Soziophobie - César Rendueles - E-Book

Soziophobie E-Book

César Rendueles

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Beschreibung

Früher gab es einen Marktplatz und einen Markttag – mittlerweile haben die Läden immer länger geöffnet, und der Kapitalismus kolonialisiert die letzte Pore der Lebenswelt. In einer von wachsender Ungleichheit geprägten Gegenwart setzen viele Linke ihre letzte Hoffnung in die sozialen Medien, eine Haltung, die César Rendueles als naiven »Cyberfetischismus« kritisiert. Mit einem Gespür für große historische Bögen und einem an Slavoj Žižek erinnernden Talent, aus popkulturellen Referenzen theoretische Funken zu schlagen, legt er dar, dass politischer Wandel nur möglich sein wird, wenn wir die Soziophobie, die Angst vor der Kooperation mit den anderen, überwinden.

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Früher gab es einen Marktplatz und einen Markttag – mittlerweile haben die Läden immer länger geöffnet, und der Kapitalismus kolonialisiert die letzte Pore der Lebenswelt. In einer von wachsender Ungleichheit geprägten Gegenwart setzen viele Linke ihre letzte Hoffnung in die sozialen Medien, eine Haltung, die César Rendueles als naiven »Cyberfetischismus« kritisiert. Mit einem Gespür für große historische Bögen und einem an Slavoj Žižek erinnernden Talent, aus popkulturellen Referenzen theoretische Funken zu schlagen, legt er dar, dass politischer Wandel nur möglich sein wird, wenn wir die Soziophobie, die Angst vor der Kooperation mit den anderen, überwinden.

César Rendueles

Soziophobie

Politischer Wandel im Zeitalter der digitalen Utopie

Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Sociofobia. El cambio político en la era de la utopía digital im Verlag Editorial Capitán Swing (Madrid).

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der edition suhrkamp 2690.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Inhalt

Ground Zero: Soziophobie

Postapokalyptischer Kapitalismus

Das globale Panoptikum

Die Gegengeschichte

I. Die digitale Utopie

Cyberfetischismus

Die Utopie des Copyleft

Kooperation 2.0

II. Nach dem Kapitalismus

Ground Zero: Soziophobie

Postapokalyptischer Kapitalismus

Vater und Sohn irren über verlassene nordamerikanische Autobahnen. Seit Jahren ist hier kein Fahrzeug mehr unterwegs. Die Landschaft ist von einer schweren, schwarzen Ascheschicht überzogen, und hinter der Wolkendecke, aus der eisiger Schneeregen fällt, kaum die Sonne zu erahnen. Die Anstrengungen der beiden Hauptpersonen sind darauf gerichtet, Trinkwasser und Lebensmittel aufzutreiben, der Kälte standzuhalten, nicht krank zu werden. Sie sind allein. In dem wüsten Land überleben nur noch deformierte Reste menschlicher Gemeinschaften. Gelegentlich stoßen die zwei auf andere, kaum noch als Menschen erkennbare Wesen, die in raubenden, vergewaltigenden und mordenden Horden umherziehen. Kannibalismus ist eine stete Gefahr.

Das ist die Story von Die Straße, Cormac McCarthys dystopischem Roman über die Zukunft nach einer nuklearen Katastrophe. Auch wenn es kaum vorstellbar scheint, so herrschte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts doch in weiten Teilen der Welt eine ähnliche Situation. Die zweite Hälfte des viktorianischen Zeitalters war charakterisiert durch das, was der Historiker Mike Davis in einem brillanten Essay als »Krise der globalen Subsistenz« bezeichnet hat: eine Katastrophe, der zwischen dreißig und fünfzig Millionen Menschen zum Opfer fielen und die doch in den meisten Geschichtsbüchern kaum Beachtung findet.

Damals starb in Folge von Jahrhundertdürren, Hungersnöten und anderen im Zusammenhang mit dem Niño-Phänomen stehenden Katastrophen eine gewaltige Zahl Menschen aufgrund von Unterernährung und Seuchen – die meisten von ihnen in Indien, China und Brasilien, aber auch in anderen Weltregionen.[1]

Von Kaschmir bis Shanxi, vom Mato Grosso bis nach Äthiopien verwandelte sich die Welt in einen Albtraum. Missionare – eine wichtige Quelle für Untersuchungen über Ereignisse in abgelegenen Regionen des Globus – schilderten entsetzliche Szenen. Die Menschen versuchten, sich von allem Möglichen zu ernähren: Blättern, Hunden, Ratten, Erde, den Dächern ihrer Häuser. Schließlich verspeisten sie auch Leichen und töteten am Ende gar ihre Nachbarn, um diese zu essen.

Tatsächlich war Anthrophagie nur ein weiterer Schritt und nicht notwendigerweise der letzte in einem Prozess der Zertrümmerung von Gemeinwesen. In ausgedehnten Zonen zerfielen soziale Gefüge, als handele es sich bei ihnen um eine obsolet gewordene Fantasie. Tempelanlagen wurden als Brennholz verfeuert, Menschen verkauften ihre Angehörigen als Sklaven, Banditentum breitete sich aus … Innerhalb weniger Jahre lösten sich jahrtausendealte Institutionen auf, fast ohne Spuren zu hinterlassen. Selbst die Landschaft schien einem apokalyptischen Szenario zu entstammen: Noch nie dagewesene Trockenheit verwandelte riesige Territorien in Wüsten, Heuschreckenplagen biblischen Ausmaßes vernichteten die wenigen noch nicht zerstörten Pflanzungen. Gelegentlich sorgte die Wüstenbildung für eine Art Ascheregen, der die Dürregebiete überzog.

Ein großer Teil des 19. Jahrhunderts verlief in Europa, zumindest im Vergleich zu der Epoche unmittelbar davor, relativ friedlich. Doch in den vom Westen kolonisierten Ländern stellt sich die Lage weniger erfreulich dar. Zwischen 1885 und 1908 war der sogenannte Kongo-Freistaat – die spätere Demokratische Republik Kongo – wortwörtlich Privateigentum des belgischen Königs Leopold II., dessen Regiment Turbounternehmertum, Sklaverei und extreme Gewalt erbarmungslos miteinander verband. Verschiedenen Schätzungen zufolge forderten diese zwei Jahrzehnte Kolonialherrschaft mindestens fünf, vielleicht sogar zehn Millionen Opfer. Das belgische Modell der Handelsausbeutung beruhte auf einem entfesselten Extraktivismus, im Zuge dessen die natürlichen Reichtümer des Landes geplündert wurden. Leopold II. versklavte die einheimische Bevölkerung per Dekret und unterwarf sie einem auf Massenmord sowie systematischer Folter beruhenden Terrorregime. Eine übliche Bestrafung für zu langsame Arbeiter war die Amputation und Zurschaustellung ihrer Hände.

Das von ökologischen Schwankungen ausgelöste Massensterben, von dem Mike Davis spricht, war keine direkte Folge des Imperialismus, sondern eher Rahmenbedingung und später auch Nebenprodukt von dessen Entfaltung. Die Großmächte des 19. Jahrhunderts nutzten die von den Klimakatastrophen hervorgerufene materielle Not, um die imperiale Expansion zu beschleunigen und zu intensivieren. In einem Großteil der Welt wurde der Kapitalismus mit militärischen Interventionen durchgesetzt. Die Menschheit war niemals zuvor Zeuge einer Kolonisierung diesen Ausmaßes und dieser Geschwindigkeit gewesen. Zwischen 1875 und dem Ersten Weltkrieg wurde ein Viertel der weltweiten Landfläche unter einer Handvoll europäischer Staaten, den USA und Japan aufgeteilt: Großbritannien vergrößerte seinen Besitz um zehn Millionen Quadratkilometer (was der Fläche ganz Europas entspricht), Frankreich um knapp neun Millionen, Deutschland um etwa zweieinhalb.[2]

In den Metropolen wurden umfangreiche Pläne entwickelt, um die lokalen Institutionen in den in Besitz genommenen Gebieten zu eliminieren. Jahrhundertealte Gemeinwesen wurden innerhalb weniger Jahre förmlich in die Luft gesprengt. Dabei handelte es sich um ein unsystematisches und häufig plumpes, letztlich aber effizientes Vorgehen, durch das neue, mithilfe eines modernen ökonomischen, politischen und militärischen Apparats kontrollierbare Abhängigkeitsbeziehungen implementiert werden sollten. Die großen ökologischen Katastrophen verschafften dieser Initiative moralische Rückendeckung. Diese Länder seien, so hieß es unter den kultivierten Europäern, Opfer ihrer Rückständigkeit. Die vom europäischen Vormund erzwungene Modernisierung sei, so schmerzhaft sie sich auch darstellen möge, letztlich zum Nutzen der Kolonisierten. 1853 verteidigte Karl Marx diesen Standpunkt in einem Artikel mit dem Titel »Die britische Herrschaft in Indien« entschieden:

Sosehr es nun auch dem menschlichen Empfinden widerstreben mag, Zeuge zu sein, wie Myriaden betriebsamer patriarchalischer und harmloser sozialer Organisationen zerrüttet und in ihre Einheiten aufgelöst werden […], so dürfen wir doch darüber nicht vergessen, daß diese idyllischen Dorfgemeinschaften, so harmlos sie auch aussehen mögen, seit jeher die feste Grundlage des orientalischen Despotismus gebildet haben, daß sie den menschlichen Geist auf den denkbar engsten Gesichtskreis beschränkten, ihn zum gefügigen Werkzeug des Aberglaubens, zum unterwürfigen Sklaven traditioneller Regeln machten und ihn jeglicher Größe und geschichtlicher Energien beraubten. […]

Gewiß war schnödester Eigennutz die einzige Triebfeder Englands, als es eine soziale Revolution in Indien auslöste, und die Art, wie es seine Interessen durchsetzte, war stupid. Aber nicht das ist hier die Frage. Die Frage ist, ob die Menschheit ihre Bestimmung erfüllen kann ohne radikale Revolutionierung der sozialen Verhältnisse in Asien. Wenn nicht, so war England, welche Verbrechen es auch begangen haben mag, doch das unbewußte Werkzeug der Geschichte, indem es diese Revolution zuwege brachte.

Dann haben wir, so erschütternd das Schauspiel des Zerfalls einer alten Welt für unser persönliches Empfinden auch sein mag, vor der Geschichte das Recht, mit Goethe auszurufen: »Sollte diese Qual uns quälen / Da sie unsre Lust vermehrt; / Hat nicht Myriaden Seelen / Timurs Herrschaft aufgezehrt?«[3]

Die Realität jedoch ist weitaus komplizierter. Historisch betrachtet, ist das Alte gewöhnlich nicht Synonym für Fragilität, sondern eher für Robustheit. Den traditionellen Systemen war es in der Vergangenheit oft recht effizient gelungen, die Folgen der in regelmäßigen Abständen vom Niño-Phänomen ausgelösten Wetterereignisse einzudämmen. Es wurden rudimentäre Versorgungssysteme aufgebaut, dank deren die Sterblichkeitsrate erheblich sank. Im schlimmsten Fall trugen sie zum Wiederaufbau der Gemeinschaft nach der Naturkatastrophe bei. Die Zerstörung dieser Schutzmechanismen ließ ganze Kontinente angesichts sozialer und materieller Desaster wehrlos zurück. In den Worten von Mike Davis: »Millionen verstarben nicht außerhalb des ›modernen Weltsystems‹, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus.«[4]

Mit den Großkatastrophen des viktorianischen Zeitalters setzten sich jene globalen Sozialbeziehungen durch, die wir heute kennen. Sie sind das Modell globaler Ungleichheit. Einer relativ begrenzten sozialen Ungleichheit in den Zentren der Weltökonomie (größer in den USA, kleiner in Norwegen) stehen die nur entfernt an menschliches Leben erinnernden Existenzbedingungen eines Drittels der Weltbevölkerung gegenüber.

Im Westen wurde mithilfe eines Ensembles von Institutionen, die wir bezeichnenderweise »soziale Sicherungssysteme« nennen, eine Schutzmauer gegen die Stürme des Marktes errichtet. Die paradoxe Konsequenz hiervon war, dass sich das Zentrum des »modernen Weltsystems« mit derselben Vehemenz gegen seine eigene Eingliederung in dieses System zur Wehr setzte, wie es genau das vom Rest der Welt verlangte. Dabei handelte es sich um einen Prozess, der mit Otto von Bismarck einsetzte, seinen Höhepunkt jedoch während des Kalten Kriegs erreichte. Der Gründungsmythos der sogenannten Wohlfahrtsstaaten besagt, dass sie auf der Grundlage von politischer Umsicht, gesellschaftlichem Konsens, Lernprozessen und Uneigennützigkeit aufgebaut wurden. Tatsächlich waren sie jedoch Bestandteil einer intelligenten, ehrgeizigen und von den USA entworfenen Strategie, mit der die Attraktivität des sowjetischen Systems in Europa verringert werden sollte. Der Rest der Menschheit – das heißt, ihr größter Teil – hatte weniger Glück. Die historischen Prozesse, die von den viktorianischen Holocausts eingeläutet wurden, schufen die Dritte Welt und bestimmten ihren Charakter.

Die globale Konsolidierung des Kapitalismus wäre ohne gewaltige Zerstörungen nicht zu erklären. Die Verwüstung traditioneller Institutionen konfigurierte ein Ökosystem, in dem heute Milliarden Menschen leben. Die Beziehung zwischen dem geschaffenen Raum und den natürlichen Ressourcen entspricht in vielen Regionen unseres Planeten letztlich der, die man gewöhnlich nach Großkatastrophen vorfindet. Nachdem der Hurrikan Katrina 2005 über Louisiana hinweggezogen war, verbreitete sich unter den Sturmopfern von New Orleans der Slogan »Willkommen in der Dritten Welt«. Dabei handelte es sich weniger um ein ironisches Bonmot als vielmehr um eine korrekte Beschreibung der Realität.

Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts leben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in städtischen Ballungsräumen als auf dem Land. Für 2050 wird ein Verhältnis von siebzig zu dreißig prognostiziert. Es ist irreführend, von einer Landflucht in die »Städte« zu sprechen. Unter den Experten ist das Ausmaß der Urbanisierung heute umstritten, weil sich die alte Idee der Stadt in Luft aufgelöst hat. Der sich gegenwärtig durchsetzende urbane Raum besteht aus diffusen, hyperverelendeten Siedlungen, die keine einzige jener Eigenschaften aufweisen, die wir normalerweise mit »Städten« assoziieren. Es handelt sich um Agglomerationen ohne klare Umrisse, Straßen, Wasser- und Stromversorgung oder auch nur Häuser im traditionellen Sinne. Das Problem lässt sich kaum überschätzen:

Der Anteil der Slumbewohner, die in den entwickelten Industrieländern nur sechs Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen, liegt in den Städten der am wenigsten entwickelten Länder bei schockierenden 78,2 Prozent; das entspricht einem Drittel der städtischen Bevölkerung der Welt. Laut UN-Habitat leben prozentual gesehen die meisten Slumbewohner in Äthiopien (erstaunliche 99,4 Prozent der städtischen Bevölkerung) und im Tschad (ebenfalls 99,4 Prozent), gefolgt von Afghanistan (98,5 Prozent) und Nepal (92 Prozent) […]. Es gibt wahrscheinlich mehr als 200 ‌000 Slums auf der Erde, deren jeweilige Bevölkerungszahl von ein paar hundert bis zu mehr als einer Million Menschen reicht. Die fünf großen Metropolen Südasiens – Karatschi, Mumbai, Delhi, Kalkutta und Dhaka – haben allein schon etwa 15 ‌000 unterschiedliche Slumviertel mit einer Gesamtbevölkerung von über 20 Millionen.[5]

Wir haben es mit einem Trend zu tun, der sich auf der ganzen Welt ausbreitet und unsere Wahrnehmung sozialer Probleme radikal verändert. Entgegen der allgemeinen Überzeugung, wonach die Lebenserwartung im Westen dank des medizinischen und pharmakologischen Fortschritts gestiegen ist, vertreten Experten die Ansicht, dass diese Entwicklung in erster Linie dem Bau von Abwassersystemen geschuldet ist. Die effizientesten Waffen im Kampf gegen die Krankheiten sind Zisternen und die Kanalisation. Gleichzeitig ist die Ansammlung von Exkrementen an Orten ohne entsprechende Einrichtungen eines der größten urbanen Probleme auf der Welt. Zweieinhalb Milliarden Menschen ertrinken förmlich in ihrer eigenen Scheiße – ohne Zugang zu Kläranlagen, Kloaken, Abwasserkanälen oder Latrinen. Sie scheißen und pissen, wo sie können. Diese Situation wird in Städten wie Kinshasa, einem Zehnmillionenmoloch ohne irgendein Abwassersystem, geradezu dantesk. Fachleute schätzen, dass Menschen, die an Orten ohne sanitäre Einrichtungen leben, täglich zehn Gramm Fäkalien zu sich nehmen. Hierbei handelt es sich nicht einfach um ein ästhetisches Problem oder eine Frage des Komforts. Im letzten Jahrzehnt sind mehr Kinder an Durchfall gestorben als Menschen in sämtlichen Kriegen seit 1945.[6]

Die hyperverelendeten urbanen Räume – die Megaslums – sind das Kolonialproblem des 21. Jahrhunderts. Ebenso wie die viktorianischen Holocausts sind sie ein Nebeneffekt liberaler Politik. In den achtziger Jahren setzten die internationalen Wirtschaftsinstitutionen in der Dritten Welt eine Verarmungs- und Ungleichheitspolitik durch, deren globale Folgen wir erst allmählich zu begreifen beginnen. Austerität, Deindustrialisierung und die Privatisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens sorgten – gemeinsam mit der Abschaffung von Lebensmittelsubventionen und dem Rückbau des öffentlichen Sektors – für eine radikale Zersetzung städtischer Strukturen, die bereits damals alles andere als solide waren. Zugleich förderte die neoliberale Politik die Landflucht, indem sie Agrarmultis unterstützte und Kleinbauern in den Bankrott trieb.

Die städtischen Elendsagglomerationen sind die Kehrseite des Kasinokapitalismus: ein Auffangbecken für jene Menschen, die aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung – der Technologisierung der Ökonomie und der zunehmenden Bedeutung von Spekulationsgeschäften – überflüssig geworden sind. Sie stellen Konfliktherde dar, deren Ausmaße wir noch nicht einmal erahnen. Es handelt sich hier nicht nur um eine ethische, wirtschaftliche oder politische Frage, sondern um ein Problem ökologischer Grenzen, die sich nicht beliebig immer weiter verschieben lassen. Es ist, als wollten die Herren der Welt die extremsten malthusischen Albträume Wirklichkeit werden lassen.

Das Auftauchen der Dritten Welt hat einen großen Einfluss auf die politischen Erwartungen westlicher Bürger gehabt. Die Existenz einer apokalyptischen Peripherie hat die Angst vor Veränderungen enorm verschärft. Das Gegenbild zum westlichen Liberalismus ist die Vorstellung totalitärer, stupider und irrationaler Menschenmassen. Tief in unseren Herzen spüren wir, dass die Alternative zum fortgeschrittenen Kapitalismus nicht mehr die konservative Solidarität traditioneller Gemeinschaften ist, sondern ein infernalisches Kontinuum aus Armut, Korruption, Kriminalität, Fundamentalismus und Gewalt.

Wir haben es hier mit der ideologischen Übersetzung einer kognitiven Verzerrung zu tun, die von Psychologen auch als »Verlustaversion« bezeichnet wird. Ein bekanntes Experiment in diesem Zusammenhang besteht darin, mehreren Personen Gegenstände zu schenken und sie anschließend zu fragen, wie viel Geld sie bezahlen würden, um diese zu behalten. Einer anderen Gruppe werden die gleichen Gegenstände angeboten, die Teilnehmer werden jedoch gefragt, wie viel sie zahlen würden, um die Objekte zu kaufen. Normalerweise bezahlen Menschen mehr dafür, etwas behalten zu können, das ihnen bereits gehört – auch wenn sie es gerade erst geschenkt bekommen haben und ansonsten niemals gewollt hätten –, als dafür, diese Gegenstände neu zu erwerben. Das gilt auch dann, wenn es sich um ein und dasselbe Objekt handelt. Gemäß der Rational-Choice-Theorie ist dieses Verhalten absurd: Wir handeln unterschiedlich, obwohl die Situation, objektiv betrachtet, identisch ist.

Viele Bürger westlicher Demokratien würden sehr wenig dafür zahlen, um ein politisches System zu bekommen, das in einer tiefen Repräsentationskrise steckt und unter einem irrationalen, instabilen und ineffizienten ökonomischen Regime leidet. Dennoch glauben sie, dass der Preis dafür, dies alles zu verlieren, sehr hoch wäre. Tatsächlich mag einiges dafür sprechen, sich mit dem zufriedenzugeben, was man hat – zum Beispiel die unkalkulierbaren Kosten eines Übergangs zu einer alternativen Gesellschaft oder die Möglichkeit, dass diese Alternative sich als nicht realisierbar erweisen könnte. Aber diese Frage stellen wir uns nicht einmal. Wir setzen Veränderung mit einem Verlust gleich, der uns in Angst und Schrecken versetzt, bevor wir überhaupt vor einer rationalen Wahl stehen. Wir verachten Konsumismus, politischen Populismus und die Finanzökonomie, halten sie aber gleichzeitig für das einzig denkbare Bollwerk gegenüber der Barbarei der Gegenwart. Wir haben panische Angst vor den Menschenmassen, weil die einzige uns bekannte Alternative zum liberalen Individualismus der Absturz in die Megaslums oder in den Fundamentalismus ist. Als gäbe es nichts zwischen dem Unternehmenssitz von Goldman Sachs und dem Elendsviertel Villa 31 in Buenos Aires.

Sobald das Ideal der Freiheit einmal in der Welt ist, kann niemand es stoppen, kein politisches Projekt sich ihm verschließen. Ein Bekannter, der in Spanien im antifranquistischen Widerstand aktiv war, beobachtete während eines Polizeiangriffs auf eine Studentendemonstration der sechziger Jahre, wie ein Freund den ihn prügelnden Polizisten zu besänftigen versuchte, indem er ausrief: »Ich will gar keine Freiheit! Ich will gar keine Freiheit!« Der Polizist misstraute der Aussage, wahrscheinlich aus gutem Grund, und schlug weiter brutal auf ihn ein. Wenn die Freiheit auf der politischen Bühne erscheint, kann niemand sich auf die Position zurückziehen, dass er lieber Knecht bleiben würde. Wir können uns höchstens selbst betrügen, indem wir uns die Unterwerfung als eine echtere Form der Freiheit schönreden.

Ebenso wenig lassen sich persönliche Abhängigkeitsverhältnisse rehabilitieren, wenn sie erst einmal in Misskredit geraten sind. Wir können, ähnlich wie Marx, gar nicht anders, als die positiven Aspekte der Zerstörung gemeinschaftlicher Verbindungen wertzuschätzen – selbst wenn diese uns schmerzt. Der schroffste und rassistischste Ausdruck dieser Soziophobie ist die Angst vor der Barbareninvasion, die Furcht davor, ein Strom sozialer Totalität könne lawinenartig über unser exquisites und gepflegt individualistisches Leben hereinbrechen.

Die Populärkultur, die sich in der Hochphase des modernen Kolonialismus entwickelt hat, spiegelt diese Phobie mit einer Aufrichtigkeit wider, die uns heute einfältig, ja fast schon amüsant erscheint. Sven Lindqvist, ein schwedischer Essayist, hat faszinierende Beispiele aus den ersten Science-Fiction-Romanen zusammengestellt. Der sozialistische Schriftsteller Jack London veröffentlichte 1910 die Erzählung »The Unparalleled Invasion«. Dabei handelt es sich um einen futuristischen Bericht über die »gelbe Gefahr« und demografische Krisen. Das China der siebziger Jahre ist überbevölkert. Die »monströse Flut des Lebens« wird zu einer Bedrohung geologischen Ausmaßes. »Jetzt trat China über die Grenzen seines Imperiums – einfach, indem es sich mit der Gewissheit und der erschreckend langsamen Macht eines Gletschers über die angrenzenden Territorien ergoss.« Die elegante Lösung des Westens für dieses malthusianische Problem besteht darin, fünfhundert Millionen Menschen – sämtliche Bewohner Chinas – mit bakteriologischen Waffen zu vernichten und das entvölkerte Land im Rahmen eines tadellos vernünftigen und moderaten Wiederaufbaus neu zu erschließen. Völkermord im Dienst der Utopie. In Die sechste Kolonne, dem ersten Roman von Robert A. Heinlein, hat die Zeit für prophylaktische Maßnahmen nicht ausgereicht, und »die panasiatischen Horden haben«, so die Zusammenfassung Sven Lindqvists, »die USA überfallen. Das Problem besteht darin, 400 Millionen ›gelber Affen‹ zu töten, ohne Menschen zu verletzen. Die intelligentesten Köpfe Nordamerikas verstecken sich in den Rocky Mountains und erfinden eine Strahlenwaffe, die mongolisches Blut vernichtet, ohne anderes Leben zu beeinträchtigen.«[7]

Die aktuelle Variante dieser Erzählung ist nicht viel subtiler, dafür allerdings diffuser. Ein harmloses, aber aussagekräftiges Beispiel stammt von dem Musikkritiker Víctor Lenore, der zeigt, dass Experten die von Armen gehörte und getanzte Popmusik systematisch als tumb, repetitiv und unmoralisch denunzieren. Die Trend-Seiten der großen spanischen Zeitschriften bewerben Neuerscheinungen aus dem angloamerikanischen Raum bis zum Umfallen, auch wenn diese in Spanien nur von einer kleinen Minderheit gehört werden. Gleichzeitig ist es jedoch praktisch unmöglich, etwas über Techno-Rumba-Musikerinnen wie Camela zu erfahren, die mehr als sieben Millionen Platten verkauft hat, überwiegend in der Unterschicht. Musikrichtungen, die wie Reggaeton, Kuduro oder Cumbia bei Migranten populär sind, gelten den Kritikern als ein Abgrund von Sexismus und ästhetischer Degeneration. Man kann verstehen, dass Freunde abstrakter Musik, von Stockhausen oder Cage beispielsweise, die zeitgenössische Populärmusik als dumpf und wenig elaboriert empfinden. Aber bei den Musikkritikern, die sich für ironisch daherkommende, wenig innovative und schlecht gespielte Songs stets offen zeigen, solange diese vom New Musical Express für gut befunden werden, verhält es sich vollkommen anders. Der Großteil der im reichen Westen verachteten Musik wird von Paaren getanzt, die sich eng aneinanderschmiegen. Eine Reggaeton-Tanzfläche repräsentiert den symbolischen westlichen Albtraum par excellence: eine verschwitzte, dicht gedrängte und ungebildete Menge grölt sexuell aufgeladene, gewaltverherrlichende Texte.

Soziophobie ist eine universelle Tendenz, der wir nicht entkommen. Viele ländliche und kommunitaristische Bewegungen, die sich nostalgisch auf traditionelle Beziehungen und die Wiederentdeckung der Langsamkeit beziehen, kritisieren die Großstadt als Ort gesellschaftlicher Ausschweifungen – und nicht als Schauplatz individualistischer Isolation. Walter Benjamin drückte es 1939 in einem Text mit dem Titel »Über einige Motive bei Baudelaire« treffend aus: »Angst, Widerwillen und Grauen weckte die Großstadtmenge in denen, die sie als die ersten ins Auge faßten. Bei Poe hat sie etwas Barbarisches. Disziplin bändigt sie nur mit genauer Not. Später ist James Ensor nicht müde geworden, Disziplin und Wildheit in ihr zu konfrontieren.«[8]

Ein faszinierender Aspekt des Kapitalismus besteht darin, dass er sich auch ohne große Legitimationsdiskurse weltweit durchzusetzen vermochte. Die Marktgesellschaft hat keinen Perikles, Cato oder Heiligen Augustinus. Es gibt keine Bill of Rights, keine Gründungsakte und keine Denkmäler. Das ist insofern bemerkenswert, als wenige Gesellschaften zuvor eine so heroische Loyalität und eine so extreme Ritualisierung täglicher Verhaltensweisen verlangten. Der Markt durchdringt unser Leben mit einer Totalität und Intensität, von denen andere expansive und universalistische Projekte – wie der Katholizismus oder das römische Imperium – nicht zu träumen gewagt hätten. Dennoch erinnert kein Triumphbogen an die Schlachten, aus denen die United Fruit Company siegreich hervorging. Kein Priester veranstaltet Hokuspokus in einer toten Sprache, damit wir die Verwandlung spekulativen Reichtums in Güter und Dienstleistungen als geoffenbartes Gesetz akzeptieren.

Der Großteil der unsere gesellschaftliche Realität betreffenden Diskurse zielt darauf ab, diese zu negieren. Politiker reden nur von Ungleichheit, Ausbeutung und Entfremdung – objektiv betrachtet die charakteristischsten gesellschaftlichen Phänomene der modernen Welt –, um diese als unvermeidbare Kollateralschäden einer voranschreitenden Entwicklung zum Besseren abzutun. In dieser Hinsicht muss man die Verdienste des radikalen Wirtschaftsliberalismus würdigen, der es gewagt hat, unsere unbarmherzige Wirklichkeit realistisch zu beschreiben – und zu verteidigen. Die Liberalen haben sich mit dem Abgrund des sozialen Nihilismus abgefunden und die Angst vor der Gemeinschaft als wünschenswerte Option akzeptiert.

Das globale Panoptikum

In Das höllische System, dem ersten Roman von Kurt Vonnegut, ist New York zu einer Art Privatklub für die technokratischen Eliten der USA geworden, die eine fast vollständig automatisierte Wirtschaft leiten. Die meisten Menschen leben ohne größere materielle Armut, aber extrem entfremdet: Ihr Leben wird von absurden Tätigkeiten dominiert, und sie haben überhaupt keine politischen Mitspracherechte. Am Anfang des Romans taucht der Schah von Bratpuhr auf, ein orientalischer Fürst, der auf Einladung der Regierung in den USA weilt. Der Schah ist sehr wissbegierig, was die Lebensweise der nordamerikanischen Bevölkerung angeht. Sein Führer Halyard erklärt ihm das Alltagsleben eines Durchschnittsbürgers: Lohnarbeit, In-kleinen-Häusern-Wohnen, Schulden-Abzahlen … Der Besucher hat das Prinzip dank seines Übersetzers Khashdrahr schnell durchschaut:

»Ah«, sagte der Schah nickend, »takaru.«

»Was hat er gesagt?«, fragte Halyard.

»Takaru«, antwortete Khashdrahr. »Sklave.«

»Nicht takaru«, wandte sich Halyard direkt an den Schah. »Bür-ger.«

»Ahhhhh«, sagte der Schah. »Bür-ger.« Er lächelte glücklich. »Takaru-Bürger, Bürger-Takaru.«

»Nicht takaru«, erwidert Halyard.[9]

In einer Hinsicht ähnelt unsere Gesellschaft, ein Teil der modernen politischen Kritik hat seit je darauf hingewiesen, früheren stark: Es gibt nur einen geringen Unterschied zwischen Sklaven und Lohnabhängigen, und die Kontinuität zwischen den Sklaven, die die antiken Tempel errichteten, und den Kindern in den Textilfabriken des viktorianischen Manchester (oder den Gefangenen Stalins, die die großen sowjetischen Wasserstraßen aushoben), ist kaum zu leugnen. In einer anderen Hinsicht jedoch ist nichts gleich, und die Unterschiede sind riesig. Wir haben uns weit von der menschlichen Norm entfernt und besitzen nur noch ein schwaches und nebulöses Bewusstsein von dieser essenziellen Differenz, von der kulturellen Zentralität dieser Differenz und unserer Unfähigkeit, sie in ein stabiles System einzubetten.

Seit zwei Jahrhunderten sind wir Teil eines sozialtechnologischen und in seinen Ausmaßen vorher unvorstellbaren Experiments. Der österreichisch-ungarische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi vertrat die Ansicht, dass das liberale Gesellschaftsideal, wonach der materielle Fortbestand der Gesellschaft von Marktbeziehungen abhängig ist, als Utopie betrachtet werden muss. Im Verlauf der Geschichte hat die Mehrzahl der Gesellschaften irgendeine Form von Handel hervorgebracht, um Güter und Dienstleistungen zu tauschen. Aber diese traditionellen Märkte waren immer marginale oder zumindest begrenzte Einrichtungen. Der Markt war buchstäblich ein Ort – der Marktplatz –, der sich nur zu besonderen Anlässen – den Markttagen – füllte. Herodot zufolge ließ der persische König Kyros II. die Gesandten Spartas, die an seinen Hof gekommen waren, um ihn vor den Reaktionen zu warnen, mit denen er im Falle eines Angriffs auf Griechenland zu rechnen hatte, wissen, er habe keine Angst vor einem Volk, das in seinen Städten Orte eingerichtet habe – Märkte –, an denen man sich gegenseitig betrüge.

In der Moderne hat sich der Markt erstmals als eine Einrichtung etabliert, die die gesellschaftliche Realität in ihrer Gesamtheit durchdringt. Das Kaufverhältnis hat unsere Körper und Seelen kolonialisiert. Wir veräußern beträchtliche Teile unseres Lebens am Arbeitsmarkt, kommen dank komplexer Finanzinstrumente namens Hypotheken zu einem Dach über dem Kopf, die von uns geatmete Luft wird auf Märkten für Kohlendioxydemissionen gehandelt, und unsere Nahrung ist Teil komplexer Spekulationsketten.

Fast alle traditionellen Gesellschaften haben hingegen große Anstrengungen darauf verwendet, bestimmte elementare Güter und Dienstleistungen wie Land, Grundnahrungsmittel und Geld aus dem Markt herauszuhalten. Der Handel ist eine von Konkurrenz bestimmte Interaktion, bei der wir versuchen, andere zu übervorteilen. »Kaufe preiswert, verkaufe teuer« ist die einzige konstante Verhaltensregel auf dem Markt. Die vorkapitalistischen Gesellschaften dagegen hielten es für Wahnsinn, ihr materielles Überleben vom Chaos der Konkurrenz abhängig zu machen. Und zwar aus demselben Grund, aus dem wir das Verhalten einer Person, die ihr Haus beim Pokern verwettet oder russisches Roulette spielt, nicht nur für gefährlich, sondern auch für falsch halten würden: Das Missverhältnis zwischen Risiko und potenziellem Nutzen ist zu groß. Menschen benötigen immer Nahrung, Schutz, Pflege und einen Ort, wo sie sterben können. Ist es rational, feststehende Bedürfnisse dem kapitalistischen Glücksspiel zu überlassen? Ist es vernünftig, wegzusehen und mit aller Kraft darauf zu hoffen, dass das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ein Ergebnis hervorbringt, das die Bedürfnisse angemessen befriedigt? Über Jahrtausende hinweg lautete die Antwort kategorisch und übereinstimmend: nein. Doch wir sind heute natürlich viel klüger.

Das »Marktsystem«, so der Ausdruck, mit dem Polanyi die Art und Weise beschreibt, in welcher der Markt über unser Leben hereingebrochen ist, ähnelt eher den fourierschen Phalanstères und Kommunen als konventionellen sozialen Beziehungen. Es ist ein utopisches Programm und nicht, wie manchmal behauptet wird, einfach die Verwirklichung des universellen Handelstriebs der menschlichen Spezies. Der freie Markt hat weder in der Vergangenheit jemals existiert noch wird ihm das in Zukunft gelingen. Er ist eine Chimäre, die ungewöhnlich viel Leid verursacht hat. Und wie alle Utopien ist er ein gescheitertes und zutiefst widersprüchliches Projekt. Deshalb interveniert der Staat im real existierenden Kapitalismus permanent, um zu verhindern, dass das Neverland des freien Marktes wie ein Kartenhaus zusammenfällt und die Eliten, die von seinen falschen Versprechen profitieren, mit in den Abgrund reißt. In den vergangenen Jahren hat man auf dieselben Argumente zurückgegriffen, um den massiven Einsatz öffentlicher Mittel zur Rettung des Bankenwesens zu rechtfertigen, die man zuvor verwendet hatte, um öffentliche Unternehmen zu privatisieren oder die Superreichen von Steuern zu befreien. Der historische Kapitalismus ist nie der Versuchung erlegen, kohärent zu sein.

Liberale erinnern ein wenig an jene Saint-Simonianer, an deren Westen die Knöpfe auf dem Rücken angebracht waren, damit sie von gegenseitiger Hilfe abhängig waren. Das sollte die Gemeinschaft stärken. Der Unterschied besteht selbstverständlich darin, dass die Marktideologie gesiegt hat und heute als Common Sense erscheint. Aber es reicht, ein wenig an den ideologischen Grundlagen unserer Zeit zu kratzen, um eine starke millenaristische Note zu entdecken, die mit der realen Welt absolut unvereinbar ist.

Die Yes Men sind ein Künstlerkollektiv, das auf internationalen Unternehmerforen in die Rolle von Bankern und Managern schlüpft, um diese zu parodieren. Die wichtigste Entdeckung der Yes Men war, dass in der Welt der Unternehmen nichts als anstößig empfunden wird. Als Vertreter der Welthandelsorganisation WTO haben sie unter anderem ein Verbot der Siesta, die Wiederzulassung des Sklavenhandels, die Einführung eines Marktes für Wählerstimmen bzw. Menschenrechte (auf dem Staaten, die Grundrechte verletzen müssen, anderen Zertifikate abkaufen können, die die Verletzung dieser Rechte erlauben) und ein Programm zur Bekämpfung des Hungers vorgeschlagen, bei dem bereits verdaute Hamburger durch Arme recycelt werden sollten. All dies wurde von einem großen Publikum aus Unternehmern und Politikern mit Interesse und zustimmendem Gemurmel aufgenommen.

Der Kapitalismus lässt sich nicht parodieren. Nichts kann eine Welt überraschen, die Arbeit, den Gebrauch des Geldes oder die Nahrungsmittelproduktion in Form eines allgemeinen und obligatorischen sportlichen Wettbewerbs namens Markt organisiert. Die Weltsicht dieser ordentlichen, besonnenen und vernünftigen Leute, die sich ihren Geschäften widmen und keinen Ärger wollen, ist im Kern utopisch. Ihre apokalyptische Botschaft hat solide philosophische Grundlagen, die sich bis zum Utilitarismus des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lassen. Viele Interpreten lesen die Utilitaristen wohlwollend als naive Pragmatiker und kleinbürgerliche Intellektuelle ohne große Ambitionen. Doch das ist ein Irrtum. Sie sind verkappte Davidianer. Ihre Ideen wirken nur deswegen grau und unspektakulär, weil ihr explosives nihilistisches Programm sich zu Tode gesiegt hat.

Tatsächlich war Jeremy Bentham, der Begründer des Utilitarismus, eine exzentrische und mutige Person, ein Yes Man der Aufklärung. In seinem Testament legte er fest, dass seine Leiche in einem Anatomiekurs seziert, mumifiziert, mit seinen eigenen Kleidern angezogen und in einen Glaskasten mit der Aufschrift »Auto-Ikone« gesetzt werden sollte. Der Körper Benthams wird bis heute im University College in London aufbewahrt, wo er vom Publikum besichtigt werden kann. Bentham widmete sein ganzes Leben der sozialen Transformation. Er betrachtete sich als Reformisten und wollte sich die Gelegenheit einer letzten radikalen und posthumen Intervention nicht entgehen lassen, mit der er eine der großen anthropologischen Universalien infrage stellte: Das Auftauchen von Beerdigungszeremonien wird gewöhnlich als Schlüsselmoment im Prozess der Hominisation betrachtet.

Bentham verzichtete nicht einfach auf gängige Konventionen. Er verlangte nicht, dass sein Körper auf einem Müllhaufen landen sollte. Seine Leiche sollte erst ganz sachlich als totes Fleisch behandelt werden, um dann einer perfektionierten Beerdigungszeremonie unterworfen zu werden. Wir haben es mit einer makabren Parodie des zentralen Elements des benthamschen Systems zu tun: der Suche nach einem Nullpunkt der Gemeinschaftlichkeit (sociabilidad), von dem aus die Beziehungen zwischen den Menschen auf rationaler Grundlage neu erschaffen werden können. Bentham erkennt die soziale Natur des Menschen an, misstraut aber natürlicher Solidarität und der Klebrigkeit des menschlichen Daseins zutiefst. Ihm geht es darum, die Soziabilität persönlicher Abhängigkeitsbeziehungen, Aberglauben, entfesselte Leidenschaften und falsches Bewusstsein auseinanderzuhalten. Er propagierte eine Art Orthopädie der natürlichen sozialen Bindungen, mit der gemeinschaftliche Haltungsschäden korrigiert werden sollten.

Den Kern des Utilitarismus bildet die im philosophischen Milieu Benthams ziemlich verbreitete Idee, wonach jede menschliche Handlung nach dem von ihr hervorgerufenen Genuss oder Leiden zu bewerten ist, um so das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen zu realisieren. Bentham verwandelte diesen Gemeinplatz in eine Quelle radikaler politischer Transformationen. Grundsätzlich ist jene Gemeinschaft die glücklichste, die ihren Mitgliedern die kohärente Realisierung der Aktivitäten ermöglicht, die jeder Einzelne als maximal genussbringend empfindet. Nicht nur aus ethischem oder ontologischem Individualismus, sondern auch aus Gründen der Effizienz: Niemand und vor allem keine Regierung kann so gut wissen, was jedem Einzelnen Befriedigung verschafft, wie die Betroffenen selbst. Die individuelle Suche nach Glück übermittelt dem gesellschaftlichen System eine fundamentale Information, mithilfe deren das Gesamtglück maximiert werden kann. Die Quellen des Glücks sind atomisiert, und es gibt keine gemeinsame Verständigung über die Frage, welche Ziele vordringlich realisiert werden sollen.

Diese Strategie ist ein direktes Korrelat des Preismechanismus, der als ideales Mittel zur Ressourcenallokation verstanden wird. Daher hat sich die ökonomische Neoklassik auch direkt auf Bentham bezogen. Im Idealfall übertragen die Preise zu minimalen Kosten Informationsfragmente, die sich automatisch zu einer Gesamtinformation zusammensetzen. Auf diese Weise, so wird angenommen, wird ein höherer Grad an gesellschaftlicher Koordination erzielt, als es irgendeine planende Institution gewährleisten könnte. Aus dieser Perspektive verzerrt die Intervention einer Zentrale nur den Informationsfluss und verhindert eine optimale Steuerung.

Für Bentham ist die Maximierung des allgemeinen Glücks der Schlüssel zu einem vernünftigen Gemeinwesen. Wir tun uns sozusagen nur wegen eines sozioökonomischen Skaleneffekts zusammen, denn gemeinsam erreichen wir mehr Gesamtglück als getrennt. Jede kollektive Handlung, die darauf abzielt, den sozialen Zusammenhang zu organisieren, auch der christliche Altruismus, erschwert und behindert nur die individuelle Glückssuche, die das einzig vernünftige Motiv unseres Zusammenschlusses ist. Der natürliche Gemeinschaftssinn – Loyalität, Konsens, gemeinsame Reflexion, persönliche Bindungen usw. – zerstört demnach die rationalen Grundlagen der Gesellschaft. Seitdem ist diese Gesellschaftsphobie ein zentrales Motiv des liberalen Denkens, zu der sich allerdings nur seine ehrlichsten, brillantesten und moralisch abstoßendsten Vertreter wie der Ökonom Milton Friedman offen zu bekennen wagen:

Für den Liberalen [ist] das Ideal die Übereinstimmung von verantwortlichen Individuen, die aufgrund freier Diskussionen erreicht worden ist. […] So betrachtet besteht die Funktion des Marktes darin, dass er Übereinstimmung ohne Konformität zulässt, eine echte repräsentative Vertretung. Auf rein politischem Gebiet scheint andererseits ein bezeichnendes Merkmal zu sein, dass grundlegende Konformität wünschenswert oder gar erforderlich ist. Typische Streitfragen müssen mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ beantwortet werden; bestenfalls kann eine begrenzte Anzahl von Alternativvorschlägen mit eingeplant werden. Auch die Anwendung der repräsentativen Vertretung in ihrer rein politischen Form kann daran nichts ändern. Die Anzahl der einzelnen Gruppen, die wirklich repräsentiert sein können, ist stark begrenzt, besonders wenn man sie mit der proportionalen Repräsentation des Marktes vergleicht. […] Die Anwendung politischer Mittel, auch wenn sie unvermeidbar sind, kann das für eine stabile Gesellschaftsordnung notwendige soziale Gefüge erschüttern. […] Die weit verbreitete Wirksamkeit des Marktes verringert die Belastung der sozialen Struktur, indem er Konformität im Hinblick auf alle damit im Zusammenhang stehenden Aktivitäten überflüssig macht. Je mehr Aktivitäten durch den Markt erfasst werden, umso geringer ist die Zahl der Probleme, die eine eindeutige politische Entscheidung und Einigung erfordern.[10]

Die Marktutopie ermöglicht es uns, unsere Wünsche zu befriedigen, ohne dafür ein enges Netz familiärer, religiöser, affektiver oder ständischer Beziehungen aufbauen zu müssen. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen dem Kauf eines Paars Schuhe in einem Geschäft und jenem ritualisierten und ermüdenden Austausch von Geschenken, den wir Weihnachten nennen. Die Liberalen erklären uns, dass wir nicht wie Homers Griechen sind. Auf dem Markt können wir Dreifüße, Bronzeschmuck und Weinschläuche erwerben, ohne dabei in blutige Schlachten, Streitereien mit launischen Gottheiten oder stumpfsinnige Liturgien verwickelt zu werden.

Doch Bentham war noch sehr viel ehrgeiziger, denn er versuchte, dieses Vorhaben auch auf die repressive Dimension des gesellschaftlichen Lebens auszuweiten. Gelegentlich wird das politische Projekt der US-amerikanischen Neokonservativen ironisch als Rechtskeynesianismus bezeichnet, der seiner Rhetorik nach zwar liberal, in Wirklichkeit jedoch zutiefst interventionistisch sei. Seit der Präsidentschaft Reagans wird obsessiv von der Notwendigkeit gesprochen, den Einfluss des Staates zugunsten der Marktkräfte zurückzudrängen – was in Bereichen wie dem Gesundheits- oder Bildungswesen auch tatsächlich geschehen ist. Gleichzeitig jedoch sind die öffentlichen Ausgaben für Militär, Polizei und Gefängnisse exponentiell gestiegen. Bentham hingegen war konsequenter. Der aufrichtige Utopist in ihm konnte nicht akzeptieren, dass nicht auch der Repressionsapparat nach liberalen Grundsätzen eingerichtet werden sollte.

Das Projekt, dem er am meisten Zeit, Geld und Energie widmete, war das Panoptikum. Dabei handelt es sich um ein architektonisches und organisatorisches Konzept, das in jeder Institution angewandt werden kann, in der Überwachung eine Rolle spielt: in Schulen, Krankenhäusern, Kasernen, Fabriken und vor allem Gefängnissen. Die überwachten Personen werden in Einzelzellen untergebracht, die strahlenförmig in einem ringförmigen Gebäude angeordnet sind, während die Wärter einen Turm im Zentrum besetzen. Eine Reihe von Konstruktionsdispositiven – verschiedene Höhenanordnungen, Wachgänge, Jalousien, Sichtblenden, Kommunikationssysteme … – sorgt dafür, dass die Wärter die Gefangenen kontrollieren können, ohne selbst gesehen zu werden.