Nebel auf dem Weg - Raimund Eich - E-Book

Nebel auf dem Weg E-Book

Raimund Eich

4,9

Beschreibung

Der ehemalige Architekt Christian Stein steckt seit Jahren in einer schweren Lebenskrise, ausgelöst durch den Tod seines Sohnes, der ihn völlig aus der Bahn warf und beruflich scheitern ließ. Zudem wurde seine Frau Opfer eines mysteriösen Verkehrsunfalls, an dem er sich mitschuldig fühlt. Auch der Kontakt zu seiner Tochter ist seit längerer Zeit abgebrochen. Verzweifelt sucht er nach einem Ausweg, um seiner Einsamkeit zu entrinnen. Bei einem Abendspaziergang führt ihn sein Weg an einer alten Fachwerkbrücke vorbei, die für ihn in Kindertagen Abenteuerspielplatz für waghalsige Kletterpartien und später heimlicher Treffpunkt mit seiner Jugendliebe war. Wehmütigen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten folgend klettert er noch einmal die Brücke hinauf. Dies löst ein außergewöhnliches Erlebnis für ihn aus. Eine spannende und mysteriöse Geschichte, in die grundsätzliche Fragen über den Sinn des Lebens, über die Existenz eines göttlichen Wesens und ein Weiterleben nach dem Tod sowie plausible Antworten hierauf eingebunden sind.

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für alle,

die auf dem Weg sind

Raimund Eich, Jahrgang 1950, lebt in Neunkirchen/ Saar. Er veröffentlichte im Jahr 2004 mit dem Tatsachenroman „Angst um Melanie“ sein Erstlingswerk. Informationen über weitere Veröffentlichungen finden Sie am Ende dieses Buches sowie auch auf seiner Homepage http://raimunds-schmoekerkiste.jimdo.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Autors

Kapitel 1: Die Brücke

Kapitel 2: Bodo

Kapitel 3: Einstieg

Kapitel 4: Die Quelle

Kapitel 5: Auf dem Weg

Kapitel 6: Die Beichte

Kapitel 7: Nach Bürdenbach

Kapitel 8: Die alte Mühle

Kapitel 9: Am Marktplatz

Kapitel 10: Talwärts

Kapitel 11: Über Gott und die Welt

Kapitel 12: Geistvolle Dialoge

Kapitel 13: Heftige Auseinandersetzung

Kapitel 14: Abendmahl

Kapitel 15: Fundstück

Kapitel 16: Auf dem Hof

Kapitel 17: Schule des Lebens

Kapitel 18: Am Bürdenfall

Kapitel 19: Rückkehr

Epilog

Weitere Veröffentlichungen des Autors

Vorwort des Autors

Gehören Sie auch zu denen, die sich gelegentlich mit Fragen nach dem eigentlichen Sinn ihres Lebens beschäftigen? Wenn ja, glauben Sie auch an ein göttliches Wesen sowie an ein Weiterbestehen unserer Seele oder unseres Geistes über den Tod hinaus?

Viele sind skeptisch, denn schließlich kann niemand beweisen, dass es Gott wirklich gibt oder dass unsere Seele über den leiblichen Tod hinaus weiter existieren wird, ebenso wenig, wie jemand einen Gegenbeweis dafür zu erbringen vermag. Mit derartigen Fragen, die jeden von uns betreffen, müssten sich eigentlich alle Menschen auseinandersetzen, unabhängig davon, welche Antworten ein jeder darauf für sich selbst findet. Doch der liebe Gott, so scheint es mir jedenfalls, ist bei uns zunehmend aus der Mode gekommen, ein Auslaufmodell für viele, wofür beispielsweise zahlreiche Kirchenaustritte seit vielen Jahren sprechen. Andererseits ist der Glaube an einen Gott, wie auch immer man ihn namentlich bezeichnen mag, grundsätzlich nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche oder Religionsgemeinschaft abhängig.

Viele glauben, in den täglichen Medienberichten über eine Welt voller Gewalt und Grausamkeiten, in der Kriege, Leid und Not immer bedrohlichere Ausmaße anzunehmen scheinen, einen Beleg dafür zu erkennen, dass es einen Gott nicht geben kann, zumindest keinen gütigen und gerechten Gott. Vielleicht ersetzen ihn viele auch daher durch andere Götzen und richten ihr Leben ausschließlich darauf aus, ihre materiellen Bedürfnisse, nicht selten auf Kosten oder zu Lasten Dritter, zu befriedigen und ihr irdisches Dasein in vollen Zügen zu genießen. Wer jederzeit online rund um die Uhr mit der ganzen Welt kommunizieren kann und darauf setzt, stets vermeintlich guten Rat und Unterstützung bei zahlreichen, meist virtuellen, Freunden zu finden, hat offenbar zunehmend weniger Bedarf für ein altmodisches göttliches Wesen, mit dem man zwar in einer Art Monolog kommunizieren kann, aber keine unmittelbare Antwort darauf erhält.

Im vorliegenden Buch wird das von eigenen Lebenserfahrungen geprägte Weltbild des Protagonisten Christian Stein, der glaubt, für sich die richtigen Antworten auf die eingangs erwähnten Fragen gefunden zu haben, durch die Begegnung mit einem geheimnisvollen Unbekannten wieder ins Wanken gebracht. Eine abenteuerliche und mysteriöse Geschichte zugleich, mit einer Thematik, die uns alle gleichermaßen betrifft. Ein Buch, das Ihnen auf eine Reihe spiritueller Fragen in unterhaltsamer Form plausibel erscheinende Antworten vermitteln möchte.

Ich freue mich sehr, dass Sie sich dafür interessieren und wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.

Kapitel 1: Die Brücke

Noch immer lag die schwüle Hitze des Spätsommertages wie eine unsichtbare Glocke über der Häusersiedlung, als Christian Stein spät abends vor die Haustür trat und sie hinter sich zuzog. Der Nachthimmel über ihm war förmlich mit Sternen übersät, die wie Diamanten auf blau-schwarzem Samt zu funkeln schienen. Der Mond, der sich noch halb hinter den Gipfeln des kleinen Ortes inmitten einer hügeligen Berglandschaft versteckte, tauchte die Umgebung in ein fahles Licht und erzeugte von Häusern, Sträuchern und Bäumen diffuse Schattenbilder. Nur für einen kurzen Moment gelang es ihm, dieses beeindruckende Bild zu genießen, bis ihn laute Partymusik und ein undefinierbares Stimmengewirr, das vom Nachbargrundstück zu ihm herüberdrang, an Werners Geburtstag erinnerten. Werner feierte ihn wie immer bei schönem Wetter draußen im Garten. Natürlich hatten sie auch ihn dazu eingeladen, denn Sie hatten schon lange eine gute nachbarschaftliche Beziehung und halfen sich gegenseitig, wenn wieder mal eine Hecke zu schneiden war oder wenn es etwas zu reparieren galt. Trotzdem war ihm nicht nach Feiern zumute gewesen. Er hatte daher eine Magenverstimmung als Entschuldigung vorgeschoben, aber zugesagt, dass er vielleicht doch noch vorbeikommen würde, wenn es ihm wieder besser ginge. Aber er verspürte weder Lust, ihnen eine nicht vorhandene Fröhlichkeit vorzugaukeln, noch wollte er jemand mit der undefinierbaren Traurigkeit tief in ihm, die ihn schon lange nicht mehr losließ, die gute Laune verderben. So versuchte er, sich klammheimlich, fast wie ein Dieb, von seinem Grundstück in die kleine Seitenstraße zu schleichen und war froh, als er unbemerkt um die Ecke biegen konnte. Sein Weg führte ihn die Straße hinunter zur Poststelle, wo er den Brief an Daniela in einen der beiden Briefkästen einwerfen wollte. Obwohl er wusste, dass die Kästen morgen erst um die Mittagszeit geleert werden würden, wollte er ihn unbedingt noch heute loswerden. Der Brief an seine Tochter war ihm wichtig und sollte auf jeden Fall schnellstmöglich seine Empfängerin erreichen. Doch als er vor dem Briefkasten stand, zögerte er für ein paar Sekunden und steckte ihn schließlich wieder in seine Hosentasche. Warum, das wusste er selbst nicht. Gedankenverloren ging er ohne auf den Weg zu achten einfach weiter, an der stillgelegten Bahnstrecke entlang bis zu der alten Eisenbahnbrücke, die das enge Tal überspannte. Erst jetzt nahm er seine Umgebung wieder bewusst wahr. Ob es der merkwürdige Traum letzte Nacht war, der ihn hierher geführt hatte? Die alte Fachwerkbrücke war ihm im Laufe seines Lebens zu einem lieb gewordenen Ort der Erinnerungen geworden. Schon in Kindertagen hatte sie ihnen als Abenteuerspielplatz gedient, wenn sie verbotenerweise vom Brückenfundament aus den stählernen Brückenbogen, der die darüber führenden Bahngleise trug und wie ein großes Rundtor das enge Tal überspannte, waghalsig nach oben kletterten, mal als edle und mutige Indianer, mal als verwegene Cowboys oder als tapfere Ritter. Mit stolz geschwellter Brust saßen sie dann auf dem Bogen über dem Tal, durch das sich die Bürde, in diesem Bereich noch ein kleiner Bach, unter ihnen ihren Weg suchte und die sie im Sommer gerne mit Kieselsteinen aus dem Bachbett an einer etwas breiteren Stelle aufgestaut hatten, um dann nach Herzenslust in ihrem selbst gebauten Badesee zu plantschen. Wenn ein Zug dicht über ihren Köpfen über die Fachwerkbrücke donnerte und die ganze Brückenkonstruktion erzittern ließ, rutschte ihnen zwar für einen Augenblick das Herz schlagartig in die Hose. Sie umklammerten dann die Stahlträger noch ein wenig fester, um sich hinterher umso mehr über ihren Mut und ihre Tapferkeit zu freuen. Die Eltern durften davon natürlich nichts erfahren, denn das hätte für sie alle seinerzeit unweigerlich eine gehörige Tracht Prügel und obendrein eine Ausgangssperre zur Folge gehabt. Dennoch eine wunderschöne und unbeschwerte Zeit damals, die ihm im Rückblick nach über fünfzig Jahren wie ein kostbarer Schatz erschien.

Ein paar Jahre später, als er seine spätere Frau Helga kennengelernt hatte, war er auch mit ihr manchmal in den Brückenbogen geklettert, aber nur noch ein kleines Stück bis zur ersten senkrechten Stahlstütze, weil sie Angst hatte, weiter hinaufzusteigen. Dort saßen sie dann eng umschlungen, küssten sich und genossen den Ausblick über das Tal.

Ein letztes Mal, vor etwa acht Jahren, war er mit seinem Sohn Tobias hier oben gewesen. Hier hatten sie gemeinsam den Plan geschmiedet, nach Tobias Studienabschluss das komplette Tal von der Quelle bis zur Mündung der Bürde zu durchwandern. Nur ein kleines Zelt und zwei Schlafsäcke wollten sie mitnehmen, um dann irgendwo im Talgrund zu übernachten. „Es wird wohl für dich und mich das letzte gemeinsame Abenteuer gewesen sein, bevor du dich ins Berufsleben stürzen wirst“, hatte er zu Tobias gesagt.

„Ja, Papa, das fürchte ich auch“, hatte der ihm erwidert. „Umso mehr freue ich mich schon darauf.“

Doch dann war alles anders gekommen. Kurz nachdem sie seine Diplomierung mit einem großen Fest gefeiert hatten, hatte sich Tobias wegen ständiger Schmerzen im Unterleib untersuchen lassen. Hodenkrebs lautete irgendwann die schreckliche Diagnose der Ärzte, die ihr ganzes Leben verändern sollte. Nur knapp drei Jahre später sollten sich alle Hoffnungen auf Heilung endgültig als aussichtslos erweisen. Er versuchte die schmerzhaften Erinnerungen daran zu verdrängen und kletterte ein Stück den Hang hinunter bis zum Fuß der Brücke, dorthin, wo sie früher in den Brückenbogen eingestiegen waren. Der Fundamentbereich war zwar aus Sicherheitsgründen mit einem Zaun abgesperrt, aber irgendwo entdeckte er eine kleine Lücke im Zaun, durch die er sich hindurchzwängte. Er wusste selbst nicht warum. Ob ich es noch einmal hinauf schaffe, wenigstens ein kleines Stück, kam ihm spontan in den Sinn. Unsinn, du bist schon zu alt für ein derartiges Abenteuer und würdest dir vermutlich das Genick dabei brechen, versuchte er sich selbst davon abzuhalten. Und trotzdem schien ihn der Brückenbogen wie magisch anzuziehen. Nur bis zum ersten Pfeiler wie damals mit Helga, das wirst du ja wohl noch hinbekommen, du alter Mann, versuchte er sich selbst etwas Mut einzureden. Er war zwar schon fünfundsechzig, aber noch immer relativ sportlich und trotzdem überrascht, wie schnell es ihm tatsächlich gelang. Eine Weile hielt er sich am ersten Pfeiler fest und schaute hinunter, aber die Sträucher um das Brückenfundament waren im Laufe der Jahre so hoch gewachsen, dass man von dort nicht mehr viel sehen konnte. Sein Blick ging nach oben. Ob er vielleicht doch noch ein kleines Stück höher käme, wenigstens bis zum zweiten Stützpfeiler? Aber dafür musste er zuerst um den ersten Pfeiler klettern. Ein nicht ungefährliches Unterfangen, das er dennoch wagen wollte. Bloß nicht nach unten schauen, das war ihm von früher noch in Erinnerung. Und auch das gelang ihm weitaus besser als erwartet. Er setzte sich auf den breiten Stahlbogen und hielt sich mit der rechten Hand daran fest, während er mit dem linken Arm den zweiten Pfeiler umklammerte. So konnte eigentlich nichts passieren und von hier aus konnte er weit hinunter ins Tal und auf die Berge blicken. Ein herrlicher Anblick, der in ihm viele Erinnerungen wach werden ließ. Gänsehautgefühle, die er genießen wollte, wenigstens für ein paar Minuten. Der Traum kam ihm plötzlich wieder in den Sinn. Auch im Traum hatte er mit Tobias hier im Brückenbogen gesessen, als dieser plötzlich mit einem Satz nach unten sprang und versuchte, ihn ebenfalls zum Herunterspringen zu bewegen. Tobias trug einen Rucksack auf der Schulter und hielt ihm einen zweiten Rucksack entgegen. Doch er traute sich einfach nicht zu springen. Immer wieder winkte ihm Tobias zu, doch er war wie gelähmt. Ein letztes Mal hatte Tobias dann noch zu ihm nach oben geschaut und war dann alleine den Weg hinab ins Tal gegangen, während er Tobias nachrief, er solle auf ihn warten und ihn nicht alleine zurücklassen. Doch Tobias ging immer weiter, drehte sich noch einmal um und winkte ihm ein letztes Mal. Doch diesmal war es kein Zuwinken, sondern ein Winken zum Abschied. Kurz darauf war Tobias aus seinen Augen verschwunden, für immer. Ein schöner und schrecklicher Traum zugleich. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, doch er wollte diesem Schmerz nicht nachgeben. Wie mechanisch zog er den Brief an Daniela aus seiner Hosentasche. Ohne ihn noch einmal zu öffnen zerriss er ihn und ließ ihn in lauter kleinen Schnipseln ins Tal hinuntersegeln. Er hatte seiner Tochter darin bittere Vorwürfe gemacht, dass sie sich kaum noch bei ihm meldete und ihn zu Hause auch nicht mehr besuchte. Sein Verhältnis zu Daniela war ohnehin nie so gut gewesen wie zu Tobias, mit dem ihn viele gemeinsame Interessen verbanden und mit dem er sich stundenlang über alle möglichen Themen unterhalten konnte. Daniela fühlte sich schon von Kind an viel mehr zu ihrer Mutter hingezogen als zu ihm. Er hatte Daniela im Brief geschrieben, dass das Haus für ihn alleine viel zu groß wäre und dass er es daher verkaufen und in die Stadt ziehen wolle, wo er sich eine kleine Eigentumswohnung kaufen würde. Das hatte er tatsächlich vor, aber er wollte es ihr doch lieber persönlich sagen, zumindest am Telefon. Plötzlich bemerkte er, dass sich dunkle Wolken langsam vor den Mond schoben und ihm die Sicht zu nehmen begannen. Du musst wieder hinunter, so schnell es geht, dachte er und spürte, wie seine Knie schlagartig zu zittern begannen. Zudem fühlte sich sein linker Arm fast wie taub an, weil er sich beim Festhalten wohl zu sehr verkrampft hatte. Nur mühsam gelang es ihm, sich am Pfeiler aufzurichten. Doch das Stück bis zum ersten Pfeiler wieder nach unten zurückzuklettern erwies sich als wesentlich schwieriger als hinaufzuklettern, zumal er jetzt kaum noch etwas sehen konnte. Irgendwie gelang es ihm trotzdem. Er spürte, wie sein Puls raste und ihm der kalte Schweiß aus allen Poren zu rinnen begann. Panische Angst erfasste ihn bei dem Gedanken, dass er sich jetzt wieder um den ersten Pfeiler herumhangeln und dabei auf einen sicheren Stand auf dem Träger verzichten musste. Eine Weile stand er wie gelähmt da. Es hilft nichts, du musst es jetzt einfach wagen, trieb er sich in Gedanken selbst an und verfluchte sich für seinen großen Leichtsinn. Als er versuchte, mit dem rechten Fuß sicheren Halt hinter dem Pfeiler zu finden, rutschte er ab, wobei sich auch seine rechte Hand vom Pfeiler löste. Verzweifelt nach Halt suchend spürte er noch, wie jemand mit festem Griff seinen rechten Arm umklammerte und ihn am Pfeiler vorbei zu sich nach unten zog. Dann wurde ihm plötzlich schwarz vor Augen.

Kapitel 2: Bodo

Als Christian wieder zu sich kam, lag er unweit der Brücke auf einer Wiese neben einem kleinen Zelt. Verletzungen hatte er offenbar keine davongetragen, nur die rechte Schulter schmerzte ihn etwas.

„Da bist du ja wieder“, vernahm er eine Stimme aus dem Innern des Zeltes, als er sich noch immer etwas benommen aufzurichten versuchte. Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen und ein relativ junger Mann mit halblangen Haaren streckte seinen Kopf aus dem Zeltinneren. „Noch einen Moment bitte, der Tee ist gleich fertig“, sagte er und zog den Kopf gleich wieder zurück. Kurz darauf kletterte mit einem dampfenden Becher Tee in der Hand aus dem Zelt und reichte ihn Christian. „Hallo, ich bin Bodo“, sagte er und streckte ihm die rechte Hand entgegen.

Irgendwie schien es Christian, als würde er den Fremden kennen, doch er wusste nicht, woher. „Und wie noch?“, fragte er und schüttelte Bodo die Hand dabei.

„Was meinst du mit wie noch?“, erwiderte der.

„Na dein Nachname, oder hast du keinen?“

Einen kurzen Moment stutzte sein Gegenüber. dann zog sich ein Lächeln über sein Gesicht, ein sehr warmes und freundliches Lächeln, wie es Christian schien.

„Doch natürlich, entschuldige bitte. Stein, Bodo Stein ist mein Name.“

„Wie bitte, sagtest du Stein?“

Bodo nickte. „Und du?“

„Christian.“

„Und weiter, oder hast du keinen Nachnamen?“, versuchte ihn Bodo nachzuäffen, worüber beide lauthals lachen mussten.

Christian empfand spontan eine große Sympathie für seine neue Bekanntschaft. „Du wirst es nicht glauben, Bodo, aber ich bin auch ein echter Stein, ich meine vom Nachnamen her. Dann sind wir also Namensvettern, was für ein Zufall. Aber was ist denn eigentlich passiert mit mir?“

„Na ja, wie du siehst, zelte ich hier neben der Brücke. Irgendwann zu später Stunde habe ich merkwürdige Geräusche gehört und dann gesehen, wie ein Mann, also du, in den Brückenbogen geklettert ist. Ich habe das Ganze von unten eine Weile stumm beobachtet, weil ich dich nicht erschrecken wollte. Dann habe ich bemerkt, dass du Probleme hattest, wieder nach unten zu klettern und bin dir entgegengestiegen, gerade noch zur rechten Zeit, um einen Absturz zu verhindern.“

„Dann war das also deine Hand, die ich dort oben im letzten Moment ergriffen habe“, erwiderte Christian und deutete mit dem Kopf Richtung Brücke, was Bodo mit einem stummen Nicken bestätigte. „Dann habe ich dir also mein Leben zu verdanken. Bist du Lebensretter oder Schutzengel von Beruf?“

Einen kurzen Moment zögerte Bodo mit seiner Antwort. „Ja und nein, oder besser gesagt, allenfalls so etwas ähnliches, denn ich bin als Kaplan in einer größeren Kirchengemeinde tätig und ...“

„Dort versuchst du, möglichst viele deiner Schäflein vor dem Abgrund zu retten, das meinst du doch damit, oder?“, führte Christian den Satz für ihn zu Ende.

Bodo lachte. „Na ja, so könnte man es ausdrücken. Aber jetzt hole ich uns beiden erst mal etwas zu essen aus dem Zelt. Magst du auch ein Käsebrötchen?“

„Käsebrötchen ... hast du kein Wurstbrötchen dabei, Bodo?“

„Nein, ich esse weder Fleisch noch Wurst.“

„Auch das noch, ein Vegetarier“, stöhnte Christian mit gespielter Enttäuschung. „Na dann bitte ein Käsebrötchen.“

Nach dem Essen saßen die beiden noch eine Weile vor dem Zelt. Bodo hatte ein kleines Feuer gemacht, in dem sie frisch gepflückte Äpfel direkt von einem Obstbaum auf der Wiese brieten.

„Das war wirklich ein hervorragender Nachtisch, Bodo und erinnert mich an meine Abenteuer aus Kindertagen“, sagte Christian. „Aber verrate mir jetzt bitte mal, was du eigentlich in dieser Gegend hier machst. Du stammst doch nicht von hier, oder?“

Bodo schüttelte den Kopf. „Nein. Mich hat eine geplante Wandertour hierher verschlagen und hier neben der Brücke habe ich mir ein ruhiges Plätzchen zum Zelten für die Nacht gesucht, bevor es morgen früh losgeht.“

„Das war wohl mein Glück, Bodo. Wohin soll dich denn deine Wanderung führen?“

„Immer von der Quelle bis zur Mündung, Christian?“ Bodo lächelte vielsagend dabei. „Wie soll ich es dir bloß erklären ... na ja, ich sammle Flüsse, so könnte man es vielleicht ausdrücken.“

„Wie bitte, hast du gerade gesagt, du sammelst Flüsse? Sprich bitte nicht in Rätseln mit mir, junger Mann.“

„Weißt du, immer wenn ich ein paar Tage Zeit habe, suche ich mir irgendwo auf der Karte einen Bach oder einen Fluss aus und wandere an ihm entlang von der Quelle bis zur Mündung. Es ist wie eine Art Klausur für mich, in der ich neue Kraft für meine Aufgabe als Seelsorger tanken kann. Und diesmal steht die Bürde dort unten im Tal auf meiner Liste, die laut meiner Wanderkarte nur knapp einen Kilometer hinter der Brücke hier entspringt. Ich will morgen in aller Frühe von hier aufbrechen und zuerst zur Quelle hinunterlaufen. Von dort aus geht es dann richtig los. Ich habe dafür zirka drei bis vier Tage einkalkuliert.“

„Klasse Bodo, genau das hatten wir auch vor.“ Christian verstummte für einen kurzen Augenblick, dann fuhr er fort: „Es dürften insgesamt etwa neunzig Kilometer sein, und die müsste man eigentlich in drei Tagen bewältigen können, wenn man halbwegs gut zu Fuß ist.“

„Du wolltest diesen Weg auch machen, das ist ja interessant Christian, aber wen meinst du mit wir?“

Christian sah Bodo an und senkte schnell wieder den Kopf als er spürte, wie sich eine Träne den Weg in sein rechtes Auge zu suchen begann „Mein Sohn und ich wollten diesen Weg gemeinsam gehen, aber es ist nicht mehr dazu gekommen.“ Er schwieg eine Weile und starrte krampfhaft auf den Boden, froh darüber, dass Bodo nicht weiter nachfragte. Dann fuhr er von selbst fort. „Mein Sohn ist an Krebs gestorben ...“ Wieder schwieg er ein paar Sekunden. „Ich wäre diesen Weg doch so gerne noch mit ihm gegangen.“

Bodo nickte. „Das tut mir sehr leid, Christian, das muss sehr hart für dich gewesen sein. Aber wie wäre es denn, wenn du diesen Weg doch noch gehen würdest, mit mir meine ich. Ich würde mich sehr darüber freuen.“

Christian schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht, ich muss auch wieder nach Hause zurück, jetzt gleich.“

„Und warum? Wirst du dort erwartet?“

Wieder schwieg Christian eine Weile. „Nein Bodo, auf mich wartet niemand mehr.“

„Na also, dann hindert dich doch niemand daran, mit mir zu gehen.“

„Nein Bodo, ich kann das nicht, und außerdem, ich bin ja überhaupt nicht auf so etwas vorbereitet.“

„Kein Problem, Christian. Wie ich sehe hast du etwa meine Größe und mein Gewicht. Ich schleppe immer zwei komplette Ersatzgarnituren an Hosen, Hemden und Unterwäsche in meinem Rucksack mit, obwohl ich bei meinen Kurztrips meistens nur eine brauche. Und in meinem Zelt ist genug Platz zum Schlafen für zwei. Eine große Wolldecke habe ich auch noch dabei, die reicht bei dem warmen Wetter. Zur Not könnte man ja auch mal ein Kleidungsstück im Fluss waschen, der uns praktisch als Waschmaschine den ganzen Weg entlang zur Verfügung stünde.“

Christian musste schmunzeln. „Das ist zwar richtig, Bodo, aber das wäre doch völlig verrückt, ich meine in meinem Alter, dazu noch völlig ungeplant.“

„Wie ich sehe bist du doch topfit, wenn du noch in Brücken herumklettern kannst. Also gib deinem Herzen einfach einen Stoß und komm mit. Nimm diese Herausforderung jetzt einfach an, oder willst du als alter Methusalem hier versauern? Außerdem, falls du unterwegs schlapp machen solltest, setze ich dich persönlich in den nächsten Bus und lasse dich nach Hause zurückfahren. Versprochen!“

„Ich und schlapp machen, mein lieber Junge, das glaubst du doch selber nicht. Wenn ich im Eilmarsch an dir vorbeirauschen werde, wirst du dir eine Erkältung vom Luftzug einfangen.“ Plötzlich wurde Christian bewusst, dass er mit Bodo genau so unbeschwert herumalbern konnte wie früher mit Tobias.“

„Topp, die Wette gilt“, erwiderte Bodo und streckte ihm die rechte Hand entgegen. „Schlag ein, morgen früh um sechs Uhr geht es los. Und jetzt ab mit dir ins Zelt, alter Mann.“

Merkwürdig, dachte Christian, genau so hat mich Tobias auch immer genannt, wenn er mich aufziehen wollte. „Mal sehen. Die Nacht im Zelt mit dir Jungspund gönne ich mir jedenfalls. Morgen früh sehen wir dann weiter.“

„Falsch Christian. Morgen früh ziehen wir dann weiter, so muss es heißen.“

„Abwarten, aber erst mal gute Nacht, Bodo.“

„Gute Nacht, Christian. Ich freue mich schon sehr auf morgen.“

Christian erwiderte nichts mehr darauf und kletterte hinter Bodo ins Zelt. Er fühlte sich auf einen Schlag wieder so gut gelaunt und unternehmenslustig wie zu seinen besten Zeiten. Wer weiß, vielleicht ist es ja eine gute Gelegenheit, um endlich wieder etwas aus dem Tal der Tränen herauszukommen. Lass sie dir nicht entgehen, denn auch Tobias würde das sicherlich gefallen, dachte er sich, bevor ihn die Müdigkeit zu übermannen begann.

Kapitel 3: Einstieg

In aller Frühe wurde Christian von Bodo geweckt. „Wach auf, mein Freund, es ist höchste Zeit. Wir müssen jetzt ins Tal einsteigen und zur Quelle zurückgehen. Ich möchte spätestens in zwei Stunden von dort losmarschieren, sonst schaffen wir es nicht wie geplant in drei Tagen.“

Christian schlug noch etwas benommen die Augen auf und versuchte vergeblich, sich in dem engen Zelt auszustrecken. Es war ihm, als könne er jeden einzelnen seiner Knochen spüren. Vor ein paar Jahren, als er manchmal mit Tobias mehrtägige Wanderungen durch die Alpen gemacht hatte, war davon noch nichts zu spüren. Daran merkt man, wie alt man doch tatsächlich ist