Geliebtes Kuckucksei - Carolyn Savage - E-Book

Geliebtes Kuckucksei E-Book

Carolyn Savage

4,9

Beschreibung

Während einer Routine-In-vitro-Behandlung wird Carolyn Savage versehentlich der Embryo eines anderen Paares übertragen. Trotz des Schocks über diesen tragischen medizinischen Fehler und entgegen der Empfehlung der Ärzte entscheiden sich Sean und Carolyn Savage dafür, das Kind auszutragen - auch wenn das für sie bedeutet, dass sie das Baby nach der Geburt an die biologischen Eltern abgeben müssen und Carolyn aus medizinischen Gründen nie wieder schwanger werden kann. Sie durchleben durch dieses außergewöhnliche und persönliche Opfer eine schmerzhafte Erfahrung des Verlustes, aber auch eine überraschende und erfüllende Reise des persönlichen Wachstums. Trotz schwerer Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt beschreibt das Paar in diesem Buch bewegend, wie sie aus dieser emotionalen und aufwühlenden Zeit gestärkt hervorgehen, da sie nach ihren Werten der Liebe, Großzügigkeit und Ehrlichkeit gehandelt haben. Nun suchen sie in den USA nach einer Leihmutter für ihre eigenen befruchteten Embryos.

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Seitenzahl: 452

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2011

© 2011 by mvg Verlag, ein Imprint der FinanzBuch Verlag GmbH, München,

Nymphenburger Straße 86 D-80636 München Tel.: 089 651285-0 Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2010 by Carolyn Savage und Sean Savage

Die englische Originalausgabe erschien 2011 bei HarperOne unter dem TitelInconceivable. A Medical Mistake, the Baby We Couldn’t Keep, and Our Choice to Deliver the Ultimate Gift.

Published by arrangement with HarperOne, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Dörte Fuchs und Jutta Orth, Freiburg

Redaktion: Dunja Götz-Ehlert, Sittenbach

Umschlaggestaltung: Ruth Botzenhardt, München

Umschlagabbildung: iStockphoto

Satz:HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech

EPUB-Produktion:Grafikstudio Foerster, Belgern

ISBN 978-3-86415-154-5

Weitere Infos zum Thema:

www.mvg-verlag.de

Gerne übersenden wir Ihnen unser aktuelles Verlagsprogramm.

Eine Lektion in Sachen Liebe

Wir alle glauben an bestimmte Dinge.

Es ist möglich, dass Sie an etwas anderes glauben als wir.

Das ist kein Problem, solange wir uns respektieren.

Arroganz ist dieser Geschichte so fremd wie unserem Leben.

Natürlich haben wir nicht in allem recht, so viel ist klar.

Eigentlich ist dies sogar das Einzige, dessen wir uns sicher sind.

Wir hoffen, unsere Geschichte hat Ihnen etwas zu sagen,

ob Sie an Gott glauben oder nicht,

ob Sie die ganze oder nur die halbe Bibel kennen,

ein anderes heiliges Buch oder gar keins.

Wir glauben, dass eines für jeden von uns gilt: Wir möchten lieben und geliebt werden.

Die wohl reinste Form der Liebe hier auf Erden ist die Liebe zu einem Kind.

Um diese Art von Liebe geht es in dieser Geschichte:

unsere Liebe zu einem Kind

und um die Lektion in Sachen Liebe, die wir dabei erhalten haben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erster bis dritter Monat

Kapitel 1: Ein Charaktertest

Kapitel 2: Im Namen der Familie

Kapitel 3: Nach dem ersten Schock

Kapitel 4: Unser Fass läuft über

Kapitel 5: Herzschlag

Kapitel 6: Einen Schritt vor und zwei zurück

Kapitel 7: Das Geheimnis wahren

Kapitel 8: Vielleicht – vielleicht auch nicht

Vierter bis sechster Monat

Kapitel 9: Den richtigen Kurs finden

Kapitel 10: Furcht und Zittern

Kapitel 11: Geteiltes Leid ist halbes Leid

Kapitel 12: Eiertänze

Kapitel 13: Ein Silberstreif am Horizont

Sechster bis achter Monat

Kapitel 14: Friedensangebote

Kapitel 15: Zwei Schwangerschaften auf einmal

Kapitel 16: Tage der Angst

Kapitel 17: Der beste Ausweg ist mittendurch

Kapitel 18: Glücksmomente

Kapitel 19: Ein hoffnungsloses Halleluja

Zehnter bis zwölfter Monat

Kapitel 20: In Liebe eingehüllt

Kapitel 21: Abschiedsschmerz

Kapitel 22: Uneindeutiger Verlust

Kapitel 23: Viel Glück und gute Reise!

Prolog

Wir haben drei Kinder – oder vielleicht doch vier? Eine komische Frage, die sich dennoch immer wieder stellt, wenn man einmal vier Kinder gehabt hat und plötzlich eines davon nicht mehr da ist. Denn obwohl dieses Kind nicht mehr da ist, bleibt es trotzdem immer irgendwie anwesend. Mal empfindet man den Verlust als Sehnsucht, mal als stechenden Schmerz. Mein Mann Sean und ich trauern bis heute um den Sohn, den wir verloren haben, auch wenn er uns auf eine ganz merkwürdige Art und Weise abhanden gekommen ist. Oder besser: Wir trauern noch immer um ihn und hadern mit den Umständen, die uns dazu gezwungen haben, ein Baby wegzugeben, das in unseren Augen unser eigenes war. Schließlich habe ich das Kind selbst ausgetragen; außerdem haben Sean und ich alles getan, damit es am Leben bleibt. Trotzdem weiß ich, dass ich den kleinen Jungen vielleicht nie mehr in den Armen halten werde und dass ich für ihn, sollten wir uns je wiedersehen, eine Fremde sein werde. Gut möglich, dass ich nie über seinen Verlust hinwegkomme. Gleichzeitig weiß ich: Sollten Sean und ich noch einmal dieselbe Entscheidung zu treffen haben, würden wir es wieder genauso machen – um Logans willen.

In den sechzehn Jahren unserer Ehe ist die Kinderfrage die bislang größte Herausforderung gewesen: Ich habe mich zwanzig hormonellen Stimulationen, drei In-vitro-Fertilisationen (Befruchtungen im Reagenzglas) und zwei Embryotransfers unterzogen und vier Fehlgeburten gehabt – alles innerhalb von zwölf Jahren, in denen wir alles taten, um unsere Familie zu vergrößern. Dann kam der 6. Februar 2009. An diesem Morgen betraten wir die Kinderwunsch-Klinik für einen letzten Versuch. Mein vierzigster Geburtstag nahte, und falls dieser Versuch scheiterte, wollten wir es dabei bewenden lassen, dankbar für die drei wundervollen gesunden Kinder sein, die wir bereits hatten, und uns anderen Dingen zuwenden. Zwei meiner drei Schwangerschaften waren problematisch verlaufen, die dritte wäre für mich sogar beinahe tödlich ausgegangen. Trotzdem hatten wir uns versprochen, jedem unserer Embryonen eine Lebenschance zu geben, und an dieses Gelübde fühlten wir uns gebunden. Den Transfer sollte an diesem Morgen der von uns sehr geschätzte Fortpflanzungsmediziner vornehmen, der schon die Empfängnis unseres dritten Kindes Mary Kate ermöglicht hatte, nachdem andere Ärzte versagt hatten. Wir ahnten zu diesem Zeitpunkt nicht, dass mir am selben Tag irrtümlich die Embryonen eines anderen Paares eingesetzt werden würden. Ebenso wenig ahnten wir, dass wir das Baby, das ich neun Monate später zur Welt bringen sollte, nicht würden behalten dürfen.

Ich hatte mich über die Weihnachtstage und in den ersten Wochen des neuen Jahres sorgfältig auf diesen Tag vorbereitet: Östrogenpillen eingenommen, mir Leuprolid und Progesteron injiziert und die Wassereinlagerungen und Stimmungsschwankungen ertragen, die damit einhergehen. Obwohl ich mich anfangs bei dem Gedanken, die ganze Prozedur noch einmal durchzumachen, wieder schwanger zu sein und wieder Angst haben zu müssen, unwohl gefühlt hatte, schlug meine Stimmung um, als Sean und ich in der Klinik eintrafen. Wir hofften auf ein zweites Wunder. Ich hatte mir kaum das Patientenhemd übergestreift, da betrat unser Arzt auch schon das Untersuchungszimmer. In sachlichem Ton und ohne Umschweife klärte er uns über den Zustand unserer aufgetauten Embryonen auf.

»Die fünf Embryonen, die überlebt haben, bestehen aus neun bis zwölf Zellen«, sagte er. »Wie viele soll ich Ihnen einsetzen? Sie wissen ja, eine Mehrlingsreduktion kommt für mich nicht in Betracht.«

Damit meinte er, dass er nicht bereit war, einen oder mehrere Föten zu töten, falls sich gleich mehrere Embryonen in meiner Gebärmutter einnisten sollten. Nicht zuletzt wegen dieser Haltung hatten wir uns für diesen Arzt entschieden. Im Übrigen hatte ich erhebliche Zweifel daran, ob es überhaupt einer der fünf Embryonen schaffen würde. Neun Zellen nach vier Tagen in der Petrischale – das war nicht gerade ein besonders starkes Wachstum.

»Könnte ich bitte noch kurz mit meinem Mann unter vier Augen sprechen?«, fragte ich.

»Natürlich. Wir sehen uns gleich drüben im OP. Dann können Sie mir mitteilen, zu welchem Ergebnis Sie gekommen sind.«

»Sean, die Embryonen müssten eigentlich längst aus achtzig bis hundert Zellen bestehen. Das heißt, sie sind völlig unterentwickelt. Am besten, ich lasse mir gleich drei einsetzen. Vermutlich wird ohnehin keiner überleben.«

Sean wusste, wie intensiv ich mich seit zehn Jahren mit den Themen Schwangerschaft, Fehlgeburt und In-vitro-Fertilisation (IVF) befasst hatte.

»Und was soll dann aus den beiden übrigen Embryonen werden?«

»Die stehen bis morgen unter medizinischer Beobachtung«, sagte ich. »Wenn sie dann noch am Leben sind, werden sie wieder eingefroren – obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass sie es schaffen.«

»Gut. Dann also drei«, sagte Sean.

Bevor die Krankenschwester mich in den OP führte, las sie mir noch kurz die Angaben auf meinem Patientenarmband vor:

»Carolyn Savage?«

»Richtig.«

»Sozialversicherungsnummer …?«

»Richtig.«

»Geboren am …?«

»Augenblick mal, der Tag und der Monat stimmen, aber das Jahr ist falsch. Ich bin 1969 geboren, nicht 1967.«

Keine große Affäre, dachte ich. Deshalb ließ ich die Sache auf sich beruhen. Die Schwester überschrieb die Sieben einfach mit einer Neun, befestigte das Band an meinem Handgelenk und führte uns dann in den OP.

Dort legte ich mich auf den Tisch und die Beine in die Beinschalen. Kurz darauf kam Sean herein, der sich in der Zwischenzeit einen Kittel angezogen hatte.

»Wie viele sollen wir Ihnen denn nun einsetzen?«, wollte der Arzt von mir wissen.

»Drei«, sagte ich.

»Wir transferieren drei!«, rief er in Richtung Labor. Einige Minuten später erschien der Embryologe mit einem Katheter in der Hand.

»Sind Sie Carolyn Savage?«

»Ja.«

Der Embryologe inspizierte mein Handgelenk und vergewisserte sich, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Dann überreichte er meinem Arzt den Schlauch. Sean hielt die ganze Zeit meine Hand.

Die Schwester verteilte Ultraschallgel auf meinem Bauch und führte den Schallkopf vorsichtig über meinen Unterleib. Im nächsten Augenblick war auf dem Bildschirm ganz deutlich mein Uterus zu erkennen.

»Da sehen Sie den Katheter, der gerade durch den Gebärmutterhals in Ihren Uterus geschoben wird«, sagte der Arzt. »Und jetzt passen Sie gut auf. Sehen Sie das da?«

Ich konnte bloß erkennen, wie sich der Katheter in meinen Uterus schob. Doch obwohl ich die Embryonen, die in meine Gebärmutter eingesetzt wurden, nicht sehen konnte, stellte ich sie mir wie federleichte Kügelchen vor, die sich ganz behutsam dort einnisteten.

»Herzlichen Glückwunsch. Jetzt sind Sie offiziell schwanger.«

Ich sah Sean lächelnd an. Jetzt waren unsere Embryonen genau dort, wo sie hingehörten, und konnten sich ungestört entwickeln.

»Das war’s, meine Herrschaften. Fertig. Viel Glück. Wir sehen uns in zehn Tagen wieder, nach dem Schwangerschaftstest«, sagte der Arzt im Weggehen.

Ich blieb noch eine Weile regungslos liegen, wie es nach einem Embryotransfer üblich ist.

»Wie findest du eigentlich die Vorstellung, dass du mit Drillingen schwanger bist?«, fragte Sean.

Ich musste lachen. »Mach doch nicht so ein betretenes Gesicht. Wir kommen schon zurecht, egal, was passiert. Drillinge – das wäre allerdings ziemlich heftig. Aber auch das würden wir hinkriegen. Zwillinge? Kein Problem. Und ein einzelnes Kind? Ideal. Und falls aus der Schwangerschaft nichts wird – auch gut.«

»Mr. und Mrs. Savage?« Ein weiß gekleideter Mann betrat das Zimmer.

»Ja?«

»Hier – für Ihr Babyalbum.« Er gab mir ein Bild. Sean und ich bestaunten den Schnappschuss, auf dem unsere Embryonen festgehalten waren. Auf dem Foto waren unsere beiden Namen vermerkt, außerdem unsere persönliche Kennziffer.

»Das erste Bild von Ihrem Nachwuchs. Herzlichen Glückwunsch«, sagte der Mann.

Sean und ich betrachteten das Bild und sahen uns dann strahlend an.

Erster bis dritter Monat

Kapitel 1

Ein Charaktertest

Carolyn

Ich drehte mich im Bett um und sah auf den Wecker. Drei Uhr nachmittags. Mir war hundeelend und trotzdem war ich rundum glücklich. Ich war schon oft genug schwanger gewesen, daher kannte ich die Symptome. In Anbetracht meiner Vorgeschichte durfte ich mir allerdings nichts vormachen. Noch war nichts entschieden. Ich wusste, dass gerade ein Virus die Runde machte. Der merkwürdige Schwindel und die Übelkeit konnten genauso gut eine Folge der Grippe sein. Merkwürdig, das Ergebnis des Schwangerschaftstests, den ich morgens gemacht hatte, musste doch längst vorliegen. Wieso hatte denn noch niemand angerufen? Eigentlich hatte ich das Ergebnis schon mittags erwartet.

Morgens hatte ich mich aus dem Bett gequält, mir einen BH, ein Sweatshirt und eine Hose angezogen und mir notdürftig die Haare zurechtgemacht. Anschließend war ich zur Blutabnahme ins Labor gefahren. Ein kühler Februarmorgen in Sylvania, Ohio. Unsere beiden Söhne Drew, vierzehn Jahre, und Ryan, zwölf Jahre, die an diesem Tag schulfrei hatten, lagen noch im Bett. Unsere einjährige Tochter Mary Kate war bei Seans Mutter, damit ich mich ein bisschen ausruhen konnte. Während der Blutabnahme stellte ich mir vor, dass unsere kleine Tochter vielleicht schon bald ein Geschwisterchen bekommen würde. Was für ein wundervoller Gedanke. Trotz meiner Schwangerschaftsbeschwerden war ich in Hochstimmung.

Als ich zurückkam, herrschte in der Küche das reinste Chaos. Überall schmutzige Pfannen, Teller, Schüsseln mit Pfannkuchenteig. Typisch – unsere beiden Söhne hatten sich etwas zu essen gemacht und waren dann mit ein paar Jungen aus der Nachbarschaft zum Spielen abgezogen. Im Haus war alles still. Ich legte mich wieder ins Bett und genoss die wohlbekannte Wirkung der Schwangerschaftshormone, die in meinem Körper zirkulierten. Mein Handy und das Festnetztelefon lagen neben mir auf einem Kissen.

Gegen halb drei wachte ich wieder auf. Die Klinik hatte sich immer noch nicht gemeldet. Allmählich wurde mir mulmig zumute, außerdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sich außer mir noch jemand im Zimmer aufhielt. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich allein im Haus war. Plötzlich war ich hellwach – als wäre gerade etwas Entscheidendes passiert, das meine volle Aufmerksamkeit verlangte. Als es schließlich drei wurde und sich immer noch niemand gemeldet hatte, kamen mir erste Zweifel. Und wenn ich nun gar nicht schwanger bin?, dachte ich. Ich begann zu zittern und zog mir die Bettdecke über den Kopf. Vielleicht hatte ich mir ja doch nur eine Grippe eingefangen. Ich drehte mich auf die linke Seite und hatte plötzlich starkes Sodbrennen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Und dann fiel es mir wieder ein … Ach ja – auch so ein typisches Schwangerschaftssymptom. Unwillkürlich musste ich lächeln, dann schlief ich wieder ein.

Als ich das nächste Mal aufwachte, war es schon fast halb vier. Mein erster Impuls war, selbst in der Klinik anzurufen, doch dann ließ ich es bleiben. Die Klinik konnte mich unmöglich vergessen haben.

Sean

Ich arbeite als Berater bei einem Finanzdienstleister. Im Februar 2009 war die Stimmung dort auf dem Tiefpunkt. Seit dem Beinahe-Kollaps der Märkte im Spätsommer 2008 hatte ich unentwegt Überstunden gemacht und mich nach Kräften bemüht, die Panik einzudämmen, die auch von einigen meiner Klienten Besitz ergriffen hatte. Jeder Anruf bedeutete einen verängstigten Kunden. Immer wenn ich auf den Computerbildschirm blickte, waren die Börsenkurse schon wieder gefallen. Doch am 16. Februar hofften Carolyn und ich zur Abwechslung mal wieder auf eine positive Nachricht: das Ergebnis ihres Schwangerschaftstests. Am Vorabend und am frühen Morgen war Carolyn übel gewesen. Möglicherweise ein Grippesymptom, vielleicht aber auch die schwangerschaftstypische morgendliche Übelkeit. Inzwischen war es schon halb vier nachmittags. Carolyn hätte sich eigentlich längst bei mir melden sollen.

Plötzlich schrillte mein Handy und ich nahm den Anruf entgegen.

»Sean, sind Sie allein?« Es war unser Arzt. Seine Stimme bebte. Das bedeutet nichts Gutes, dachte ich, während ich die Tür zu meinem Büro schloss.

»Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie«, sagte er, »allerdings eine andere, als Sie vermutlich erwarten«, erklärte er. »Carolyn ist mit dem Kind eines anderen Elternpaars schwanger.« Ich war so verblüfft, dass ich kein Wort herausbrachte. Das konnte doch unmöglich stimmen. Wie sollte das passiert sein? Die Hand, in der ich das Telefon hielt, fing an zu zittern.

Der Arzt erklärte mir, dass der Embryologe der Klinik den Fehler schon am Vortag bemerkt und ihn sofort angerufen hatte, um ihm unter Tränen zu gestehen, dass er der Kryobank versehentlich die Embryonen eines anderen Paares entnommen hatte. Und diese Embryonen hatte unser ahnungsloser Arzt in Carolyns Gebärmutter implantiert. Deshalb hatte er gewartet, bis das Ergebnis des Schwangerschaftstests vorlag, bevor er uns über den Irrtum aufklärte. Er sagte, dass ihm der Irrtum unendlich leid tue.

Ich dachte an die Implantation, an die Embryonen, die in Carolyns Gebärmutter gespült wurden, und sah Carolyn vor mir, wie sie am Morgen im Bett gelegen und sich über ihre Übelkeit beklagt hatte.

»Haben Sie die andere Familie schon informiert?«, fragte ich dann.

»Nein, noch nicht. Ich wollte zuerst wissen, wie Sie und Carolyn reagieren – ob Sie die Schwangerschaft fortsetzen möchten. Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich Carolyn unter dieser Nummer erreiche. Können Sie mir vielleicht ihre Nummer geben?«

»Nein«, sagte ich. Ich dachte nicht im Traum daran, dem Arzt die Nummer zu geben.

»Ich glaube, Sie sollten sich reiflich überlegen, ob Sie die Schwangerschaft unter diesen Umständen fortsetzen möchten«, sagte der Arzt. »Immerhin geht es hier auch um Carolyns Gesundheit – mal ganz abgesehen von der seelischen Belastung  …«

»Rufen Sie mich in einer Stunde unter dieser Nummer wieder an«, sagte ich.

Nach dem Telefonat saß ich wie gelähmt an meinem Schreibtisch. In meinem Kopf ging es drunter und drüber. Diese schlimme Nachricht konnte ich Carolyn nur persönlich überbringen. Seit über zwanzig Jahren war Carolyn mein Fels in der Brandung, meine Seelengefährtin. Wir hatten stets alle Lasten gemeinsam geschultert. Unsere Beziehung war im besten Sinne des Wortes eine Partnerschaft. Als ich daran dachte, wie sehr die schreckliche Nachricht meine Frau treffen musste, drehte sich mir fast der Magen um.

Los, steh auf, schnapp dir die Schlüssel und fahr nach Hause.

Die Heimfahrt dauerte genau sechzehn Minuten. Ich kannte die Strecke in- und auswendig, und das war gut so, da ich mich ohnehin nicht auf die Straße konzentrieren konnte. Das wirft unser ganzes Leben aus der Bahn, dachte ich immer wieder. Mehr fiel mir dazu nicht ein. Am schlimmsten war jedoch, dass ich beim besten Willen nicht wusste, wie ich Carolyn die Neuigkeit beibringen sollte.

Als ich in die Einfahrt bog, klopfte mein Herz wie verrückt. Ich wusste, dass Carolyn im Schlafzimmer war, weil sie Ruhe brauchte. Ich war dankbar dafür, dass unsere Söhne in der Nachbarschaft unterwegs zu sein schienen, und unsere Jüngste wusste ich bei meiner Mutter in guten Händen. Im Haus war alles still. Beklommen stieg ich die Treppe hinauf.

Im Schlafzimmer waren die Vorhänge zugezogen. In dem dämmrigen Licht wirkte Carolyn erschöpft und verletzlich. Als ich zu ihr ans Bett trat, fuhr sie erschrocken auf.

»Ich habe leider eine wirklich schlechte Nachricht«, sagte ich. Augenblicklich saß sie kerzengerade im Bett. »Du bist zwar schwanger, aber der Arzt hat dir die Embryonen eines anderen Ehepaars eingesetzt.«

»Was?«

»Die Klinik hat einen furchtbaren Fehler gemacht. Du bist mit den Embryonen eines anderen Ehepaars schwanger. Das hat der Arzt mir am Telefon gestanden.«

»Soll das ein Witz sein?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Aber das kann doch bloß ein Witz sein!«, wiederholte sie mit lauter Stimme.

Wieder schüttelte ich den Kopf. Ein Ausdruck des Entsetzens erschien auf ihrem Gesicht.

»Aber das ist doch völlig absurd!«

Als ich mich zu ihr hinunterbeugen wollte, um sie zu trösten, war sie schon aus dem Bett gesprungen. Ich wich instinktiv zurück. Sie kam auf mich zu, den Finger auf meine Brust gerichtet, als ob sie mich zwingen wollte, meine Worte zurückzunehmen. Dann blieb sie stehen. Ich sah, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten, und merkte, dass auch mir die Tränen übers Gesicht liefen. Ich war ihr Mann, aber ich konnte ihr nicht helfen. Niemand konnte das.

Carolyn

Sean war aschfahl im Gesicht. Seine Schultern hingen kraftlos herab. Seine gewohnte Zuversicht war wie weggeblasen. Im tiefsten Innern wusste ich, dass er sich keinen schlechten Scherz mit mir erlaubte. So verstrichen einige Sekunden. Dann erst begriff ich die ganze Tragweite dessen, was er da gerade gesagt hatte, und verlor die Fassung.

Sean kam näher, um mich zu trösten, doch ich wollte nicht, dass jemand mich anfasste. Ich rannte ins Bad. Er lief hinter mir her. Ich lief auf den Wandschrank zu, dann wieder zurück zum Bett, als wollte ich fliehen, doch es gab kein Entrinnen. VordiesemProblem konnte ich nicht davonlaufen, dieses Problem war jetzt in mir, ein Teil meines Körpers. Ich rang nach Atem. Ein rascher Blick in den Schlafzimmerspiegel. Mein Gesicht war fleckig, die Augen gerötet und verquollen.Reiß dich zusammen, Carolyn,dachte ich. Dann sah ich Sean, der in der Ecke stand und weinte. Ich hatte ihn erst zweimal weinen sehen: das erste Mal an dem Tag, an dem sein Vater gestorben war, das zweite Mal nach Ryans Geburt, als ich fast gestorben wäre. Auch die Tränen, die er jetzt vergoss, zeugten von Hilflosigkeit. Er wusste nicht, wie er mir helfen konnte.

Ich ließ mich aufs Bett fallen, nahm mein Kopfkissen und presste es gegen die Brust. So lag ich da, starrte die Wand an und versuchte, ruhiger zu atmen. Ich konnte Sean nicht anschauen, konnte den Blick nicht von der Wand abwenden.

So vergingen einige Minuten. Dann kam Sean näher. Er zögerte, dann sagte er leise: »Der Arzt hat vorgeschlagen, die Schwangerschaft zu beenden.«

»Was wollen die?«

»Er hat gesagt, eine Abtreibung wäre für dich das Beste.«

Dabei war der Mann angeblich strikt gegen Abtreibungen. Wie konnte er jetzt gegen seine eigenen Grundsätze verstoßen?

Ich sah Sean an. Unsere Blicke trafen sich. Jeder von uns wusste, was der andere dachte. Es ging um ein Menschenleben und das würden wir schützen. Dass dieses Kind sich zufällig in der falschen Gebärmutter befand, spielte keine Rolle. Es konnte schließlich nichts dafür. Ich versuchte, mich in die Situation seiner Mutter hineinzuversetzen. Sollte das Leben ihres Kindes nur deshalb vernichtet werden, weil der Embryo sich zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befunden hatte? Und wenn nun die Ärzte einen von unseren Embryonen einer fremden Frau eingesetzt hätten? Würde ich dann nicht erwarten, dass diese Frau Gnade walten lassen und das Leben meines Kindes schützen würde?

Ich sah Sean an und wusste sofort, dass wir uns in diesem Punkt völlig einig waren.

»So etwas würden wir niemals tun«, sagte ich.

Sean nickte zustimmend. Damit war die Sache klar. Wir waren bereit, diese Schwangerschaft gemeinsam durchzustehen. Wieder suchte ich seinen Blick, doch er betrachtete gerade das Porträt über dem Bett, auf dem unsere ganze Familie am Strand zu sehen ist. Ich schloss die Augen. Bloß nicht daran denken! Als ich die Augen wieder öffnete, schluchzte Sean.

Kapitel 2

Im Namen der Familie

Sean

Als ich Carolyn ansah, bemerkte ich, dass sie ebenfalls weinte. Es war unglaublich. Wieso musste das ausgerechnet uns passieren? Seit wir uns kannten, war die Familie für uns stets das Wichtigste gewesen. Wir hatten auf vieles verzichtet und eine Menge Geld ausgegeben, weil wir uns eine große Familie wünschten.

Ich hatte Carolyn 1989 auf einer Party meiner Studentenverbindung an der Miami University in Ohio kennengelernt. Ich war sofort völlig hin und weg gewesen. Genauso hatte ich mir die Frau vorgestellt, die ich einmal heiraten wollte. Sie war zwar eher konservativ gekleidet, trotzdem schien ein Funkeln und Leuchten von ihr auszugehen. Ich bat Freunde, mich mit ihr bekannt zu machen. Als ich mich dann mit ihr unterhielt, merkte ich, dass sie durchaus zu Späßen aufgelegt war.

»Schon mal einen Haartanz gesehen?«, fragte sie mich.

»Nein«, sagte ich. Also riss sie sich ein paar von ihren langen blonden Haaren aus und führte mich zu einem Tisch, auf dem sich Bierpfützen gebildet hatten.

»Und jetzt pass genau auf, was passiert, wenn ich die Haare in die Bierpfütze lege«, sagte sie.

Ich beugte mich tief über den Tisch. Als ich die Tischplatte fast mit der Nase berührte, klatschte Carolyn mit der flachen Hand in die Pfütze, dass mir das Bier ins Gesicht spritzte. Ganz schön frech! Ich bewunderte ihren Mut. Das Mädchen gefällt mir, dachte ich.

Wir beschlossen, noch auf eine andere Party zu gehen, die in einem Verbindungshaus ganz in der Nähe stattfand, doch das Fest war schon vorbei. Ich bot an, sie nach Hause zu begleiten, und sie war einverstanden. Wir ließen uns viel Zeit mit dem Heimweg. Es war zwar schon fast Mitternacht, aber noch immer über zwanzig Grad warm, ungewöhnlich lau für eine Oktobernacht in Ohio. Wir schlenderten die High Street entlang und an den hübschen, im Kolonialstil gehaltenen Backsteingebäuden auf dem Campus vorbei, lachten und plauderten angeregt und vergaßen die Welt ringsum. Genau wie man es sich wünscht. Zum Abschied gestattete sie mir sogar einen flüchtigen Kuss.

In den nächsten Wochen passierte zwischen uns so gut wie gar nichts, doch nach Thanksgiving waren wir zusammen. Zwei Tage nach Weihnachten, das ich bei meinen Eltern in Toledo, Illinois, verbracht hatte, begab ich mich auf die fünfstündige Fahrt nach Champaign, um Carolyn zu besuchen und ihre Familie kennenzulernen. Die komplette Higgins-Sippe erwartete mich schon: Carolyns Vater Byron, ihre Mutter Linda und ihre beiden Brüder Mike und Andy. Byron war Justiziar der Universität von Illinois und konnte andere Menschen – vor allem junge Männer, die seiner Tochter den Hof machten – sehr gut einschätzen.

Linda verwöhnte uns zum Abendessen mit einem mehrgängigen Menü. Als wir fertig waren, standen wir vom Tisch auf. Ich konnte es kaum erwarten, endlich mit Carolyn auszugehen. Doch Linda war unerbittlich. Wir mussten uns wieder hinsetzen und sie servierte mir ein Stück von ihrem berühmten Kirschkuchen. Ich hasse Kirschkuchen. Er bringt mich zum Würgen, doch der Kuchen war ganz offenbar Lindas ganzer Stolz. Mir war klar, dass ich das Stück vor mir auf dem Teller lieber aufessen sollte, wenn ich es mir mit der Familie Higgins nicht verscherzen wollte. Irgendwie brachte ich den Kuchen runter – nicht ohne Bailey, den Hund der Higgins, der sich unter dem Tisch in Stellung gebracht hatte, mit einer reichlichen Portion zu versorgen. Anschließend überhäufte ich die Küchenchefin mit Komplimenten. Prüfung bestanden! Als ich fuhr, ließ Carolyn sich – wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck meines exzellenten Benehmens – sogar zu einem »Ich liebe dich« hinreißen.

Im folgenden Sommer arbeitete ich in Toledo auf einer Baustelle. Während ich unzählige Nägel versenkte, dachte ich fast pausenlos an Carolyn. An den Wochenenden fuhr ich entweder nach Champaign oder sie kam mich besuchen. An die endlosen Fahrten kann ich mich noch gut erinnern. Einmal, an einem Samstag im Juli, hörte ich nachmittags um drei auf zu arbeiten, sprang – verschwitzt und verstaubt, wie ich war – in den Wagen und traf abends gegen halb acht bei Carolyns Eltern ein. Am nächsten Tag musste ich wegen einer Familienfeier schon mittags wieder in Toledo sein, deshalb blieb mir keine andere Wahl, als mich bereits morgens um sieben wieder von Carolyn zu verabschieden. Ich verbrachte also zehn Stunden im Auto, um zwölf Stunden bei Carolyn zu sein.

Als wir offiziell ein Jahr zusammen waren, wollte ich Carolyn ein besonderes Geschenk machen. Am 29. Oktober, unserem ersten Jahrestag, fuhren wir nach Cincinnati, wo ich einen schönen irischen Claddagh-Ring kaufte, den ich ihr – stellvertretend für jenen Ring, den ich ihr später einmal als Symbol unserer Liebe und Ehe schenken wollte – an den Finger steckte. Inzwischen war ich nämlich davon überzeugt, dass wir auf ein gemeinsames Leben zusteuerten, ein Leben, in dem sich alles um unsere Familie drehen würde. Schon am Anfang unserer Beziehung hatten wir uns eines Abends ausgemalt, wie wir später einmal mit einer Schar lärmender Kinder um einen großen Küchentisch sitzen würden. Wir fingen sogar schon an, Namen auszusuchen.

Im späten Frühjahr 1992 – ich war gerade mit dem Studium fertig – kniete ich im Garten der Miami University vor Carolyn nieder und machte ihr einen Heiratsantrag. Carolyn willigte ein und wir fingen sofort an, Hochzeitspläne zu schmieden. Am 29. März 1993, genau hundert Tage nachdem mein Vater John F. Savage gestorben war, heirateten wir in der St. John’s Catholic Chapel in Champaign, Illinois. Carolyn zog zu mir nach Toledo. Ich fand eine Stelle bei der State Farm Insurance und Carolyn unterrichtete Literatur an einer katholischen Schule. Einige Jahre später fing ich bei Savage & Associates an, einem von meinem Vater gegründeten Unternehmen für Finanzdienstleistungen, das später von meinem Onkel Bob Savage geleitet wurde. Inzwischen hatten wir zwei Söhne. Carolyn schrieb an ihrer Masterarbeit in Pädagogik und sollte bald die Leitung einer Grundschule übernehmen. Was konnte uns jetzt noch daran hindern, all unsere Träume zu erfüllen?

Nur eins: Unfruchtbarkeit.

Carolyn

Obwohl Sean sich sofort in mich verliebte, hat es bei mir etwas länger gedauert. Gut, ich habe zugelassen, dass er mich gleich am ersten Abend zum Abschied küsste. Aber als wir uns ein paar Tage später zufällig abends auf der Straße wieder begegneten, erkannte ich ihn nicht einmal. Ich glaube, bei unserer ersten Begegnung hatte ich etwas zu viel Bier getrunken. Wahrscheinlich brauchte ich einfach noch ein bisschen Zeit. Als er mich zum ersten Mal in meinem Studentenzimmer besuchte, beobachteten meine Mitbewohnerin und ich ihn schon durchs Fenster. Er hatte einen leuchtend blauen Trainingsanzug an – und das bei unserem ersten richtigen Rendezvous! Meine Freundin kicherte und sagte: »Vielleicht kannst du ihm ja beibringen, wie man sich vernünftig anzieht. Sieht nämlich verdammt gut aus, der Junge, selbst in den Klamotten.«

Nach diesem etwas zähen Auftakt habe ich mich allerdings total in Sean verliebt. Er ist so aufgeweckt und witzig und schreckt – genau wie ich – vor keiner Herausforderung zurück. Wir passten also hervorragend zusammen. Aber wir waren nicht nur ehrgeizig, wir hatten auch gemeinsame Überzeugungen und Ziele und vor allem wollten wir beide unbedingt eine große Familie, weil wir sicher waren, dass es nichts Großartigeres auf Erden gibt, als Kinder großzuziehen. Ich habe schon immer liebend gerne Babys geknuddelt und sie zum Lachen gebracht. Wir waren uns einig, dass wir mindestens vier Kinder haben wollten. Fünf oder sechs wären auch in Ordnung gewesen, vorausgesetzt, wir konnten sie uns leisten. Sean ist das achte von neun Kindern. Wenn er erzählte, wie es gewesen war, in einer großen Familie aufzuwachsen, war ich hin und weg.

Als ich ungefähr ein halbes Jahr mit Sean zusammen war, lernte ich die Familie Savage dann persönlich kennen. Der Anlass war die Hochzeit seiner Schwester Patti. Sean hatte mich schon auf dem Weg zur Kirche vorgewarnt, dass bei der Feier mehr als hundert seiner Verwandten zugegen sein würden, die mich alle kennenlernen wollten. Wie sollte ich mir nur so viele Namen einprägen? Die Geschichten, die Sean mir über seine diversen Brüder erzählte, machten alles nur noch schlimmer.

»Im Grunde kannst du sogar noch froh sein, dass wir heute eine Hochzeit feiern und nicht bloß zum Essen an einem riesigen Tisch zusammensitzen. Wenn einer von uns eine neue Freundin mitbringt, wird sie nämlich von den übrigen Brüdern benotet.«

»Wie bitte?«

»Sagen wir, einer von uns bringt seine neue Flamme zum Essen mit nach Hause. Bei Tisch rufen die anderen sich dann gegenseitig Punktwerte zu.«

»Klingt ja furchtbar!«

»Ach, das ist gar nicht so schlimm. Das Mädchen weiß ja ohnehin nicht, worum es geht. Man bittet also einen der anderen beispielsweise um ›drei Brötchen‹ oder um ›sieben grüne Bohnen‹. Aber keine Sorge, du bekommst ganz sicher einige Traumnoten.«

Einige Traumnoten? Als wir nach der Trauung vor dem Haus der Savages aus dem Auto stiegen, war ich ziemlich nervös. Das etwa zweieinhalb Hektar große Anwesen lag in einem Vorort von Toledo an einem Hang. Die Familie hatte ganz in der Nähe einen großen Saal angemietet, um die vierhundert geladenen Gäste bewirten zu können. Von dem Buffet bekam ich offen gestanden kaum etwas mit, weil ich vollauf damit beschäftigt war, Seans Geschwister samt Anhang kennenzulernen und mir ihre Namen einzuprägen. Da waren zum Beispiel John und Cindy; Kevin und JoAnn; Jeff und seine Freundin Carol; Scott und Julie mit ihrer einjährigen Tochter Kristen; Brian und Beth und dann noch das Brautpaar selbst: Patti und ihr frisch angetrauter Ehemann Pat; außerdem Kelly und Seans jüngster Bruder Aaron.

»Dann gibt es natürlich noch eine Menge Cousins und Cousinen«, sagte Sean, »schließlich hat mein Vater acht Geschwister.« Ich muss ein ziemlich verblüfftes Gesicht gemacht haben. »Keine Sorge. Die kenne nicht mal ich alle mit Namen. Deshalb haben meine Tanten angeregt, dass wir bei Familienfesten Namensschilder tragen.«

Genauso hatte ich mir schon als Kind eine richtige Familie vorgestellt. Dabei hatte ich eine durchaus glückliche Kindheit und liebe meine Eltern und Geschwister von Herzen. Besonders lebhaft sind mir unsere wundervollen sommerlichen Segeltörns auf dem Huronsee in Erinnerung geblieben. Auch das gemeinsame Abendessen – immer um Punkt sechs – war für mich sehr wichtig. Trotzdem hatte ich immer von einer richtig großen Familie geträumt. Deshalb konnte ich mir auch sehr gut vorstellen, zum Clan der Savages zu gehören.

Besonders gefiel mir, dass die Familie Savage so eng in das Gemeindeleben verwoben war, genau wie ich mir das schon immer gewünscht hatte: Ich sehnte mich nach einer Gemeinschaft, deren Mitglieder aufeinander achtgeben und wichtige Ereignisse in ihrem Leben – Taufen, Beerdigungen und kirchliche Feste – teilen und feiern. Auch meine Eltern waren religiös, hatten sich aber nie in einer Gemeinde engagiert – das war keine einfache Situation für ein kleines Mädchen mit einer Vorliebe für feierliche Rituale und eine strukturierte Lebensführung. In Seans Familie sorgte außerdem die kraftvolle und charismatische Persönlichkeit seines Vaters für festen Zusammenhalt.

John Savage war beruflich sehr erfolgreich und außerdem ein weltweit gefragter Redner und Motivationstrainer. Obwohl es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, seinen Kindern ein kostspieliges College zu finanzieren, ersann er eine andere Strategie, um sie charakterlich zu festigen: Sie mussten die Hälfte ihrer Studiengebühren selbst aufbringen. Sobald sie das Studium erfolgreich beendet hatten, erstattete ihr Vater ihnen den Geldbetrag zurück, den sie selbst vorgestreckt hatten.

In unserer Verlobungszeit stellte sich heraus, dass Seans Vater an einer besonders bösartigen Form von Leukämie erkrankt war. Drei Monate vor unserer Hochzeit starb er und die ganze Stadt schien um ihn zu trauern. Drei Tage lang beherrschte sein Tod die lokale Berichterstattung. Dem Leichenwagen folgten an die hundert Autos. Vor der nach dem Verstorbenen benannten wunderschönen Basketballarena der Universität von Toledo legte der Trauerzug einen kurzen Halt ein. Später trugen die sieben Söhne des Verstorbenen, unter ihnen auch Sean, den Sarg ihres Vaters auf dem Friedhof zu Grabe.

In großen irischen Familien geht das Leben trotz Trauer und Sorgen immer weiter. Sean und ich heirateten im Todesjahr seines Vaters und in der Großfamilie kündigte sich ein reicher Kindersegen an. Zum Zeitpunkt unserer Hochzeit hatten wir bereits zwei Nichten, Kristen und Meredith, und noch im selben Jahr kamen weitere fünf Babys zur Welt. Mein Wunsch, zu diesem Kindersegen möglichst bald selbst etwas beizutragen, ließ sich jedoch nicht so leicht erfüllen, wie wir gehofft hatten, denn ich hatte offenbar Probleme, schwanger zu werden. Schon im Teenager-Alter war bei mir eine Endometriose, eine gutartige Wucherung der Gebärmutterschleimhaut, festgestellt worden. Als Studentin hatte ich mir die für diese Erkrankung typischen Verwachsungen und Vernarbungen operativ entfernen lassen. Mein Frauenarzt hatte Sean und mich bereits vor der Hochzeit darauf hingewiesen, dass wir, falls wir eine große Familie gründen wollten, am besten sofort damit beginnen sollten. Wir nahmen uns das so zu Herzen, dass ich an unserem ersten Hochzeitstag im fünften Monat schwanger war.

Drews Empfängnis fand auf konventionellem Wege statt und seine Geburt verlief völlig unproblematisch. Offenbar waren die Fruchtbarkeitsprobleme, welche die Ärzte uns prophezeit hatten, doch nicht so gravierend. Wenn ich damals geahnt hätte, was uns noch bevorstand, hätte ich mir jede einzelne Minute des Tages eingeprägt, an dem Drew zur Welt kam. Wir versuchten sofort, ein zweites Kind zu bekommen, doch von da an war alles viel schwieriger als beim ersten Mal.

Die Kinderwunschbehandlung begann zunächst damit, dass wir sorgfältig meine Basaltemperatur maßen, um den Zeitpunkt des Eisprungs zu ermitteln, und unser Liebesleben – jenseits aller zärtlichen Impulse – einem strengen Reglement unterwarfen. Ich bin mir deshalb ziemlich sicher, dass ich unseren zweiten Sohn nach einem hormonell eingeleiteten Eisprung an einem Sonntagabend empfangen habe, während im Fernsehen eine Folge von Mord ist ihr Hobby lief. Nicht gerade die romantischste Art, schwanger zu werden, aber wenigstens hat es funktioniert.

Auch meine zweite Schwangerschaft verlief anfangs komplikationslos. Doch dann bekam ich zehn Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin plötzlich starke Unterleibsschmerzen und fühlte mich ganz benommen. Sean brachte mich sofort ins Krankenhaus. Mein Blutdruck war auf 160/100 hochgeschossen. Weil die Ärzte eine Präeklampsie (eine Komplikation, die in der zweiten Schwangerschaftshälfte auftreten kann und mit Bluthochdruck und einer Unterversorgung der Plazenta einhergeht) vermuteten, behielten sie mich gleich in der Klinik. Am nächsten Morgen diagnostizierte der behandelnde Arzt bei mir ein HELLP-Syndrom – eine der schwerwiegendsten Schwangerschaftskomplikationen überhaupt. Um mein eigenes und das Leben unseres Kindes nicht zu gefährden, war ein sofortiger Kaiserschnitt unumgänglich. Noch am selben Abend um halb elf kam unser zweiter Sohn zur Welt. Da er untergewichtig war, wurde er sofort auf die Neugeborenen-Intensivstation verlegt. Auch ich musste noch zehn Tage im Krankenhaus bleiben, um mich zu erholen. Einen Monat später durften wir Ryan nach Hause holen. Der kleine Prachtkerl brachte zu diesem Zeitpunkt bereits stolze 1,8 Kilogramm auf die Waage.

Nach Ryans Geburt waren sich sämtliche Ärzte, die wir konsultierten, darin einig, dass bei einer weiteren Schwangerschaft nicht mit einem erneuten Auftreten des HELLP-Syndrom zu rechnen sei, dass wir also ohne Weiteres ein drittes Kind bekommen könnten. In den folgenden zehn Jahren unterzog ich mich diversen Fruchtbarkeitsbehandlungen. Verschiedentlich fragten wir die Ärzte auch, ob in unserem Fall vielleicht eine In-vitro-Fertilisation angezeigt wäre, erhielten jedoch stets die Auskunft, dass dieses Verfahren in unserem Fall nicht erforderlich sei. Angeblich reagierten meine Eierstöcke auf die Hormongaben ausgesprochen positiv und auch Seans Spermien waren nach ärztlicher Auskunft »echte Flitzer«.

Wenn das stimmte, worin bestand dann unser Problem? Ob es am Stress lag? Denkbar. Inzwischen wuchsen unsere beiden kleinen Söhne heran und ich absolvierte ein Aufbaustudium, das mich für die Position einer Grundschulrektorin qualifizierte. Sean kümmerte sich währenddessen um den Aufbau seiner Firma. Trotzdem überlegten wir immer wieder, ob wir noch einmal versuchen sollten, ein weiteres Kind zu bekommen.

Im Jahr 2005 bekam ich dann eine Stelle als Rektorin. Zu diesem Zeitpunkt bemühten wir uns bereits seit sieben Jahren um ein drittes Kind. Da wir beide beruflich stark belastet waren, gab es immer häufiger Missverständnisse zwischen uns. Der Eklat war deshalb vorprogrammiert.

Eines Abends – ich war gerade auf dem Weg zu einer Sitzung des Schulvorstands, über die ich Sean schon Wochen zuvor informiert hatte – begann mein Handy zu klingeln. Ich nahm das Gespräch entgegen.

»Hallo, Carolyn. Hier spricht Geoff Aughenbaugh. Ich bin gerade beim Lauftraining. Sean ist offenbar schon weg und hat hier etwas vergessen.«

Sean war der Trainer von Drews Geländelauf-Team. Montagabends musste er allerdings früher gehen als sonst, um Ryans Fußballmannschaft zu trainieren. »Okay, Geoff. Was hat er denn vergessen? Ach, egal. Leg es doch bitte einfach in dein Auto und bring es dann morgen zum Training wieder mit«, bat ich ihn.

»Hm. Das wird nicht funktionieren. Er hat nämlich Drew vergessen!« Ich konnte beinahe hören, dass er schmunzelte. Früher hatte Sean Drew nach dem Geländelauf mit zum Fußballtraining genommen, doch inzwischen war der Junge alt genug, um allein zu Hause zu bleiben. Deshalb hatte ich gedacht, Sean würde dafür sorgen, dass Drew irgendwie nach Hause kam. Da wir beide kaum noch wussten, wo uns der Kopf stand, hatten wir allerdings vergessen, uns darüber zu verständigen, wer den Jungen denn nun abholt.

Ich war sauer auf Sean und er – wie sich bald herausstellte – nicht minder böse auf mich. Als wir abends ins Bett gingen, machten wir uns gegenseitig Vorhaltungen. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich schloss mich heulend im Bad ein.

Als ich mein müdes, sorgenvolles Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete, wurde mir bewusst, dass es in letzter Zeit für meinen Geschmack etwas zu häufig zu solchen Vorfällen gekommen war. Es war noch keine Woche her, da war ich morgens losgefahren, um die Jungs zur Schule zu bringen. Vor lauter Sorgen um eine bevorstehende Besprechung hatte ich völlig vergessen, die beiden aussteigen zu lassen. Wir waren längst an der Schule vorbei, als Drew fragte: »Mami, wohin fahren wir eigentlich?« Also machte ich kehrt, brachte die beiden zur Schule und kam deshalb zu spät zur Arbeit. Eine Woche früher hatte mich eine Mutter gefragt: »Wie machen Sie es eigentlich, dass sich Ihre Söhne in der Schule ausgewogen ernähren?« Ich musste ihr gestehen, dass ich den beiden nicht einmal ein Pausenbrot mitgab. Sie musterte mich mit einem Blick, der Bände sprach. Sicherlich war ihre Reaktion übertrieben und außerdem ging sie das Ganze auch nichts an – trotzdem hatte ich Schuldgefühle. Wie gern hätte ich den beiden ein Mittagessen zurechtgemacht und gewusst, dass sie jeden Tag etwas rundum Gesundes aßen, etwas, das ich für sie ausgesucht hatte, etwas, das uns verband. Doch dazu fehlte mir schlicht die Zeit.

Als ich das Bad verließ, wartete Sean schon auf mich. Er sprach aus, was mich seit Wochen beschäftigte: »Weißt du was? Eigentlich musst du doch gar nicht arbeiten. Wir kommen doch auch so gut zurecht.«

Die Aussicht auf ein etwas geruhsameres Leben schien mir sehr verlockend. Wie gerne hätte ich mehr von den Kindern gehabt. Trotzdem war es eine merkwürdige Vorstellung, meine Position als Rektorin einfach aufzugeben. Schließlich hatte ich hart gearbeitet, um diesen Posten zu bekommen.

Und dann sagte Sean abermals genau das, was ich hören wollte: »Probier doch einfach mal aus, wie du dich fühlst, wenn du nicht arbeitest. Falls dir dein Beruf fehlt, kannst du immer noch zurückgehen.«

In diesem Augenblick beschloss ich, das Experiment zu wagen. Am Ende des Schuljahrs gab ich meine Stellung auf und widmete mich von nun an ganz meinen Aufgaben als Hausfrau und Mutter. Gleichzeitig schwor ich mir, meine Berufstätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzunehmen. Mein Entschluss hatte sicherlich auch mit der Hoffnung zu tun, dass wir vielleicht doch noch ein Kind bekommen könnten, wenn ich nicht mehr so überlastet war.

In jenem Herbst konsultierten wir unseren Arzt ein weiteres Mal. Wir wollten noch einen Versuch unternehmen, ein drittes Kind zu bekommen. Nach drei erfolglosen Hormonbehandlungen waren wir kurz davor, aufzugeben. Wir vereinbarten zwar noch einen Termin, um die verbleibenden Optionen durchzusprechen, doch im Grunde waren wir völlig erschöpft. Sooft ich an das Thema Schwangerschaft dachte, wurde ich von dem Gedanken gequält, eine Versagerin zu sein. Vor den erfolglosen Hormonbehandlungen hatte ich bereits zwei Fehlgeburten gehabt, beide Male hatte noch nicht einmal der Herzschlag des Embryos eingesetzt. Es klappte einfach nicht.

»Nichts von dem, was wir bisher versucht haben, hat funktioniert«, sagte ich, als wir unserem Arzt gegenübersaßen. »Ich produziere zwar tonnenweise Eizellen, und wie Sie sagen, ist auch Seans Sperma völlig in Ordnung, aber warum werde ich dann nicht schwanger?«

»Dafür habe ich leider auch keine Erklärung«, sagte der Arzt. »Jetzt bleibt allerdings nur noch die In-vitro-Fertilisation. Obwohl es rein medizinisch eigentlich keinen Grund dafür gibt.«

»Die bisherigen Methoden haben jedenfalls nichts gebracht«, sagte ich.

»Wie funktioniert eine IVF-Behandlung eigentlich genau?«, wollte Sean wissen.

»Den ersten Teil der Prozedur kennen Sie ja schon, der unterscheidet sich nämlich nicht von unserem bisherigen Vorgehen. In dieser Phase müsste Carolyn Medikamente einnehmen, die ihre Eierstöcke zur Produktion von Eizellen anregen. Sobald diese Eizellen reif sind, werde ich sie ihr entnehmen und sie im Labor mit Ihrem Sperma befruchten. Dann müssen wir ein paar Tage abwarten und die Entwicklung der Embryonen beobachten. Drei bis fünf Tage später pflanzen wir Carolyn dann ein, zwei oder auch drei Embryonen in die Gebärmutter ein.«

»Und von welchen Kriterien hängt die Zahl der implantierten Embryonen ab?«, fragte Sean.

»Ich bilde mir ein Urteil über die Qualität der Embryonen und dann sprechen wir darüber. Falls sich die Embryonen gut entwickeln, würde ich nicht mehr als zwei implantieren. Falls sie sich nicht so gut entwickeln, wäre es vielleicht sicherer, drei zu verwenden. Allerdings möchten wir natürlich nicht, dass Sie mit Drillingen oder gar mit Vierlingen schwanger werden, Carolyn.«

»Und zwei Wochen nach der künstlichen Befruchtung machen wir einen Schwangerschaftstest, oder?«, fragte ich.

»So ist es. Bis dahin sollte sich wenigstens einer der Embryonen in Ihrem Uterus eingenistet haben.«

»Klingt, als wäre das ziemlich kostspielig«, sagte Sean. »Ich glaube nicht, dass unsere Versicherung für so eine Behandlung aufkommt.«

»Die Kosten für Medikamente, Praxisbesuche und chirurgische Maßnahmen belaufen sich pro Versuch auf rund 8000 Dollar.«

Sean wurde blass um die Nase. Das war eine Menge Geld, zumal wir in den zurückliegenden zehn Jahren schon rund 75 000 Dollar für Medikamente zur Hormonstimulation ausgegeben hatten.

Doch es gab noch einen anderen Aspekt, der uns Sorgen machte. Als wir später nach Hause fuhren, überlegten wir, wie unsere Kirche wohl zu dieser Option stand. Wir wussten zwar, dass menschliches Leben nach kirchlicher Auffassung nur aus der Vereinigung von Mann und Frau hervorgehen darf, hatten aber geglaubt, dass uns das Thema IVF nicht betreffen würde. Nun empfanden wir die Ablehnung der künstlichen Befruchtung durch die Kirche nach sorgfältiger Prüfung der Argumente als diskriminierend. Die katholische Kirche ist zweifellos familienfreundlich. Die IVF wiederum hilft Eheleuten, die sich ein Kind wünschen, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Was sollte daran unmoralisch sein? Der kirchlichen Lehre zufolge war es also Gottes Wille, dass wir keine Kinder mehr bekommen sollten, weil ich unter Endometriose litt. Das erschien uns einfach lächerlich. Meine Eizellen waren ja fruchtbar, nur meine Eileiter waren nicht imstande, sie in die Gebärmutter zu transportieren. Bei einer In-vitro-Fertilisation dagegen werden Embryonen direkt in die Gebärmutter eingesetzt.

Wir waren sogar davon überzeugt, dass die Kirche diese Technik, die so vielen Paaren hilft, sich den Traum von einer Familie zu erfüllen, und so viel Liebe und Freude und nicht zuletzt Kinder hervorbringt, letzten Endes akzeptieren wird. Wir kannten auch andere Familien aus unserer Gemeinde, die sich intensiv mit der künstlichen Befruchtung beschäftigt hatten und am Ende zu der Einschätzung gelangt waren, dass sie die Haltung der Kirche in diesem Punkt nicht teilen konnten.

Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, es mit IVF zu probieren. Wir wollten einfach versuchen, ohne viel Aufhebens davon zu machen, auf diesem Weg vielleicht doch noch ein Kind zu bekommen.

Unser Arzt hatte großes Verständnis für unsere moralischen Bedenken und die Fragen, die uns auch dann noch bewegten, als wir uns schon entschieden hatten. Unter all den Kinderwunschexperten, mit denen wir es auf unserem langen Weg zu tun bekamen, war dieser erste Arzt einer der freundlichsten und geduldigsten und wir sind ihm bis heute dankbar. Er nahm sich stundenlang Zeit, um unsere nicht enden wollenden Fragen mit Engelsgeduld zu beantworten. Nie gab er uns das Gefühl, dass unsere Fragen überflüssig oder dumm waren. Selbst dass wir so lange brauchten, um uns zu entscheiden, nahm er geduldig zur Kenntnis. Sein freundliches Gesicht und seine ehrlichen blauen Augen vermittelten uns den Eindruck, dass er unsere Fragen absolut vernünftig und unsere Wünsche völlig plausibel fand.

Nachdem wir uns dazu durchgerungen hatten, es mit einer IVF-Behandlung zu versuchen, baten wir um einen weiteren Gesprächstermin. Wir wollten uns nochmals vergewissern, dass das Verfahren selbst nicht gegen unsere moralischen Grundsätze verstieß. »Wie viele Embryonen entstehen normalerweise pro IVF-Zyklus?«, fragte Sean unseren Arzt.

»Wenn alles gut geht, etwa zwölf bis fünfzehn.«

Sean und ich sahen uns betroffen an. So viele?

»Und sind alle diese Embryonen lebensfähig?«, wollte Sean wissen.

»Nein. Manche stellen ihre Entwicklung schon nach ein paar Tagen wieder ein. Allerdings hoffen wir, dass zum Zeitpunkt der Implantation mehrere gesunde Embryonen zur Verfügung stehen.«

»Und was passiert mit den Embryonen, die zwar lebensfähig sind, aber nicht implantiert werden?«

»Die werden entweder tiefgefroren, gespendet oder entsorgt«, entgegnete der Arzt.

»Entsorgen kommt für uns nicht infrage. Eine Embryospende kann ich mir, ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen. Schließlich handelt es sich um unsere potenziellen Kinder«, sagte Sean, und ich nickte zustimmend.

»Am besten, wir implantieren sie einfach der Reihe nach, bis keiner mehr übrig ist«, schlug ich vor.

Das war also geregelt. Als Nächstes kam die IVF-Behandlung selbst. Falls ich bereits nach dem ersten Embryotransfer schwanger sein sollte, wollten wir die verbleibenden Embryonen einfrieren lassen. Auf diese Weise wollten wir allen unseren Embryonen eine Lebenschance verschaffen.

Als sich im August 2006 zeigte, dass ich bereits nach dem ersten Embryotransfer schwanger war, behielten wir dies zunächst für uns. Meine neue Frauenärztin Dr. Elizabeth Read vermutete, dass ich unter einer Blutgerinnungsstörung litt. Sie glaubte, dass diese Störung nicht nur die beiden Fehlgeburten verursacht hatte, sondern auch mit ein Grund für meine Empfängnisprobleme war. Wir wollten daher zunächst abwarten, ob sich die Schwangerschaft als stabil erweisen würde, bevor wir die Nachricht bekannt gaben. Dr. Read ordnete mehrere Untersuchungen an, um ihre Vermutung zu bestätigen. Wir waren voller Hoffnung. Endlich war ich schwanger. Außerdem hatte Dr. Read uns eine plausible Erklärung für unsere bisherigen Fehlschläge geliefert. Daher gingen wir davon aus, dass wir endlich auf dem richtigen Weg waren.

An Thanksgiving überreichten wir meinen Eltern vor dem Abendessen ein Ultraschallfoto, das wir in Geschenkpapier eingeschlagen hatten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriffen, was sie da vor sich hatten, doch dann brach meine Mutter in Freudentränen aus. Auch unsere Söhne, zu diesem Zeitpunkt elf beziehungsweise neun Jahre alt, waren ganz begeistert von der Aussicht auf ein Geschwisterchen.

Als ich in der zwölften Schwangerschaftswoche zur üblichen Vorsorgeuntersuchung erschien, ordnete Dr. Read eine Ultraschalluntersuchung an. Wie gebannt starrte ich auf den Bildschirm. Alles war deutlich zu sehen: die Arme, die Beine und der Kopf unseres Babys. Dann hielt ich nach dem pulsierenden Fleck Ausschau, der anzeigte, dass das Herz schlug. Nichts – nicht das kleinste Zucken. Im ersten Augenblick glaubte ich, ein Foto vor mir zu haben. Doch dann schaltete die MTA eilig den Monitor aus und rief nach Dr. Read.

Kurz darauf stand die Ärztin neben mir und der Monitor ging wieder an. Dr. Read griff nach meinem linken Arm, als hätte sie Angst, dass ich vom Tisch fallen könnte. Niemand sagte ein Wort. Alle Augen waren auf mein Baby gerichtet. Schließlich sprach ich aus, was unvermeidbar schien: »Mein Baby ist tot.«

Schlimme Nachrichten haben einen speziellen Klang. Meine eigenen Worte gellten mir wie Sirenengeheul in den Ohren. Ich rief Sean an, der bereits wenige Minuten später eintraf. Dr. Read besorgte die Ergebnisse meiner Blutuntersuchungen und fand sich in ihrer Vermutung bestätigt. Ich litt tatsächlich unter zwei Gerinnungsstörungen, die vermutlich für den Tod des Kindes in meinem Bauch mitverantwortlich waren. Sie empfahl mir, bei der nächsten Schwangerschaft ein gerinnungshemmendes Präparat einzunehmen.

Bei der nächsten Schwangerschaft? Was für eine absurde Vorstellung. Wir hatten uns zwar auf eine neue Vorgehensweise geeinigt und ein paar Embryonen hatten wir auch noch. Doch in erster Linie ging es darum, überhaupt wieder schwanger zu werden, und das schien mir alles andere als einfach.

Nach dieser Fehlgeburt verfiel ich in tiefe Trauer. Ich wollte nur eines: mein Baby wiederhaben. Ich versuchte für Sean und die Kinder ein harmonisches und gemütliches Weihnachtsfest zu organisieren, weinte aber fast jeden Tag. Mit jedem Tränenausbruch wurde mein Herz schwerer. Ich rief unseren Arzt an und berichtete ihm, was passiert war. Wir beschlossen, dass er mir die beiden tiefgefrorenen Embryonen von unserem letzten IVF-Zyklus im Februar einsetzen sollte. Dieser Transfer war erfolglos. Wir vereinbarten, im Frühling einen weiteren IVF-Versuch zu unternehmen.

Im April fand die Eientnahme statt. Schon einen Tag später läutete das Telefon. Die Stimme des Embryologen ließ nichts Gutes ahnen. Keine einzige Eizelle war befruchtet worden, was so gut wie nie vorkommt. Ich konnte einfach nicht fassen, dass der Versuch gescheitert war. Dabei waren die 8000 Dollar für die IVF-Behandlung noch nicht einmal von unserem Konto abgebucht worden.

Wir fühlten uns im Stich gelassen. Wir hatten uns so viel Mühe gegeben, uns an sämtliche Vorschriften gehalten und ein kleines Vermögen ausgegeben und standen doch wieder vor dem Nichts. Auch der Arzt konnte uns nicht erklären, was schiefgegangen war. Trotzdem war ich nicht bereit, einfach aufzugeben, nachdem wir so viel Zeit und Geld investiert hatten. Vielleicht hatten wir ja beim nächsten Mal endlich Glück. Wir hatten doch schließlich noch Zeit, oder etwa nicht? Das konnte einfach nicht das Ende sein.

Mit solchen Fragen quälte ich mich noch herum, als ich an einem Einkehrwochenende für Frauen teilnahm. Am letzten Tag der Veranstaltung sollte jede der anwesenden Frauen über einen bestimmten Aspekt des Glaubens sprechen. Ich sollte über Jüngerschaft und Nachfolge sprechen, also über die Möglichkeiten, Gottes Willen zu erkennen und zu befolgen. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu diesem Thema sagen sollte. Ich bin einfach nicht der Mensch, der sich von anderen sagen lässt, wo es langgeht. Dazu bin ich viel zu sehr auf Selbstbestimmung bedacht. Trotzdem spürte ich, dass sich meine Sicht der Dinge allmählich veränderte. Ich bat Sean, zu meinem Vortrag zu kommen, damit wir hinterher darüber sprechen konnten

»Lass los und lass Gott machen« lautete das Motto, das mir überhaupt nicht gefiel. Was für ein Unsinn. Bis dahin hatte ich mich stets von dem Grundsatz leiten lassen: »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.« Doch als ich dort in meiner Bank saß, wurde mir plötzlich etwas klar. Was nützte es, wenn ich mich der Realität ständig entgegenstemmte? Das half weder meinem Mann noch den Kindern, noch mir selbst. Vielleicht war es einfach so, dass ich kein weiteres Kind mehr bekommen sollte. Ich gelobte mir selbst, mich mit meinem Schicksal abzufinden und meinen Wunsch nach weiteren Kindern endlich aufzugeben. Dieses Versprechen schrieb ich auf einen Zettel, den ich in eine Schachtel legte.

Später am Nachmittag stand ich dann im Tagungsraum vor den übrigen Frauen, um über mein Thema zu sprechen.

Dabei wurde mir Folgendes klar: Ich jagte nur Träumen nach, drehte mich ständig im Kreis in dem Versuch, das zu bekommen, was ich vom Leben erwartete. Aber wenn mein Körper nun nicht zu leisten vermochte, was ich von ihm verlangte? War ich deshalb eine Versagerin? Heute Morgen hatte ich meinen Wunsch nach einem Baby einem Blatt Papier anvertraut und Gott übergeben. Wenn ich noch weitere Kinder bekommen sollte, dann würde es auch geschehen. Wenn mir nur zwei Kinder bestimmt waren, dann bliebe es eben dabei. Mein Entschluss stand fest: Ich würde alles tun, um inneren Frieden zu finden. Alles andere wäre verwerflich. Deshalb musste ich loslassen.

Und das tat ich dann auch: Ich ergab mich sozusagen in mein Schicksal. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, meinen unerfüllten Kinderwunsch loslassen zu können, auch wenn mir dabei nicht ganz wohl zumute war. Es kann manchmal eine Befreiung sein, den Kampf aufzugeben. Doch als ich meinen Wunsch nach einer größeren Familie aufgab, war ich sehr traurig und fühlte mich trotzdem als Versagerin. Ich hatte mich zwar von einer Last befreit, doch dafür bedrückte mich jetzt etwas anderes: ein Gefühl der Niederlage.

Sean

Als Carolyn vor den anderen Frauen sprach, stand ich draußen auf dem dunklen Gang und konnte nur durch die spaltbreit geöffnete Tür verfolgen, was sie sagte. Sie berichtete von ihren Schwierigkeiten, schwanger zu werden, von all den Fehlschlägen, unter denen wir Monat für Monat, Jahr für Jahr gelitten hatten. Als sie dann vor den anderen Frauen erklärte, dass sie bereit sei, ihrem Kinderwunsch zu entsagen, kamen mir die Tränen. Wenn der eigene Partner einen großen Traum aufgibt, ist das für beide wie ein Scheitern. Dabei war ich noch nicht bereit aufzugeben. Als Carolyn mit ihrer kleinen Ansprache fertig war, ging ich langsam hinaus zu meinem Wagen. Plötzlich erschien mir alles hoffnungslos.

Auch ich war für dieses Scheitern mitverantwortlich. Schließlich hatte ich oft genug kundgetan, dass mir meine kleine Familie vollauf genügte. Warum so viel schwer verdientes Geld ausgeben, wenn alle Anstrengungen und Maßnahmen umsonst sind? Irgendwann muss Schluss sein, dachte ich bisweilen. Deshalb hätte ich über Carolyns Verzichtserklärung eigentlich sogar froh sein müssen. Das war ich aber nicht. Vielmehr war ich traurig und hatte Schuldgefühle.

Mir fiel wieder ein, wie wir uns vor ein paar Wochen abends im Bett über das Thema unterhalten hatten. Die Kinder schliefen schon und wir genossen es, endlich in Ruhe miteinander zu reden.

»Drew und Ryan sind gesunde, hübsche Kinder«, sagte ich. »Wir sind doch auch jetzt schon eine großartige Familie.«

»Sean, vielleicht verstehst du das ja nicht, aber wir wollten doch immer eine größere Familie. Außerdem hat bisher noch kein Arzt gesagt, dass wir keine weiteren Kinder bekommen können. Nicht ein einziger.«