Geschichte(n) der Lüge – Amüsantes und Skandalöses rund ums 8. Gebot - Harald Specht - E-Book

Geschichte(n) der Lüge – Amüsantes und Skandalöses rund ums 8. Gebot E-Book

Harald Specht

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Beschreibung

Kaum hatte unsere Spezies die Höhen des humanen Daseins erklommen, ging es auch schon wieder bergab, denn gerade hatte der Mensch den aufrechten Gang erworben, schon verlor er die Aufrichtigkeit. Mit der Mensch-Werdung entstand auch die Lüge, mit dem Mensch-Sein ist sie bis heute ein untrennbarer Teil von uns. Die moderne Verhaltensforschung singt der Lüge ein Lob, hat doch das Lügen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Intelligenz beigesteuert. Als Vorteils-Strategie aus dem Tierreich bewahrt, wird sie nun in evolutionärer Gewandtheit gekonnt an jedermann ausprobiert und überall zum eigenen Vorteil genutzt. Längst ist die Vorstellung überholt, daß die Natur des Menschen durch seine kulturelle Entwicklung soweit deformiert wurde, daß nun auch der Hang zur Täuschung als negative Begleiterscheinung der zivilisatorischen Entwicklung in Kauf genommen werden muß. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne die Lüge würde es uns Menschen wahrscheinlich nicht geben, zumindest nicht so, wie wir heute sind.

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Inhalt

Titelseite

Über den Autor

Impressum

Mal ehrlich! - Die bittre Wahrheit als Vorwort

1. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten - Von leuchtenden Mäusen, Statistikern und anderen Tätern

Von der Schwierigkeit, Herr L. Ügner oder Herr L. Eser zu sein

Von den Schwierigkeiten, dem 8. Gebot zu folgen

Von der Schwierigkeit, die Lüge in Worte zu fassen

Von der Schwierigkeit, wahrhaft höflich zu sein

Von der Schwierigkeit, exakt 1,4 Kinder zu zeugen

2. Warum Gottes Geschöpfe lügen

Wer überleben will, der lüge!

Von der Wiege bis zur Bahre, geschickt verschweigen wir das Wahre

Die Strategien der Lüge - Ein Plädoyer für das Täuschen

Wenn schon, denn schon - Zehn Regeln für perfektes Lügen

3. Und wie wir lügen

Vom Schulterzucken und Lippenlecken - Wenn der ganze Körper lügt

Lügen haben schöne Bilder – Das Gehirn als Lügendetektor

Wenn FRAU flunkert und MANN mogelt – Beziehungslügen gegen die Beziehungslüge

Ertappt - Zehn Regeln, um das Lügen zu entlarven

4. Liebe zur Weisheit und Suche nach der Wahrheit - Das ehrliche Bemühen der Philosophen und Gotteskinder

Die Suche mit der Ölfunzel

Von ARISTOTELES bis AUGUSTINUS - Die Suche nach Wahrhaftigkeit

Für das Lügen braucht es nimmer zwei - Die Lüge als Sünde

Von ABAELARD bis THOMAS von Aquino - Die Wahrheit im Gewand der Vernunft.

Von der Besichtigung eines Kamels - Die verlogenste Minute der Weltgeschichte

Zehn Regeln für den guten Christenmenschen, die Lüge zu vermeiden

Wie man seinen Beichtvater trotzdem belügt

5. Das heillose Lügen in der Heiligen Schrift

Die Wahrheit über ABRAHAM und seine gottverheißene Nachkommenschaft

Und wie die Alten sungen, so lügen auch die Jungen - Lügenstorys in der Bibel

Zwei alte Lügner und ein ganz junger Prophet

Die Frage des PILATUS - Die Wahrheiten im Neuen Testament

Und noch einmal JESUS - Antworten auf die Pilatus-Fragen?

6. Besondere Formen der Lüge

Glaube, Glauben und Aberglauben: Spirituelle All-Heil-Mittel zum Selbstbetrug?

Wenn das fremde Ego trügt - Das Entzünden der Gefühle

Das konstruierte eigene Ich

Hilfe, ich kann nicht anders - Die Notlüge

Lautes Geschrei durch Stille Post - Das Gerücht

Wie aus Halbwahrheiten auch ganze Lügen werden können

Ganze Ehrlichkeit statt halber Wahrheit?

Von Schnachern im Amte – Auch die Heuchler gehören zu den Lügnern

7. Lüge und Wahrhaftigkeit - Ein kompliziertes Paar der Doppelmoral

Und schlachten unsere Kinder - Verleumdung als Jahrtausend-Lüge

Der Rattenzahn im Pizzaboden - Urban legends oder Gerüchte als Dauerlügen

Von traurigen Wahrheiten und vergnüglichem Lügen

Von der Lüge bis zum Huren-Urteil – Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Das Recht und nichts als das Recht

8. Tarnen, Tricksen, Täuschen: Lug und Trug in der Historie

Nicht nur alle Kreter lügen!

Von Falschmünzern und Münzfälschern

Die Kleinen brüht man, die Großen läßt man laufen

Von außen hui, von innen pfui

Der verlogene Habsburger - RUDOLF (IV.) der Schwindler

Lügner und Legenden leben länger

Zwei falsche Grafen und deren echte Erfolge - Von Wundertätern und Diamantenmachern

Vom Bettelkind zur Gräfin de La MOTTE - Karriere einer Halbwahrheit (Teil 1)

Die Halsbandaffäre - Ein Gaunerstück für vier Rollen, drei Darsteller und etliche Komparsen (Teil 2)

Vom Lügen und Betrügen zum Verleumden - Epilog zu einem Gaunerstück (Teil 3)

Am Golde hängt, zum Golde drängt … – Lügner und Betrüger als Adepten der alchimistischen Künste

Weiteres von Hochstapelei und anderen niederen wie höheren Geisteshaltungen

Der Eifelturm im Sonderangebot - Vom Lügen und Betrügen der Meisterschwindler

Von großen Meistern und genialen Fälschern

Kleinvieh macht auch Mist - Trügerische Devise eines Hobbybastlers

9. Die Pinocchio-Gesellschaft: Die Lüge zwischen Unterhaltung, Skandal und Propaganda

Münchhausen-Geschichten: Als die Lüge geadelt wurde

Von weißen und schwarzen Worten - Lügenmittel Sprache

Machen Sie sich doch selbst ein Bild - Wenn der Äther uns den Atem nimmt

Die Lügen des Mr. President - Der Buschfunk und was dahintersteckt

Ein Fleck auf der blütenreinen Karriere - Was von einer Kriegslüge bleibt

Dichtung und Wahrheit - Die Lüge bei den Poeten und bei anderen klugen Wortklöpplern

Eingebung und Wahrheit - Die Sprüche der Weisen

Ehrlich währt am längsten - Über Lügen im Berufsleben

Wirklich das Letzte - Aufklärung nach 35 Jahren

10. (keine üble) Nachrede mit der Bitte um Vorsicht

Danksagung

Literaturverzeichnis

Harald Specht

Geschichte(n) der Lüge

- Amüsantes und Skandalöses rund ums 8. Gebot –

Engelsdorfer Verlag

Harald Specht

Dr.rer.nat. et Dr.-Ing.habil.

Der Autor, Jahrgang 1951, studierte Chemie.

Nach Promotion und Habilitation Berufung zum

Hochschuldozenten für Lebensmitteltechnologie.

Zahlreiche wissenschaftliche Artikel, Monografien

und Fachbücher.

Seit 2003 Sachbücher:

- „Von ISIS zu JESUS - 5000 Jahre Mythos und Macht“ (2003)

2004 bis 2006: „Trilogie des Allzumenschlichen“

- „Geschichte(n) der Dummheit - Die Sieben Sünden des

menschlichen Schwachsinns“ (2004)

- „Geschichte(n) der Lust - Zwölf Kapitel Leidenschaft

und Laster“ (2005)

- „Geschichten der Lüge - Amüsantes

und Skandalöses rund ums 8. Gebot“(2006)

Copyright (2006) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei Harald Specht!

Foto Titelseite: © Edyta Pawlowska - FOTOLIA

eISBN: 978-3-86901-128-8

Mal ehrlich! - Die bittre Wahrheit als Vorwort

Lügen haben kurze Beine

(der redliche Volksmund)

Kaum hatte unsere Spezies die Höhen des humanen Daseins erklommen, ging es auch schon wieder bergab, denn gerade hatte der Mensch den aufrechten Gang er worben, schon verlor er die Aufrichtigkeit.

Mit der Mensch-Werdung entstand auch die Lüge, mit dem Mensch-Sein ist sie bis heute ein untrennbarer Teil von uns. Die moderne Verhaltensforschung singt der Lüge ein Lob, hat doch das Lügen einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der menschlichen Intelligenz beigesteuert. Als Vorteils-Strategie aus dem Tierreich be wahrt, wird sie nun in evolutionärer Gewandtheit gekonnt an jedermann ausprobiert und überall zum eigenen Vorteil genutzt. Längst ist die Vorstellung überholt, daß die Natur des Menschen durch seine kulturelle Entwicklung soweit deformiert wurde, daß nun auch der Hang zur Täuschung als negative Begleiterscheinung der zivilisatorischen Entwicklung in Kauf genommen werden muß. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne die Lüge würde es uns Menschen wahrscheinlich nicht geben, zumindest nicht so, wie wir heute sind.

Die alten Griechen sahen das noch anders. Zwar galt auch ihnen der trickreiche, verschlagene und aalglatt wendige HERMES als Patron der Händler und Diebe be sonders verehrenswert, jedoch war er ein Gott! Kaum einen Tag alt, machte der sich auf die Söckchen, um die Rinderherde seines Halbbruders APOLL zu stehlen. Doch konnte man die menschlichen Unzulänglichkeiten einzig und allein den Göt tern anhängen? Auch mit diesem Selbstbetrug mußte Schluß sein. Und so warf schon der gegen die Vermenschlichung des Gottesbegriffes mutig streitende Philosoph XENOPHANES (um 580 - um 480 v.Chr.) seinen Kollegen Welter klärern, Dichtern und Schreiberlingen vor, alles „was bei den Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen, ehebrechen und sich gegenseitig betrügen!“, den Göttern anzudichten. /248/ Wir tun es heute wieder ähnlich, indem wir schon nach Genen für das Lügen und Betrügen wissenschaftlich Ausschau halten.

Doch da gab es ja noch die Evolution!

Während sich Keule und Kramhandel der Konkurrenz von Bombe und Börse stellen mußten, haben Lug und Trug ihren historischen Siegeszug bis heute geführt. Lügen haben scheinbar auch lange Beine, zumindest wenn es um ihre Laufdauer und ihr Überleben in unserer Geschichte geht.

Und unsere Geschichte ist an Lügen reich:

Seit Anbeginn wurde gelogen und betrogen, gewuchert und gefälscht, gezinkt und ge heuchelt. Gewieft und ausgekocht wurde aalglatt hinters Licht geführt oder im Dunkel gelassen, hat man getrickst und getäuscht, wo und wann immer es ging. Der deutsche Schriftsteller Gottfried August BÜRGER (1747-1794) wußte dies auf den Nenner zu bringen: /18/

„Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beweisen,

daß es nicht schwer ist, eine Wahrheit umzubringen.

Eine gute Lüge ist unsterblich.“

Ganz ähnlich auch der kleine und zugleich große NAPOLEON BONAPARTE (1769-1821 n.Chr.), dessen Wirken in unserer Geschichte bekanntlich nicht ganz ohne Folgen geblieben ist. Er sah die gesamte Menschheitshistorie als komplette Lüge an: /6/

„Geschichte ist Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“

Aber nicht nur die Lügen der Geschichte, sondern auch die Geschichte(n) der Lüge soll(en) uns interessieren, wobei uns nach NAPOLEON klar sein muß, daß auch hier nicht alles der lauteren Wahrheit entspricht, denn „alle historischen Bücher, die keine Lügen enthalten, sind schrecklich langweilig“, beklagte schon Anatole FRANCE (1844-1924). /7/ Tja, und wer mag schon Langeweile? Doch so oder so, gelogen wird in diesem Buch nicht! Um der Langeweile zu entgehen, sollen in unseren Anmerkungen zum 8. Gebot neben der Historie auch die Histörchen und (oft) amüsanten Anekdoten der Lüge ihren gebührenden Platz finden. Dabei wollen wir Historisches wie Modernes, Altüberliefertes wie Aktuelles unter die Lupe neh men, wird doch noch heute genauso wie anno dazumal gelogen und allzeit und aller orten über die Stränge geschlagen. Nicht nur beim Fingerhakeln wird dabei das Gegenüber oft erbarmungslos über den Tisch gezogen. Was man arglistig ergaunert, wird listig unterschlagen, was man frech erschwindelt, wird mit Cleverneß beim nächsten Lügen-Roulette erneut gesetzt. Man düpiert und lügt, daß sich die Balken biegen.

Ohne es zu merken, wird man auch selbst mit List und Tücke eingewickelt und fintenreich verführt. Da wird durchtrieben intrigiert und mit Raffinesse in die Irre geleitet, wird gerissen geblufft, gemein geblendet und gekonnt geprellt. Falsch heit und Unehrlichkeit regieren die Welt! Und wer regiert, hat Recht!

Das bekam schon der Geschäftsmann Mr. James BOYCOTT zu spüren, der 1880 wegen seines unehrlichen Verhaltens von der irischen Landesliga in Bann gesetzt wurde. Niemand wagte es seit dem, mit BOYCOTT zu verkehren und noch heute kennen wir das „Boykottieren“ als Maßnahme der Handelsperre, der Ausgrenzung oder Nichtbeachtung.

Doch: Wir alle lügen und Jean Baptiste ROBINET sah in der Lüge sogar einen Ausweis menschlicher Mündigkeit und Reife, denn: /6/

„Reife bedeutet beim Menschen vor allem, daß er gelernt hat, auf ver bindliche Art zu lügen.“

Ganz ähnlich argumentierte auch Gustave FLAUBERT in seinem „Wörterbuch der gemeinen Phrasen“ als er keck formulierte: /240/

„Steuern hinterziehen heißt nicht den Staat betrügen.

Sondern beweist Grips und politische Unabhängigkeit.“

Letztlich gehören zu einer Lüge ja auch immer mindestens zwei, jemand der lügt und der andere, der es glaubt. Wer Steuern hinterzieht, braucht den Staat, der Betrüger seiner Ehefrau muß ja wohl mindestens verheiratet sein und der Schmugg ler käme ohne Landesgrenzen auch an seine Grenze, was das Betrügen anbelangt. Alles dies beinhaltet also das Lügen, ein Sachverhalt, der wie in anderen Sprachen auch /240/, eine ganze Palette moralisch zweifelhafter Tätigkeiten um fassen mag.

Wie man es also auch drehen und wenden will: Die Lüge betrifft uns demnach alle, ob gewollt oder erlitten, ob Lügner oder Betrogener. Konstatieren wir: Menschen sind Lügner und Lügen sind menschlich!

„Ein Großteil des Bruttosozialproduktes muß jedenfalls mittlerweile auf Betrugssicherung verwendet werden. Das fängt bei Schlössern, Bankkonten und Sicherheitsfäden in Geldscheinen an, geht weiter über VideoÜberwachung und Fahrscheinkontrollen bis hin zu Vaterschaftstests und Paßworten im Internet.“ /56/

Wir alle sind „Menschen nur Menschen“, wie August LÄMMLE sinntief erkannte, um dann unsere Schwächen und Laster offenbar als Sippenmitglieder in die kinder reiche Großfamilie der menschlichen Unvollkommenheit einzureihen. „Die Dumm heit hat viele Kinder, männliche und weibliche, den Neid und den Geiz, die Lüge und die Selbstsucht, den Zorn und die Bosheit.“

Dieser Erkenntnis folgend haben wir in unsere Trilogie über die „Geschichte(n) des Allzumenschlichen“1 neben die „Geschichte(n) der Lust“ und die „Geschichte(n) der Dummheit als Drittes nun auch die „Geschichte(n) der Lüge“ gesetzt.

Nach bestem Wissen und Gewissen soll hier Wahrheit und nichts als die Wahrheit dominieren, wenn wir Sie, liebe Leser, Auge in Auge, Zahn um Zahn und über beide Ohren mit den „Geschichte(n) der Lüge“ und den zahllosen Verfehlungen wider das 8. Gebot konfrontieren. Und da das Lügen laut HAUG den Menschen sogar Vergnügen bereiten soll /8/, wünschen wir Ihnen dasselbige auch hier, beim Stöbern nach der reinen Wahrheit.

Köthen / Anhalt, am 1. April 2005

1 Zur „Trilogie des Allzumenschlichen“ gehören die „Geschichte(n) der Dummheit“, die „Geschichte(n) der Lust“ sowie „Die Geschichte(n) der Lüge“, erschienen 2004 - 2006 im Engelsdorfer Verlag Leipzig.

1. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten - Von leuchtenden Mäusen, Statistikern und anderen Tätern

Von der Schwierigkeit, Herr L. Ügner oder Herr L. Eser zu sein

„Lug und Trug – sind der Welt Acker und Pflug.“

(altdeutsches Sprichwort)

Nun, ehrlich (!): Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?

Stop! Bevor Sie schon die Frage von sich weisen und brüskiert nach Luft holen: Halten Sie inne! (Nicht auch noch sich selbst belügen!) Alle Menschen sind Lügner, weiß schon Psalm 116,11 unserer Bibel zu berichten. /1/ Und die Bibel lügt nicht! Oder etwa doch? Nun, davon später.

Vorerst ein Forschungsergebnis unserer Lügen-Experten, der Mentiologen: Bis zu 50 Mal, so glaubhafte Untersuchungen, lügt „der durchschnittliche Mensch am Tag“. /37/ Andere wollen sogar wissen, daß er, der normale Mensch es 200 Mal /169/ oder sogar bis zu 250 Mal pro Tag tut, das Schwindeln. /5/ (Wie oft es der überdurch schnittliche oder unnormale Mensch tut, weiß scheinbar keiner.) Und Männer sollen sogar schätzungsweise 25 Prozent mehr lügen als die weiblichen Vertreter unserer Spezies.

Rechnet man also die lügenfreie Nachtzeit einer etwa achtstündigen Ruhepause ab, dann vergeht im günstigsten Fall durchschnittlich nur eine gute halbe Stunde, bis wir uns nach einer geschickt platzierten Schwindelei erneut lavierend durchs Leben lügen. Und für die Extrem-Lügner, die es auf 250 Mal bringen sollen, wäre die „Stunde der Wahrheit“ nicht mal 4 Minuten lang!

Dies bestätigen neuere Untersuchungen der University of Massachusetts aus dem Jahr 2002. Hierbei kamen etwa zwei Drittel aller Lügen-Probanden auf zwei bis drei Lügen innerhalb von zehn Minuten. /78/ Wow, kaum zu glauben, wie oft der Durchschnittsmensch so mogelt.

Was man allerdings unter dem „durchschnittlichen“ oder „normalen“ Menschen zu verstehen hat, ist aber mindestens so umstritten, wie die Ergüsse unserer Statistiker erklärungsbedürftig sind. Und so bleibt uns noch die Ausflucht, nur ein Opfer dieser Zahlenwissenschaftler zu sein, die nach Ansicht Benjamin DISRAELIs sowieso nur einer Zunft angehören, deren Produkte eh eine Steigerungsform der schlichten Lüge sind. /6/

Doch trösten Sie sich. Auch wenn Sie häufiger lügen als Ihr scheinbar viel ehrlicherer Nachbar und Sie damit die genannte Statistik kräftig nach oben hieven: Wir alle lügen! Häufig, ständig, mal mehr, mal weniger. Der eine gibt es zu, der an dere lügt und gibt nur vor, es nicht zu tun.

Daß der Mensch sich nicht gern zu den Lügnern zählen läßt, zeigt allein eine nicht ganz so ernst zu nehmende Untersuchung, die die eher kuriose Tatsache ans Licht bringt, daß es in teutschen Landen nur eine einzige Ortschaft gibt, die mit ihrem Na men mutig an diese menschliche Untugend erinnert. Der Ort heißt ganz direkt und unverschleiert „Lüge“ und seine Postleitzahl 29416 weist in etwa auf die Gegend hin, in der die Lügener leben: zwischen Salzwedel und Gardelegen, unweit der B71. Gott sei Dank ist auch der Ort „Büssen“ in unmittelbarer Nachbarschaft, wobei die „Büßer“ eine nur bedenklich winzige Gemeinde stellen.

Sicher nur scheinbar ehrlicher geben sich die Menschen in fünf anderen deutschen Ortschaften, die sich mit der Silbe „wahr“ schmücken und von 39615 „Wahrenberg“ bis 23948 „Wahrstorf“ schon mit ihrem Ortsschild darauf verweisen wollen, was und wessen sie sind. Doch obwohl wir bekanntlich alle zum Flunkern und Mogeln nei gen, sucht man Gemeinden wie „Schwindelshausen“ oder „Täuschenburg“ verge bens auf der Landeskarte. Dafür gibt es aber das „Erste Wahre Deutsche Histori sche Lügenmuseum …“ wie uns in einem Büchlein über Kuriositäten /223/ mitgeteilt wird. Die Exposition ist eine Idee des Berliner Künstlers Reinhard ZABKA und soll eine „wundersame Ausstellung“ sein.

Auch ungeachtet der Bewohner von 29416 Lüge können Sie als geständiger Lügner sicher sein, nicht allein auf dieser Welt zu sein. Und sie sind selbst als Lügner nicht einmal unbeliebt. Denn auch das haben die Lügenforscher herausgefunden: Lügner sind meist intelligenter, phantasiebegabter, unterhaltender und auch beliebter bei ihren Mitmenschen. Psychologen vertreten sogar den Standpunkt, daß Lügen wichtig für unsere Sozialkontakte sind. Gute Lügner haben sogar mehr Freunde als ehrliche Menschen. /68/ (Fragt sich nur, was das für Freunde sind oder wie lange die Freund schaft dauert.) „Wir lügen bewußt und unbewußt. Dabei geht es meistens darum, Wahrheit in ‚homöopathischer Dosis’ weiterzugeben. Um sich keine Feinde zu schaffen und leichter durchs Leben zu kommen lügen wir“, so eine Meinung auf der Homepage „jesus-online“. /21/ Fachwelt und Welt stehen dem Lügen wie den Lüg nern also durchaus positiv gegenüber. Entscheiden Sie nun ehrlich selbst, ob Sie die Lügenstatistik heben oder senken.

Andere bekommen das kalte Grausen, wenn sie von soviel Lüge hören und schlußfolgern messerscharf, daß wir „in einer Gesellschaft leben, wo Gottes Wort ‚Du sollst nicht lügen’, mit Füßen getreten wird“. /169/ (Diese Aussagen hat Gott aber nie in ein Gebot gegossen!)

Sie werden jedoch zurecht einwenden, daß es ja verschiedene Lügen gibt, unterschiedliche Arten als auch Graduierungen, Böses wie Gutgemeintes. Eine ganze Palette von Lügen jedweder Couleur. Zum anderen ist eine Lüge nur sehr selten von einer Wahrheit zu unterscheiden, so daß bei episch ausgebreiteten Stammtischreden wie bei politischen Großveranstaltungen sowieso keiner mehr weiß, was nun Flunkerei oder Wirklichkeit, Mogelei oder Aufrichtigkeit, dreiste Unwahrheit oder nur umständlich an den Mann gebrachte Wahrheit ist. Dazu drei Beispiele, von denen Sie selbst entscheiden können, ob die Geschichten auf ungenierten Lügen basieren oder der Wahrheit entsprechen:

Schon in den ältesten Dokumenten der Menschheitsgeschichte wimmelt es von Ungeheuern, Fabelwesen, Chimären oder scheinbaren Kreuzungen von Mensch und Tier. Wer kennt sie nicht: den als geflügeltes Pferd geborenen Pegasos, den Sohn des POSEIDON und der MEDUSA, die Sphinxen mit Frauenantlitz, weiblichen Brüsten und einem Löwenleib oder die in den Pharaonengräbern abgebildeten Menschenleiber mit dem Schakalkopf des Gottes ANUBIS. Jeder hat sie schon auf Bildern gesehen: die Nixe als Kreuzung zwischen Weib und Fisch, den Satyr als Mix zwischen Mann und Bock oder die Zentauren, die im wahrsten Wortsinn zügellosen Mannsbilder mit dem wildwollüstigen Unterleib des Hengstes. Und jedes Kind hat schon angstvoll vom Leibhaftigen gehört, dem Mischmasch aus gehörntem und beharrtem Männerkorpus mit Schwanz und hinkendem Klauenfuß. (Übrigens nichts anderes als der mittelalterlich moderne Teufel, dessen Vorbilder einst unter der Bezeichnung Satyrn im lüsternen Gefolge des Gottes DIONYSOS als brünstige Misch-Menschen mit langen Ohren und Schwänzen sowie Hufen von Pferden oder Böcken kreiert wurden.)

Nicht immer ist der Mensch als Zumischung dabei, wie uns Chimaira zeigt, die laut HESIOD vorn einem Löwen, in der Mitte einer Ziege und am Ende ihres Leibes einer Schlange glich. Manche glauben sogar, es hätte solche Mischwesen in grauer Vorzeit einst wirklich auf unserer Erde gegeben und sogar Fachleute vermuten, daß in „frühen Agrargesellschaften der intime Umgang mit Nutztieren nicht ungewöhnlich war“, wodurch mit der Chimaira, „der Ziege, der hübschen und handsamen Kuh des kleinen Mannes“ infolge mehrmonatiger Einsamkeit der weibsfernen Hirten so manches Ungewöhnliche getrieben wurde. /11/ Ob dabei auch Mischwesen der genannten Art entstanden, ist umstritten. Sicher ist das alles nicht.

Sicher ist dagegen, daß heutzutage, also im 21. Jahrhundert, tatsächlich ähnliche Mischwesen existieren, vom Menschen gezeugt, lebendig anzuschauen und widernatürlich ausgestattet.

Neben so bekannten Kreuzungen wie der Schiege (aus Schaf und Ziege) gibt es auch biotechnologisch manipulierte Mäuse und sogar Schweine, die neongrün leuchten, weil man ihnen die Erbanlagen artfremder Tiere verpaßte. Man nutzt dazu das Leucht-Gen einer bestimmten Meeresqualle und schon leuchten die Mäuse oder ausgewachsene Schweine wie eine grüne Taschenlampe.

So, nun entscheiden Sie selbst! Ist die Geschichte mit den grün leuchtenden Schweinen und Mäusen gelogen oder nicht gelogen, wissenschaftlich exakt und wahr oder purer Blödsinn? Ging hier die Phantasie mit dem Autor durch?

Wenn Sie sich nur schwer für oder gegen „Lüge“ entscheiden konnten, vielleicht noch ein anderes Beispiel. Diesmal kürzer.

Wissenschaftler haben eine neue Betonmischung entwickelt, von dem die Architekten bisher nur geträumt haben. „Litracon“ heißt der hypermoderne Baustoff, dessen Name sich aus den englischen Wörtern „Light Transmitting Concrete“ ableitet. Es ist Beton, der zu 5 Prozent aus Glasfasern besteht, mit dem man aber wie bisher stabile Hochhäuser oder andere imposante Dinge bauen kann. Eben Beton, wie Beton sein soll. Nur, dieser neue Beton hat eine neuartige Eigenschaft, die staunen läßt: Er kann auf Wunsch mal mehr oder mal weniger als durchsichtiger Baustoff produziert werden, wodurch man zum Beispiel auch ohne jedes Fenster oder irgendwelche Glasbausteine durch die Hauswand hindurch genau sehen könnte, ob hinter der Betonwand eines Badezimmers im 5. Stock des Nachbarblocks eine junge hübsche Frau oder ein etwas stärker beleibter Mittvierziger unter der Dusche stünde. Sogar bei Wanddicken von 2 Metern bleibt der Baustoff noch so durchsichtig, daß man Gegenstände hinter der Wand als Schatten sehen kann. Platten aus Litracon können sogar in der Dunkelheit als Wegbeleuchtung dienen oder Leinwände für die Dia- und Filmproduktion ersetzen. Die Bilder vom PC gingen direkt über Glasfasern auf die Wand, der Beamer wäre überflüssig.

Alles gelogen oder doch wahr?

Bevor Sie ins Grübeln kommen, hier die Auflösung: Beide Geschichten entsprechen der vollen Wahrheit, sind nicht einmal mit Schriftstellerlatein gewürzt oder besonders sensationell verfaßt. Die Geschichten wurden auch nicht am 1. April aus den Medien entnommen oder frei erfunden. Kein Wort davon ist gelogen, wie Sie selbst (zumindest indirekt) nachprüfen können oder der wissenschaftlichen Literatur und modernen Wissenschaftsmagazinen entnehmen können. Die vielleicht am schnellsten verfügbare Quelle zum „leuchtenden Schwein“ ist ein aktueller Artikel von Barbara HARTL vom Juli 2005 über die „Kreuzung von Mensch und Tier …“ /11/ Und der transparente Beton, über den ebenfalls zahlreiche Medien berichteten /193/, konnte samt dahinter duschender Schönheit sogar im Abendprogramm eines TV-Senders bestaunt werden, als die Macher der Sendung „clever“ den neuen Baustoff für ihre Bühnendekoration verwendeten.

Die kleine grün leuchtende Maus hatten Wissenschaftler des Versuchsgutes vom Institut für Molekulare Tierzucht und Biotechnologie der Universität München „ans Licht der Welt“ geholt, nachdem sie „das Leucht-Gen einer Qualle in das Erbgut“ dieses possierlichen Tierchens verpflanzt hatten. Nun, im Alter von vier Tagen, sitzt das unbeholfene Wesen auf der Hand eines Forschers, um unter den Strahlen von ultraviolettem Licht kräftig grün zu leuchten. Gleich daneben auch das Foto des gleichartig behandelten Schweins, das seinen grünen Leuchtrüssel neugierig ins Objektiv der Kamera streckt. Das Forschungsprojekt ist also nicht von grünen Jungs gestartet worden, sondern von ernsthaften Biotechnologen, die sich von derartigen Gentransfers mehr Informationen über den Übertragungsweg der Gene versprechen. So entstanden 35 Ferkel, die nach Einbringung des Leucht-Gens einer pazifischen Meeresqualle in das Erbgut von Schweine-Embryonen über das eigenartige und doch nicht „eigenartige“ Leuchten verfügen.

Da alle guten Dinge bekanntlich nur als Dreiheit aufzutreten pflegen, entnehmen wir der seriösen Wissenschaftspresse eine weitere Geschichte. Im gleichen Magazin mit dem Untertitel „Welt des Wissens“, Aprilheft 2005, Seite 64, ist da neben mehreren anderen außergewöhnlichen Begebenheiten auch folgende kurze Story zu lesen, die Ihnen nicht vorenthalten werden soll. Diesmal handelt es sich beim Hauptakteur nicht um ein Tier, sondern um einen Menschen, nicht geklont und unverfälscht. Das Ganze ist ebenso ungewöhnlich wie die ersten beiden Berichte und ebenfalls schwarz auf weiß nachzulesen. Hier der Wortlaut: /12/

„Ein Attentäter hatte seine Briefbombe nicht ausreichend frankiert. Der gefährliche Brief kam mit dem Vermerk zurück: zurück an Absender.

Der Terrorist erkannte sein gefährliches Schreiben nicht, öffnete den Brief – und wurde in Stücke gerissen.“

Während der Leser oder Hörer derartig ungewöhnlicher und abstruser Storys zurecht skeptisch ist, sind „wahre“ Lügen aber oft noch viel schwerer zu erkennen. Wer durchschaut schon den freundlichen Lügner, der seiner adretten Arbeitskollegin Fräulein B. Usen im Vorbeigehen zuflüstert, daß sie heute ein ungewöhnlich sexy Oberteil trage? (Denn: ob der „Charmeur vom Dienst“ mit seiner etwas anzüglichen Flirt-Tirade wirklich den tief ausgeschnittenen Top der Kollegin meinte, bleibt zweifelhaft.) Vielleicht hatte es der junge Mann ja ganz nett gemeint, wollte nur charmant sein oder fröhlich flirten. Aber die Wahrheit hatte er eigentlich nicht gesagt. War das also auch eine Lüge?

Die Geschichte vom Briefattentäter, der sich selbst in die Luft sprengte, war übrigens eine waschechte Lüge. Sie ist in verschiedener Fassung durch die Presse gegangen und wird mit unterschiedlichen Ortsnamen, wechselnden Handelnden in dieser oder jener Fassung immer wieder kolportiert und als wahr verkauft und geglaubt. Und das weltweit, auch von seriösen Blättern und im Gespräch mit ernstzunehmenden Freunden. Daß die Story in das erwähnte Wissenschaftsmagazin Eingang fand, liegt nicht etwa an einer schlechten Recherche der Redakteure oder an der Leichtgläubigkeit der für diese Geschichte verantwortlichen Journalistin. Katrin MAURER, so der Name der Autorin, bringt diese und viele ähnliche erstaunliche Berichte unter der Rubrik „urban legends“, ein uraltes Phänomen der „Wanderlügen“, auf das später noch einzugehen ist.

Alle drei Beispiele konnten aber demonstrieren, wie schwer eine Lüge als Lüge zu erkennen ist.

Bei sogenannten Halbwahrheiten kommt hinzu, daß uns der schwer bestimmbare Grad der Glaubwürdigkeit verwirrt und neben viel Bekanntem und daher eher Glaubhaftem auch das Unbekannte geschickt als Wahrheit verkauft werden soll.

„Ganze Sachen sind immer einfach wie die Wahrheit selbst. Nur die halben Sachen sind kompliziert“,

wußte schon der österreichische Schriftsteller Heimito von DODERER (1896-1966). /18/

Und wie soll auch der dreijährige Dreikäsehoch der Mutter nicht glauben, wenn ein unechter Weihnachtsmann an der Tür klopft (oft Onkel Peter), aber die mitgebrachten Geschenke ganz real sind? Muttis Erzählungen vom Weihnachtsmann müssen dann ja wohl stimmen, zumal ja alles nur zum Guten (gelogen) wurde. Doch auch dazu später ausführlicher.

Wie schwer es ist, eine allgemeine genutzte Art der Lüge einfach als gemeine Lüge abzustempeln, zeigt eine andere oft zitierte Geschichte, die man in dieser oder jener Variante häufiger lesen kann. Das einst von Bertrand RUSSEL ins Feld geführte Beispiel zeigt sehr treffend, wie „unsere höchst unreflektierte Abwertung der Lüge aus den Angeln“ gehoben werden kann. /64/ Bei seinem Exempel geht es ganz besonders um den moralischen Aspekt der menschlichen Unwahrheit. Und scheinbar wurde die Lüge und damit der Lügner schon seit Menschengedenken als unsittlich abgestempelt, denn wer kennt nicht den vor fast 2000 Jahren vom römischen Fabeldichter PHÄDRUS formulierten Reim: /34/

„Wer einmal lügt,

dem glaubt man nicht,

und wenn er auch die Wahrheit spricht!“

Andere sind der Meinung, die Lüge sei „ein biologischer Defekt“ wodurch es nicht möglich sei, „daß man ihr mit Moral beikommen“ könnte. /73/ Doch so einfach ist die Lüge nicht von der Moral zu trennen. Stellen Sie sich bitte einmal folgende, zugegeben nicht alltägliche Begebenheit vor:

An einem nebligen Novemberabend steht Herr L. Ügner allein an der Straßenbahnhaltestelle. Er wartet auf die letzte Nachtlinie Nr. 23.

Plötzlich rennt ihm eine Frau entgegen. Völlig aufgelöst, mit angstvollem Gesicht, das Kleid zerfetzt, stürzt sie an Herrn Ügner vorbei, um dann mit lautem Kreischen, ihren stolpernden Gang noch beschleunigend, an der nächsten Straßenkreuzung hinter der erstbesten Hausecke in der rechtsseitigen Nebenstraße zu verschwinden.

Noch bevor sich Herr Ügner das Ganze erklären kann und sich alle möglichen Gedanken über das eben Erlebte durch sein Gehirn arbeiten, sieht er ganz am Ende der Straße aus gleicher Richtung erneut jemanden auf sich zurennen. Anfangs kaum zu erkennen, nähert sich die unbestimmbare Gestalt doch unerwartet schnell der Haltestelle. Dann, aus kaum dreißig Metern Entfernung, erkennt Herr Ügner, was da auf ihn zukommt. Mit großen Schritten stürzt ein riesiger Kerl auf ihn zu. Dessen wütender Gesichtsausdruck und das wilde Äußere dieses Zwei-Meter- Mannes müssen jedem den kalten Schweiß auf die Stirn treiben. Das Hemd hängt ihm aus der Hose, der Ärmel seiner Jacke ist an der Schulternaht zerfetzt und in seiner Rechten schwingt er selbst während des Laufens unkontrolliert eine mittelschwere Axt. Wutentbrannt hält der Tobsüchtige plötzlich inne und wutschnaubend schreit er Herrn Ügner die Frage ins Gesicht: „Haben sie gesehen, wohin diese Frau eben lief?“

Was glauben Sie, wird Herr Ügner nach dem ersten Schreck geantwortet haben? Was hätten Sie erwidert, wenn Sie überhaupt noch in der Lage gewesen wären, verständlich zu artikulieren? Vermutlich hätten Sie nach dem ersten Schock genauso reagiert, wie jeder gute und mitleidige Mitmensch. Und genau wie der Herr an der Bushaltestelle hätten auch Sie wahrscheinlich vorsätzlich gelogen! Derartige Lügen nennt der Mitmensch auch „Notlügen“, von denen James JOYCE /19/ ganz richtig erkannt hatte, daß „der Erfinder der Notlüge … den Frieden mehr (liebte) als die Wahrheit.“ Und wenn Sie in Ihrer Not die Not der Frau ebenfalls auf gleiche Weise gemindert hätten, hätten Sie damit sicher richtig gelogen, pardon richtig gelegen. Natürlich hat auch Herr Ügner den verwirrten Axt-Träger genau in jene Straßenbiegung gewiesen, in die vorher die verängstigte Frau nicht gelaufen war. Logo! Aber auch Lüge?

Sicher, die Unwahrheit schon, aber auch Lüge?

Lügt man, wenn man den Dieb in den Keller lockt, um ihn dann dort einzusperren? Lügt man, wenn man dem Straßenräuber vortäuscht, die Wertsachen lägen allesamt zuhause in der Truhe? Lügt man, wenn man dem Sterbenskranken gute Besserung wünscht? Lügt man, wem man dem ängstlichen Kind wider besseres Wissen verspricht, daß alles gut wird?

Diese Beispiele verdeutlichen, daß das „Lügen, als verdeckte unwahre Behauptung“ im Prinzip erst einmal moralisch neutral zu werten ist. „Der Lügende kann eben durch seine Lügen die gesamte Breite moralischer Eigenschaften bedienen, Lobenswertes, wie Verwerfliches erreichen“, wie Harald GROBNER in einem Artikel formuliert. /64/

Man sieht rasch ein, daß nicht jede geäußerte Unwahrheit den Charakter einer moralisch zu verurteilenden Lüge hat und sicher von Fall zu Fall die eine Lüge anders als die andere zu beurteilen ist, bevor das Lügen generell als schlecht oder boshaft zu verurteilen wäre.

Selbst wenn man unbedingt dazu angehalten ist, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, kann es passieren, daß man dazu nicht in der Lage ist. Einmal, weil man die Wahrheit nicht kennt und an dieser Stelle schon Vermutungen die Unwahrheit stützen könnten, zum anderen, weil man als guter Mitmensch die Pein und Not der Welt durch eine Wahrheit nicht noch vergrößern möchte und letztlich, weil man die Frage einfach nicht wahrheitsgemäß beantworten kann. Und das nicht mal wegen persönlichen Unvermögens, sondern weil man, ganz objektiv, nicht in der Lage dazu ist. Zukünftigen Juristen wird schon im ersten Semester das einprägsame Beispiel erzählt, daß man – sogar vor Gericht – nicht immer in der Lage ist, wahr zu antworten. Oder was würden Sie wahrheitsgemäß aussagen, wenn der in Ehren ergraute Lord-Oberrichter Sie unter Eid stellte und Sie dann im trocknen Richterton aufforderte, folgende Frage kurz und wahrheitsgemäß mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten:

„Und, Herr L. Eser, haben Sie nun aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“

Bei jedem ehrlichen „Ja“ oder „Nein“ ihrerseits müßten Sie mit der entsprechenden Strafe rechnen, da schon die unsinnige Konstruktion der Frage auch in jedem Fall zu einem Eingeständnis führen würde. Bei „Nein“ hätte man den Eindruck, Sie prügelten nach wie vor, wären also ein unverbesserlicher Frauenschänder, der hinter Gitter gehörte. Beim „Ja“ hätten Sie aber zugegeben, Ihr Ehegesponst zumindest bisher geprügelt zu haben. Wenn Sie also in Wahrheit Ihre Frau kein einziges Mal geschlagen hätten und das „Handanlegen“ stets nur in Form zärtlicher Berührungen vonstatten ging, wären Sie der Dumme, der beim besten Willen diese Frage nicht beantworten kann. (Daraus nun zu schlußfolgern, Ihre Frau demnächst einmal vorbeugend zu schlagen, um dann wenigstens für den Fall der Fälle wahrheitsgemäß antworten zu können, wäre allerdings noch dümmer!) In unserem konstruierten Fall war aber der tölpelhafte Lord-Oberrichter der wirklich Dumme, der unter seiner verstaubten Perücke nicht mehr daran gedacht hatte, daß man solche Fragen einfach nicht stellen kann, wenn man ein kurzes „Ja“ oder „Nein“ und dazu noch „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ von jemanden hören will. (Natürlich gibt es auch weniger spektakuläre Fragen, die Sie als höflicher und hilfsbereiter Mensch nicht ehrlichen Herzens mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten können, z.B.: „Wie spät ist es, bitte?“)

Also, fassen wir diese ersten, etwas ungeordneten Betrachtungen zur Lüge zusammen, bevor wir uns dem Lügen, den Lügen und den Lügnern im einzelnen zuwenden.

Wir alle lügen, mal mehr, mal weniger, der eine geschickter als der andere, mal aus Freundlichkeit, ein andermal aus Not und selbst aus gemeiner Boshaftigkeit. Doch ob spitzfindiger Halsabschneider oder freidenkender Dichter: Lügner sind wir allesamt, Lügner, wie es das Alphabet hergibt: Ob Gutgläubiger oder Ganove und Gauner, ob Friedfertiger oder Falschspieler und Finteleger, ob Hoffärtiger oder Halunke und Halsabschneider. Betrüger sind nicht nur die Banditen und Beutelschneider, denn Schummler finden sich nicht nur im Kreise der Schurken, Schieber und Scharlatane. Arglist und Tücke sind eben nicht nur der Hinterhalt des Unaufrichtigen. Scheinbar ist es auch (uns) guten Menschen nicht vergönnt, ohne Lüge durchs Leben zu kommen.

Lügen sind so alt, wie die Spezies der Lügner. Die Geschichte der Lüge ist lang, die Geschichten der Lügen sind ungezählt. Sie gab es immer, und sie wird es voraussichtlich noch eine ganze Weile geben. Ob das eher gut oder doch ein Makel unserer so hehren Menschheit ist, bleibt zu untersuchen.

Die Wissenschaft jedenfalls ist sich längst einig: Ohne Lug und Trug hätte es unsere Evolution vom niederen Tier zum Affen und eine Entwicklung zum heutigen Menschen nicht gegeben.

Ob Unwahrheit oder Halbwahrheit, gelogen ist betrogen! Ob durch Ausflüchte eingestanden oder durch Verschlagenheit kaschiert, nichts hat die Unwahrheit mit der Aufrichtigkeit gemein. Moralisch verwerflich sind sicher diejenigen Lügen, die wir zum Schaden anderer und/oder nur zum eigenen Vorteil produzieren. Aber auch solche Lügen sind an der Tagesordnung. Hinterlist und Verschlagenheit adeln den scheinbar Tüchtigen, die Vorspielung falscher Tatsachen gehört zum guten Ton und jemanden in die Irre führen ist Teil des alltäglichen Geschäfts. Während der genügsamere Tölpel seine Ammenmärchen erzählt und der Phantasiebegabte sein Seemannsgarn spinnt, tarnen die Jäger und Angler ihre Geschichten als Fach-Latein, verkaufen die Denker und Poeten ihre Lügen als „Dichtung und Wahrheit“, bekommen also obendrein noch Geld dafür.

Und dennoch kann Lügen auch dem Belogenen zugute kommen. Ob ein Kompliment, das eher der Höflichkeit als der reinen Wahrheit entspricht oder die pädagogische Flunkerei, ob zur Abwehr von Unbill oder zur Wahrung des guten Umgangs mit dem Nachbarn: Lügen sind oft unersetzlich und ein probates Mittel, um noch größeren Schaden von uns und anderen abzuwenden. Lügen ist manchmal also nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.

Noch deutlicher hört man das von den Fachleuten. So zum Beispiel auf dem „8. Philosophicum Lech“ am 16. September 2004 in Lech/Arlberg. Schon in seinem Eröffnungsvortrag „Der Wille zum Schein. Über Wahrheit und Lüge“ /17/ geht Konrad LISSMANN voll in die Vollen, um sein Referat zu beginnen. Gleich nachdem er - vermutlich - die Hörer begrüßt hat, geht’s los mit der Wahrheit:

„Wir lügen alle! Ohne Ausnahme.

Lügen ist uns eine Lust und ein Bedürfnis, wir lügen nicht nur aus Eigennutz und aus Not, sondern aus der Freude an der Täuschung, der Verstellung, der Unwahrheit. Der Mensch ist das lügende Tier, Lügen ist nahezu so etwas wie eine zweite Natur des Menschen, vielleicht die zweite Natur, die uns zu bewußten und zivilisierten Wesen macht.“

Letzteres sahen aber die Moral und Ethik nicht immer so, wie nicht nur am Beispiel uralter „Gesetze“ aus der Heiligen Schrift zu sehen ist.

Von den Schwierigkeiten, dem 8. Gebot zu folgen

„Die Lüge ist wie ein Schneeball:

je länger man sie fortwälzt,

je größer sie wird.“

(Martin LUTHER)

Lügen ist nicht generell verboten. Es gibt diesbezüglich weder einen Paragraphen im Strafgesetzbuch noch anderweitige Vorschriften, die das Lügen irgendwie als zu ahndende Tat deklarierten. Der gemeine Lügner wird im Allgemeinen nicht belangt, er wird nur „ertappt“. Eine strafbare Handlung ist nur die Falschaussage unter den besonderen Bedingungen der Justiz und des Eides. Nur bei Aussagen- und Betrugsdelikten kann man also durch Lügen auch eine Straftat begehen, „Grundsätzlich ist Lügen jedoch nicht strafbar; das gilt auch für schriftliche Lügen.“ /37/ Daher ist weder in unseren Gesetzesblättern noch in unserer Bibel wirklich ein Verbot gegen das Lügen ausgesprochen, denn was wir zum Beispiel den Heiligen Schriften oder den Katechismen entnehmen können, sind nur entsprechende Gebote, die die meisten Menschen auch nur als Angebote verstehen oder sogar falsch verstehen. So kann man zum Beispiel auf der Internetseite „jesusonline“ /21/lesen, daß Gott in der Bibel fordert „Du sollst nicht lügen“. Fairerweise ist auch die Quelle angegeben, in der das Zitat stehen soll, nämlich bei 2. Mose 20, 16. Aber schon hier hat der Schreiber, wenn nicht geirrt, einfach gelogen, wie jeder weiß, der auch die 10 Gebote der Christenheit kennt. Denn in der Bibel /1/ steht bei besagter Stelle nur: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ /1/ Und ganz ähnlich heißt es im achten der zehn heiligen Gebote der Christenheit wörtlich: /13/

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

Zugegeben, es ist nicht einfach, diesem Gebot zu folgen. Weder seiner Botschaft noch seiner sprachlichen Fassung. Darüber hinaus ist es nicht wahr, daß die Zehn Gebote einem MOSE am Berg Sinai übergeben wurden, aber davon später mehr.

Was der gemeine Christ unter „Zeugnis“ zu verstehen hat, ist deshalb sogar im Anhang der Bibel unter „Einzelne Sach- und Worterklärungen“ /1/ wiedergegeben. Während der Bibelleser danach „zeugen“ als „(oft) bezeugen, beteuern, beschwören“ begreifen soll, hat man sich laut gleichem Codicillus unter „Zeugnis“ „(oft) das Gesetz, darin Gott seinen Willen bezeugt“ vorzustellen. Demnach ist „Zeugnis“ Gottes Gesetz, müssen also die von Gott an MOSE gegebenen 10 Gebote ebenfalls Zeugnis sein. Und in einem dieser Zeugnisse heißt es eben, daß man nicht „falsch Zeugnis“ reden soll. Klar?

Ganz schön verwirrend, möchte man ehrlich gestehen. Und so ist es vielleicht zu erklären, daß das Gebot nicht immer befolgt wird, weil schon dem Sinn schwer zu folgen ist. Vielleicht liegt es ja aber nur an dem Erklärungswörtchen „oft“, und man hat etwas ganz anderes unter Zeugnis zu verstehen. Nun ja, die Worterklärungen zur Bibel erklären uns das Wort Gottes eben etwas unklar, so daß die Erklärung für Nichterklärtes auch nicht jedem zur Klärung verhilft.

Liest man in den Bibelversen 11 bis 37 bei 3. Mose, Kapitel 19, findet man in der Heiligen Schrift sogar eine „Auslegung“ der Zehn Gebote. Da aber selbst diese Auslegung diesem oder jenem nicht voll verständlich ist und dies vermutlich am exegetischen Unvermögen des Laien-Lesers liegt, hat der Bibeldolmetscher Martin LUTHER (1483 – 1546) an anderer Stelle höchstpersönlich aufgeschrieben, was wir unter diesem oder jenem Text der Testamente genauer verstehen können oder zu verstehen haben oder besser sollten. Der große Reformator Martin LUTHER hatte in seiner Amtsstube die Zehn Gebote und die anderen sogenannten Hauptstücke zur Taufe, zum Vaterunser oder zum Abendmahl in sogar großformatigen Texttafeln an den Wänden hängen, und jedes Mal „wenn er hineinkam, kniete er und betete sie.“ /13/

In seinem Buch „Der kleine Katechismus“ /13/ behandelt LUTHER diese fünf Hauptstücke ausführlich, so auch das erste Hauptstück, eben die Zehn Gebote, „wie sie ein Hausvater den Seinen einfältig vorhalten soll“. Hier wird vielfältig auch auf das 8. Gebot eingegangen. „Was ist das?“ fragt LUTHER nach Art des Katechismus zu diesem Gebot, um dann unter anderem erst einmal darauf hinzuweisen, was Gott wohl mit dem 8. Gebot nicht haben will: „Die Lüge überhaupt“. Nach dieser generellen Erkenntnis schlußfolgert LUTHER ergänzend: „… insbesondere aber … daß wir unsern Nächsten nicht fälschlich belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen …“ sollen. Hier ist nicht ganz klar, ob die Betonung der Aussage eher auf „unsern Nächsten“ oder auf „fälschlich“ zu legen ist. So oder so ist diese „Soll-Bestimmung“ eine ernste Empfehlung gegen die Lüge. Warum aber der sprachgewaltige Bibelübersetzer zwischen Lüge und fälschlicher Lüge unterscheidet und darüber hinaus auch Verrat, Nachrede und bösen Leumund apostrophiert, bleibt wieder etwas im Dunkel. Das scheint er selbst gespürt zu haben, liefert er doch auch zur „fälschlichen Lüge“ gleich eine Erklärung mit. Gewissermaßen eine Erörterung zur Erläuterung oder eine Anleitung zur Begriffsbestimmung und damit eine Darstellung zur Auslegung als Hilfe zur Deutung. Unter dem „fälschlich belügen“ des Mitmenschen ist zu verstehen: „Böses im Herzen von ihm denken und mit falschen Worten hintergehen.“ /13/ Das mit „falschen Worten hintergehen“ ist aber nun sehr ähnlich wie „Verrat, Nachrede und böser Leumund“, so daß sich diese Erklärung ebenfalls eher schwanzbeißerisch gibt. Neu aber ist, daß „Lüge“ hier sehr weit gefaßt wird, da schon Böses denken, also auch der unausgesprochene Gedanke als fälschliches Belügen gilt. Genauso ernst geht LUTHER mit dem Verrat, der Nachrede, der falschen Verdächtigung, der Namensbefleckung und Ehrabschneidung um. Was aber nun die schlichte „Lüge“ ist, bleibt weiter offen.

Will man den Bibelautoren, Übersetzern und Erklärern bezüglich der „Lüge“ keine Aphrasie unterstellen, so ist mindestens abzuleiten, daß man vieles und mehr darunter zu verstehen hat, als sich der einfältige Normal-Lügner bis dato darunter vorstellte. Kurzum: man sieht, wie schwer wir es uns mit der Lüge (und dem 8. Gebot!) machen. Es geht uns schlichten Adamskindern wie den Bibeltextern sicher auch, denn:

„Es ist allemal leichter zu lügen als die Lüge zu erklären!“ /132/

Aber vielleicht verhält es sich mit der Lüge ähnlich wie mit der Wahrheit, die man laut John B. PRIESTLEY „… heiter sagen soll, denn dem Clown hört man lieber zu als dem Prediger.“ /19/

Auch andernorts hat sich LUTHER bemüht, das Problem zu verdeutlichen. Und so hat er als Seelsorger bei der Frage „Wie man die Einfältigen soll lehren beichten“ nicht nur explizit darauf hingewiesen, daß man zu beichten hat, so man „übel nachgeredet“ hatte, sondern auch, was in diesem Fall „falsch Zeugnis“ ist. Er versteht darunter „Alles, was wider die Wahrheit geredet oder gehandelt wird“. Als Unterstützung zitiert er sogar den alttestamentarischen Sprüchemacher SALOMO, wenn er dazufügt: „Falsche Mäuler sind dem Herrn ein Greuel…“. /Sprüche Salom. 12,22/.

Hier nun stellt LUTHER die „Lüge“ gegen die „Wahrheit“ und ferner neben die „geäußerte Lüge“ auch die „falsche Handlung“, so daß neben „Lug“ auch „Trug“ dazugehört.

Schließlich gibt der Katechet seinen Schäfchen den guten Rat, wie sie als Menschen im Rahmen des 8. Gebots alles zum Besten kehren können. Ein sicher trefflicher Rat, den wir alle beherzigen können, um dem wirklich Boshaften der Lüge am besten zu begegnen: /13/

„Wenn wir nicht leicht glauben, wo etwas Böses wider den Nächsten ausgestreut wird, sondern zuvor ihn selbst oder andere darum fragen und unterdessen alles Gute von ihm denken und reden.“

„Hüten wir also unsere Zunge. So klein sie ist, so groß ist der Schaden, den sie anrichten kann: ‚Sie, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet’s an! Auch die Zunge ist ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit’, ‚voll tödlichen Gifts’“ heißt es unter Berufung auf den Jakobusbrief in einem prächtigen Bildband über die Zehn Gebote. /53/

Daß dies alles in praxi nicht immer einfach ist, wußte LUTHER ebenfalls, empfiehlt er doch durch „Weitere Zugaben“ auch eine „Haustafel“ mit etlichen Sprüchen „für allerlei heilige Stände“, wodurch er „dieselben ihres Amtes und Dienstes zu ermahnen“ hofft. Besonders Bischöfen, Pfarrherren und Predigern rät er neben der Beachtung aller zehn heiligen Gebote unter anderem „… nicht ein Weinsäufer“ zu sein und „nicht unehrliche Hantierung“ zu treiben. /13/ Die Mahnung zur Ehrlichkeit mußte wohl auch zu LUTHERs Zeiten seine Gründe gehabt haben, genauso, wie er sicher heut und allzeit an jedermann zu appellieren hätte. Denn es ist nach LUTHER auch „die Wahrheit, daß alle Menschen Sünde haben.“ /13/

In seiner Fassung „Vom Gesetz und den heiligen Zehn Geboten“ bringt LUTHER sogar eine wenig bekannte, poetische Formulierung des Anti-Lügen-Gebots: /13/

„Du sollst kein falscher Zeuge sein,

nicht lügen auf den Nächsten dein,

sein Unschuld sollst auch retten du,

und seine Schanden decken zu.

Kyrie eleison.“

Diesem Gedicht können wir uns nach langem Nachdenken nun endlich anschließen, umfaßt doch „nicht lügen“ alles und somit außer den „kleinen Lügen“ vom leichtwortigen Kompliment und der Trost-Lüge des Arztes all das, was auch wir unter der Lüge hier verstehen wollen, von der undurchsichtigen Halbwahrheit bis zum dreisten Betrug. Wenn hier also generell vom „Lügen“ gesprochen wird, ist diese breiteste Palette gemeint, und wenn hier das Gebot nicht zu lügen am Beispiel des christlichen Glaubens dargestellt wurde, soll das keineswegs den Atheisten oder den Gläubigen anderer Religionen ein Freibrief sein.

Auch der Islam kennt zehn Gebote, die ganz ähnliches besagen. Nur heißt die Heilige Schrift hier Koran und die entsprechenden Kapitel darin Sure. In Sure Nr. 17, die den unerwarteten Titel „Die Kinder Israels“ trägt, wird deutlich, daß Gott MOSES die Schrift gab und MOHAMMED darüber hinaus durch seinen Engel Gabriel noch weitere Teile der Heiligen Schrift erhielt. So ist es nur auf den ersten Blick überraschend, daß der Dekalog des Islams den hebräischen Zehn Geboten ziemlich nahe steht. Und so heißt es im Koran (17,22 –39) unter anderem: /32/

„Verfolge NICHT das, wovon du keine Kenntnis hast.“

Auch im Buddhismus wird die Moral (= sila) hochgehalten und durch (ge)rechtes Handeln und richtige Lebensführung wie durch (auf)richtiges Sprechen im Alltag angestrebt. Moralisches Handeln ist sogar eine der wesentlichen Stufen, die der Einzelne auf dem achtteiligen Pfad zur spirituellen Vollkommenheit führt und in Weisheit und Erleuchtung gipfeln soll. Ähnlich den Zehn Geboten kennt man hier schon seit über 3000 Jahren die zehn Regeln BUDDHAS als „dadasila“. Sie raten nicht nur vom Gebrauch des Alkohols und Parfüms ab, sondern fordern auch ganz explizit: /32/

„Du sollst NICHT die Unwahrheit sagen.“

Und dies waren nur Beispiele.

Sage bloß noch einer, wir christlichen Abendländer hätten die Wahrheit gepachtet.

Von der Schwierigkeit, die Lüge in Worte zu fassen

„Wer einmal lügt, muß oft zu Lügen

sich gewöhnen;

Denn sieben Lügen

braucht’s, um eine zu beschönen.“

(RÜCKERT, Weisheit des Brahmanen, Stufe 5,512)

Die Lüge ist schwer zu fassen, sowohl in Worte, als auch in Worten. Und im Alltag sowieso. So häufig wie sie allerorts auftaucht und jederzeit gegenwärtig ist, so schwer ist es, sie festzumachen, auch begrifflich.

Nach einem schlauen Lexikon versteht man unter einer Lüge

„… eine wider besseres Wissen gemachte Äußerung zum Zweck der Täuschung. Die Lüge reicht von der Ausflucht über höfliche Unwahrheiten bis zur massiven Irreführung und kann auf die Dauer zu heuchlerischer Haltung oder krankhafter Neigung (Pseudologie) führen, bei der Wahrheit und Lüge sich allmählich untrennbar vermischen.“ /2/

Aha, also einiges wissen wir nun schon. Wenn man die Wahrheit nicht besser weiß, nach bestem Wissen und Gewissen etwas Falsches sagt und gar nicht täuschen will, ist es schon mal keine Lüge. Aber die Wahrheit eben auch nicht!

Zum andren muß es sich bei der Lüge um eine Äußerung handeln, als mündlich oder schriftlich in die Welt gelassene Unwahrheit. Ganz im Gegensatz zu LUTHER, der schon „Böses im Herzen … denken“ als Anfang der Lüge deutete, sind die Gedanken also frei, zumindest frei von Lügen. „Rede wenig, rede wahr, falsches Reden bringt Gefahr“ sagt der Volksmund. Und wer dieses oder das schöne Sprichwort vom silbernen Reden und güldenen Schweigen beherzigt, hat demnach größere Chancen, nicht so häufig zum Lügner zu werden.

Schon die alten Römer waren sich der Notwendigkeit bewußt, einen Teil ihrer Informationen im engeren Kreis zu halten. „Hing zum Beispiel beim Gastmahl der Römer eine Rose von der Decke, wußten die Gäste, daß die Unterhaltung vertraulich zu behandeln sei: Sag es durch die Blume“ /231/ ist daher auch heute noch ein geflügeltes Wort, um die Wahrheit hinter schönem Reden zu verbergen und der Lüge ein zartduftendes Mäntelchen anzulegen.

Einer, der dies kaum nötig hatte, weil er die Kunst des Schweigens meisterhaft beherrschte, war John Calvin COOLIDGE (1872-1933), US-amerikanischer Politiker der Republikaner und Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren von 1923 bis 1929. Bekannt war er nicht nur wegen seiner gewerkschaftsfeindlichen Innenpolitik und dem nach ihm benannten „Sex-Effekt“ /77/, sondern auch wegen seiner nahezu unerreichten Wortkargheit. Mehr als das Nötige war nie aus ihm herauszulocken und eine Bemerkung von mehr als zwei Sätzen konnte schon als „Rede an die Nation“ gewertet werden. Anläßlich eines Galadiners soll sich folgendes abgespielt haben: /141/

Eine zu diesem Galaempfang geladene junge Amerikanerin kam in die Nähe des Präsidenten und bestürmte ihn etwas impertinent und taktlos mit der Erklärung: „Mr. President, ich habe mit Freunden gewettet, daß ich Ihnen heute Abend mehr als drei Wörter entlocke.“ Der so von der Seite Angesprochene sah die junge Dame nur an, um dann lakonisch zu antworten: „You lose.“ („Sie verlieren.“)

So amüsant und ehrlich kann Schweigen sein!

Andererseits kann „Schweigen“ auch „die grausamste Lüge sein“, wie uns der schottische Erzähler und Abenteuerschriftsteller Robert Louis Balfour STEVENSON (1850-1894) nicht ohne Tiefsinn mitzugeben wußte.

Auch was uns die Definition zum Thema „krankhafte Neigung (Pseudologie)“ berichtet, bei der „Wahrheit und Lüge sich allmählich untrennbar vermischen“ /2/, ist höchst interessant, soll aber hier nicht näher untersucht werden, da die Medizin sicher ein eigenes Schlachtfeld von „Wahrheit und Lüge“ ist. Eine Episode ist jedoch eine eigene Geschichte wert, die ihren Platz ganz am Ende dieses Buches gefunden hat.

Eine andere Definition zur Lüge bringt das ungleiche Pärchen „Lüge und Wahrheit“ vordergründiger aufs Tapet. Diese Begriffsauslegung bemüht schon ganz philosophisch die Objektivität und das Bewußtsein, gibt sich also insgesamt irgendwie wissenschaftlich und umfassender:

„Eine Lüge ist eine Aussage, die nicht der Wahrheit entspricht. Sie enthält eine falsche Behauptung, die objektiv vom Wissensstand des Aussagenden abweicht. Es gibt bewußte Lügen durch Vortäuschen falscher Tatsachen,unbewußte Lügen durch Selbsttäuschung sowie Notlügen, um Personen nicht unnötig zu belasten. Ein Irrtum ist keine Lüge.“ /37/

Die gleiche Quelle berichtet auch davon, daß der Mensch beim Lügen „… den Raum seiner Fantasie mit seinen Interessenstandpunkten (abgleicht)“/5/, was immer man unter diesem Wortungetüm und dem „Abgleichen“ auch verstehen mag.

Was also Lüge und Wahrheit, Täuschen und Vortäuschen, Bewußtes und Unbewußtes sowie Notlüge und Selbsttäuschung betrifft, bleibt noch genauer zu untersuchen.

Allein die vielen Adjektive unserer „Lüge“ zeigen, wie schwer es ist, per se die Lüge einzuordnen. Von „kleinen“ wie „großen“, „schweren“ und „verhängnisvollen“, „gemeinen“ und „boshaften“, „hinterhältigen“ und „mutigen“ Lügen hat man ebenso gehört wie von „überflüssigen“ und „notwendigen“, „schrecklichen“, wie „widerwärtigen“ aber auch „schönen“ und „harmlosen“, „unterhaltsamen“, „traditionellen“ und „modernen“. Selbst die „edle“ und auch die „sicherste“ Lüge soll es geben, wie uns ein Lexikon der christlichen Moral /96/ und das Graffiti-Zitat einer Wissens-Datenbank /6/ lehren. (Übrigens: alle hier aufgezählten Attribute der Lüge sind durch Zitate belegbar!) Manche haben daraus „vier Formen der Lüge“ destilliert: Nämlich „die harmlose Lüge, die wohlmeinende Lüge, die böswillige Lüge und die täuschende Lüge“, wobei die erste Form als Teil unseres normalen Sozialverhaltens gedeutet wird, die zweite Form etwa der landläufigen Notlüge entspricht, die dritte Form nicht näher erläutert und die letzte Form als „gefährlich“ gekennzeichnet wird. /78/

Schaut man in unserem DUDEN („Das umfassende Standardwerk auf der Grundlage der neuen amtlichen Regeln“) nach dem Wort Lüge, so wird zumindest bestätigt, daß es sich bei „Lüge“ um die „Unwahrheit“ handelt. /62/ Neben interessanten Ableitungen vom „Lügendetektor“ bis zum „Lügengewebe“ entdeckt man auch seltene Wortfügungen, wie „Lügenhaftigkeit“ oder „Lügerei“.

Während man sich noch fragt, was solche Begriffe wie „neu“ und „amtlich“ wohl im Untertitel des Dudens zu suchen haben und was die extra um den neuen Duden gewickelte rote Banderole mit der Aufschrift „5000 neue Wörter … endlich amtlich!“ mit all dem zu tun hat, entdeckt man auf Seite 183, daß „lügen“ auch mit „prahlen“ und seiner umgangssprachlichen Form „aufschneiden“ zu tun hat, wobei man neben dem „Aufschneider“ eine „Aufschneiderin“ vergeblich sucht. Aber vielleicht ist das Prahlen ja eher eine Männerdomäne, weil das schöne Geschlecht derartig großmäuliges Lügen gar nicht nötig hat. Folgerichtig kennt der Duden natürlich auch den „Prahlhans“ und, weil es viele Männer gibt, sogar die „Prahlhänse“. Das bestätigt unsere Theorie, wonach offensichtlich nur männliche Vertreter dieser Lügner-Gattung existieren; aber dafür scheinbar zahlreich. Da es mit anderen nichtemanzipierten Begriffen wie „Halunkin“, „Gangsterin“ oder „Schweinehündin“ ähnlich ist, scheint die dunkle Seite unseres menschlichen Charakters doch eher maskulin geprägt zu sein.

Logisch, daß man daher auch eine „Prahl-Liesel“ im offiziellen Wörterverzeichnis der Deutschen vergebens sucht. Hier begnügt sich unsere Sprache mit der (wahrscheinlich von der Gleichstellungsbeauftragten) in den Duden aufgenommenen „Prahlerin“. Selbst die „Prahlsucht“ kennt man. Daß „prahlen“ gleich hinter dem Wort „prähistorisch“ aufgelistet wird, zeigt zufällig, daß der Mensch scheinbar von Urzeiten an ein Angeber und Aufschneider war.

Noch spektakulärere Wahrheiten offenbart uns der Duden im Fall der Wörter „wahr“ und „Wahrheit“. Ob es reiner Zufall ist, daß „wahr“ gleich nach den Wörtern „Wahnvorstellung“ und „wahnwitzig“ folgt oder man nach dem Wort „Wahrheit“ sofort belehrt wird, daß es auch einen „Wahrheitsbeweis“ und eine „Wahrheitsfindung“ gibt? Vielleicht muß ja der Mensch häufiger die Wahrheit suchen und beweisen, weil sie sehr selten ist und kaum noch einer so recht ohne Beweis an die Wahrheit glaubt? Auch die direkte Zusammenstellung von „Wahrnehmungsvermögen“ und „Wahrsagekunst“ kann kein Zufall sein!

Auch das „KLUGE“ Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache /30/ bringt uns nur bedingt weiter. Man erfährt aber zumindest, daß „lügen“ schon im 8. Jahrhundert bekannt war und ursprünglich mit dem germanischen „leug-a-“ zu tun hat, das sich heute noch in „leugnen“ gehalten hat. Weiter ist da zu lesen: „Außergermanisch entspricht akslav. lugati ‚lügen’, anderes ist unsicher.“ (Logisch, was ist beim Lügen schon sicher!) Die verwendete Abkürzung „akslav.“ bedeutet übrigens „altkirchenslavisch“, was nicht bedeuten muß, daß in alter Zeit die Kirche irgendwas mit dem Lügen zu tun hatte. Gleich nach dem Wörtchen „lügen“ wird noch gesagt, daß es sich um ein „starkes Verb“ handelt, das zum „Standardwortschatz“ gehört, was wiederum nicht bedeutet, daß starkes Lügen zum Standard werden sollte. Als „nomen agentis“ wird noch „Lügner“ aufgeführt, wobei hier der Fachbegriff „nomen agentis“ zu gut deutsch nichts anderes bedeutet als etwa “Name des Handelnden“ oder wie der Experte sagt: „Täterbezeichnung“. So wird der Lügner rein zufällig auch als „Täter“ entlarvt, wodurch man ganz unwillkürlich auch irgendwie ans Kriminelle denken muß.

Und nun zum letzten Mal ein Blick in KLUGEs Wörterbuch: Zur Suche nach der „Wahrheit“ hier.

Vorgewarnt durch unsere bisher schlechten Erfahrungen mit der Lüge verwundert es nicht, wenn das verbale Gegenstück der Lüge im etymologischen Vokabularium erst einmal als „Abstraktum“ gekennzeichnet ist. „Wahrheit“ ist das, was „wahr“ ist und „wahr“ kannte man im 8. Jahrhundert schon im Mittel- und Althochdeutschen wie im Altsächsischen als „war“. Erfunden haben wir Deutschen die Wahrheit jedoch offensichtlich nicht, leitet sich „war“ doch aus dem vordeutschen „waera“ ab, für das es mit dem lateinischen „verus“ oder dem altirischen „fir“ mehrere außergermanische Parallelen gibt. Bedenklich ist nur, daß „wahr“ und „Wahnsinn“ so dicht beieinander stehen.

Auch die Ursachen dafür, daß wir Menschen scheinbar nicht ohne den Wahnsinn des Lügens auskommen, können sicher wahrhaft aufschlußreich sein und wie erwähnt glauben viele sogar, daß „alle Menschen … Lügner“ seien. /38/

Apropos Lügner. (Nun ein allerletzter Blick ins Wortschatzwerk.)

Neben der „Lüge“ oder der umgangssprachlichen „Lügerei“ kennt der Duden /20/für den „Lügner“ auch die hübsche Wortfügung „Lügenbold“. Diese koboldhafte Verbindung von Lüge mit einem Suffix gehört nach /30/ sogar zum „erweiterten Standardwortschatz“, was erneut darauf hinweist, daß Lügen schon zum Standard gehört. Und obwohl wir derartige Lügenbolde doch täglich erleben können, soll er, der „-bold“, veraltet sein; sagen die Experten. Zunächst war aber „-bold“ nichts anderes als ein Teilstück oder Hinterteil (von Namen, versteht sich), von Namen, die bei seinen Trägern wie Sigibald, Sebaldus oder Balduin auf deren Kühnheit hinweisen sollten. Aber schon im Mittelhochdeutschen wird aus dem „kühnen Adjektiv“ ein charakterisierender Gattungsname. Von nun an stand das bezeichnende Appelativum nicht nur als Kennzeichen für bestimmte Jagdhunde (wie etwa dem Hetzbold), sondern auch ähnlich hitzigen Mannspersonen, wie dem Trunkenbold und Wankelbold. Da nun „Trinken und Wankeln“ nicht so weit von der Lüge entfernt sind, war es ein leichtes, auch den „Lügenbold“ zu kreieren.

Ähnlich interessante Worthistorien gibt es auch für die anderen, noch in unserem Duden aufgetischten Schöpfungen rund um die Lüge, wie man für „Lügendichtung“ oder „Lügengebäude“, „Lügengespinst“ und „Lügengewebe“ leicht nachprüfen kann. Etwas umgangssprachlicher und auch alltäglicher ist da schon das „Lügenmaul“, was wieder darauf hinweist, daß die meisten Lügen zum gesprochenen Wort gehören.

(Und nun wirklich zum aller-aller-letzten Mal ein Blick ins Lexikon!)

So wie es – zumindest im Duden – eine „Wahrhaftigkeit“ gibt, hat man auch die „Lügenhaftigkeit“ in den offiziellen Wortschatz aufgenommen und damit Wörter kreiert, die der moderne Lügner und Mitmensch doch kaum benutzt. Aber modern ist die Dudenredaktion dennoch. Scheinbar haben sie dort wahrhaftig eine Gleichstellungsbeauftragte, gibt es doch neben dem „Lügner“ ganz eindeutig auch die „Lügnerin“. Allein das beweist, daß wir alle, Männchen wie Weibchen, uns ab und zu ins Lügen flüchten.

Von der Schwierigkeit, wahrhaft höflich zu sein

„Der Beste muß mitunter lügen –

Zuweilen tut er’s mit Vergnügen.“

(Wilhelm BUSCH)

Während die gehässige, gemeine und feiste Lüge oft als Angriff auf das betrogene Opfer geplant ist, kann auch das Gegenstück, die Flucht, eine Lüge sein.

Per Definition gilt jedenfalls ja schon die Ausflucht als Lüge! Bereits Ausrede und Vorwand unterliegen also unserer moralischen Kritik, wenn sie unserem Gegenüber etwas Unwahres signalisieren. Meist können wir diese Form der Lüge aber getrost in die eher zu belächelnde Kiste der kleinen Alltags-Lügen stecken oder uns daran freuen, daß es sie gibt. Und das betrifft nicht nur unsere sprachlichen Äußerungen, sondern auch Geschriebenes und … selbst Gepfiffenes.

In einem amerikanischen Frisörgeschäft hatte man die Idee, für wenige Dollar einen jungen Mann zu engagieren, der den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, als vor dem Laden des Haarkünstlers auf- und abzugehen. Einzige Tätigkeit außer seinem Dienstgang war hin und wieder ein anerkennendes Pfeifen. Immer dann, wenn eine Kundin frisch frisiert das Geschäft verließ, trat die bezahlte Pfeife in Aktion, um den Damen mit anerkennendem Pfiff zu signalisieren, wie toll man ihr Haupthaar gezwirbelt hatte.

Der Umsatz des Frisörladens soll sprunghaft gestiegen sein. Lüge also im Dienst menschlicher Eitelkeit und unternehmerischer Findigkeit.

Ein typisches Beispiel für ein Kompliment, das zwar nicht immer auf Bestellung und gegen Bares ausgepfiffen, pardon: ausgesprochen wird, aber im Grunde nichts anderes ist, als ein höfliches (und meist erfolgreiches) Lob. Nicht umsonst ist das Kompliment eine typisch französische Erfindung mit vielen Facetten. Und folgt man Gotthold Ephraim LESSINGs Hamburgischer Dramaturgie, dann weiß man: „So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Lügen, so finden sich auch selten Grobheiten ohne alle Wahrheit.“ /19/ Aber ein Quäntchen Lüge gehört immer, nein meist, irgendwie auch zum Komplimentemachen dazu. Andererseits gibt es aber auch den Ausdruck hoher Wertschätzung und das ganz ehrlich ausgesprochene Kompliment der Hochachtung. Nicht alles, was nett ist, muß also den Hauch von Lüge tragen. „Wenn eine Wahrheit liebenswürdig ist, bleibt sie deswegen nicht weniger wahr“ hatte schon die russische Dichterseele eines Anton Pawlowitsch TSCHECHOW (1860-1904) zu sagen gewußt. /19/

Doch auch im Fall des lügenhaften Kompliments ist der so „Betrogene“ oft glücklicher oder zumindest weniger verletzt, als wenn er raubeinig die Wahrheit zu ertragen hätte. Denn „ein Dutzend verlogener Komplimente ist leichter zu ertragen als ein einziger aufrichtiger Tadel“, so Samuel Langhorne CLEMENS (1835-1910), den wir besser unter seinem einprägsameren Künstlernamen Mark TWAIN kennen. /39/ Sicher hatte zu dieser Lebensweisheit TWAINs auch eine ganze Portion eigener Erfahrung beigetragen. So auch das Erlebnis anläßlich eines Galaempfangs, zu dem der berühmte Humorist, Satiriker und erfolgreiche Schriftsteller geladen war.

Wenn er mochte, konnte der sonst spöttische und für seinen bissigen Humor bekannte TWAIN auch sehr höflich und charmant sein. So auch anläßlich eines großen Diners, bei dem die Gattin des Gouverneurs seine Tischdame war. Natürlich war TWAIN seiner Nachbarin gegenüber ganz Gentleman. Während des Galadiners bemerkte er daher auch in sehr nettem Ton: „Wie schön Sie sind, Madame!“

Die Dame nahm zwar das Kompliment geschmeichelt an, entgegnete aber trotzdem altjüngferlich und mit herablassendem Blick: „Wie schade, daß ich das Kompliment nicht erwidern kann!“

TWAIN verlor jedoch ob der recht boshaften Art seiner Tischdame nicht im mindesten die Fassung, sondern konterte in seiner berühmt lässigen Art: „Machen Sie es doch einfach wie ich, gnädige Frau, lügen Sie!“

Während das Schulwörterbuch nur die Übersetzungen „Kompliment, Empfehlung und Glückwunschansprache“ enthält, erklärt der muttersprachliche LAROUSSE von 1896, (das ist etwa der Monsieur DUDEN der Franzosen) das „compliment“ ausführlicher als „verpflichtende, unentbehrliche oder aber zärtliche Rede sowie als feierliche Ansprache an eine Person, der besondere Autorität gebührt.“ /16/ Und so steckt von Hause aus im „compliment“ schon der schmeichelnde Ansatz, aus Verbundenheit oder Standesdenken schönzureden. Einer, der diese Art des Schmeichelns wie kein zweiter beherrschte, war der Hofkomponist des Sonnenkönigs Jean Baptiste LULLY (1632-1687). Zweifellos einer der begabtesten Künstler aber auch intrigantesten Geschäftemacher und Spekulanten seiner Zeit, hatte es der vielseitige LULLY nicht zuletzt aufgrund dieser Fähigkeit zur Schönrede auch vom Küchenjungen bis zum ersten Musikus am Hofe und Schöpfer der Nationaloper gebracht.

Die hohe Gunst LUDWIGs XIV. (1638-1715) erwarb er sich vor allem dadurch, daß er auch ein „Meister äußerst effektvoller Schmeicheleien war“:/141/

Als der Sonnenkönig seinem Hofkomponisten LULLY ein selbstkomponiertes Musikstück vorlegte und auf die fachkundige Beurteilung seiner musikalischen Eingebung drängte, ergab sich für den Künstler eine zwicklige Lage. Einerseits ergebenster Untertan und andererseits davon überzeugt, einen äußerst mißlungenen Kompositionsversuch seines Gönners und Königs in den Händen zu halten, erklärte LULLY dem Gebot seiner Unterwürfigkeit folgend: „Exzellent, Majestät, ganz exzellent! Ich bin mir sicher, Majestät wollten ein fehlerhaftes Stück komponieren, und dies ist Eurer Majestät ganz vortrefflich gelungen!“

Andere Berühmtheiten hatten werden das Talent noch die Zwänge, derart schmeichelnd ihre Meinung zu sagen. So war für den an wissenschaftlicher Wahrheit interessierten Physiker Albert EINSTEIN (1879-1955) jedweder „Autoritätsdusel … der größte Feind der Wahrheit“. /19/ Kein Wunder, daß er nichts mehr verachtete,