Geh nicht so fügsam in die dunkle Nacht - Dorothea Kleine - E-Book

Geh nicht so fügsam in die dunkle Nacht E-Book

Dorothea Kleine

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Beschreibung

Die Lebenserinnerungen der bekannten Autorin Dorothea Kleine (1928-2010) zeugen von einer einfühlsamen, aufrechten, unbestechlichen Beobachterin der Zeit, die mit Schafsinn, Aufrichtigkeit, Leidenschaft und ganz ohne Bitterkeit von ihrem Leben berichtet, vom Verlieren und Gewinnen, von Flucht, den frühen Jahren des Aufbruchs der DDR und den deutlichen Zeichen deren Niedergangs, von Enttäuschung und Abschieden. Ein fein gezeichnetes Bild, das eine außergewöhnliche Persönlichkeit offenbart. Bekanntlich ist es eine Stärke der Autorin, episodisch zu erzählen, was sie in ca. 20 Büchern und zahlreichen Filmen bewiesen hat - ein Buch und ein Film wurden in der DDR verboten. Das bedeutsame individuelle Erlebnis, literarisch aufgearbeitet, erregt allgemeines Interesse durch die Ehrlichkeit, mit der hier jemand mit sich, seiner Zeit und seiner Umwelt ins Gericht geht. Erzählt wird zudem mit großer emotionaler Intensität. Leider konnte Dorothea Kleine ihre Erinnerungen nicht beenden. Der Text ist ein Fragment - so wie unsere Erinnerungen und unser aller Leben Fragmente sind…

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Seitenzahl: 232

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Dorothea Kleine

Geh nicht so fügsam in die dunkle Nacht

Erinnerungen

© 2021 Dorothea Kleine

hrsg. von Susanne Lüders, mit einem Nachwort von Susanne Lüders

Erstmals erschienen 2010 im BS-Verlag, Rostock

Der Titel des Buches stammt aus einem Gedicht von Dylan Thomas

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlagfoto: Anja Koch, Magdeburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-28791-4

Hardcover:

978-3-347-28793-8

e-Book:

978-3-347-28792-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

Ein kalter Tag im Januar 1945

Tante Maria

Eine noble Wohnung

Berta

Dresden

Im Sudetenland

Eine mögliche Version

Wieder in Deutschland

Sommerstein

Thomas Mann und J. W. Goethe

Elisabeth und Johanna

In Berlin

Magdeburg

Johanna und Elisabeth

Folgen einer Überschwemmung

17. Juni 1953

Die Magdeburger Volksstimme

Auf andere Art so große Hoffnung

Die Mädchen heiraten

Eine unappetitliche Geschichte

Das Haus in der Ottilienstraße

In der Charité

Das neue Leben

Mord im Haus am See

Cottbus und der Schriftstellerverband

Anette

In der Hölle und im Himmel

Sagneinzumleben.

Die Reise nach Finnland

„Ich will viel reisen und viel sehen.“

eintreffe heute

Ein zweiter Solar plexus

Saarbrücken

Amerika

Nichts bleibt, wie es ist

Nachwort

Ein kalter Tag im Januar 1945

Ein fremder Soldat stand plötzlich in unserer Wohnküche. Er sagte zu meiner Mutter, sie müsse weg und das schnell, zum Packen wäre keine Zeit. Der Russe stünde nur wenige Kilometer vor der Stadt. In etwa zwei Stunden wäre er da. Die Mutter sah ihn ungläubig, vielleicht skeptisch an. Sie wusste, ihr Bruder Paul hatte den Soldaten geschickt, sie zu warnen. Paul war hoher Offizier der Wehrmacht, eingesetzt im Raum Oppeln und sehr um sie besorgt. Mutter musste davon ausgehen, dass er authentische Kenntnisse über den Vormarsch der Russen hatte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Der Soldat setzte drängend nach, in wenigen Stunden wäre es zu spät.

Das Haus, in dem wir wohnten, war ein altes Patrizierhaus, von wildem Wein umwachsen mit einem prächtigen Balkon. Bis auf die Hausbesitzerin, die krank im Bett lag, war das Haus leer. Die Mieter waren geflüchtet, gepeinigt von dem Gedanken erschlagen, ausgeraubt, vergewaltigt und erschossen zu werden. Das war die Information, die der Blockwart verbreiten ließ. Die Untermenschen aus dem Osten sind in unser Land eingefallen, sagte er, sie sind grausam, blutrünstig und unmenschlich, sie fressen kleine Kinder und töten jeden Deutschen.

Mutter hatte sich diesem Szenarium aus Drohung und Nötigung lange entzogen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat. Sie war geblieben, als alle anderen gegangen waren. Erst die Warnung ihres omnipotenten Bruders nahm sie notgedrungen ernst.

Meine Mutter war eine kluge, eine schöne Frau. Sie hieß Anna, für mich der schönste aller weiblichen Vornamen. Unsere Mutter stammte aus einem großbürgerlichen Haus, in ihrer Sippe tummelten sich Akademiker, ein General, zwei Großgrundbesitzer und sogar ein Bischof. Mutter war in einem katholischen Mädchenpensionat erzogen worden. Sie kannte alle Regeln guten Benehmens der gehobenen Gesellschaft.

Im Grunde ihres Herzens war sie eine unpolitische Frau mit einem stark ausgeprägten Beschützerinstinkt. Für sie gab es nur ihre fünf Kinder. Bernhard, der Älteste, Karl war 18, ich gerade 16, Elisabeth 10, und Johanna 8 Jahre alt. Bernhard und Karl hatten sich, auf Anraten von Onkel Paul, freiwillig zur Marine gemeldet, um der Zwangsrekrutierung zur Waffen-SS zu entgehen.

An jenem Tag im Januar 1945, an dem unsere Odyssee begann, lebten meine Brüder noch. Sie fielen, alle beide, ein paar Monate später. Das brach der Mutter das Herz. Auch alle anderen Jungen unserer großen Familie, sieben an der Zahl, alle im Alter um die 20, sind im Krieg geblieben.

Mutter gab dem fremden Soldaten etwas zu essen, dann ging er. Danach verließen auch wir die Wohnung. Mutter verschloss sorgfältig die Tür, als machten wir einen Ausflug und kämen am nächsten Tag zurück. Dann gingen wir hinaus auf die Straße in eine leere, unwirtliche Welt, ins Ungewisse.

An das, was dann geschah, kann sich keine von uns drei Schwestern genau erinnern. Wir haben unterschiedliche Erinnerungen. Ich will mich an meine Erinnerung halten, sie scheint mir die zuverlässigste zu sein.

Die Straße war leer, kein Mensch war weit und breit zu sehen. Wir standen vor dem Haus, wussten nicht, wohin wir uns wenden sollten, sollten wir in die Stadt gehen, zum Rathaus, oder besser in den Wald, wo wir uns verstecken konnten, oder war es vernünftiger, zum Bahnhof zu gehen. Man könnte dort in einen Zug steigen und zu unseren Verwandten fahren, die außerhalb der Gefahrenzone wohnten.

Wir entschieden uns für den Bahnhof. Johanna und Elisabeth hatten nicht begriffen, dass es um Leben und Tod ging. Dass wir in eine Situation geraten waren, die wir nicht mehr beherrschten, wo der Zufall über unser Leben entschied, wo nichts Gültigkeit hatte. Für ein Kind ist das Ungewohnte fremd und aufregend, es sieht nicht den ernsten Hintergrund, ist auch nicht in der Lage, größere Zusammenhänge zu erkennen.

Meine kleinen Schwestern waren weder zickig noch zimperlich, für sie hatte die Situation noch einen Hauch von Abenteuer. Dieses Gefühl sollte sich bald legen. Mit zunehmenden Problemen, es waren inzwischen existentielle Probleme geworden, wuchsen beide Mädchen über sich hinaus, zeigten Einsicht und Verständnis. Viel später entstand zwischen uns dreien eine Art Komplizenschaft, der wir unser Überleben verdankten.

Zurück zu unseren ersten Schritten auf der Flucht. Als wir ein Stück gegangen waren, blieb meine Mutter plötzlich stehen, sie hatte die Tasche mit unseren Papieren zu Hause liegen gelassen. Was sollten wir machen? Die Zeit drängte. Wir hatten etwa zwei Stunden Zeit, wenn wir nicht in den Sturmangriff der Russen geraten wollten. War es sinnvoll umzukehren, die Tasche zu holen? Verloren wir da nicht zu viel Zeit? Mutter entschied, sie würde allein zurückgehen, wir sollten langsam weiter gehen. Sie würde uns schnellen Schrittes einholen, noch bevor wir den Bahnhof erreicht hätten.

Wir wohnten damals in Bolko, einem Vorort von Oppeln. Der Bahnhof war vielleicht drei Kilometer entfernt, das hieß, wir hatten ungefähr eine Stunde zu gehen. Der Weg führte über eine Eisenbahnbrücke. Die Gleise lagen verödet da, kein Zug fuhr. Die Straße war tot, kein Mensch war zu sehen, kein Auto, kein Pferdewagen, nur ein paar Hunde, die von ihren Herrchen ausgesetzt worden waren. Sie drängten sich frierend an eine Mauer.

Ich hielt Johanna an der einen, Elisabeth an der anderen Hand, so gingen wir durch eine tote Welt, vorbei an einer Zementfabrik, die in ihrer Regungslosigkeit gespenstisch wirkte. Wir blieben oft stehen, sahen nach unserer Mutter. Aus der Ferne kam Maschinengewehrfeuer. Der Tag ging zu Ende, er hatte nichts Besseres verdient, es wurde langsam dämmrig.

Endlich erreichten wir den Bahnhof. Die Schalter waren geschlossen.

Nirgendwo brannte Licht. Die Anzeigetafeln waren tot.

In der großen Halle standen Koffer, Taschen, Säcke, Möbelstücke, leere Kinderwagen, ein zusammengerolltes Federbett. Es war das zurückgelassene Gut der geflüchteten Menschen. Sie hatten ihre Habe stehen lassen, um in den letzten Zug zu gelangen. Ein Sturm hatte eingesetzt, als dieser Zug einfuhr. Was die Leute zu Hause gepackt hatten, das Nötigste, was sie zum Leben brauchten, blieb nun zurück. Mütter rissen ihre Kinder aus den Kinderwagen, es galt, das Kind zu retten, nicht den Wagen. Die Menschen hingen wie Trauben an Türen und Fenstern, als der Zug sich langsam in Bewegung setzte.

Wir standen zwischen diesem Gepäck, einsam und ratlos, was sollten wir nun tun? Ein alter Eisenbahner erschien von irgendwo her. Er hatte eine Laterne, die nach Karbid roch. Er kaute Kautabak, ein dünner Faden brauner Soße rann ihm aus dem Mundwinkel. Er schüttelte den Kopf, als er uns sah. Der letzte Zug ist ja nun weg, sagte er, er ist abgefahren. Nun fährt keiner mehr. Ich bin der Letzte auf dem Bahnhof, die andern sind alle weg. Ich gehe nicht, ich bin hier Rangierer, war mein Leben lang Rangierer, ich bleibe hier, sollen sie mich erschießen, es ist mein Bahnhof.

Er fragte, wo wir herkämen, was wir hier wollten, wo doch kein Zug mehr fahren würde, ob wir keine Mutter hätten oder jemanden, der auf uns aufpassen könnte, warum wir allein losgezogen wären.

Was sollten wir dem Mann sagen, wir hatten keine Antworten.

Ja und, fragte er, was fange ich jetzt mit euch an. Er überlegte, am besten ich bringe euch zum Rangierbahnhof, sagte er, dort steht ein Panzerzug, vielleicht nehmen sie euch mit. Es ist die letzte Möglichkeit wegzukommen.

Wir wussten nicht, was er damit meinte und was ein Panzerzug ist. Aber das konnte uns egal sein, wichtig war, wir kamen von hier weg. Wir zogen mit dem alten Mann los.

Es ging über Gleise und Schotter. Es war ein mühevoller Weg. Der Mann war es gewöhnt, über Gleise zu gehen, uns fiel es schwer, wir konnten ihm kaum folgen. Die Abstände zwischen den Bahnschwellen waren für die kurzen Beine der kleinen Mädchen zu groß. Sie konnten keine so großen Schritte machen, tappten daneben, rutschten ab. Das tat weh.

Es war kalt geworden. Wind trieb feuchten Schnee gegen uns. Johanna fing an zu weinen und auch Elisabeth wimmerte vor sich hin.

Wir näherten uns dem Panzerzug, den zwei Soldaten bewachten. Die Soldaten liefen neben dem Zug auf und ab, in immer entgegengesetzte Richtung. In der Mitte des Zuges trafen sie sich. Ich dachte, was geschieht, wenn sie uns entdecken, aber nicht erkennen, wer wir sind, wenn sie annehmen, ein Spähtrupp der Russen schliche sich heran, den Panzerzug in die Luft zu jagen?

Es war dämmrig geworden, graues, verschwommenes Licht lag über den Bahngleisen, diffuses Licht, das das menschliche Auge dazu verführt, in harmlosen Gegenständen gefährliches Potential zu vermuten.

Die Soldaten waren gar nicht in der Lage zu erkennen, wer auf sie zukommt, dass es drei Kinder und ein alter Mann waren.

Ich dachte, sie werden sofort auf uns schießen, sie müssen auf uns schießen, das ist ihre Aufgabe, es geht ja um ihr Leben.

Die Kinder ahnten nichts von der Gefahr. Elisabeth hatte sich erkältet, sie nieste. Ich legte ihr die Hand auf den Mund. Der Rangierer hob seine Karbidlampe, schwenkte sie hin und her und rief den Soldaten etwas zu. Sie stutzten, dann kamen sie uns entgegen. Die Gefahr war vorüber.

Es begann eine schwierige Verhandlung. Die Soldaten waren nicht bereit, uns an Bord zu nehmen. Zivilisten, sagten sie, dürften nicht in einen Panzerzug. Aber es sind doch Kinder, widersprach der alte Rangierer. Kinder sind auch Zivilisten, erklärte der Soldat.

Ich weiß nicht, was aus dem alten Rangierer geworden ist, ob er lebend davongekommen ist. Ich habe oft an ihn gedacht, immer mit dem Gefühl von Dankbarkeit. Er hatte erreicht, dass wir in den Panzerzug durften. Es war mühevoll hineinzukommen, einer hob uns, einer zog uns.

Endlich waren wir in Sicherheit. Man behandelte uns zunächst eher beiläufig, wie man Menschen behandelt, die man wieder loswerden möchte. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb ließ ich irgendwann durchblicken, dass wir Nichten eines hohen Offiziers waren, der in dieser Region eine kommandierende Rolle spielte.

Schlagartig verbesserte sich unsere Lage. Wir durften ins Offiziers-Quartier umziehen, bekamen besseres Essen. Plötzlich waren sie alle nett zu uns.

Elisabeth hatte sich eine Blasenerkältung geholt. Ich bangte darum, sie könnte das Bett des Mannes, der ihr sein Nachtlager überlassen hatte, nass machen, also stand ich jede Nacht auf und brachte sie zur Toilette.

In jener Nacht stand der Zug in einer Station. Ich öffnete die Tür, sah hinaus, erkannte den Namen einer Stadt. Plötzlich war mir klar, unsere Rettung war keine Rettung, wir waren nicht in Sicherheit, wir fuhren nicht in die Etappe, wir fuhren gen Osten in den Krieg. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir auf den Feind stießen. Niemand hatte daran gedacht, uns rauszusetzen. Der kommandierende Offizier war so sehr mit seinem Kampfauftrag beschäftigt, dass er nicht an uns, an die Kinder in seinem Zug, dachte. Wir mussten so schnell wie möglich aussteigen.

Tante Maria

Unsere Mutter hatte zwei Brüder; der eine hieß Paul, der andere Karl. Onkel Paul habe ich als einen Hünen in Erinnerung, seine Stimme war wie Donnergrollen. Von Beruf war er Philologe, Professor für alte Sprachen. Er heiratete eine kleine, zierliche Frau. Sie kam aus adeligem Haus und hieß Maria. Frauen dieser Art sind fromm, still und gehorsam. Die Familie des Onkels lebte in Neiße. Das Ehepaar hatte drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Die Söhne sind im Krieg geblieben, Tochter Barbara wurde Religionslehrerin.

Im Haus des Onkels ging es förmlich zu. Bei Tisch durfte nicht gesprochen werden. Jeder hatte sein Besteckbänkchen und mit seinem Monogramm bestickte Servietten. Es musste gegessen werden, was auf den Tisch kam. Ich hatte meine Ferien gelegentlich im Haus des Onkels verbringen müssen. Mutter war dem fatalen Irrtum erlegen, ich könnte dort lernen, wie man sich in der besseren Gesellschaft zu benehmen hat.

Das Verhältnis meiner Mutter zu ihren Brüdern war gut und herzlich, wenngleich gerade Onkel Paul ein wenig auf uns und unseren Hausstand herab sah. Er war der Meinung, sie habe unter ihrem Stand geheiratet.

Seit der Stunde, da wir aus dem Panzerzug gestiegen waren, kreisten meine Gedanken um die Stadt Neiße und um Tante Maria. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten, wer uns aufnehmen würde, wo wir unsere Mutter wiederfinden konnten. Ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie nach Neiße, in das Haus ihres Bruders, gefahren war, dort auf uns wartete.

Ich sagte den Mädchen, ich wüsste, wo unsere Mama ist. Darauf brachen sie in ein Freudengeschrei aus und verlangten, dass wir sofort dahin gehen sollten. Die Mädchen vertrauten und gehorchten mir, was zu Hause nicht immer der Fall gewesen war.

Über Nacht war ich ihre Ersatzmutter geworden. Sie begaben sich widerstandslos unter meine Herrschaft.

Ihnen blieb nichts anderes übrig. Mama ist bestimmt in Neiße, sagte ich. Ist doch klar, in der Not flüchtet man zu seinen Verwandten. Die Mädchen waren nur zu gern bereit, dieser Logik zu folgen. Dann lass uns endlich dahin gehen, sagten sie.

Leicht gesagt, ich hatte keine Ahnung, wie weit es von Heidebreck, dort hatte man uns aus dem Panzerzug ausgeladen, also wie weit es von dort nach Neiße war. Waren es sieben Kilometer oder siebzig, zwanzig oder hundert? Und wie sollten wir dahin kommen? Ich weiß bis heute nicht, wie wir es geschafft haben. Die Freude, Mutter wiederzusehen, trieb uns voran.

Wir kamen in ein kleines Dorf, die Nacht brach herein, wir suchten einen Platz, an dem wir übernachten konnten. Die Bauernhäuser waren mit Brettern vernagelt, die Fenster verhangen, aus dem Schornstein stieg kein Rauch, Hunde kläfften, wenn wir uns einem Gehöft näherten. In der Ferne sahen wir einen Kirchturm. Eine Kirche. Auf dem Weg dahin betete ich inbrünstig, lieber Gott, lass die Kirche nicht vernagelt sein. Ich legte meine Hand auf die Klinke, die eisige Kälte ging wie ein Schlag durch den Körper. Die Tür ging auf, die Kirche war nicht verschlossen. Es war wie ein Geschenk.

Im Kirchenschiff war es dunkel. Am Altar brannte eine Kerze. Ein Pfarrer kam. Wir redeten miteinander, bekamen heißen Tee und ein Stück Brot. Die Nacht verbrachten wir in der Kirche. In der nächsten Ortschaft, sagte der Pfarrer, etwa zehn Kilometer entfernt, wäre ein Bahnhof, von dort kämen wir mit einem Zug nach Neiße, wenn die Züge noch fahren sollten. Wir verabschiedeten uns und zogen weiter.

Wir liefen auf eine Ortschaft zu, nahmen den Weg durch den Wald, der kalte Wind konnte uns dort nichts anhaben.

Über die Landstraße zog sich ein Flüchtlingstreck. Die würden uns ein Stück mitnehmen, sagte ich den Kindern. Wir rannten über ein gefrorenes Feld, erreichten den Treck, der sich langsam vorwärts bewegte. Flüchtlingstrecks glichen, von reichen Bauern organisiert, einer in sich geschlossenen Festung. Nur die besaßen die Pferde und die Wagen und genug zu essen. Die Menschen auf den Wagen saßen im Stroh, in Mäntel und Decken gehüllt.

Treckführer war meist ein alter Bauer, den man nicht mehr zur Wehrmacht hatte ziehen können. Wenn so einer auf dem Bock saß, hatten wir selten Glück. Die nahmen nie Flüchtlinge auf. Anders war es, wenn eine Bäuerin auf dem Bock saß. Frauen haben ein sensibleres Verhältnis zu Kindern. Von Frauen wurden wir oft mitgenommen, bekamen mitunter sogar zu essen.

Außer Atem vom langen Lauf über das Feld, erreichten wir den Zug. Eine Frau winkte uns heran. Wir kletterten auf ihren Wagen. Johanna sah die Frau dankbar an. Ich möchte immer fahren, sagte sie, meine Füße tun mir so weh.

Am nächsten Tag waren wir endlich in Neiße. Unsere Qual hatte ein Ende. Wir standen vor dem Haus, gingen die Treppe hinauf. Gleich würden wir Mama wiedersehen. Wir waren aufgeregt, unsere Freude war unbeschreiblich. Wir haben unser Ziel erreicht. Jetzt wird alles gut, sagten die Knirpse, wir fahren mit Mama nach Hause. Mit Mama lösen sich alle Probleme, der Krieg ist vorbei, es gibt keinen Fliegeralarm, die Kanonen hören auf zu donnern und wir haben wieder genug zu essen. Sie freuten sich. Ich versuchte nicht, sie zu korrigieren, mir war plötzlich klar, sie hatten den Bezug zur Realität verloren, vermochten nicht mehr real zu denken, die Strapazen waren zu groß. Ihre kleinen Seelen konnten das Leid nicht verkraften. Ihr ganzes Wesen war auf Erlösung eingestellt, die Erlösung kommt nur von der Mutter. Ungeduldig drängten sie zum Haus, dort wartete ihre Mama auf sie.

Wir klingelten. Es dauerte eine Weile, bis sich hinter der Wohnungstür etwas regte. Dann ging die Tür auf, Barbara, unsere Cousine, ließ uns ein. Sie war erstaunt, begrüßte uns, fragte, wie es uns ginge. Dann rief sie in die Wohnung: Komm mal schnell, die Oppelner sind da. Tante Maria kam aus einem der hinteren Zimmer. Sie zog uns in die Wohnung, umarmte uns. Wo kommt ihr her? fragte sie. Und wo ist eure Mutter? Ich sah die Kinder an, sie begriffen nicht, welch schrecklicher Sinn in dieser Frage lag.

Können wir hier auf Mutter warten? fragte ich, Mama kommt ganz bestimmt hier her, wo soll sie denn sonst hin.

Das geht leider nicht, sagte Tante Maria, hier könnt ihr nicht bleiben. Wir gehen auch weg, bald schon, es ist schon alles gepackt.

Jetzt erst sah ich die Kisten und Koffer im Korridor. Ich dachte, wahrscheinlich hat Onkel Paul ein Auto organisiert, einen Soldaten abgestellt, der Frau und Tochter in Sicherheit bringt.

Eine Nacht könnt ihr bleiben, sagte die Tante, dann müsst ihr wieder gehen. Nun weint mal nicht, ihr werdet eure Mutter schon finden.

Wir bekamen eine warme Mahlzeit, Barbara packte Brot und Wurst in eine Tasche. Am Morgen des nächsten Tages verabschiedete uns Tante Maria, wünschte uns viel Glück.

Zwölf Stunden später traf unsere Mutter dort ein.

Oh mein Gott, sagte Tante Maria, die Kinder sind gerade weg. Mutter blieb eine Nacht bei ihrer Schwägerin, zog weiter, uns zu suchen.

Wieder waren wir auf der Straße. Die kleinen Mädchen waren stumm geworden, sagten kein Wort, jammerten nicht, weinten nicht, sie waren wie nicht mehr von dieser Welt. Ich ließ sie in Ruhe, irgendwann, dachte ich, wird alles wieder gut.

Mit hilflosem Zorn und auch Neid im Herzen zogen wir weiter. Tante Maria fährt nicht ins Ungewisse, dachte ich, sie hat eine Adresse, weiß, wo sie in Sicherheit ist. Es ist vielleicht das Haus einer ihrer adeligen Verwandten. Hätte sie uns nicht mitnehmen können?

Tante Maria war in einem Ort nahe Köln untergekommen. Sie blieb dort bis Kriegsende, nach Kriegsende kam Onkel Paul dazu. Er bekam eine Professur an der Universität in Köln. Ich habe Tante Maria nicht wiedergesehen.

Eine noble Wohnung

Eine Sechzehnjährige hat nur geringe Kenntnisse von der militärischen Strategie, ihr sind auch die taktischen Feinheiten weitgehend verborgen. Deshalb wusste ich auch nicht, wo die Kampflinie verläuft. Nach meiner naiven, von jeder Kenntnis ungetrübten Logik konnte es drei Möglichkeiten geben, entweder verlief die Front gerade, wie mit dem Lineal gezogen, sie konnte aber auch im Zick-Zack verlaufen. Es konnte aber auch sein, dass der Russe einen Ring um die deutschen Stellungen legt. Dann hätte er seinen Feind im Schwitzkasten, rückte ihm von allen Seiten auf den Pelz.

Für uns Herumirrende waren solche kriegstaktischen Überlegungen von Bedeutung. Uns war nämlich wenig daran gelegen, in einen Kessel zu geraten, abgeknallt und unter den Gefallenen verbucht zu werden. Es hatte auch wenig Sinn, dahin zu gehen, wo in den nächsten Stunden der Feind einzieht. Bedauerlicherweise war niemand da, der uns diese wichtigen Fragen beantworten konnte.

Als wir in Lauban eintrafen, wussten wir nicht, wie weit wir von der Frontlinie entfernt waren. Auf dem Marktplatz sah ich eine Gruppe Soldaten, sie standen um einen Panzerspähwagen und zwei Geländewagen herum. Ich ging auf die Soldaten zu, sprach den Offizier an, erklärte ihm unsere Lage. Soldaten waren unsere natürlichen Verbündeten, ihre Lage war genauso unerfreulich wie unsere. Aus einem instinktiven Gefühl von Solidarität heraus halfen uns Soldaten immer weiter. Manchmal gab man uns sogar etwas zu essen, manchmal nahm man uns ein Stück mit, mitunter half uns schon eine Information weiter.

In Lauban war alles anders. Da geschah etwas Sonderbares. Nach dem Gespräch mit dem Offizier rief er einen Soldaten heran. Wir stiegen in ein Auto und fuhren durch die Stadt. Vor einem Mietshaus in gut bürgerlichem Stil hielt er an, stieg mit uns die Treppe hoch. Vor einer Wohnung im ersten Stock blieb er stehen, schloss die Tür auf, ließ uns eintreten, führte uns durch die Wohnung, sagte, hier könnten wir eine paar Tage bleiben.

Mir war die Sache ein wenig unheimlich. Ich fragte, wo die Besitzer sind und was passieren würde, wenn sie plötzlich auftauchten.

Der Soldat sagte, die Leute sind geflüchtet, wären unterwegs in den Westen, es ist unwahrscheinlich, dass sie zurückkämen. Wir könnten uns frei bewegen, als wären wir zu Hause.

Es war die vornehme Wohnung wohlhabender Leute. In der Flurgarderobe sah ich einen Pelzmantel hängen. Mein Gott, ein Pelzmantel, ein Königreich für einen Pelzmantel. Was war begehrter in diesem grausig kalten Winter als ein Pelzmantel?! Warum hatte die Frau den Mantel nicht angezogen, hatte sie zwei davon? Vielleicht wollte sie ihn auch nur schonen.

In der Speisekammer standen Gläser mit eingewecktem Obst. Was für eine Versuchung. Wir wagten nicht, ein Glas aufzumachen. Schweren Herzens gelobten wir, allen Verlockungen zu widerstehen. Wir nahmen, was uns vor dem Hungertod bewahrte, Brot, Schmalz, Leberwurst, Limonade, Kekse von Weihnachten.

Das Badezimmer wurde zum eigentlichen Erlebnis. Dann gingen wir schlafen, jeder hatte ein Bett ganz für sich allein, deckten uns mit richtigen Federbetten zu.

Der Traum dauerte zwei Tage. Dann wurden wir aufgefordert, uns registrieren und in ein Flüchtlingslager einweisen zu lassen. Ich dachte nicht daran, das zu tun. Wir wollten in kein Flüchtlingslager. Wir suchten unsere Mutter. Und die saß auf keinen Fall in einem Flüchtlingslager. Mit kindlichem Ordnungssinn und naiver Bewertung der tatsächlichen Lage, dass alles bald in Schutt und Asche liegen würde, räumten wir die Wohnung auf, sorgten dafür, dass alles war, wie wir es vorgefunden hatten. Die Glasschüssel, die mir zu Bruch gegangen war, warf ich schuldbewusst in einen Mülleimer.

Außer Brot und ein Stück harter Wurst nahmen wir nichts mit.

Die nächste Station war Liegnitz. Meine navigatorischen Fähigkeiten hatten sich inzwischen erfreulich entwickelt. Ich fand schnell heraus, wo es in den Städten zum Bahnhof ging, möglicherweise keine ungewöhnliche intellektuelle Leistung.

Bahnhöfe spielten in dieser Zeit eine besondere Rolle. Ein Bahnhof war nicht nur ein Bahnhof, also ein Ort, wo die Züge hielten, Menschen wegfuhren oder ankamen. Ein Bahnhof war damals viel mehr, er war zum Sammelplatz versprengter Menschen geworden. Er war auch Informationsbörse, Treffpunkt für Flüchtlinge, Treffpunkt armer, unglücklicher Seelen. Wenn man nicht wusste, wo man hingehen sollte, ging man zum Bahnhof. Dort begegnete man den Betroffenen, man konnte reden, sich trösten. Und man bekam Informationen, zum Beispiel erfuhr man, wie die Lage in ganz bestimmten Orten war.

Und manchmal hielt sogar ein Zug. Man konnte einsteigen, gleichgültig, wohin er fuhr. Im Wartesaal hing ein Brett, daran hefteten Nachrichten, Mitteilungen, Adressen, Hilferufe, Hinweise, da stand manchmal auch nur ein Satz: Marta, ich suche dich so sehr. Ich war dabei, wie eine Frau ihren alten Vater ganz zufällig wiederfand und unendlich glücklich darüber war.

Menschen auf der Flucht haben nichts zu verlieren. Die sozialen Schranken sind aufgehoben. Man geht wie selbstverständlich aufeinander zu, fragt: Wo kommst du her? Wie sieht es in der Stadt aus, kennst du das Haus am Markt gegenüber der Apotheke, steht es noch? Wie verläuft die Front? Wo steht der Russe? Wen hast du getroffen? Das waren Fragen, von denen unser Leben abhing. Meine Sympathie für Bahnhöfe hat sich bis heute erhalten.

Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft tat mir gut, ich fühlte mich mit ihnen verbunden, ich war nicht mehr allein in dieser kalten, grausamen Welt. Nie wieder habe ich eine solche Atmosphäre von Zusammengehörigkeit, Hilfsbereitschaft erlebt. Es war die grenzenlose Not, die uns vereinte, die alle gleich machte. Kann sein, dass manche Menschen das erst begriffen, als sie selbst am Ende waren. Not scheint das bestimmende Element zu sein, durch das sich der Mensch auf seine Menschlichkeit besinnt.

In Liegnitz gab es eine funktionierende Bahnhofsmission vom Roten Kreuz. Eine Schwester brachte den Kindern einen Napf mit heißer Suppe. Die Mädchen stürzten sich auf die Suppe und mampften los. Die Schwester stand daneben, sagte tadelnd: Gebt eurer Mutter auch was ab.

Ich dachte, hat die Frau einen Sehfehler. Das kann es doch nicht sein, dass sie mich für die Mutter der beiden Mädchen hält. Oder hatte ich mich so verändert, dass ich tatsächlich schon so alt aussah? Vielleicht hatten mich die Wochen, die wir wie Obdachlose, immer in Angst, durchs Land zogen, alt gemacht? Ich war doch erst sechzehn.

Es war lange her, dass ich in einen Spiegel geschaut hatte, wozu auch. Da war keiner, der mich zur Kenntnis nahm. Es interessierte niemanden, was ich an hatte. Für keinen der Flüchtlinge ging es um Schick und Charme, es ging nur um unser Leben.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich dabei war, einen Teil meiner Jugend einzubüßen. Statt mit Freunden um die Häuser zu ziehen, ins Kino zu gehen oder was man sonst so anstellt, wenn man jung ist, vertrat ich Mutterstelle.

Ich war ständig auf der Hut, dass uns nichts passierte, wir wollten den Krieg gesund überstehen. Ich hatte dafür zu sorgen, dass die Mädchen jeden Tag etwas zu essen hatten, dass wir nachts nicht auf der Straße schliefen. Ich musste aufpassen, dass die Kinder nicht krank wurden, wo hätte ich einen Arzt hernehmen sollen. Und ich musste dafür sorgen, dass die Kleinen den Mut nicht verloren. Ich gab ihnen die Sicherheit, wir werden unsere Mutter finden.

Die Aufgaben eines Erwachsenen zu lösen, macht erwachsen. Als ich am Ende meiner Überlegungen angekommen war, hatte ich Zweifel, ob ich überhaupt noch den Mut haben werde, in einen Spiegel zu schauen.

Berta

Der zweite Bruder meiner Mutter hieß Karl, war Rektor einer großen Schule in Malapane. Onkel Karl hatte seine Cousine Franziska geheiratet, sie wurde von allen Franja gerufen. Tante Franja hatte das klare, strenge Profil einer klassischen Schönheit. Sie war Onkel Karls große Liebe, blieb es bis zu ihrem Tod. Das Paar hatte vier Kinder, drei Mädchen und einen Jungen. Die Ferien, die ich dort verbringen durfte, waren heiter und unbeschwert. Die Tante mochte mich, deshalb fuhr ich gern hin.

Ein besonderes Erlebnis ist mir im Gedächtnis geblieben. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt, die Ferien waren zu Ende, ich sollte wieder nach Hause fahren, da nahm mich die Tante beiseite und sagte die bedeutenden Worte: Wenn du nächstes Jahr kommst, kriegst du das Fahrrad von Eva, sie ist dann groß und braucht ein größeres.

Für mich ein Ereignis von Weltbedeutung. Ein Jahr lang träumte ich davon, auf meinem kleinen Rad zu fahren. Ich radelte durch die Stadt, über Felder und Wälder, beneidet, bewundert von meinen Freundinnen. Ich war glücklich, wurde folgsam, ordentlich, schwänzte die Schule nicht mehr, ging Sonntagvormittag in den Kindergottesdienst, anstatt wie sonst heimlich ins Kino. Ich wollte durch ungebührliches Benehmen meine Chancen nicht aufs Spiel setzen.

Ich habe das Fahrrad nicht bekommen. Noch bevor das Jahr um war, brach der zweite Weltkrieg aus, verhinderte, dass mein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging. Mit den Ferienreisen war es erst einmal vorbei.