Geschichte(n) der Lust – Zwölf Kapitel über Leidenschaft und Laster - Harald Specht - E-Book

Geschichte(n) der Lust – Zwölf Kapitel über Leidenschaft und Laster E-Book

Harald Specht

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Beschreibung

Lust, Leidenschaft und Laster sind dem Homo sapiens angeboren. Das war immer so und es wird so bleiben. Dass dieses nicht zu bändigende Ausleben des sexuellen Verlangens und der persönlichen Befriedigung zwingend etwas mit der Zeugung von Nachkommen zu tun hat, ist selbstverständlich, auch wenn die Kirche es zeitweise verlangte. Harald Specht geht in zwölf hochinteressanten Kapiteln – wissenschaftlich, sarkastisch und satirisch, aber auch philosophisch auf die Liebes- und Genussdinge in unserem Leben ein. Ob Ägypter, Götter, Römer, ob im fernen Osten oder im nahen Europa, ob in der Frühzeit, der Antike, im Mittelalter oder heute, ob im Bordell, im Kloster, im Kuhstall oder auf dem heimischen Küchentisch, ob mit anders- oder gleichgeschlechtlichen, ob mit jungen oder alten Partnern, ob mit Mensch, Tier oder Technik, ob im Kunstwerk oder Porno: Die Lust des Menschen wird in diesem Buch aus mehreren Blickwinkeln beleuchtet und einmalig umfassend dargestellt. Und dazulernen will bei diesem Thema wohl jeder ...

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Widmung

Anstelle eines Vorworts

PROLOG: Im Anfang war …

1. Vom Laubbüschel über die Göttin der Liebe zum Mohnkuchen

2. Vom Anfang der Lust und wie die Lust den Menschen machte

3. Von der Phantasie zum Akt – Im Zentrum der Lust

Großhirn an alle – Wenn die Chemie stimmt

Sucht – die Schattenseite der Lust

Die Sinnlichkeit der Lust

Der Coodlidge Effekt – der Sex von Mr. President

Tierisch guter Sex – die Lust der anderen Art

4. Von Heiligen Hochzeiten und Tempeldirnen

Mit dem guten Hirten zum göttlichen Schäferstündchen

Die Liebesdienste der Lustdirnen

Wenn jemand eine Kuh vergewaltigt

5. Von HATHOR bis MOSES – Die Lust der Ägypter und Hebräer

Handmade by ATUM - Die eigenwillige Schöpfung des ägyptischen Pantheons

Im Angesicht der Liebesgöttin – Alltagssorgen und Sinnesfreuden

Vitalität und Zeugungskraft – der Mann als Stier

Das rauschende Fruchtbarkeitsfest von Abydos

Der erotische Papyrus von Turin – Moralpredigt oder Schmunzelstory?

Das Sexualleben der Mumien – Die Lust im Jenseits

6. Von Adam bis Mose – Die Lust nach Sündenfall und Sintflut

Das Sodom und Gomorrha der Israeliten

Lust und Laster der Abraham-Erben

Die göttliche Geschlechtsumwandlung

Ungereimtes und Poetisches

Die 66 Sex-Vorschriften des Herrn

Alle reinen Vögel esset – Die Beschneidung der Lust

7. Von A wie APHRODITE bis Z wie ZEUS – wenn die Lust göttlich wird

Nektar und Ambrosia – Die Lust zu Fabulieren

Die Wandelbarkeit der Lust – Zeus’ amouröse Abenteuer

Aphrodite – die Schaumgeborene

Helena – Schönheit, Weisheit, Macht und Liebe

8. Vom Kultus zur Philosophie – antike Lust an Körper und Geist

Vom Mythos zum Logos – die Lust der Ökumene

Die Lust der alten Griechen

Hierodulen, Hetären und Hafendirnen

Also sprach Zarathustra – Die Lust in Persien

Knabenliebe und Symposien – Feste für alle Sinne

Immanuel und die Schule der Lust

9. Von der orgia zur Orgie – die Lust im römischen Imperium

Das Rom der Wölfin und der Wölfinnen

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Wein, Weib und nackte Leiber – die römischen Bacchanalien

Ein Festkalender der Lust

Salve CAESAR – Die Macht zu lieben und zu leben

Ars amatoria – die Kunst zu leben und zu lieben

Hic habitat felicitas – Das Recht zu leben und zu lieben

Von Perversem und echten Pervertierten – Fetischismus, Sodomie und weitere Arten der etwas anderen Lust

Caprineus und Co. – Als man den Bock zum Kaiser machte

10. Von A wie Augustinus bis Z wie Zölibat

Augustinus – die Bekenntnisse eines Sünders

Von sündiger Lust zur Lust als Sünde

Der Ver-lust der Lust

Die Frau als „Gefäß der Sünde“

Neue Zeit und alte Lust – zwischen Sitte und Sünde

Recht und Glaube – Sünde und Buße

Liebe und Scholastik – Das ungleiche Paar

Macht und Muntgewalt – Land und Lehen statt Lust und Liebe

Im Gewand der Venus – Minneleid und Sangeslust

Stadtluft macht frei – In Bordell und Badehaus

Klostersfrau Melittengeist

Seelenheil und Sinneslust – Zwischen Zölibat und Klosterwonnen

11. Von den großen Entdeckungen bis hinaus über das „Jahr 1“ der neuen Zeit

Renaissance – Der neue Mensch in neuer Welt?

Lustvoll wie ein Gott in Frankreich

Die Entdeckung der exotischen Lust des Fernen Ostens

Ein Marquis und ein Chevalier – die Abgründe und die hohe Schule der Lust in Literatur und Leben

Neue Zeit und neue Lust?

Von Libido und Lustprinzip

Die Lust heute – Einsichten und Ausblicke

12. Am Anfang war..., am Ende ist... - Die Lust EUROPAs -

Danksagung

Quellenverzeichnis

Harald Specht

Geschichte(n) der Lust Zwölf Kapitel Leidenschaft und Laster

Engelsdorfer Verlag

Bibliografische Information durch Die Deutsche Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright (2005) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

www.engelsdorfer-verlag.de

eISBN: 978-3-86901-126-4

Harald Specht

Dr. rer. nat. et Dr.-Ing. habil.

Der Autor, Jahrgang 1951, studierte Chemie.

Nach Promotion und Habilitation Berufung zum Hochschuldozenten für Lebensmitteltechnologie.

Zahlreiche wissencshaftliche Artikel, Monografien

und Fachbücher.

Seit 2003 Sachbücher:

„Von ISIS zu JESUS – 5000 Jahre Mythos und Macht“ (2003) „Geschichte(n) der Dummheit“ (2004) „Geschichte(n) der Lust“ (2005)

„Denn alles, was in der Welt ist,

des Fleisches Lust und der Augen Lust

und hoffärtiges Leben, ist nicht vom Vater,

sondern von der Welt.

Und die Welt vergehet mit ihrer Lust;..“

(1. Joh. 2.16–2.17)

„Es ist eine Lust zu leben!“

(Ulrich von Hutten;

Brief an Pirckheimer, 25. Dez. 1518)

Wie macht Glück sich fühlbar?

„Es macht sich fühlbar in der Lust,

der sich ein Philosoph mit vollem Bewusstsein hingibt

und in der Unabhängigkeit gegenüber all jenen Vorurteilen,

welche die Mehrzahl der Menschen

zu einem Haufen großer Kinder machen.“

Giovanni Giacomo (Girolamo) de Seingalt,

genannt CASANOVA (1725–1798)

Für Christine

Anstelle eines Vorworts

Bei der Recherche zu einem ganz anderen Text kam mir auch ein fangreiches Geschichtsbuch in die Hände, das aus zwei Gründen bsondere Aufmerksamkeit erregte. Zum einen war die kollossale dreibändige Beschreibung der frühchristlichen Kirchengeschichte an sich spannend und lohnend, aber zum anderen hatte vor mehr als 40 Jahren ein früherer Leser in diesem Werk aufschlussreiche Spuren hinterlassen, die mein Interesse nun stärker fesselten, als der zweifelsohne lehrreiche Inhalt der Bände selbst. Ein Theologiestudent hatte das Buch offensichtlich für intensive Studien genutzt, und so wie er mit Feuereifer an die ersten Kapitel gegangen war, so sehr war seine Studierlust mit fortschreitender Lektüre nur noch auf das wirklich Wesentliche konzentriert. Man erkannte dies leicht an seinen zahlreichen Textmarkierungen und Randbemerkungen. Waren die ersten Seiten noch mit spitzem Bleistift voller Unterstreichungen übersäht, so zeigte sich von Seite zu Seite die Studienmüdigkeit, wiesen die letzten Kapitel nur noch selten eine mit dickem Stift unterstrichene Zeile auf. Lust und Frust schienen sich mehr und mehr die Waage zu halten.

Nun aber wurde es detektivisch spannend, sich in die Gedanken des jungen Theologen zu versetzen und genau jene Stellen nachzulesen, die ihm offensichtlich besonders wichtig erschienen waren. Viel Markiertes gab es nicht, aber dasjenige, was er unterstrichen hatte, sprach Bände und lies sogar seine Gedanken nachvollziehen. Eine dieser Stellen sprang schon beim raschen Durchblättern ins Auge. Nach zahlreichen Seiten ohne Kennzeichnung war da ein Kernsatz des Kirchenvaters AUGUSTINUS unterstrichen, der zuerst erstaunte und dann erschütterte. Sinngemäß war da zu lesen, dass jeglicher geschlechtliche Verkehr von Eheleuten ohne Lust vollzogen werden sollte und die menschliche Lust eine Sünde sei.

Dass dies im Verlaufe unserer Geschichte offenbar nicht immer so gesehen wurde, zeigt uns die Antike, in der die Lust zum Reich des Göttlichen gehörte. Alles was dem Menschen großen Nutzen gewähre, so erklärte es der große römische Rhetor, Philosoph und Dichter CICERO seinen Landsleuten in seiner Schrift „Vom Wesen der Götter“, werde von den Menschen als göttliche Offenbarung angesehen. /88/ Auch Cupido (Verlangen), Voluptas (Genuss) und Venus Lubentina (sinnliche Lust) seien so zu Namen göttlicher Wesen geworden. Was nun als apokalyptische Weisheit der Religion zum „De natura deorum“ gehörte, entsprang Jahrtausende lang geübter Tradition und Rite. Aus Sitte und Brauchtum, aus Übernommenem wie Überkommenem entstanden so auch Moral und Ethik, mit denen sich der Mensch zwischen Lust und Laster Regeln des Zusammenlebens gab. Seine Kultur und Kunst, seine Visionen wie die Leidenschaften des Alltagslebens waren so von sittlichen Geboten geprägt und nur die Glücksgöttin Tyche (Fortuna) war nicht an diese Sittsamkeit gebunden.

Wie sehr auch sexuelle Lust im Alltagsleben ihren Freiraum fand, zeigen uns die ungezählten Artefakte aus jener Zeit. (Allein der Vatikan besitzt eine Vielzahl künstlerischer Objekte des klassischen Altertums mit erotischen Darstellungen sowie eine der größten Sammlungen erotischer Literatur von mehr als 25.000 Bänden und über 100.000 Drucken, die aber in den Archiven des Museums unter Verschluss aufbewahrt werden und dem Normalbesucher nicht zugänglich sind.)

Dass die Lust im Altertum einen völlig anderen Stellenwert hatte, wird auch dem Besucher eines kleinen Museums in Prag schnell bewusst. Hier zeigt man unter anderem Sandalen aus dem antiken Griechenland, die einst von erfindungsreichen Straßendirnen getragen wurden. Auf den Sohlen waren in Spiegelschrift die Worte „Folge meinen Schritten“ eingraviert, so dass bei jedem Schritt ein Abdruck als Werbebotschaft im Staub der Straße hinterlassen wurde und so eine lustverheißende Spur gelegt war.

Seit der Textstelle über die Lustfeindlichkeit des Heiligen AUGUSTINUS kamen mir immer mehr Fragen und Gedanken zur „Lust“ auf, die diskutiert und beantwortet werden wollten. Was war von der Lust zu halten? Warum hatten ihr einst Philosophen und Heilige soviel Bedeutung beigemessen? Was ist überhaupt Besonderes an der Lust?

Erste Antworten fanden sich rasch: Die menschliche Lust ist Teil unseres Urbedürfnisses. Ist schon die Sexualität „ein Bereich, der zu uns Menschen gehört wie Atmung, Ernährung und Verdauung“ /47/, so dient die menschliche Lust mehr noch als das Verlangen nach Essen und Trinken oder unser Antrieb zur Fortpflanzung nicht nur der Selbst- und Arterhaltung, sondern auch als Ausgangs- und Zielpunkt unseres Denkens und Handels, bestimmt sie über Instinkte, Zwänge und Begierden unseres individuellen Potentials, wird sie so zu einer bestimmenden Kraft des persönlichen Strebens.

Die Suche nach der Lust und dem, was sie vermochte und bewirken kann, ließ diese unterschätze Kraft erahnen. Doch erst im Lichte der genaueren Betrachtung zeigten sich die vielfältigen Facetten dieses menschlichen Juwels, dessen schillerndes Gesamtbild je nach Epoche und Kulturkreis seine eigene Ausstrahlung hat. Auch die Kapitel der „Geschichte(n) der Lust“ sind daher so unterschiedlich, wie der Mensch und sein Lebensmilieu vielfältig sind: oft alltäglich, mal verblüffend, manchmal erheiternd oder grausam, teils bizarr, kurios und außergewöhnlich..., doch fast immer allzumenschlich und eigenartig im vollen Sinn des Wortes.

Merkwürdig und oft widersprüchlich ist auch, wie wir als Krone der Schöpfung im Verlaufe unserer Kultur- und Geistesgeschichte mit der Lust umzugehen verstanden. Die menschliche Lust wurde vergöttert oder verteufelt, geachtet wie geächtet, zum Kult erhoben oder als Sünde verflucht. Naturvölker haben sich lustvolle Fruchtbarkeits- und Sexualriten gegeben, Philosophen begründeten mit der Lust ihre Weltsicht und Despoten nutzten sie als Mittel der Macht.

Seit Jahrhunderten scheiden auch die Religionen an der Lust ihr Selbstverständnis. Die einen sehen im „Trishna“ eine Lebenslust, die Ursache und treibende Kraft des Daseins ist, während die anderen die Lust als „Höllenmacht“ und Ursache allen Übels verstehen. Und so war die Lust Ursache religiös-sexueller Verzückung wie Anlass zu grausamen Verfolgungen, gab die Lust Impulse für den menschlichen Schöpfergeist oder den Vorwand zu absolutistischer Frivolität, war sie Quelle religiöser Ekstase oder Vehikel gesellschaftlicher Revolten. Bewertung und Wirkung der menschlichen Lust waren daher auch immer ambiguit wie ambivalent.

Die moderne Forschung ist dabei, der Biochemie des Phänomens auf die Spur zu kommen und das Unfassbare der Lust zu orten. Und so kennen wir neben dem Lustzentrum in unserem Gehirn auch die Wege der Lust und der Sucht, die uns Menschen im Mechanismus eigener Belohnung antreiben und steuern. Das Lustmolekül in unserem Gehirn ist längst entdeckt und mit jedem Tag verstehen wir besser seine Kraft und Wirkungsweise.

Und auch die Industrie hat sich längst unserer Lust angenommen, vermarktet sie mit Angeboten vom neogrellen Dildo bis zum schmackhaften und melodiespielenden Präservativ und ist sich dabei sicher, die „Qualität der Lust zu steigern“.

Ob wir darüber hinaus auch den humanen Wert der Lust zu schätzen wissen, bleibt hingegen ungewiss.

Die nachfolgenden Kapitel verstehen sich als bunte Anthologie. Allein deshalb sollten sie – auch ohne Zutun des Verfassers – ein anregendes Vademecum sein. Wer Lust auf die „Geschichte(n) der Lust“ hat, sei herzlich eingeladen, als Leser der lustverheißenden Aufforderung antiker Freudenmädchen nachzukommen. Wer also Lust hat: „Folge meinen Schritten“.

Köthen, am 16. Januar 2005

PROLOG: Im Anfang war …

“Nichts wirkt das Drängen, ein: ‘Du musst!’;

es schafft allein der Drang der Lust!”

HSP

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.”, so heißt es in den ersten Zeilen des Evangeliums S. Johannis. Und zur Verstärkung fährt der Evangelist fort: “Dasselbige war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.” /1/

Geheimnisvoll und merkwürdig hat also alles begonnen, ist alles erschaffen worden. Mit dem Wort, das die Dinge macht!

Was für ein Wort mag das gewesen sein? Ist hier “das Wort an sich” gemeint, ein formulierter Schöpfungswille, vielleicht ein Auftrag, gar ein Rezept? Oder ist “Wort” ein Synonym für eine Schöpfungskraft, ein Urprinzip?

Kein geringerer als der Geheime Rat von GOETHE (1749–1832 n. Chr.) hat seinen Tragödienhelden Dr. Faustus darüber philosophieren lassen:

“Geschrieben steht: ‘im Anfang war das W o r t!”

Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das W o r t so hoch unmöglich schätzen,

Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.

Geschrieben steht: Im Anfang war der S i n n.

Bedenke wohl die erste Zeile,

Dass Deine Feder sich nicht übereile!

Ist es der S i n n, der alles wirkt und schafft?

Es sollte stehn: Im Anfang war die K r a f t!

Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,

Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe.

Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat

Und schreibe getrost: Im Anfang war die T a t!”

Doch was gebot der T a t, zu wirken und zu werden

als Gut und Bös’, im Himmel wie auf Erden?

Wie drängt das Tun heraus aus Geist und Brust?

Am Ende denk’ ich gar, im Anfang war die L u s t!

Zugegeben, es ist anmaßend, die vier letzten Zeilen einfach anzufügen; der große Dichter, der hier in genialer Weise “Wort und Tat” verband, bedarf weder der Verschlimmbesserung noch der Ergänzung. Und dennoch mag die Glosse verziehen werden, ist der Verweis auf die L u s t hier nicht ganz von der Hand zu weisen.

Einerseits lässt GOETHE seinen Mephistopheles selbst sagen: „Die Kraft ist schwach, allein die Lust ist groß“ und zum anderen hält der leidenschaftliche Faust auch seinem Famulus, der einzig von Geistesfreuden und verstaubten Pergamenten schwärmt, entgegen:

“Du bist dir nur des einen Triebs bewusst;

o lerne nie den andern kennen!

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,

Die eine will sich von der andern trennen;

Die eine hält, in derber Liebeslust,

Sich an die Welt mit Klammernden Organen;

Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust

Zu den Gefilden hoher Ahnen.”

“Die ‘zwei Seelen’, die in Fausts Brust wohnen, und worüber er (‘ach’) leidet, bezeichnen zunächst einmal nichts anderes als die in unserem Kulturkreis angenommene Doppelnatur des Menschen als Trieb- und Geisteswesen”, so RANKL in seiner Einführung zum Werk Goethes. /4/ Und so ist die Figur des Mephistopheles im Faust auch die Lust in Faust. Als unruhiger und lustbejahender Geist tritt er daher auch bald in tierischem Kostüm wie im Gewand des freundlichen Teufels auf, um als die andre, im weitesten Sinne triebhafte Natur aufzuspielen. Faust weiß von seinem ständigen Begleiter:

“Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer

Nach jenem schönen Bild geschäftig an,

So tauml ich von Begierde zu Genuss,

Und im Genuss verschmacht ich nach Begierde.”

Die Suche nach dem Anfang, Lust, Genuss, Begierde...

Die Figur des Dr. Faustus trifft in Goethes Tragödie auf das jahrhundertalte abendländisch-europäische Weltbild mit seiner Aufteilung in Polaritäten wie Licht und Dunkel, Gutes und Böses, Bußfertiges und Sündhaftes.

Ob L u s t als treibende Kraft oder nur als Last des Lasters zu sehen ist, hing und hängt stets vom Maß und Ausmaß des Luststillens, aber auch der konkreten Prägung dieses Weltbildes ab.

L u s t und L a s t e r ordnen sich in ihrer Bewertung immer unter die Moral und Ethik der jeweils gesellschaftlichen Umstände und deren Normen. Faust sieht sich einer europäischen Geistesgeschichte gegenüber, in der sowohl die Vorbilder der Antike wie das christliche Mittelalter, die Renaissance wie die Aufklärung ihre Farben, aber auch ihre Schatten in das Bild der Goethezeit gesetzt hatten.

Und so gilt auch für den Dichter selbst, was Walther VICTOR in einem Vorwort zu GOETHEs Werken formuliert: „Auf der höheren Ebene des GOETHEschen Vollmenschentums steht...das Bekenntnis zu einem zweiten Wort neben dem abgebrauchten von der Liebe, nämlich dass: „L u s t und L i e b e die Fittiche zu großen Taten“ sind. /199/

Schon 1827 hatte Goethe in der “Ausgabe letzter Hand” den Helena-Akt der Faust-Tragödie publizieren lassen und als “Klassischromantische Phantasmagorie” untertitelt.

“Helena ist hier nur Metapher für den Inbegriff der erotisch reizvollen Frau; dass Helenas Schönheit im Faust nie anders gesehen wird – nie und nimmer im KANTschen Sinne des ‘interessenlosen Wohlgefallens’-, zeigt seine durch die Geburt Euphorions bezeugte geschlechtliche Vereinigung mit ihr im zweiten Teil.” /4/ Die Verjüngung Fausts hatte dazu geführt, “Helenen in jedem Weibe” zu sehen, seine neugewonnene Libido (“wie es unromantischer und realistischer nicht geht”) auf Gretchen und damit “das nächstbeste Mädchen, das er auf der Straße trifft” zu projizieren. /4/ Aber die “Unschuld im sexualmoralischen Sinne hält nur solange, bis sich eine Gelegenheit findet, sie aufzugeben... Dass das arme Gretchen, das sich nicht anders verhält als alle Mädchen in ihrer Situation sich verhalten hätten, dann ihr und Fausts Kind töten muss und dafür zur Rechenschaft gezogen wird, ist der lustfeindlichen bürgerlichchristlichen Moral zuzuschreiben, die das Triebhafte als lebensbestimmendes Element nicht zu akzeptieren bereit ist... Dass GOETHEs Tragödie aber nicht nur ein “bürgerliches Trauerspiel” sondern “zum Menschheitsdrama wird”, verdankt sie der Tatsache, dass sie “die Urpolarität von Trieb und Geist eben auch um die Polarität von nordisch-christlich und südlich-antik erweitert und differenziert... War der Faust des ersten Teils ursprünglich bestimmt vom Streben nach Erkenntnis, also geistigem Durchdringen der Welt, so ist er vom Auftreten Mephistos an bis zum Ende der Helena-Geschichte auf verschiedenen Stufen dem Lebensgenuss ergeben.” /4/

“Kannst Du mich mit Genuss betrügen-

Das sei für mich der letzte Tag!

...

Werdt ich zum Augenblicke sagen:

Verweile doch, du bist so schön!

Dann magst du mich in Fesseln schlagen,

Dann will ich gern zugrunde gehn.” /2/

Genuss und sinnliche Erfahrungen, die Erotisches wie Künstlerisches einschließen, müssen aber von der im Abendland erfahrenen schuldbeladenen Sinnlichkeit in die lustvolle Antike führen, mit all den Widersprüchen, auch zwischen Kunst und Künstlichkeit.

Doch letztlich genügen dem Menschen Faust weder das Erkennen der Welt, noch sinnliche Erfahrungen, nicht Macht noch Weltveränderung. Mit “Lust nach Wahrheit, jämmerlich geirrt” und selbst “in Werdelust schaffender Freude (nur) nah”, bleibt endliche Befriedigung doch vorenthalten.

Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne

Und von der Erde jede höchste Lust,

Und alle Nähe alle Ferne

Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.” /2/

Trotz seines ‘strebenden Bemühens’ ist der Mensch aufgrund seiner Natur nicht fähig, sich zu erlösen. Er ist ein verfluchtes Geschöpf, zur Tugend und Güte gar nicht fähig außer als Vorwand für seine Gelüste, seien sie sexueller Art oder durch Machtstreben diktiert.” /4/

Doch Lust und Genuss vermochten schließlich auch im Tragischen das ihrige zu leisten: Der erotische Reiz selbst ist es, der Mephisto davon ablenkt, die Faustsche Seele festzuhalten. Der zur Grablegung Faustens erschienenen Schar der Engel in ihren Faltenhemdchen ruft Mephisto keck zu: /3/

“Auch könntet ihr anständig-nackter gehen,

das lange Faltenhemd ist übersittlich-

Sie wenden sich – von hinten anzusehn! -

Die Racker sind doch ganz appetitlich!”

“So führt das Lustprinzip – symbolisiert in der Gestalt Mephistos – letztlich zu dem, was es ein Leben lang verhindern sollte: zur Erlösung des Menschen aus seiner Zwienatur.”/4/

Angesichts der optimistischen Weltsicht aber zugleich pessimistischen Menschenbildes, das uns Goethe vor Augen führt und selbst im Hinblick auf die viel zitierte Vision Fausts, die ihn das Trugbild vom “freien Grund mit freiem Volk” sehen lässt, kann Mephisto dann auch spötteln: “Ihn sättigt keine Lust...”

Nimmt man die Zeit der ersten Entwürfe zur Gelehrten- und Gretchen-Tragödie um 1772, so hat Goethe (mit langen Unterbrechungen) etwa 60 Jahre am Fauststoff gearbeitet. Noch am Vorabend seines Todes war ihm dieses Werk besonders wichtig, hat er den endgültigen Text redigiert. Im März 1832, wenige Tage vor seinem Tod, versiegelte er das Manuskript mit dem Hinweis, es erst nach seinem Ableben zu veröffentlichen.

Der Epistel vom Sündenfall und dem göttlichen Ebenbild des Menschen hatte die Aufklärung seit ROUSSAU eine andere Frohbotschaft entgegengestellt: Der Mensch sei von Natur aus gut. Boshaftigkeit und Laster seien einzig den Umständen zu schulden und allein seine Aufklärung werde den Menschen über die Vernunft zum Guten führen.

Indes, die Geschichte(n) und die Natur des Menschen lehrten, dass es nicht immer so ist.

Dass die Lust nicht nur Gegenstand des dichterischen Schaffens ist, sondern unseren Alltag mitbestimmt, ist bekannt. Doch obwohl man sich seit Jahrtausenden bemüht, der Lust auch philosophisch, medizinisch und naturwissenschaftlich näher zu kommen, haben erst die Biologen in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte dabei gemacht. Man nahm die Lust von uns Menschen und höherentwickelten Mitgeschöpfen im Rahmen ausgeklügelter Experimente aufs Korn und entdeckte dabei Erstaunliches und Erschreckendes. Verhaltensbiologen wie FELDON und HEIDBREDER berichteten über Versuche mit Ratten höchst Aufschlussreiches auch zur Lust:

“Um Ess-, Trink-, Sexualverhalten und Elternfürsorge sicherzustellen, hat die Natur diese Verhaltensweisen mit starken Belohnungseigenschaften ausgestattet. Für die Verarbeitung dieser natürlichen Verstärker ist das Belohnungs- oder Lustzentrum im Gehirn zuständig.1

Elektrische Stimulation direkt im Belohnungszentrum verursacht offenbar extreme Lust, die für sich allein verstärkende Eigenschaften hat. Um solche Stimulation zu erlangen, vernachlässigen Tiere Essen und Trinken bis zur Erschöpfung oder nehmen bereitwillig Schmerzen in Kauf, was die machtvollen Verstärkerqualitäten des Belohnungszentrums belegt.” /7/

Auch der Ausgang solcher Experimente ist allgemein bekannt: Lässt man dem lernfreudigen Versuchstier die Möglichkeit, das Lustzentrum über einen Hebelschalter selbst zu stimulieren, ist es um die Ratte geschehen. In der Gier nach andauernder Selbstreizung und ständiger Befriedigung des Lustzentrums lässt das Tier nicht mehr von der Lustmaschine ab. Sein lustvolles Ende ist vorprogrammiert.

Lust ist also nicht nur mit dem Angenehmen oder mit dem alltäglichen Laster verwandt, Lust ist mehr.

SCHLÜTER versuchte, unsere gängigen Vorstellungen über die Lust zu umschreiben. Fünf Aspekte waren ihm dabei wichtig: /123/

„ Lust wird in unserem Sprachgebrauch eher erotisierend gebraucht.

Lust wird in der Regel als außengesteuert betrachtet.

Lust hat vielfach Ereignischarakter.

Lust ist Lust durch die Veränderung, die sie gibt.

Lust ist weder auf Dauer noch auf Einheit angelegt.

Lust scheint unersättlich und nicht zum Ziel zu kommen.

Lust ist immer einzigartig, individuell und nicht wiederholbar.“

Offensichtlich ist Lust für uns Menschen nicht nur von essentieller Bedeutung, sondern sogar von existentieller Tragweite. Dass es uns Menschen ohne die Lust gar nicht gäbe, wissen wir. Dass Lust uns aber auch vernichten kann, wenn sie über das Begehren hinaus zur Gier und sogar Sucht wird, muss sicher stets neu begriffen werden. Lust kann Faustsche Schöpferkraft wie teuflische Selbstzerstörung für uns bedeuten.

Für uns hochentwickelte Spezies bedarf es nicht einmal vergleichbarer Experimente, um dies zu belegen. Allein die vielfältigen Resultate, die aufgrund der Machtgier die Geschichte unserer Zivilisation mitgeschrieben haben, mögen als schlagkräftige Hinweise genügen. Menschliche Lust und Laster berühren ein breites Spektrum. Ihre Auswirkungen sind dabei vielfältig wie das Leben selbst; mal Großes leistend oder Erhabenes niederreißend, tragisch wie komisch und sogar lustig bis lächerlich. Eben menschlich und unmenschlich, aber immer von uns Menschen ins Werk gesetzt.

“Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht genug für jedermanns Gier” schrieb uns Mahatma Gandhi (1869–1948) ins Stammbuch der Geschichte. Wenn also unsere Lust den Grat zwischen Bedarf und Unersättlichkeit einzuhalten versteht, mag sie willkommen sein. Die Geschichte(n) von Lust und Laster zeigen aber, dass dies nicht immer so ist. Lassen Sie uns auf beide Seiten der Lust schauen, die gute wie die böse, das Abstoßende wie das Erheiternde, das Sündige wie das Bußfertige. Lassen Sie sich auf eben dieser Gratwanderung entführen, um mehr über Lust und die teuflische Lust der Laster zu erfahren.

1 Das „Lustzentrum“ des Gehirns wurde 1953 vom Neurophysiologen OLDS im menschlichen Gehirn entdeckt. /250/ Es ist im sogenannten limbischen System lokalisiert, von dem auch solche Gefühlsreaktionen wie Wut und Aggression gesteuert werden. Die Übertragung derartiger Reaktionen erfolgt durch sogenannte Neurotransmitter, deren Aktivität wiederum von speziellen Hormonen und Neuromodulatoren abhängt. Bekannt sind vor allem die Endorphine, die auch als „Glückshormone“ bezeichnet werden. /250/

Dieses Lustzentrum ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls von Medizinern manchmal so bezeichneten Bereichs des „G-Punktes“/46/, einem vom deutschen Gynäkologen Ernst GRÄFENBERG 1950 beschriebenen geldstückgroßen Bereich in der vorderen Scheidenwand, dessen Reizung besonders intensive Orgasmen auslösen soll. Die Existenz dieses vaginalen „Lustzentrums“ der Frau ist jedoch nach wie vor unter Fachleuten umstritten. Namhafte Sexologen zweifeln jedoch nicht mehr daran, dass viele Frauen über eine derartige erotisch besonders sensible Zone verfügen.

1. Vom Laubbüschel über die Göttin der Liebe zum Mohnkuchen

“Was in der Reichweite der Menschen liegt, bewegt sie nicht;

was ihnen unerreichbar ist, begehren sie.”

Niccolo Machiavelli (1469 – 1527)

Woher die Lust ihren Namen hat, ist unbekannt. Spuren verlieren sich bereits im 8. Jahrhundert, wo man sowohl im Mittel- wie Althochdeutschen und auch im Altsächsischen unsere “lust” kannte. Auch die alten Engländer und Friesen benutzten das gleiche Wörtchen, das sehr wahrscheinlich aus dem gemeingermanischen “lustu-” oder “lusti-” hervorgegangen sein mag und im Gotischen stilgerecht “lustus” hieß. Die Menschen der altnordischen Sprache hatten mit “lusti-” vielleicht die lustigste Form davon. Dass es die Lust also überall und auch davor schon immer gegeben hat – wer mag es bezweifeln – zeigen uns diese sehr ähnlichen Begriffe. Woher aber der Begriff einst abgeleitet wurde, weiß niemand mehr genau. Kenner vermuten, dass etymologische Zusammenhänge zu ähnlich klingenden Wörtern hergestellt werden könnten, die einst das “verlieren” bezeichneten und auf abgeschlagene Laubbüschel hindeuteten. Laubbüschel? Gemeint war das frische Grün, das besonders von den Tieren im Frühjahr begehrt und (sicher auch lustvoll) verzehrt wurde. /8/ Der vom Experten vorgebrachte Erklärungsversuch sei “beachtlich, doch ...nicht in allen Punkten ausreichend zu stützen”, so andere Experten der gleichen Fakultät. Vorläufig sei der (etymologische) Ursprung der Lust also noch unsicher, so das Fazit.

Zur Zeit des römischen Imperiums bezeichnete man ein „lupanar“ (Bordell) auch als „lustrum“. Anfangs nur ein Wortspiel, wurde die beabsichtigte Komik dieses Zusammenhang später nicht mehr wahrgenommen. „Lustrum bezeichnete sowohl Sühnopfer“, als auch „wildes Gehölz“ /51/ und der kampanische Schriftsteller LUCILIUS (180/168–102 v. Chr.) gibt uns mit seinem Vers „in lustris circa oppida lustrans“ (Was treibst du, wenn du außerhalb der Stadtmauern an abgelegenen Orten herumstreifst?) ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem Treiben der Lust und den Trieben der Natur zu erkennen.

Stellt man weitere Nachforschungen an, so ist zu lesen, dass das deutsche Wort “Wonne”, das ja auch irgendwie Lust und Freude beinhaltet, ebenso eine Art “Laubweide” oder frisches Grün bezeichnete, von dem die Tiere nach kargem Winter nicht genug bekommen konnten. Diese “vánas” genannten Büschel gaben der “Wonne” die sprachliche Grundlage und deuteten ebenfalls auf “Begehren, Lust, Begierde der Tiere” hin, “junges Laub zu fressen”. Die selben “vánas”, die die Tierchen so begierlich-lieblich reizte, bringt man sogar in Verbindung mit einem anderen Begriff für “Liebe und Reiz”, nämlich mit “venus”. Die kennen wir noch heute als Göttin der Liebe und geschlechtlichen Lust. Schon die Latiner und Gründer Roms gaben der Begierde zu geschlechtlicher Vereinigung den Namen „venos“. „Es ist dasselbe Wort, das sich über den gemeinsamen indogermanischen Ursprung auch im deutschen ‚gewinnen’ (altsächsisch winnan; englisch to win), ‚Wonne’ und ‚Wunsch’ erhalten hat; und auf denselben Wortstamm führt sich im übrigen auch venenum, ‚Gift’ zurück.“ /32/ Dieses nämlich konnte nicht nur als Heiltrank oder magischer Zauber Verwendung finden, sondern auch als Liebeselixier und Aphrodisiakum.

Ob sich so der Kreis der Lust schließt?

Wie auch immer “Weidenbüschel” mit “Venus” und “Wonne” in Einklang gebracht werden wollen, interessant ist der Zusammenhang schon. Eine nähere Untersuchung scheint sinnvoll!

Schon bei den im alten Griechenland gefeierten Mysterienkulten spielten frische Weidenzweige (!) eine Rolle. Zu Ehren der Göttin Demeter feierte man ein dreitägiges Hauptfest, die sogenannten Thesmophorien. Unter strengem Ausschluss der Männerwelt begingen die Frauen zur Zeit der Herbstsaat ihre geheimen Riten zur Förderung der landwirtschaftlichen aber auch weiblichen Fruchtbarkeit.

“Am ersten Tagt wurde die Erde fruchtbar gemacht, indem man lebendige Ferkel und Phalli aus Brotteig in eine Erdspalte, Symbol des Eingangs zum Hades und zugleich Symbol der Vagina, hinabwarf. Am zweiten Tag, einem Fastentag, lagerten sich die Frauen auf der Erde, auf der Weidenzweige, die den anderen Zweigen im Grünen und Blühen zeitlich voraus sind, als Symbole der Fruchtbarkeit ausgebreitet waren, um von der tags zuvor befruchteten Erde selbst fruchtbar gemacht zu werden. Am dritten Tag betete man um schöne Kinder und veranstaltete einen Festschmaus.” /19/

Wieder der Zusammenhang zwischen frischen Weidenbüscheln einerseits und der Wonne, Lust und Fruchtbarkeit andererseits. Selbst Phallus, Vagina und Festessen fehlten nicht.

Gehen wir weiter zurück in die Geschichte, wird die Sache noch spannender.

Erinnert sei daran, dass schon zu Ehren der ägyptischen Liebesgöttin Hathor Büschel der Papyrusdolde gepflückt und durch rituelles Schütteln in rauschende Bewegung versetzt wurden. /5/ Später ersann man ein vergleichbares kultisches Rassel-Instrument, das Sistrum, durch dessen Geräusch man nicht nur die Mächte der Finsternis vertreiben wollte, sondern sich und andere auch lustvoll aufheizte; ähnlich den Cheerleadern, die noch heute in den Footballstadien ihre knallbunten Pompons unermüdlich in Bewegung halten. Könnten also schon diese Bündel aus Papyrusbüscheln Vorläufer der griechischen Weidenbüschel und damit unserer heutigen Wörter “Lust” und “Wonne” sein?

Gehen wir noch weiter zurück in die Geschichte unserer Kultur.

Es bleibt sicherlich Spekulation, aber zufällig (?) spielen sogenannte “Schilfringbündel” im Zusammenhang mit weiblichen Attributen schon zu Beginn unserer Zivilisation in der präsumerischen Religion und Sprache eine Rolle. So kann man in der Fachliteratur staunend nachlesen: /19/

“Das Wort nin (‘Herrin’) ist auch Bestandteil im Namen der Himmelsgöttin Inanna. Im Präsumerischen ist Inin primär die Bezeichnung des sogenannten ‘Schilfringbündels’, das bei den Rohrhütten als Stütze des Eingangs und als Tür gedient hat, und dann der Name einer weiblichen Gottheit, die im Sumerischen den Namen nin.ana (‘Herrin des an’), d.h. Herrin der (achtblättrigen) Rosette erhält, und dann sekundär als (n)in.ana (‘Herrin des Himmels’) umgedeutet wird. Diese achtblättrige Rosette im Haus- und Tempelbau wird später zum achtstrahligen (Venus-) Stern, dem Symbol der akkadischen Göttin Ishtar.”

Wieder also Schilfbüschel, weibliche Gottheiten und sogar ein Bezug zur Venus!

Was hat aber der Hausbau, haben achtblättrige Rosetten, der achtstrahlige Venusstern mit unserer Lust und Wonne zu tun?

Also der Reihe nach:

“Das Schilfringbündel” war schon mit Sicherheit vor tausenden Jahren ein “Symbol der sumerischen Göttin (N)Inan(n)a, der Göttin des Venussterns, der Liebe und des Geschlechtslebens.” /19/ Die sumerische Innana ist aber eindeutig die Vorläuferin der akkadischen Göttin Ischtar oder Ishtar, die wiederum im Alten Syrien als Athtart oder Astarte bekannt war. /31/

Von Astarte wissen wir wiederum aus anderer Quelle, dass sie auch in Ägypten verehrt wurde. Während der 18. Dynastie altägyptischer Königszeit wurden mit der Eroberung Syriens auch dessen Kulturgüter und Göttervorstellungen von den Menschen des Landes am Nil übernommen. Dies betraf nachweislich auch Musikinstrumente (wie das Sistrum?) und Göttercharaktere. Seit dieser Zeit bis hin zu den späteren Ptolomäerdynastien wird in Ägypten auch die westsemitische Astarte als Göttin des Liebeslebens verehrt /5/. Sie wird später an Hathor angenähert und dann mit ihr gleichgesetzt, wie ihr Sistrum als Kopfschmuck verdeutlicht.

Inanna, Ischtar, und Astarte sind also identisch mit der ägyptischen Hathor, die den Ägyptern aber nicht nur als Himmels- und Liebesgöttin galt, sondern sogar wörtlich “Haus des Horus” bedeutet und als Bild für den mütterlichen Schoß zum Schutz des Königtums galt.

Und so schließt sich der Kreis von der Steinzeit bis in die Gegenwart:

- Schon das megalithische Ganggrab wurde in seiner Form als “Metapher für die schwangere Erdmutter-Göttin der Ackerbaukulturen” errichtet... Demgemäß ist die Grabkammer der Schoß, der Uterus der Göttin, der darüber aufgeschüttete Hügel ist ihr Leib...und der enge Zugang zur Schoßkammer ist die Vagina der Göttin”. /19/ Fachleute weisen ferner darauf hin, dass “zum weiblichen Elementarcharakter” das “Beschützen” und “Bewahren” gehören, denn “Gefäß, Haus und Grab deuten auf die Zentralstellen des weiblichen Leibes” hin. Schon “die Höhle ist eng mit dem Archetyp der Magna Mater verbunden. Der (weibliche) Hohlraum ist ebenso Geburtsort wie Todesraum”. /5/

- Gleichermaßen sahen auch die ersten Hüttenbauer des Zweistromlandes ihre Behausung als Hort der Geborgenheit, des Schutzes, kurz als Symbol des mütterlichen Schoßes. Sie verwendeten für ihre Behausungen, was sie in der Natur vorfanden: ein stabiles Schilfrohrbündel als Eingangsbogen und damit gleichzeitig stabile Stütze der Hütte. Dieser Rundbogen wurde – wie schon in der Steinzeitauch als Eingang in den schützenden Mutterschoß, als Vagina gesehen. Aus der Bezeichnung des Schilfringbündels “inin” ergab sich dann letztlich die Namensgebung für eine Himmelsgöttin bis hin zu Innana, Ischtar und Astarte, die lustvollen Liebesgöttinnen gleicher Bestimmung. Grab- und Hausbau, Mutter-, Fruchtbarkeits- und Liebesgöttinnen hingen also bereits sehr früh rituell wie sprachlich zusammen.

- Auch als aus Astarte die ägyptische Hathor wurde, änderte sich dies nicht, wie der Name Hathor als “Haus des Horus” zeigt. Und es mag nicht verwundern: Auch im “Ägyptischen war Haus zugleich ein Bild für den Mutterschoß” /5/. Hathor steht somit für den schützenden Hohlraum wie für das schützende Haus, sie galt ebenfalls als Himmelsgöttin, war aber gleichzeitig auch Symbolfigur der weiblichen Fruchtbarkeit. Sie war Göttin des Tanzes, der Musik und als Göttin der geschlechtlichen Liebe auch Verkörperung von Wonne und Lust. Ihr Symbol ist wiederum ein Bündel der Papyrusdolden, das an das zum Hüttenbau verwendete Schilfrohrbündel anschließt, somit zum handlichen Symbol des Hausbaus und damit des Mutterschoßes, der Fruchtbarkeit und letzlich der geschlechtlichen Lust wurde. (Das ägyptische Ideogramm der Papyruspflanze bedeutet “Gedeihen” und schon im Alten Reich erhielt die Göttin Hathor einen Papyrusstab als Szepter, wurden den Verstorbenen ganze Papyrussträuße als Sinnbild für Freude und Lust dargebracht. Wie einst das Schilfringbündel den Hüttenbau stützte, trugen später in Ägypten als Papyrus gestaltete Säulen die steinernen Tempel, war die Papyruspflanze Urbild des unterägyptischen Wappens wie des Schriftzeichens für den Landesteil im Nildelta. Wie schon die Himmelsgöttin Inanna nicht nur als Liebesgöttin galt, sondern ihren Namen von der “Herrin der achtblättrigen Rosette” und davor vom “Schilfringbündel”/19/ herleitet, so wird diese Rosette im Alten Ägypten als Papyrusdolde wiedererkannt. Wie dort das aus acht Dreiecken zusammengesetzte Schriftzeichen einen Papyrusstrauß kennzeichnete, so entstand im Zweistromland das achtstrahlige Emblem des Sternes Venus.)

- Innana, Isthar, Astarte, Hathor, Aphrodite und Venus sind letztlich Himmels- und Liebesgöttinnen, die sexuelle Lust und Wonne versinnbildlichen und verkörpern. Wie Hathor gehen auch Aphrodite und Venus später in der Universalgöttin Isis auf /32/, wird Isis dann Jahrhunderte später im christlichen Abendland zur Gottesmutter und Himmelskönigin Maria. Bar jedweder sexuellen Lust bleiben ihr nur die alten Symbole. Von der sumerischen “Herrin der achtblättrigen Rosette” (nin.ana) bleibt die achtfache Rosette der gotischen Kathedralen und Kirchen, die nun als steinernes Bauwerk ihrerseits zum Symbol des schützenden Raumes werden, bleibt das frühchristliche achteckige Taufbecken als Gleichnis für das Weibliche /33/, bleibt die Symbolik der mittelalterlichen achtblättrigen Rose.

War schon in der Antike die Rose der Aphrodite (d.h. der Venus) geweiht (!) und als Symbol der Fruchtbarkeit, Liebe und Zuneigung bekannt, so überlebte ihre emblemische Anziehungskraft im Abendland ebenso wie der achtblättrige Lotos in Asien.

In Europa kannte man als Kennzeichen der Liebe und Mariensymbol auch das “Marienröschen” /33/ und noch im mittelalterlichen “Roman de la Rose” überlebt die Rose ihre Charakterisierung ausdrücklich als “Sinnbild für fleischliche Lust”. /34/

Was wir heutzutage unter dem Begriff “Lust” verstehen sollen, wollen oder können, ist nahezu ebenso schwer zu umreißen, wie die Suche nach der ursprünglichen Wortherkunft mühsam war. Scheinbar kennt jeder die Lust, weiß sogar jeder ganz genau, was Lust bedeutet, denn selbst in einem zweibändigen “Philosophischen Wörterbuch” /9/ hält man es nicht für notwenig, Wörter wie “Lust” oder “Glück” überhaupt nur zu erwähnen. Selbst “Der große Duden” /10/ oder “Die neue deutsche Rechtschreibung” /11/ halten eine Erklärung für völlig unnötig und beginnen gleich mit: “Lust, die, -, Pl Lüste; – haben“ oder “eitel L. und Freude!; je nach L. und Laune”, um uns dann nach Lust und Laune schon Ableitungen wie “Lüstchen” oder “Lustbarkeitssteuer” um die Ohren zu hauen. Nun ja, Steuern sind wichtig, wenn auch nicht lustig. Irgendwann in diesen Nachschlagewerken kommen dann auch die “Lustfahrt”, der Lustgarten” und sogar das ”Lustgefühl”. Also um ein Gefühl soll es sich handeln, soviel wissen wir schon mal. Weitere Ableitungen wie “Lustgewinn”, “Lusthäuschen” und “Lustlosigkeit” oder “Lustschloss” und “Lustwäldchen” sollen uns aber erst später interessieren, genau wie solch erschröckliche Dinge, die mit “Lustmolch”, “Lustmord” oder “Lustseuche” zu tun haben. Was die “Lust” aber selbst anbelangt, steht nicht in unseren klugen Nachschlagewerken. Selbst mühevoll zu Rate geschleppte mehrbändige Lexika /12/ /13/ bis hin zu “Mayers” Achtbändigem /14/ haben keine Lust und kennen das Wort “Lust” nicht! Scheinbar hält man in unseren Landen wenig von Lust.

Wie schwer uns das unfassbare Allgemeine des Begriffs Lust zu schaffen macht, zeigen auch drei rasch gefundene Beispiele aus unserer täglichen Printflut:

“Mehr Lust auf Familie” titelte die “Mitteldeutsche Zeitung” ihre Silvesterausgabe 2003, ohne überhaupt auf die “Lust” einzugehen. Mit der Erkenntnis: “Technik-Frust und eine neue Lust auf Familie sind die Trends der Zukunft” will man dem Leser das neue Jahr lustvoll ankündigen. Man beruft sich auf sachkundige Zukunftsforscher, um “Technologische Enttäuschung”, “digitale Desillusion” und einen “absoluten Geschmacksverfall” unserer TV-Landschaft zu konstatieren und dann den Deutschen eine neue Lust zu bescheinigen. “Nun gebe es eine Trendumkehr” gegenüber den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts heißt es da. Nicht “Sport, Hobby und Reisen stehen im Zentrum des Lebens, sondern Ehe, Kinder und Familie”, weil der “Trend zur Individualisierung des Lebens... seinen Zenit überschritten” habe. Von “Lust” aber ist in dem Artikel keine Spur zu finden, es sei denn, dass man das “im Zentrum des Lebens” Stehende eben als das ansieht, worauf der Mensch “Lust” hat. /29/

Unter der markanten Zeile “inhome – die neue Lust am Wohnen” verkauft ein bekannter Mode- und Einrichtungskatalog seine “Living at HOME COLLECTION” von der stilgerechten Müslischale über karierte Kissenhüllen im erfrischenden Blau-Weiß-Look bis hin zum “Zeitzähler (Wanduhr) in Nostalgieoptik!”. /30/

Scheinbar ist schon das Wort “Lust” allein sehr publicityträchtig und ein Magnet für Kunden wie für Leser. Wie sonst wäre es zu erklären, dass auch Buchverlage ihre Produkte ähnlich geschickt an den Mann bzw. die Frau zu bringen verstehen. So vermutlich auch beim Bändchen über “Lust und Liebe”. /29/ Das zweifellos interessante Buch von Leah OTIS-COUR ist aber eine mehr minder lustvoll verfasste “Geschichte der Paarbeziehungen im Mittelalter”, wie sowohl der korrekte Untertitel als auch der sachliche Inhalt offenbaren. Die wenigen Bezüge zur menschlichen Lust muss der Leser dann auch akribisch suchen. Um das zu lesen, was der Titel so lust-voll-mundig ankündigt, ist auch “Die Geschichte der Lust” /31/ von Ekkehart und Gernot ROTTER sicherlich nicht verfasst worden. Schon das Vorwort beginnt mit Hinweisen zum Thema “Sexualität” und somit, wie von den Autoren sicherlich aus gutem Grund ursprünglich beabsichtigt, mit Verweisen auf den eigentlichen Inhalt ihres interessantes Buches. Vom “Phänomen der menschlichen Sexualität”, dem mythischen Schleier und der dämonischen Ummäntelung der Sexualität über den Menschen als “Gestalter seiner Sexualität” bis hin zur vorherrschenden “Meinung über Sexualität” in den verschiedenen Epochen wird der Begriff “Sexualität” zurecht wieder und wieder bemüht, während die “Lust” nicht ein einziges Mal als Wort auftaucht. Nur (später redigierte?) Überschriften künden davon, dass Sexualität und geschlechtliche Lust doch irgendwie zusammengehören. Vielleicht erschien dem Lektorat ja der ursprüngliche Titel der Originalausgabe zu lang oder eine “Geschichte der Sexualität” zu wenig spektakulär, so dass eine “Geschichte der Lust” daraus wurde. So oder so legen schon diese wenigen Beispiele den Verdacht nahe, dass sowohl die Unbestimmtheit des Lustbegriffes wie seine Anziehungskraft weidlich bei der Jagd nach dem Leser genutzt werden.

Etwas anders stehen die Dinge dagegen im modernsten Datenspeicher unserer Zeit, in den homepages des Internets.

Logt man sich mit seinem Laptop in diese virtuelle Vielfalt ein und “googelt” auf einer der gängigen Suchmaschine nach unserem Wort, so werden unter den vier Buchstaben “L U S T” in sage und schreibe 0,29 Sekunden 5.320 000 links (in Worten: Fünfmillionendreihundertzwanzigtausend) als “Quellen der Lust” ausgespuckt. Und das mit einem Fingerklick. Prüfen Sie es nach! Ganz im Gegensatz was uns die Lexika da weiß machen wollen, scheinen die Menschen also doch irgendwie Interesse an der Lust zu haben. Wer ungestillte Leselust hat, kann also bei “google” sofort loslegen. Aber auch hier dauert es Stunden, um aus diversen Erotik-WWWs und mehrseitigen Fachbeiträgen die einfache “Lust“ herauszufiltern.

Natürlich haben die Experten, angefangen von den Psychoanalytikern bis hin zu den harten Jungs des Rotlichtmilieus, ganz spezielle Auffassungen von ihrer Lust, und abhängig von den Jahrtausenden mit ihren speziellen Normen der Moral und Ethik verstand man durchaus die Lust verschieden. Aber was ist Lust heute und im Allgemeinen? Was ist mit der Lust von Frau Müller, Herrn Meyer oder Fritzchen Frühreif?

Vielleicht hilft es, ein eigenes, Lust-Erlebnis hier einzuflechten, um unserem Begriff näherzukommen:

“Mir ist es so wie gestern “, pflegte Großmutter immer zu betonen, bevor sie auf ein längst zurückliegendes Ereignis zu sprechen kam, an das sie sich offenbar noch ganz genau erinnern konnte. Jedes Detail wusste sie dann spannend zu erzählen, ganz im Gegensatz zu dem, was tags zuvor, also wirklich erst gestern, passiert war. Heute geht es mir selbst so. Zum Beispiel wenn ich an ein bestimmtes Ereignis aus meiner Kindheit, an ein Erlebnis in unserem Klassenzimmer zurückdenke. Für mich eine besondere Episode, die sicherlich auch nur mir im Gedächtnis haften geblieben ist: meine erste Begegnung mit der Lust.

Nun, wenn Sie vorschnell meinten, dass sich da erste Fäden zarter Kinderliebe spannten oder der Herr Direktor B. zwischen Tür und Angel unsere Lehrerin Fräulein P. vernascht haben würde, so lägen Sie falsch. Gemeint ist die Begegnung mit dem Wort “Lust”, nur mit dem Wort, das erste bewusste Ahnen, was es wohl bedeuten mag, dieses Wort.

Die Sache war so: Noch ferienmüde schrieb unsere Klasse in der ersten Woche des neuen Schuljahres den obligatorischen Aufsatz “Mein schönstes Ferienerlebnis”. Na ja, die Lehrerin will ja auch mal was Neues aus den Familienleben ihrer Schüler erfahren. Pädagogisch eingesetzte Neugier; ist ja auch gar nichts gegen zu sagen. Zwei Stunden waren für unsere Niederschrift eingeplant, eine für die Kladde, der Rest für den Ausdruck, das Feilen, die Schönschrift und die so wichtigen Kommata. Da ich mir wie in jedem Jahr einfach ein spannendes Ferienerlebnis ausgedacht hatte und nun schon vorzeitig bleistiftkauend an der Verschönschnörkelung meines Epos’ arbeitete, blieb mir Zeit in die schwitzende Runde zu blicken. Die meisten arbeiteten fleißig, mit rotem Kopf und blauen Zeigefingern. Unsere Lehrerin stand versonnen am Klassenfenster und schien selbst noch in irgend einem Ferienparadies zu sein. Weit weg, wie ihre zusammengekniffenen Augen verrieten. Gerade als ich grübelnd entschieden hatte, dass man “Beweis” doch nur mit einem “s” am Ende schreibt, “weil es ja doch von beweisen kommt und nichts mit Wissen zu tun zu haben scheint”, durchbrach ein deutlich vernehmbarer Satz unseres Fräulein Lehrerin die mehr als 40minütige Stille. Ein Satz, der so nicht dahin passte, weder vom Inhalt, noch vom Ausdruck und auch nicht von der Form. Fräulein P. sagte ganz klar und deutlich:

“Mann, ich hätte jetzt Lust auf ein Stück Mohnkuchen!”

Schlagartig wurde mir bewusst, dass Lust mehr sein musste als nur Appetit. Ob auch unser Fräulein P. noch an andere Urlaubserlebnisse rund ums Kuchenessen und einen Kaffee (!) dachte, bleibt unbekannt. Aber allein ihr Gesichtsausdruck verriet: Lust ist mehr!

Sicher bezieht sich unsere menschliche Lust in erster Linie auf die Grundbedürfnisse, die es zu stillen gilt. Trinken, Essen und Sex mögen dabei die wichtigsten sein.

Lust ist somit einerseits eine angenehme Empfindung, ein Gefühl, das uns auffordert, unsere Bedürfnisse zu befriedigen und andererseits überkommt, wenn wir der Lust nachgeben, also das Gefühl der Befriedigung selbst. Lust kann uns überkommen, wir können sie herbeiführen, aber auch stillen.

Lust entsteht, indem ein “Streben seinem naturgemäßen Gegenstand in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung findet”. /16/ Ihre geistige Befriedigung empfinden wir als Freude. Für die sinnliche Lust sind das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und alle haptischen Sinneseindrücke verantwortlich. Diese treten meist sinn-voll verbunden auf.

Philosophen sehen noch eine dritte Form der Lust, die frei von sinnlichen Reizen ist und deren Gegenstand ohne eigentliches Interesse für den Lustempfindenden ist; sie nennen diese Form ästhetische Lust. /16/

Auch die Psychologen definieren “Lust” sehr ähnlich, binden sie aber, – wen wundert’s – an das psychische Verlangen, sehen also die Lust häufiger an die Vorfreude gebunden. So verstand Sigmund FREUD unter dem “Lustprinzip” das “Streben nach Bedürfnisbefriedigung” und unterschied vier Arten der Lust: Die Lust auf Essen und Trinken, die Lust auf Sex, die Lust auf Abenteuer und die Kampfeslust. Ist Lust erfüllt, empfinden wir Zufriedenheit. /17/

“Wie eng essen und Sex zusammenhängen, wird aus einigen geflügelten Worten deutlich: Manche Liebende haben sich ‘zum Fressen gern’, und schon unsere Großeltern wussten, dass ‘Liebe durch den Magen geht’. Das Schlaraffenland war ursprünglich nicht nur ein Ort des kulinarischen Überflusses, sondern auch eine Stätte maßloser sexueller Genüsse; und einige Naturvölker verwenden für ‘essen’ und ‘miteinander Sex haben’ ein und dasselbe Wort. Tatsächlich haben Erhebungen gezeigt, dass sehr viele Menschen ein romantisches Dinner zu zweit – möglichst bei Kerzenschein und leiser Musik – für eines derwirkungsvollsten Vorspiele überhaupt halten. Die Verführung des Geschmacks- und Geruchsinns weckt die Begierde nach einer wollüstig-sinnlichen Stimmung, die sich kontinuierlich steigert und schließlich in heftigem Verlangen nacheinander gipfelt.” /46/

Dass Lust und Liebe wie Lust und Essen zusammengehören, ist leicht einzusehen. Dass auch Lust und Wollust zusammengehören, ist leicht zu belegen. So ist z.B. die “Wollust” aus den Wörtern “wohl” und “Lust” entstanden. Sie sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als “Wohlgefallen” oder “Vergnügen”. Erst später bekam das Wort – wie so vieles rund um die Lust- seine heute gebräuchliche sexuelle Einschränkung als (ungezügelte) Geschlechtslust.

Auch die “Leidenschaft”, ein Wort, das der Lust zweifellos inhaltlich nahe steht und erst im 17. Jahrhundert für das bis dato gebräuchliche französische Wort “passion” erfunden wurde, deutet mit seinen ersten sechs Buchstaben sogar auf den Schmerz hin, der vielfach ebenfalls Begleiter der Lust ist. Doch davon später.

Je nach Fachgebiet wird die Lust also etwas unterschiedlich interpretiert. Es wird notwendig sein, sich mit den Erkenntnissen der Philosophen und Psychoforscher und deren Ideen von Lust noch näher zu befassen (vgl. Kapitel 8 und 12).

Bleiben wir vorerst beim Alltagsverständnis von Lust, also dem Verlangen etwas zu verzehren, zu bekommen, zu favorisieren, zu tun oder zu spüren. Schon unsere Umgangssprache hat zahlreiche Begriffe, die sich auf die Lust beziehen und die weite Palette menschlicher Empfindungen verdeutlichen.

Wir haben Lust auf Mohnkuchen, also Appetit. Neben dieser Idee unseres Gehirns als Bedürfnis ist – wie erwähnt – auch die Befriedigung selbst sehr lustvoll, sozusagen erlebte Lust als Resultat des Gewünschten. Die erlebte Lust und Freude spüren wir als Wonne; in diesem Moment empfinden wir Zufriedenheit, inneres Wohlbehagen, seelischen Frieden. Wir schwelgen im Glück.

Je nach Ausrichtung unseres Glücksanspruchs kann sich das unbefriedigte Startgefühl noch erheblich steigern. Aus der Lust als Begehren wächst Begierde bis zur Gier. Neigung, Laune und Begeisterung können in Wahn und Manie ausarten. Machtgier hat uns Menschen nachweislich wiederholt an den Rand des Ruins getrieben. All zu häufig wird der gesuchte Kick zum unstillbaren Drang, die Leidenschaft zum Trieb, der begehrliche Wille zur Tat. Aus dem Dürsten und dem Appetit kann es durch Unersättlichkeit zu Trunksucht und Völlerei bis zum Rausch kommen, sexuelle Lust reicht vom allgemeinen libidösen Verlangen und Phantasie-Gelüsten bis zur ungezügelten Wollust, völligen Ekstase und krankhaften Unzucht. Von Lebenslust und Wohlgefallen geht es zur Geneigtheit und Leidenschaft, über Fleischeslust und Lüsternheit nähern wir uns der Triebhaftigkeit und Brünstigkeit. Wo bleibt der Unterschied zum Tier?

Klarer als Bert BRECHT kann man es kaum kurzfassen, wenn er sagt: “Erst kommt das Fressen und dann die Moral.” Das mit dem “Fressen” deutet schon recht tief ins Animalische, obwohl der Spruch uns Höchstentwickelte meint, wie der Verweis auf die Moral beweist. Ob auch die Tiere unsere Lust kennen, gilt es noch zu untersuchen. Für uns Menschen hingegen verbindet sich der Begriff Lust hauptsächlich mit zwei Aspekten: der Nahrungsaufnahme und der Sexualität. “Der Drang nach sexueller Betätigung ist ein menschliches Grundbedürfnis wie das Verlangen nach Nahrungsaufnahme oder das Streben nach Sicherheit und Wohlstand” so der Mediziner. /46/ Beide Seiten dieser, unserer menschlichen Lust, die Nahrungsaufnahme wie die menschliche Sexualität stehen daher im Vordergrund unserer Geschichte(n).

2. Vom Anfang der Lust und wie die Lust den Menschen machte

“Eine Kultur beruht nicht auf dem Gebrauch

der erschaffenen Dinge,

sondern auf der Glut, die sie hervorbringt.”

Antoine de Saint-Exupérie

Unweit der Grenze zum afrikanischen Kenia im Südwesten Äthiopiens liegt die Provinz Sidamo. Mit ihren mehr als 117.000 Quadratkilometern etwa so groß wie die Bundesländer Bayern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zusammengenommen, leben in ihr nur etwa ein Zehntel der Einwohner dieser drei Bundesländer. In diesem dünn besiedelten Gebiet weit weg von den großen Touristenströmen dieser Erde befindet sich eines der beeindruckendsten Kulturdenkmäler menschlicher Großtat: Das riesige Menhir-Feld von Sidamo. Neben zahlreichen Grabhügeln ist die Gegend von riesigen Menhiren übersät. Überall wohin man sieht, recken sich übergroße steinerne Penisse in das Blau des afrikanischen Himmels. Etwa 10.000 (!) dieser steinernen Phallussymbole ragen bis zu 6 Meter Höhe aus der gelbbraunen Erde, unzweideutig als Geschlechtswerkzeug gestaltet, denn bei “vielen von ihnen ist die ‘Eichel’ durch einen Steinring vom zylindrischen Schaft abgehoben”. /19/ Waren unsere Vorfahren sexsüchtig? Hatten sie nichts anderes zu tun, als riesige Steinblöcke in Form männlicher Zeugungsglieder aufzurichten?

Schon Artefakte aus der „ältesten Kulturperiode des Menschen, dem Paläolithikum, haben mehr oder minder realistische plastische oder eingravierte Nachbildungen des Penis (Phallus) zutage gefördert. Als Materialien dienten Stein, Knochen oder Horn. Dass die Nachbildungen als Amulette getragen wurden, lassen Durchbohrungen erkennen. Neben diesen Gegenständen zum persönlichen Gebrauch begegnen wir unter der Hinterlassenschaft der Steinzeitmenschen auch mächtigen Pfeilern oder aufrecht stehenden Steinen, den Monolithen oder Menhiren, die den Phallus symbolisieren sollten.“ /60/

Früheste Zeugnisse der menschlichen Kultur wie dieses Phallus-Feld von Sidamo lassen uns den ungezwungenen Umgang unserer Vorfahren mit der menschlichen Lust erahnen. Es ist vor allem der geschlechtliche Aspekt der Lust, den uns die archäologischen Artefakte oft überdeutlich vor Augen führen.

Wissenschaftler sind der Meinung, dass „Sex und vor allem das Reden darüber... eine der wichtigsten ‚Feierabendbeschäftigungen’ der Steinzeitmenschen war.“ /202/ Aus Vergleichsstudien über heute noch ursprünglich lebende Stämme ist zu schließen, „dass Sexualität damals eine große Rolle und freudvolle Rolle spielte. Manchmal verzichteten diese Leute am Vorabend eines Jagdtages auf Sex, sie opferten sozusagen die Lust für einen erfolgreichen Beutezug. Aber nach einer erfolgreichen Jagd belohnten sie sich dann auch entsprechend“, so der Fachmann für Ur- und Frühgeschichte der Universität Tübingen, Hansjürgen MÜLLER-BECK. /202/

Schon die ersten Horden umherstreifender Jäger, Sammler und Fischer hatten ihre Ahnenmutter- und Sexualkulte, die eng mit den Sinnesfreuden der urgeschichtlichen Sippenmitglieder verbunden waren. Bereits die ältesten Produkte der menschlichen Kunstfertigkeit zeigen auch ein überraschend hohes Interesse an der ästhetischen Lust unserer Vorfahren. Kunstvolle Grabanlagen, Höhlenbilder und Felsgraffiti sowie zahlreiche Idolfigürchen erzählen davon. Das Fühlen, Denken und Handeln dieser Menschen konzentrierte sich dabei auf die zentralen Punkte ihrer Existenz, das Leben und Überleben sowie den Tod. Der Fortpflanzung, der Fruchtbarkeit und der Sexualität kam dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die Natur ernährte den Menschen durch Jagd, Fischfang und das Sammeln von Wildfrüchten. Er sah sich eins mit der ihn umgebenden lebensspendenden Umwelt, sah sich geboren aus dem Schoß der Erde. Jagdzauber, Sternenkulte, Naturreligionen und die Huldigung der “Großen Göttin” als Sinnbild der Weiblichkeit, Fruchtbarkeit und Mütterlichkeit bestimmten sein rituelles und kultisches Dasein.

Über das Familienleben unserer Vorfahren vor 35.000 Jahren sagt der Experte MÜLLER-BECK: „Wir wissen, dass es Fortpflanzungsfamilien gab. So nennen wir Familienverbände, die vor allem darauf ausgerichtet sind, Nachwuchs zu zeugen und aufzuziehen. Wir wissen aber nicht, wie stabil diese Familien waren. Wir vermuten, dass die Steinzeitmenschen leicht den Partner wechselten. Aber wegen der gemeinsamen Kinder bestand sicher eine Bindung zum Vater. Mit 13 oder 14 waren die Mädchen geschlechtsreif. In diesem Alter begannen sie, sich nach einem Mann umzusehen, der ihnen gefiel... Treue spielte nicht die gleiche Rolle wie heute. Aber dass eheähnliche Liebesbeziehungen die Basis der Familie waren, erscheint mir sehr wahrscheinlich. Das ist die stabilste Beziehungsform, die wir kennen, und deshalb besonders gut für den Nachwuchs geeignet.“ /202/

Im Verlaufe unserer zivilisatorische Entwicklung hat die menschlichen Lust wiederholt eine sehr wandelbare Interpretation erfahren. Sich des Begriffs in unserem Sinne sicherlich unbewusst, wurde die Lust selbst paradiesisch genossen, vergöttert wie vergöttlicht, später kultiviert und philosophisch geadelt, mystisch überhöht oder religiös missbraucht. Aber erst dem christlichen Abendland blieb es vorbehalten, die Lust auch als sündhaft zu verteufeln und zu brandmarken. Ein Verhängnis, das bis in unsere scheinbar so aufgeklärte Zeit hinein nachwirkt. Die Lust nicht verstehen, heißt aber auch, die Natur des Menschen nicht zu begreifen; sie als Sünde zu verteufeln bedeutet zugleich, den Menschen das Menschsein abzusprechen.

Schon aus dem Megalithikum kennen wir zahlreiche in ihrer künstlerischen Ausfertigung oft modern wirkende kleine Frauenfigürchen, die uns das “weibliche Prinzip” als zentrales Element dieser Religionen erahnen lassen. Darstellungen dieser “Großen Göttin”, der “Magna Mater” oder der “Erdmutter”, wurden stets mit Hervorhebung der weiblichen Geschlechtsmerkmale, als Schwangere oder Gebärende und letztlich ernährende “Alma Mater” ausgeführt. Hunderte dieser Figuretten aus Stein, Holz, Bein oder Ton sind Belege dieses frühen Fruchtbarkeits- und Mutterkultes. Nicht nur die bekanntesten dieser sogenannten “Venusfigürchen”, wie die “Venus von Willendorf” oder die “Venus von Dolni Vestonice”, sondern auch die Vielzahl der von Südeuropa bis ins ferne Sibirien aufgefundenen namenlosen Frauenplastiken zeigen erstaunliche Übereinstimmungen hinsichtlich der Überbetonung äußerer weiblicher Geschlechtsmerkmale und eine künstlerisch überhöhte Ausprägung zweier Körperbereiche: der Körperpartie des Gebärens (mit breitem Schoß- und großem Schambereich) und der des Ernährens (mit riesigen Brüsten). Als reife Muttergestalten und Ahnmutter der Sippe, von der ihre Mitglieder den eigenen Ursprung ableiten, wird die fruchtbare Frau als Quelle des Lebens verehrt. Die überdeutliche Kennzeichnung der Vagina bei diesen Idolfiguren wie auch die zahlreichen unterschiedlichen Darstellungen der äußeren weiblichen wie männlichen Geschlechtsteile bei Felsritzungen und auf Kultgegenständen sind einerseits als Zeichen und Bildthemen Ausdruck der empfundenen geschlechtlichen Dualität von Mann und Frau und andererseits bildhafte Zeugnisse des natürlichen und ungezwungenen Umgangs unserer Vorfahren mit Geschlechtlichkeit und sexueller Lust. Aus frühgeschichtlicher Zeit bis hin zu den Anfängen der ersten menschlichen Hochkulturen um 3000 v. Chr. fanden die Archäologen derartige Beispiele frühester künstlerischer Betätigung, die einen faszinierenden Einblick in die Riten, die Religionen und lustbezogenen Aktivitäten ihrer Schöpfer geben. “Die sexuelle Polarität des Männlichen und des Weiblichen ist eine der zentralen Aussagen der altsteinzeitlichen Fels- und Höhlenbilder. Diese Zeichen sind auf, bei oder zwischen den Wandbildern angebracht. Dreieckige und ovale Zeichen, oft mit einem Mittelstrich versehen, werden als Vulva gedeutet und einer weiblichen Symbolik zugeordnet, wohingegen harpunenartige Zeichen der männlichen Symbolik zugeordnet werden”, so der Fachmann Gerhard J. BELLINGER in seinem Buch über die “Sexualität in den Religionen der Welt”. /19/

Die “13”, oft auch als “die weibliche Zahl an sich” gesehen, stand somit vermutlich sowohl mit schamanisch-religiösen Riten wie mit dem direkten Sexualleben der Menschen in Beziehung. Verschiedenen Kulturen und gläubigen “Nummerologen” galt und gilt sie noch heute als magische Zahl /35/. Selbst die Anzahl der ersten Menschheitskinder, geboren von Eva, belief sich nach mythologischer Deutung des irischen Yr Awdil Vraith auf 13 und damit auf die Anzahl der Mondphasen oder Menstruationszyklen eines Jahres. “Zweimal fünf, zehn und acht, hatte sie (Eva) selbst geboren” und “dazumal, nicht verborgen (!), gebar sie Abel, und Kain...”. /35/

Nicht nur die oft stark übertrieben dargestellte Vaginen, sondern auch die häufigen ithiophallischen Darstellungen des Mannes bezeugen den ungezwungenen und natürlichen Umgang mit Sexualität und Lust. Da sieht man in der Höhle von Trois-Frères (Südfrankreich) den in einer Bisonmaskierung verkleideten Jäger, dessen erigierter Penis auf die zu jagenden Tiere gerichtet ist (ca. 13.000 v. Chr.). Eine ähnliche Darstellung findet sich in der berühmten Höhle von Lascaux. Auch hier agiert ein vogelmaskierter Jäger zwischen zwei Bisons und auch hier ist der erigierte Penis als Ausdruck der Verbindung von Jagdzauber und Sexualität nicht zu übersehen. Darstellungen von Menschenpaaren, deren Paarungsakt gleichsam als Beschwörungsritual vor der Jagd vollzogen wurde, zeigen Ritzzeichnungen in Afrika wie in Australien. “Diese für die kultisch-magischen Analogiehandlungen notwendigen Bildszenen zeigen nicht nur figürliche Darstellungen von Menschen und Tieren mit Motiven der Jagd und sexuellen Vermehrung, sondern auch einfache Zeichen, die die geschlechtliche Dualität von Frauen und Männern symbolisieren. Die sexuelle Polarität des Männlichen und des Weiblichen ist eine der zentralen Aussagen der altsteinzeitlichen Fels- und Höhlenbilder.” /19/ Der hohe Symbolgehalt weist nicht nur auf Jagd- und Fruchtbarkeitsriten, sondern einen ausgeprägten Geschlechtstotemismus hin. Ganggräber symbolisieren den Mutterschoß, ihre Eingänge die Vagina; Bestattete finden sich in Fötusstellung und seit dem Ende der Jungsteinzeit werden Menhire wiederholt mit weiblichen Attributen versehen oder in Form ausgearbeiteter Phallen gestaltet, wie uns das Menhir-Feld in der südwestäthiopischen Provinz Sidamo so eindrucksvoll vor Augen führt.

Thomas GEERDES schreibt dazu: „Früher brachten die Menschen allem, was mit der Zeugung zusammenhing, tiefe Ehrfurcht entgegen. Sie schrieben den Geschlechtsteilen übernatürliche Kräfte zu und glaubten, dass sie von Geistern bewohnt seien. Kein Wunder, dass die Geschlechtsteile in allen zur Verfügung stehenden Materialien nachgebildet wurden.“ /60/ Neben den zahlreichen auf das weibliche Geschlecht bezogenen Kunstobjekten finden sich stets auch Darstellungen des männlichen Geschlechtsteils. In allen Kulturepochen und rund um den Globus wurde der Penis auch als Kultobjekt verehrt. Ob antikes Votivgeld aus Burma, versehen mit einem Phallusfortsatz, das Figürchen der altägyptischen Göttin Hathor, deren Körper die Form eines Phallus erhält oder antike Gebrauchsgegenstände jeder Art..., die Form des erigierten männlichen Gliedes findet sich überall. Selbst als Amulett wurde der stilisierte Penis seit alters her getragen. Derartige Liebesamulette bestanden aus Knochen oder Zähnen (Elfenbein), Klauen, Stein, Terrakotta, Holz, Glas, Metall, Frittenporzellan oder sogar Edelstein. „Um die Kraft seiner magischen Wirkung zu erhöhen, ist der Phallus in früheren Zeiten auch wie ein Tier geformt worden, mit Krallen und Flügeln. Kleine Glöckchen wurden ihm angehängt, weil der Klang von Metall als besonders wirksam gegen bösen Zauber aller Art galt. /60/

Man erhob das männliche Fortpflanzungsglied zum Gott, verehrte es in Tempeln, gravierte es in Bein, Stein oder Holz. Und es liegt die Vermutung nahe, dass die Phallusform der steinzeitlichen Menhire auch das Vorbild für die zum Himmel ragenden Pfeiler, Obelisken, Minarette und letztlich unsere Kirchtürme wurden. „In Thailand tragen die buddhistischen Prangtürme eine metallene, zickzackförmig verlaufende Stange, die man als den ‚Samenstrahl Shivas’ bezeichnet. In Ägypten stellte man Nachbildungen des Penis in Tempeln auf...“ und „...zu den Grabbeigaben gehörten häufig kleine Phalli aus Frittenporzellan“. /60/

Obwohl aufgrund fehlender schriftlicher Nachrichten kaum Aussagen über das Verhältnis der Menschen zu ihrer Sexualität und damit dem Erleben ihrer Lust zu treffen sind, deutet die überbetonte Verwendung sexueller Symbolik auf ein ungezwungenes und sehr natürliches Verhältnis zur menschlichen Sexualität hin. Ähnlich mochte auch die geschlechtliche Lust während der Anfänge unserer Zivilisation keinen äußeren Beschränkungen unterlegen sein, gab es außer natürlichen und rituellen Aspekten kaum einen normierten oder gar reglementierten Umgang mit der sexuellen Lust. Es mag jene Zeitspanne unserer kulturellen Entwicklung gewesen sein, die uns der Dichter HESIOD um 700 v. Chr. mit dem Begriff des “Goldenen Zeitalters” vorstellt und aus der uns nurmehr archäologische Artefakte und kaum mehr nachzuvollziehende Mythen dieses letzlich ungenaue Bild über den Menschen und seine Lust vermitteln können. HESIOD fasste das historische Wissen seiner Zeit in seiner “Lehre von den drei Weltaltern” zusammen, sprach poetisch von der Goldenen, der Silbernen und der Erzenen Weltperiode, wobei er die letztgenannte Ära als die seiner Generationen verstand:

“Golden war das Geschlecht der redenden Menschen,

Das erstlich die unsterblichen Götter,

Des Himmels Bewohner, erschufen. Jene lebten,

Als Kronos im Himmel herrschte als König,