermögenssteuern –, werden Teil des Programms sein müssen.[9] 

Eine Restauration verlorener Gleichheit?

Nicht nur Rechte, sondern auch (und vor allem) Linke haben das politische System, das die Große Kompression ermöglichte, vielfach kritisiert. Einer verbreiteten Interpre34tation zufolge beruhte das System – das sich durchgesetzt habe, um die sowjetische Versuchung im Westen einzuhegen – vor allem auf der Fähigkeit des Staates, die Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern einzudämmen. Der Staat habe den »Klassenkampf internalisiert«, wie es im akademischen Diskurs heißt, und eine Vermittlerrolle eingenommen. Auf diese Weise habe sich eine Art Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit eingestellt, bei dem die Staaten vor allem die Aufgabe hatten, den arbeitenden Klassen durch politische Regulierung oder direkte wirtschaftliche Interventionen Wohlstand und Beschäftigung zu garantieren.

Voraussetzung dieses Sozialpakts war erstens die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Souveränität der jeweiligen Regierungen durch ein internationales Finanzsystem, das die USA enorm begünstigte, aber auch die ökonomische Instabilität begrenzte, indem Spekulanten daran gehindert wurden, ihre Vermögen frei über alle Grenzen hinweg zu transferieren. Zweitens lebte dieser Pakt von den gewaltigen Wachstumsraten, die in weiten Teilen der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen waren. Die oberen Klassen gaben sich mit einem kleineren Teil des Kuchens zufrieden, weil der Kuchen insgesamt immer größer wurde.

Es ist wenig überraschend, dass dieser politische Konsens in den siebziger Jahren just in dem Moment endete, als auch das ihn stützende Produktionsmodell zusammenbrach. Als sich das Wirtschaftswachstum aus diversen Gründen abschwächte, sahen die USA ihre Vormachtstellung gefährdet und zögerten nicht, die internationalen Ver35