Geisterpost - Raimund Eich - E-Book

Geisterpost E-Book

Raimund Eich

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Beschreibung

Eine spannende Geschichte aus den fünfziger Jahren, zur Zeit der wirtschaftlichen Angliederung des Saarlandes an Frankreich. Eine Frau in den mittleren Jahren kann nach dem Tod ihres Mannes von der geringen Witwenrente alleine nicht leben. Sie erfährt, dass das erhoffte Geld aus einer Lebensversicherung, die er zu ihren Gunsten abgeschlossen hatte, bereits ein paar Jahre vor seinem Tod ausgezahlt wurde und spurlos verschwunden ist. Sie nimmt daher eine Arbeit in einem Waisenhaus an und schließt dort ein kleines Mädchen in ihr Herz. Doch haben ihre Bemühungen, das Kind bei sich zu Hause aufnehmen, auch Erfolg? Auf unerklärliche Weise tauchen nach einiger Zeit Briefe ihres verstorbenen Mannes auf, in denen er ihr ein dunkles Geheimnis verrät. Die Briefe sind echt und wurden erst nach seinem Tod verfasst, aber kann der Geist eines Verstorbenen tatsächlich noch Briefe schreiben? Entsprechen seine Angaben auch der Wahrheit und von wem wurde ihr die Post übermittelt? Viele Fragen, auf die sie verzweifelt eine Antwort zu finden versucht.

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Seitenzahl: 244

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Handlungen, Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Raimund Eich, Jahrgang 1950, lebt im Saarland. Seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2004 ist eine Reihe von Romanen erschienen, in denen er sich insbesondere mit gesellschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Themen befasst, in die er mitunter auch naturwissenschaftliche Aspekte in sehr anschaulicher Form mit einfließen lässt. Daraus resultieren einzigartige Geschichten, spannend, dramatisch, informativ und unterhaltsam zugleich.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Im Häuschen

Kapitel 2: Hoffnung

Kapitel 3: Gute Nachricht

Kapitel 4: Im Waisenhaus

Kapitel 5: Roswitha

Kapitel 6: Geheimnisvoller Brief

Kapitel 7: Unlösbares Rätsel

Kapitel 8: Heiligabend

Kapitel 9: Feiertage im Häuschen

Kapitel 10: Neue Nachricht

Kapitel 11: Verlustängste

Kapitel 12: Die Erkrankung

Kapitel 13: Rückkehr

Kapitel 14: Traurige Botschaft

Kapitel 15: Nächster Brief

Kapitel 16: An Norberts Grab

Kapitel 17: Das Versteck

Kapitel 18: Auf der Suche

Kapitel 19: Ab nach Memich

Kapitel 20: Krankenbesuch

Kapitel 21: Die letzte Nachricht

Kapitel 22: In Hollstädten

Kapitel 23: Rückkehr

Kapitel 24: Gespräch mit der Oberin

Kapitel 25: Der Besuch

Kapitel 26: Die Entscheidung

Nachbemerkungen

Kapitel 1: Im Häuschen

„Wo steckst du denn, Ulla? Machst du uns bitte mal die Haustür auf“, hörte Ursula Wagner ihre Schwägerin rufen. Als sie das Schlafzimmerfenster öffnete und nach unten blickte, sah sie Helga mit ihrer Tochter Monika im Vorgarten stehen.

„Die Tür ist nicht abgesperrt, Helga, sie klemmt nur ein bisschen. Warte bitte, ich komme gleich runter.“

Sie schloss das Fenster und ging durch den kleinen Vorraum, der über eine steile Stiege direkt mit der darunter liegenden Küche verbunden war. Sie hatte das kleine Haus in der Nähe des Oberen Marktes, in einem der ältesten Stadtviertel von Neunkirchen, vor etwa zwanzig Jahren geerbt, nachdem ihre Mutter verstorben war. Seitdem hatten Norbert und sie darin gewohnt. Die alten Häuser zwischen dem Brunnenweg und der Heizergasse mit ihren verwitterten Fassaden standen hier so dicht und verwinkelt zueinander, als wollten sie sich gegenseitig vor einem drohenden Einsturz schützen. Aber mit ihren dicken Mauern waren sie weitaus stabiler, als es die marode wirkende Bausubstanz auf den ersten Blick erkennen ließ, und sie hatten im Laufe der Zeit auch schon so manchen schweren Sturm überstanden.

Unser kleines Häuschen hatten sie ihr urgemütliches Zuhause liebevoll genannt. Im Erdgeschoss nur eine Küche und ein Wohnzimmer und im Stockwerk darüber nochmals zwei Zimmer mit Dachschrägen. Eine heile Welt, in der sie beide sich so lange glücklich gefühlt hatten, bis er …, sie verdrängte den Gedanken und öffnete ihrer Schwägerin die Küchentür, die direkt hinaus in den kleinen Vorgarten führte.

„Seit wann klemmt die denn?“, fragte Helga.

„Seit ein paar Tagen merke ich es“, erwiderte Ursula. „Sie hat sich wohl während der Hitzeperiode in den letzten Wochen etwas geworfen. Es ist jedes Jahr dasselbe. Norbert hat das immer irgendwie wieder hinbekommen, aber seitdem er nicht mehr da ist …“

„Aber warum sagst du uns denn nichts?“, wurde sie von Helga unterbrochen. „Karl kann die Tür bestimmt genau so gut richten wie Norbert.“

„Natürlich kann Karl das, aber ich will euch nicht auch noch damit belästigen. Ihr beide habt schon so viel für mich getan. Dabei habt doch selbst genug mit euch und Monika zu tun.“

„So ein Unsinn, Ulla, Karl und ich helfen dir doch gerne. Wir sind schließlich miteinander verwandt und für Karl als Norberts Bruder ist das ohnehin eine Selbstverständlichkeit.“

Ursula hatte sich noch immer nicht daran gewöhnen können, dass ihre Schwägerin sie grundsätzlich nur mit Ulla ansprach. Sie verkniff sich jedoch diesmal den stets vergeblichen Hinweis auf ihren richtigen Vornamen, weil sie froh über die willkommene Abwechslung war, die sie wenigstens für kurze Zeit die innere Leere vergessen ließ, die sie seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes empfand. „Ja, ich weiß“, erwiderte sie, „aber trotzdem muss ich lernen, alleine zurechtzukommen, auch wenn es mir noch so schwer fällt.“ Verstohlen wischte sie sich mit der Kittelschürze über die verweinten Augen.

Helga nahm sie kurz in den Arm. „Ich weiß, wie schwer es für dich ist. Du musst wohl noch oft an ihn denken?“

Ursula nickte und löste sich aus der Umarmung. „Es fällt mir schwer, überhaupt an etwas anderes zu denken. Besonders schlimm ist es, wenn ich, wie gerade eben, dort oben im Schlafzimmer bin. Doch am allerschlimmsten ist es nachts, wenn ich stundenlang wach liege und nicht begreifen will, dass ich ihn nie mehr neben mir spüren werde, aber …“, sie schüttelte den Kopf, „aber da ist nichts mehr Helga. Ich kann es einfach nicht länger ertragen, alleine in dem großen Doppelbett dort oben zu schlafen. Karl kann mir vielleicht die Tage helfen, mein Bett in den Vorraum zu stellen. Ich war gerade dabei, einen Teil von Norberts Kleidern im Schlafzimmerschrank auszusortieren. Von allen Sachen möchte ich mich eigentlich nicht trennen, aber Karl kann sich gerne das mitnehmen, was ihm passt und gefällt. Ich könnte auch einiges für ihn ändern, zum Glück habe ich ja noch die alte Nähmaschine von meiner Mutter.“

„Aber warum willst du dich denn mit dem kleinen Vorraum dort oben begnügen? Bleib doch einfach weiter in eurem Schlafzimmer.“

„Nein Helga, es ist jetzt nicht mehr unser Schlafzimmer. Ich fühle mich einfach so verlassen dort und der Gedanke, dass ich meine Nächte wohl für den Rest meines Lebens so verbringen muss, macht mich fast verrückt.“

„Aber du hast doch auch früher oft alleine geschlafen, ich meine, wenn Norbert mit dem Lastwagen unterwegs war.“

„Ja schon, aber das war doch etwas ganz anderes. Ich wusste schließlich, dass das allenfalls ein paar Tage dauert und dass er dann wieder nach Hause zurückkommt. Aber er kommt ja nicht mehr zurück.“ Krampfhaft versuchte sie, einen erneuten Tränenausbruch zu unterdrücken.

Helga spürte ihren Schmerz und versuchte sie zu trösten. „Ich kann mir denken, wie schwer das alles für dich ist, Ulla. Morgen ist Samstag, da kommt Karl etwas früher von der Arbeit nach Hause. Nach dem Essen kann er mal nach der Haustür schauen, und dein Bett können wir dann auch gleich im Vorraum aufstellen, wenn du es für besser hältst. Ich komme mit und helfe dir ein bisschen beim Aufräumen. Du hast ja eben die Nähmaschine erwähnt. Ich habe drüben noch das bunte Herbstkleid. Eigentlich wollte ich mir ja dieses Jahr etwas Neues kaufen. Aber ich glaube, das alte tut es auch noch ein bisschen länger. Könntest du mir vielleicht das Kleid etwas kürzer machen, denn eigentlich finde ich es noch ganz schön, nur die Länge, ich glaube, das ist heutzutage einfach zu altmodisch.“

Ursula schüttelte den Kopf. „Ich finde die Länge eigentlich genau richtig, aber ich verstehe, dass ihr Jüngeren einen anderen Geschmack habt. Bring das Kleid morgen einfach mit, ich kürze es dir natürlich gerne. Ich bin doch froh, wenn ich mich euch gegenüber wenigstens ein bisschen erkenntlich zeigen kann. Ohne euch hätte ich die schwere Zeit nach Norberts Tod kaum überstehen können. Heute sind es übrigens auf den Tag genau drei Monate her, seitdem er gestorben ist. Ich will deshalb nachher noch auf den Friedhof gehen. Ich habe heute auf dem Markt Heidekraut zum Einpflanzen gekauft. Das hält sich hoffentlich über den Herbst. Ich fahre ausnahmsweise mal mit der Straßenbahn, weil ich auch noch die Gießkanne, eine Grabkerze und eine Harke mitnehmen will.“

„Darf ich mit dir auf den Friedhof kommen, Tante Ursula“, fragte Monika und sah sie erwartungsvoll an.

Obwohl sie wusste, wie gerne ihre Nichte mit der Straßenbahn fuhr und vermutlich auch nur deshalb mitkommen wollte, schüttelte sie den Kopf.

„Nein, heute nicht“, nahm ihr Helga die Antwort aus dem Mund. „Du kannst ein anderes Mal mit Tante Ulla mitgehen. Außerdem musst du ja noch deine Hausaufgaben machen. Wir gehen gleich zusammen rüber, denn ich muss auch noch kochen. Heute gibt es Bohnensuppe und Pfannkuchen. Kommst du nachher zum Essen zu uns, Ulla?“

„Nein danke, esst ihr heute mal in Ruhe ohne mich. Ich habe noch ein großes Stück Brot und auch noch etwas Kochkäse übrig. Das genügt mir vollkommen, wenn ich vom Friedhof zurückkomme.“

„Wie du willst“, erwiderte ihre Schwägerin. „Karl und ich kommen dann morgen Nachmittag zu dir.“ Beim Rausgehen warf sie einen Blick auf den Rosenstrauch vor dem Küchenfenster. „Der Strauch hier hat dieses Jahr überhaupt nicht geblüht. Jammerschade, denn um die herrlichen roten Rosen habe ich euch immer ein bisschen beneidet. Was ist denn mit ihm?“

Ursula zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, um den hat sich eigentlich Norbert immer gekümmert. Manchmal glaube ich, dass selbst der Rosenstrauch um ihn trauert. Wenn er nächstes Jahr auch nicht mehr blüht, kann Karl mir dabei helfen, ihn wegzumachen.“

„Klar, aber vielleicht erholt er sich ja auch wieder. Also dann bis morgen.“

Nachdem Helga und Monika gegangen waren, zog sie das schwarze Kleid an, das sie sich für Norberts Beerdigung gekauft hatte. Dann verstaute sie das Heidekraut, die Kerze und die kleine Harke in einem Einkaufsnetz, griff sich die Gießkanne und ihre Handtasche und verließ das Haus in Richtung Oberer Markt. Vor dem Gasthaus Hopfenblüte stand ein mit Bierfässern beladenes Pferdefuhrwerk der Brauerei. Der Kutscher warf hinter der Wagenpritsche ein Strohkissen auf den Boden und rollte dann ein Bierfass herunter, das genau auf das Kissen fiel. Sein Gehilfe band sich eine Lederschürze um und trug das Fass in die Wirtsstube, während der andere mit einer spitzen Harke ein paar Eisstangen zum Kühlen von der Pritsche zog. Einige Kinder standen daneben und warteten sehnsüchtig darauf, dass die Stangen vom Wagen fallen und ein paar Eisstücke absplittern würden. Der Kutscher wusste das natürlich und verfehlte daher schmunzelnd bei der letzten Stange mit Absicht das Strohkissen, worauf sich die Kinder wie auf Kommando auf die quer über das Kopfsteinpflaster rutschenden Eisstücke stürzten, um mit ihrer Beute schnell um die nächste Ecke zu verschwinden. Hastig steckten sie die Eisbrocken in den Mund und begannen sie zu zerkauen, um sie dann genussvoll im Mund zergehen zu lassen.

An der Straßenbahnhaltestelle warf Ursula einen Blick auf den Fahrplan. Sie hatte Glück und brauchte nicht lange zu warten. Der Wagen war um diese Zeit ziemlich voll, aber ein junger Mann stand gleich auf und bot ihr seinen Sitzplatz an. Sie löste beim Schaffner einen Fahrschein bis hoch zur Station auf der Scheib und bezahlte mit einer Hundert-Franken-Münze. Der Schaffner, ganz ins Gespräch mit einem anderen Fahrgast vertieft, nahm die Münze ohne hinzuschauen und steckte sie zielsicher in eines der Magazine des Münzwechslers an seiner Schaffnertasche. Aus den anderen Magazinen entnahm er ein paar Zehn- und Zwanzig-Franken-Münzen und drückte Ursula das Rückgeld in die Hand, noch immer ohne den Blick vom anderen Fahrgast abzuwenden. Galoppwechsler nennt man so ein Ding, hatte ihr Norbert mal erklärt, aber warum das so heißt, das wusste er auch nicht. Die Geschicklichkeit des Mannes imponierte ihr. Wenn ich das jeden Tag so oft machen müsste, dann könnte ich die Münzen vielleicht auch mit der bloßen Hand erkennen und wüsste, wo man sie hineinstecken und wie viel man herausgeben muss, ohne hinzuschauen, kam ihr in den Sinn. Irgendwie erinnerte sie der in seiner Schaffneruniform etwas steif wirkende Mann an einen englischen Butler. Ob er wohl verheiratet ist?, dachte sie. Als er sich im selben Moment zu ihr umdrehte, um sich mit einem freundlichen Nicken für das Fahrgeld zu bedanken, errötete sie, nachdem ihr bewusst wurde, dass sie sich zum ersten Mal seit Norberts Tod in Gedanken mit einem anderen Mann beschäftigt hatte. Seinen fragenden Blicken wich sie mit einem Blick aus dem Fenster auf eine große Tafel mit Wahlplakaten aus. Ende Oktober würde überall im Saargebiet eine Volksabstimmung zum Saarstatut stattfinden, aber was es damit eigentlich auf sich hatte, wusste sie nicht so genau. Seit Norberts Tod kreisten ihre Gedanken ohnehin um alles andere als um Politik, für die sie sich auch sonst nie sonderlich interessiert hatte. Karl hatte ihr zwar vor ein paar Tagen erklärt, dass es bei der Abstimmung darum ginge, dass das Saargebiet bis zum Abschluss eines Friedensvertrages einen europäischen Status erhalten solle. Aber auf ihre Frage, was das denn eigentlich genau zu bedeuten hätte und was denn wäre, wenn die Leute dagegen stimmen würden, konnte er ihr auch keine richtige Antwort geben und hatte nur den Kopf geschüttelt. Ob sie denn nicht auch wolle, dass das Saargebiet wieder zu Deutschland komme, hatte er ihr stattdessen beinahe mürrisch erwidert. Sie erinnerte sich daran, dass es so etwas auch schon mal in den Dreißiger Jahren gab, als dieser Hitler in Deutschland an die Macht kam, der diesen grausamen Krieg angezettelt hatte. Seitdem hatte sie schreckliche Angst vor einem neuen Krieg und jedes Vertrauen in Politiker verloren. Sie verstand auch nicht, wieso es bis heute und damit über zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch immer keinen Friedensvertrag gab, obwohl doch zum Glück Frieden herrschte. Der Dicke muss weg, darum NEIN mit der DPS war auf einem Plakat zu lesen und Die Saar bleibt deutsch auf einem anderen. Andere Parteien wie die SPS warben mit Nie wieder Krieg - darum wähle europäisch. Sehr beeindruckend war ein Plakat, auf dem die Silhouette eines Adlers in einem blutroten Himmel zu sehen war, der über einem dunklen Kriegsgräberfeld schwebte, aus dem im Vordergrund der Schädel eines toten Soldaten ragte. Sie sind wieder da - die Nationalisten. Nicht mehr da sind 52 Millionen Tote des letzten Krieges!, war auf dem Plakat zu lesen. Und so etwas darf auch nie wieder passieren, dachte sie. Abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als die Straßenbahn an der nächsten Haltestelle ruckartig stoppte und sie dabei fast von der glatten Sitzbank gerutscht wäre. Auf der abschüssigen Fahrtstrecke fuhr der Triebwagen weiter durch die Hohlstraße hinunter zum Heusnersweiher. So sehr sie sich auch bemühte, während der Fahrt ruhig sitzen zu bleiben, immer wieder rutschte sie trotzdem hin und her, wenn der Wagen durch eine der vielen Kurven fuhr oder bremste und beschleunigte. Unten am Heusnersweiher wurde gerade ein altes Kettenkarussell abgebaut. Von der Neunkircher Kirmes hatte sie dieses Jahr überhaupt nichts mitbekommen. Obwohl sie früher gerne mit Norbert auf die Kirmes ging, hatte sie dieses Jahr darauf verzichtet, auch wenn sie eigentlich gerne mit Karl, Helga und den Kindern mitgegangen wäre, um wenigstens für ein paar Stunden auf andere Gedanken zu kommen. „Es ist sehr nett von euch, dass ihr mich mitnehmen wollt, aber ich würde euch doch nur den Spaß verderben. Mir steht einfach nicht der Kopf danach und ich will mir auch von niemand nachsagen lassen, mich schon kurz nach Norberts Tod als lustige Witwe zu amüsieren“, hatte sie Helga und Karl erklärt.

Auf der steilen Strecke zur Scheib hinauf sah sie zwei Männer eine große Ladung Kohle auf dem Trottoir durch ein schmales Kellerloch in einen Kohlenkeller schaufeln. Dabei fiel ihr ein, dass sie unbedingt in den nächsten Tagen auch mal Zuhause nachschauen musste, ob ihr Kohlenvorrat für den nächsten Winter ausreichen würde, denn mit dem Ende der Kirmes würde auch bald die warme Jahreszeit enden. Um den Hausbrand und andere Dinge hatte sich Norbert früher immer gekümmert, aber jetzt …, schlagartig verspürte sie es wieder, das Gefühl von Leere und Verlassenheit, das sie seit Monaten ständig begleitete und ihr nur selten etwas Ruhe gönnte.

An der Haltestelle auf der Scheib stieg sie aus und ging ein Stück die Straße hinauf, die am Waisenhaus vorbeiführte. Ein paar Heimkinder standen am Zaun und streckten ihr schon erwartungsvoll die Hände durch das Zaungitter entgegen. Sie hatten nicht vergessen, dass sie ihnen seit ein paar Wochen immer ein paar Bonbons aus ihrer Handtasche zusteckte, wenn sie zum Friedhof ging. Seither warteten sie jeden Freitag um die gleiche Zeit auf sie. Ursula hatte daher gestern in der Bäckerei in der Karlstraße eine Tüte mit Schaumbonbons gekauft, die nicht allzu teuer waren. Die kramte sie jetzt aus ihrer Handtasche und versuchte, sie möglichst gerecht unter den Kindern zu verteilen, was ihr nur halbwegs gelang und bei einigen, die nichts abbekommen hatten, traurige Blicke und ein paar Tränen auslöste. Ein kleines Mädchen von etwa drei Jahren zupfte sie durch den Zaun am Kleid. „Nimmst du mich mit zu dir nach Hause, Tante?“, fragte sie.

„Ach, Kindchen, wie gerne würde ich dich mitnehmen, aber ich fürchte, das geht leider nicht.“

„Und warum nicht?“

Ursula versuchte, der Antwort etwas auszuweichen. „Hast du denn keine Eltern, mein Kind?“

„Nur eine Mama, Tante, aber bei der darf ich nicht bleiben.“

„Und warum nicht?“

„Weiß nicht warum, Tante“, sagte das Mädchen und sah sie mit traurigen Augen dabei an.

„Wie heißt du denn eigentlich?“

„Roswitha.“

„Ein schöner Name, und weiter?“

„Weiter nichts, Tante. Hast du noch ein Bonbon für mich?“

Sie schüttelte den Kopf und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Leider nicht, mein Kind, aber nächsten Freitag komme ich ganz bestimmt wieder hier vorbei und bringe dir und den anderen Kindern ganz viele Bonbons mit.“

Die Kleine quittierte es mit einem etwas skeptischen Blick. „Versprochen, Tante, großes Ehrenwort?“

Ursula nickte. „Großes Ehrenwort, Roswitha. So jetzt muss ich aber weitergehen, auf Wiedersehen, mein Kind.“ Es fiel ihr schwer, sich von dem kleinen Mädchen zu trennen, das noch lange am Zaun stehen blieb und ihr nachwinkte, bis sie in den schmalen Pfad hinunter zum Friedhofseingang abbog.

Norberts Grab lag nicht allzu weit hinter dem Eingang, ganz in der Nähe der Friedhofskapelle. Dort angekommen stellte sie ihre Sachen ab und setzte sich auf den Rand des gemauerten Wasserbrunnens. Sie wollte nur ein paar Minuten verschnaufen und sich dann gleich an die Arbeit machen. Ihr Blick fiel auf das Holzkreuz, das Karl selbst gezimmert und mit einem Lötkolben „Norbert Wagner“ eingebrannt hatte. Mehr nicht. Sie wollte Norbert noch vor dem Winter einen Grabstein machen lassen, wenigstens einen kleinen mit einem Bild von ihm, um sich hier besser mit ihm unterhalten zu können, ganz leise natürlich, aber mit seinem Bild vor ihren Augen. Von dem Sterbegeld, das ihr nach Norberts Tod ausgezahlt worden war, hatte sie sich daher bewusst für einen nicht zu teuren Sarg entschieden, damit wenigstens noch ein Teil für einen Grabstein übrigblieb, der ihr als dauerhafte Erinnerung an ihn viel wichtiger war als so eine Holzkiste, die im Boden ohnehin schon bald vermodern würde. Den Restbetrag würde sie in Raten abstottern, hatte sie mit dem Steinmetz ausgemacht, der ein ehemaliger Schulkamerad von Norbert war und sich nur deshalb damit einverstanden erklärt hatte, wofür sie ihm sehr dankbar war. Unwillkürlich musste sie über diese absurden Gedanken den Kopf schütteln, denn ihre kleine Rente würde ohnehin nicht ausreichen, um davon alleine auf Dauer leben zu können. Sie würde sich auf jeden Fall noch etwas dazu verdienen müssen. Vielleicht als Aushilfe in der Bäckerei in der Karlstraße, in der sie früher als Verkäuferin gearbeitet und dort auch Norbert kennengelernt hatte. Morgens auf dem Weg zur Arbeit hatte er immer ein Brötchen und einen Kümmelweck bei ihr gekauft und sie erst nach ein paar Monaten zu fragen gewagt, ob sie mit ihm mal ausgehen würde. So hatte damals alles begonnen und zwei Jahre später hatten sie geheiratet. Sie hätte gerne noch weiter in der Bäckerei gearbeitet, wenigstens ein paar Stunden am Tag aushilfsweise, aber Norbert war strikt dagegen. „Du bist jetzt meine Frau, Ursula. Meine Frau muss nicht arbeiten gehen. Das wäre ja noch schöner. Ich verdiene genug, das reicht für uns beide. Und wenn wir erst mal Kinder haben, dann kannst du ohnehin nicht mehr arbeiten gehen“, hatte er gesagt. Aber sie bekamen keine Kinder, obwohl sie sich beide so sehr Kinder gewünscht hatten. Ob es an ihr oder an ihm lag, dass sie nicht schwanger geworden war? Sie wussten es nicht und irgendwann hatten sie sich damit auch abgefunden. Umso mehr freuten sie sich beide über ihre Rollen als Onkel und Tante, die sie bei der Tochter von Karl und Helga einnehmen konnten. Da die Drei gleich neben ihnen im Brunnenweg wohnten, waren sie im Laufe der Jahre zu einer Art Großfamilie zusammengewachsen, wenn auch zu keiner allzu großen. Eine große Erleichterung für sie, weil Norbert mit seinem Laster immer wieder mal für ein paar Tage auf Achse war. Und auch jetzt gaben ihr die Schwägerin, die wie eine gute Freundin zu ihr war, und ihr Schwager, der seinem Bruder Norbert sehr ähnelte, wenigstens ein bisschen das Gefühl, nicht völlig alleine auf sich gestellt zu sein, denn aus ihrer Familie gab es sonst keine Verwandten mehr. Eine vorbeiziehende Beerdigungsprozession riss sie plötzlich aus ihren Gedanken. Hastig, fast so, als hätte sie etwas Unerlaubtes getan, sprang sie auf und begann mit der Arbeit am Grab. Nachdem sie das Heidekraut eingepflanzt und mit der Gießkanne gewässert hatte, nahm sie die Grabkerze aus dem Einkaufsnetz, zündete sie mit einem Streichholz an und stellte sie in die kleine Grablaterne neben dem Holzkreuz. Dann setzte sie sich noch einmal auf den Brunnen und starrte in das Licht der flackernden Kerze, das in der anbrechenden Dämmerung kaum wahrnehmbar war und dennoch ihr Herz zu berühren vermochte, wenigstens ein kleines bisschen. Wehmut und Sehnsucht drohten sie plötzlich wieder zu übermannen. Hastig verließ sie daher den Friedhof. Fast schien es ihr, als würde sie Norbert auf ihrem Weg zurück nach Hause begleiten, ein unsichtbarer Begleiter, den außer ihr niemand wahrzunehmen vermochte.

Kapitel 2: Hoffnung

Am nächsten Morgen kaufte sie in der Bäckerei ein Mischbrot vom Vortag, das es dort immer etwas billiger gab, und dazu noch einen halben Streuselkuchen, um Helga und Karl am Nachmittag wenigstens ein Stück Kuchen anbieten zu können. Früher, als Norbert noch lebte, hatte sie immer selbst Kuchen gebacken, wenn er übers Wochenende zu Hause war.

„Darf es sonst noch etwas sein“, fragte Frau Schneider und reichte ihr den Kuchen und das Brot über die Ladentheke.

„Nein, danke.“ Sie zögerte einen kurzen Moment. „Oder vielleicht doch, ich wollte Sie eigentlich mal fragen, ob Sie nicht eine Aushilfe hier im Laden brauchen könnten, ab und zu wenigstens. Ich meine, Sie haben ja auch noch den kompletten Haushalt zu versorgen. Da habe ich mir gedacht, dass ich vielleicht wieder wie früher ...“

„Sagen Sie bloß, Sie wollen wieder anfangen zu arbeiten, Frau Wagner? Die Witwenrente reicht wohl nicht, um davon leben zu können?“

„Ja, leider, aber ich muss auch so etwas tun, um mal wieder unter Menschen zu kommen. Immer nur alleine zu Hause, das halte ich auf Dauer nicht aus.“

Frau Schneider nickte. „Das verstehe ich sehr gut. Ich habe Sie als eine tüchtige Verkäuferin immer sehr geschätzt. Sie kommen aber leider etwas zu spät, weil meine Nichte nächsten Monat hier eine Lehre als Bäckereiverkäuferin anfängt. Und noch jemand zusätzlich, das können wir uns leider nicht leisten, Frau Wagner. Ich hoffe, Sie verstehen das.“

„Natürlich verstehe ich das, Frau Schneider“, erwiderte sie. Sie versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, was ihr aber nur halbwegs gelang. „Jammerschade, aber wenn Sie vielleicht eine andere Gelegenheit wüssten für mich, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Muss es denn unbedingt eine Stelle als Verkäuferin sein?“

„Nein, das nicht, ich dachte nur, weil ich das früher auch ...“

„Moment mal, mir fällt da gerade was ein“, wurde sie von Frau Schneider unterbrochen. „Könnten Sie sich vielleicht auch vorstellen, im Waisenhaus auszuhelfen, in der Küche oder beim Reinigungspersonal zum Beispiel?“

Sie nickte. „Aber klar, das würde mir sogar sehr großen Spaß machen, ich meine den Umgang mit Kindern. Suchen die etwa jemand?“

„Ich meine, ja. Meine Schwester arbeitet dort und sie hat letzte Woche so etwas erwähnt. Sie kommt morgen zu Besuch. Wenn Sie wollen, kann ich sie gerne mal danach fragen.“

„Oh ja, Frau Schneider, tun Sie das bitte. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar dafür.“

„Das mache ich und ein gutes Wort für Sie werde ich auch gerne einlegen. Ich kenne Sie schon so lange und weiß ja, dass Sie sehr fleißig und zuverlässig sind. Wenn Sie Montag mal reinschauen, kann ich ihnen vielleicht schon etwas mehr sagen.“

„Aber natürlich komme ich, ich kann es ja jetzt schon kaum erwarten. Vielen Dank und ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen“, erwiderte sie und verließ den Laden. Zum ersten mal seit Norberts Tod verspürte sie wieder ein wenig Hoffnung.

Nachmittags kamen Helga und Karl mit Monika vorbei. Immer wenn sie ihren Schwager sah, versetzte es ihr einen kleinen Stich in der Brust. Karl war zwar über zwei Jahre jünger als Norbert, aber dennoch glichen sich die beiden Brüder fast wie Zwillinge. Mit ihrer sportlichen Figur, dem markanten Gesicht und den nach hinten gekämmten Haaren ähnelten sie nach ihrer Ansicht diesem blendend aussehenden amerikanischen Schauspieler ein bisschen, der früher ihr großer Schwarm war und dessen Name ihr jetzt partout nicht mehr einfallen wollte. Vermutlich hatte sie sich wegen dieser Ähnlichkeit damals auch direkt in Norbert verliebt, vor vielen Jahren.

Mit einer Holzfeile und Schmirgelpapier bewaffnet machte sich Karl an der klemmenden Haustür zu schaffen, während Ursula und Helga im Schlafzimmer oben Kleidung aussortierten und aus ihrem Bett die Matratze und das Bettzeug herausnahmen, damit sich das schwere Bettgestell mit Karls Hilfe leichter in den Vorraum schieben ließ.

„Willst du denn wirklich dein Bett aus eurem Schlafzimmer nehmen, Ulla? Ich meine, es passt doch alles so gut zusammen, und in dem kleinen Vorraum ist ohnehin kaum noch Platz“, fragte Helga.

Ursula nickte. „Ja, Helga, ich fühle mich in dem großen Doppelbett einfach nicht mehr wohl, so ganz alleine. Es sind auch zu viele Erinnerungen damit verbunden, die mich kaum schlafen lassen. Ich brauche diese Veränderung einfach, um ...“

„Schon gut, ich verstehe“, unterbrach sie Helga, „wir machen das jetzt einfach so und wenn du es dir doch wieder anders überlegen solltest, dann stellen wir halt alles noch einmal um.“

Als Karl nach oben kam, fragte ihn Helga: „Hast du das mit der Haustür hinbekommen?“

„Klar doch, sie hat sich nur etwas verzogen und ist über den Boden geschleift. Ich habe sie daher unten etwas abgeschliffen. Kann sein, dass es jetzt im Winter etwas durchzieht, aber dann legst du einfach ein zusammengerolltes Stück Stoff oder eine alte Decke von innen vor die Tür.“

„Kein Problem, das haben wir im Winter ohnehin immer gemacht. Danke, Karl. Wenn wir das Bett im Vorraum aufgebaut haben, gibt es noch Kaffee und Kuchen.“

„Streuselkuchen?“, fragte Karl.

„Na klar, ich weiß doch, dass das dein Lieblingskuchen ist. Ich habe ihn aber diesmal nicht selbst gebacken, sondern bei Frau Schneider gekauft. Ihr Mann backt den besten Kuchen weit und breit, finde ich jedenfalls. Und zur Feier des Tages gibt es ausnahmsweise mal echten Bohnenkaffee. Ich habe zum Glück noch zwei Päckchen mit richtigen Kaffeebohnen, die Norbert auf seinen Fahrten ins Reich mal mitgebracht hat.“

„Na, dann aber ran ans Bett, Helga“, brummte Karl, „denn ich habe einen Bärenhunger. Ursula kann schon mal den Kaffee mahlen. Wir schaffen das mit dem Bett auch ohne sie.“

„Na gut, dann nehme ich Monika am besten gleich mit runter, damit ihr hier oben ungehindert hantieren könnt. Gehst du mit, Monika? Wenn du magst, kannst du mir helfen und schon mal die Kaffeebohnen mahlen.“

Monika hatte sich ohnehin beim Aufräumen gelangweilt und war froh über die willkommene Abwechslung. „Au fein, Tante Ursula, das mache ich gerne. Dass den Erwachsenen Kaffee schmeckt, finde ich ja schrecklich, wo der doch so bitter ist, aber die Kaffeebohnen oben in die Mühle schütten und mit der Kurbel mahlen, das mache ich gerne. Das riecht immer so fein, wenn man die kleine Schublade öffnet und den gemahlenen Kaffee herausnimmt.“

Nur ein paar Minuten später stieg Kaffeeduft aus der Küche nach oben ins Schlafzimmer.

„Wie weit seid ihr denn mit dem Bett? In fünf Minuten ist der Kaffee fertig“, rief Ursula nach oben.

„Wir haben es gleich geschafft“, erwiderte Karl, „du kannst ja inzwischen schon mal den Tisch decken.“

„Darauf wäre ich von alleine nie gekommen“, bekam er als Antwort von unten zurück, was ein Stockwerk höher bei Helga einen kleinen Lachkrampf auslöste.

Als sie später zusammen saßen erwähnte Ursula, dass die Frau des Bäckermeisters ihr bei der Vermittlung einer Arbeitsstelle im Waisenhaus behilflich sein wolle. „Hoffentlich klappt das auch, denn das würde ich wirklich sehr gerne machen“, sagte sie.

Helga nickte. „Das kann ich gut verstehen. Ich weiß ja, wie gerne du mit Kindern zusammen bist. Jammerschade, dass Norbert und du keine Kinder ...“, sie stockte mitten im Satz und sagte dann, „Entschuldigung, das ist mir jetzt einfach so herausgerutscht. Ich wollte dich damit nicht verletzen, Ulla.“

„Du musst dich nicht entschuldigen, Helga. Der liebe Gott hat es halt anders gewollt. Wer weiß, ob es nicht besser so war, ich meine jetzt, wo Norbert nicht mehr lebt. Andererseits wäre ich mit Kindern wenigstens nicht so alleine.“

„Der liebe Gott hat leider auch nicht gewollt, dass Karl und ich noch ein Kind bekommen“, seufzte Helga. „Wir hatten uns beide so sehr noch einen Jungen gewünscht und waren überglücklich, als ich vor ein paar Jahren wieder schwanger geworden bin. Aber dann ...“, sie schüttelte nur den Kopf, während Karl für sie fortfuhr.