Gesetze sind wie Spinnennetze - Margaret Millar - E-Book

Gesetze sind wie Spinnennetze E-Book

Margaret Millar

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Beschreibung

Cully Paul King, Frauenheld und Skipper einer Jacht, steht wegen Mordes vor Gericht. Eine unbescholtene, verheiratete Frau, deren nackte Leiche im Meer gefunden wurde, war zuletzt auf seinem Boot gesehen worden. Es gibt Indizien, aber kein klares Motiv, und eine Vielzahl nicht nur professioneller Interessen bei einigen Beteiligten des Prozesses…

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Seitenzahl: 427

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Margaret Millar

Gesetze sind wie Spinnennetze

Roman

Aus dem Amerikanischen von Jobst-Christian Rojahn

Diogenes

{5}Für Sally Ogle Davis und Ivar Davis

{7}Gesetze sind wie Spinnennetze –

die dicken Fliegen fallen durch,

die kleinen bleiben hängen.

Honoré de Balzac

{9}Der Richter

Bitte sich zu erheben.

Der Oberste Gerichtshof des Staates Kalifornien nimmt im und für den Bezirk Santa Felicia unter Vorsitz des Richters George Hazeltine die Verhandlung auf.«

Hazeltine, ein großer, hagerer Mann in den Sechzigern, bewegte sich arthritisch auf den Richtertisch zu, wobei er seine schwarze Robe und einen starken Knoblauchgeruch hinter sich her zog.

Jeden Morgen kaute er nach dem Frühstück eine Knoblauchzehe, teilweise aus gesundheitlichen Gründen, teilweise aber auch, um sich seine Ruhe zu sichern. Die Leute behelligten ihn weit weniger mit ihrem Gequassel, wenn sie dabei einer gewissen Geruchsbelästigung ausgesetzt waren. Staatsanwälte hielten Distanz, und weniger hochgestellte Personen sprachen entweder von der Tür aus zu ihm oder traten gar nicht erst in Erscheinung.

Es war ganz offensichtlich als Gegenangriff gedacht, wenn seine Sekretärin Unmengen von Parfüm verwendete, wovon ihr ironischerweise das meiste der Richter selbst zu Weihnachten, zum Geburtstag oder aus Anlaß der »Woche der Sekretärin« geschenkt hatte. Sie steckte kleine, mit Parfüm getränkte Wattebäuschchen in ihre Taschen und in ihren Büstenhalter oder befestigte sie mit Sicherheitsnadeln unter Krägen und Rocksäumen. Manchmal fiel eines dieser {10}Kügelchen heraus, und dann hob es der Richter auf, roch daran und dachte: Hm, sehr nett. Ich habe in puncto Düften doch einen ausgezeichneten Geschmack.

Der Richter setzte und räusperte sich und studierte sodann das maschinengeschriebene Blatt, das vor ihm auf seinem Platz lag.

»Es ist zu Protokoll zu nehmen, daß der Angeklagte und sein Verteidiger, Mr. Donnelly, und der Vertreter der Anklage, Staatsanwalt Owen, anwesend sind. Es ist ferner zu Protokoll zu nehmen, daß die zwölf Geschworenen und ihre sechs Stellvertreter zugegen sind.

Gerichtsdiener, würden Sie bitte die Abzeichen an die Geschworenen verteilen? Diese Abzeichen sind während der gesamten Dauer des Verfahrens zu tragen, um die Geschworenen kenntlich zu machen und andere daran zu erinnern, daß sie sich ihnen fernhalten und zu keiner Zeit über irgend etwas mit ihnen sprechen.«

Der Gerichtsdiener verteilte die Abzeichen, auf denen das Wort GESCHWORENER stand, und die Geschworenen hefteten sie sich an die linke Schulter. Mit den Abzeichen sahen sie nun aus wie die kunterbunt zusammengewürfelten Delegierten einer wichtigen Konferenz, etwa von Umweltschützern oder Abtreibungsgegnern, die entschlossen waren, um jeden Preis die Welt zu retten.

Der jüngste der Geschworenen, ein Tischlerlehrling von knapp einundzwanzig Jahren, hatte seinen Sturzhelm mit in den Gerichtssaal gebracht und unter seinem Sitz verstaut. Die älteste war eine siebzigjährige Hausfrau mit stark zurechtgemachtem Gesicht und schwarz gefärbtem, aber hartnäckig ins Orangefarbene changierendem Haar.

{11}»Meine Damen und Herren, Sie haben gehört, worum es hier geht, um die Anklage gegen Cully Paul King, der des vorsätzlichen Mordes, des Mordes aus niedrigen Beweggründen mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung, bezichtigt wird. Der Angeklagte hat sich für nicht schuldig erklärt. Wir kommen nun also zu den Eröffnungserklärungen des Staatsanwalts und des Verteidigers. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß nichts, was in diesen Erklärungen gesagt wird, Beweiskraft besitzt. Staatsanwalt und Verteidiger haben hier die Möglichkeit, den Fall darzustellen und zu erläutern, was sie zu beweisen gedenken. Bevor Sie aber irgendwelche Schlußfolgerungen ziehen, müssen Sie abwarten, bis das tatsächlich auch bewiesen worden ist.«

Der Richter hielt inne. Er mißbilligte diese Eröffnungserklärungen und die obligatorische Rede, die er ihnen vorauszuschicken hatte. Es lief doch alles nur darauf hinaus, den Geschworenen zu verstehen zu geben, daß sie sich eine Menge Unsinn anhören mußten, den sie dann sofort wieder zu vergessen hatten. Wenn die Geschworenen diese Erklärungen nicht als beweiskräftige Aussage ansehen durften, warum gab man sich dann überhaupt damit ab?

Das ganze System wurde weder der Anklage noch der Verteidigung, noch dem Gesetz gerecht, sondern trug lediglich zur Verwirrung der Geschworenen bei und brachte sie dazu, allen im Verlauf der Verhandlung gemachten Aussagen zu mißtrauen. Es war eine klägliche Art und Weise, Prozesse zu eröffnen, zwang es die Geschworenen doch dazu, sich einen ganzen Tag lang oder {12}länger Reden anzuhören, die sie dann wieder vergessen mußten.

Ausgemachter Blödsinn. Kein Wunder, daß das ganze Rechtssystem in einem Sumpf versank.

»Das Wort hat der Herr Staatsanwalt«, sagte er. »Sind Sie bereit, Mr. Owen?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Dann bitte.«

Staatsanwalt Oliver Owen erhob sich und nahm seinen Platz am Pult ein – dem Richter genau gegenüber, die Geschworenenbank zu seiner Rechten. Er prüfte das Mikrophon, das protestierend kreischte, justierte seine Höhe, schaute kurz auf seine Notizen und heftete dann seinen Blick auf die Geschworenen.

Owen war ein gutaussehender, blonder Mann in den Vierzigern. Er sprach mit lauter, fast angriffslustiger Stimme, als stecke er schon mitten in einer heftigen Auseinandersetzung, ehe der Prozeß überhaupt begonnen hatte.

»Meine Damen und Herren des Gerichts, meine Damen und Herren Geschworenen, ich wünsche Ihnen allen einen guten Morgen.

Der vorliegende Fall ist sehr einfach. Ich bin sicher, daß alles versucht werden wird, den Fall zu verdrehen und zu verbiegen und das Problem durch allerlei Umwege zu verschleiern. Tatsache jedoch ist, daß der Weg, der vor uns liegt, gerade und direkt zu einem Mann, nur zu einem einzigen Mann hinführt, nämlich zu Cully Paul King.

Wir, die Vertreter des Staates Kalifornien und des Bezirks Santa Felicia, werden beweisen, daß Madeline Ruth {13}Pherson, eine verheiratete Frau, von Cully Paul King getötet wurde.

Mrs. Pherson, Frau des Tyler Pherson, wohnhaft in Bakersfield, Kalifornien. Sie war vierzig Jahre alt und einigermaßen gesund. Ein kürzlich erfolgter Todesfall in der Familie hatte sie etwas deprimiert, weshalb ihr Mann ihr riet, für ein oder zwei Wochen an die Küste zu fahren.

Am Morgen des 1. Mai kam sie auf dem Flughafen von San Diego an und nahm ein Taxi zum Hotel Casa Mañana. Sie hatte zwei Gepäckstücke bei sich, einen großen Koffer mit Rädern und einen zweiten, dazu passenden, etwa halb so groß, wie man ihn mit ins Wochenende nimmt. Ferner hatte sie noch eine kleinere Schatulle aus geprägtem, grünem Leder bei sich, ungefähr mit den Maßen zwanzig mal dreißig mal zehn Zentimeter. Sie stieg in dem Hotel in Marina del Playa ab, wo ihr Mann zuvor ein Zimmer für sie gebucht hatte.

Die beiden größeren Gepäckstücke wurden in ihr Zimmer gebracht, die kleinere Schatulle aber auf Bitten von Mrs. Pherson vom Assistant Manager, Mr. Elfinstone, in den Tresor des Hotels eingeschlossen. Die Schatulle hatte ein Doppelschloß und wog ungefähr vier bis fünf Pfund. Das Doppelschloß und Mrs. Phersons Ersuchen um einen Platz im Tresor ließen Mr. Elfinstone, den Assistant Manager des Hotels, zu der Annahme gelangen, daß die Schatulle etwas von beträchtlichem Wert enthalten müsse.

Mrs. Pherson rief von ihrem Zimmer aus ihren Mann an, um ihm mitzuteilen, daß sie gut angekommen sei, und ging dann wieder hinunter in die Halle, um sich die Leute dort anzusehen. Sie schien guter Dinge und äußerte wohl, sie {14}könne auch mal in die Bar gehen und etwas trinken. Wir werden zeigen, daß sie genau dies auch tat.

Dies sollte sich als verhängnisvolle Entscheidung herausstellen.

Man beobachtete, wie sie an der Bar mit einem Schwarzen sprach, der einen marineblauen Blazer und eine Kapitänsmütze trug; wir werden beweisen, daß es sich bei diesem Mann um Cully Paul King handelte, den Angeklagten.

Die beiden unterhielten sich eine Zeitlang, dann standen sie auf und verließen die Bar. King ging in die Halle und Mrs. Pherson zum Empfang, wo sie ohne Angabe von Gründen für ihre Meinungsänderung um Aushändigung der Schatulle bat.

Sie trug die Schatulle und ihre Handtasche bei sich, als sie in ihr Zimmer hinaufging, kurz darauf wieder zurückkehrte und in der Halle wieder mit Mr. King zusammentraf. Dann verließen beide zusammen das Hotel. Sie trug einen blauweiß gestreiften Mantel. Ihr Hotelzimmer hatte sie nicht aufgegeben. Später fand man ihre Kleider sorgfältig in den Schrank gehängt, die Schuhe in Plastikbeuteln, die Handtaschen in Seidenpapier eingewickelt. Sie war eine überaus ordentliche Frau. Wenn sie ein Kleidungsstück auf den Bügel hängte, dann achtete sie darauf, daß Knöpfe oder Reißverschluß geschlossen waren, damit es besser seine Form behielt.

Als nächstes wurde sie beobachtet, wie sie in Begleitung von Mr. King an Bord der Bewitched ging. Die Besatzung, also Harry Arnold und sein Sohn Richie, ein Teenager, sahen sie an Bord kommen – mit der Schatulle und dem blau-weißen Mantel, wie ihn Mr. Elfinstone beschrieben hat.

{15}Ihr Gang war unsicher, und Mr. Arnold nahm an, daß sie getrunken hatte. Sie zog sich mit Mr. King in die Kapitänskajüte zurück.

Das Boot war im Verlaufe dieses Tages beim Zoll ausklariert worden und hatte Treibstoff und Proviant aufgenommen. Es lichtete noch vor Morgengrauen die Anker zur Fahrt nach Santa Felicia. Nachdem es die offene See erreicht hatte, schaltete Harry Arnold auf automatischen Piloten um und ging nach unten, um zu schlafen. Er sollte die nächste Nachtwache übernehmen, eine notwendige Vorsichtsmaßregel auf einer stark befahrenen Schiffahrtsstraße, wo sich nachts auch noch häufig Nebel bildete.

Während Harry schlief, erledigten Cully King und Richie Arnold alle auf der Bewitched anfallenden Arbeiten, einschließlich des Kochens. Mrs. Pherson tauchte in der Pantry nicht auf, obwohl sie angeblich als Köchin angeheuert worden war.

Wir werden beweisen, daß Harry Arnold seine Nachtwache planmäßig antrat. In ihrem Verlauf hörte er einen lauten Streit im Quartier von Cully King. Das beunruhigte ihn nicht sonderlich, ging er doch davon aus, daß die Anwesenheit von Mrs. Pherson an Bord anderen als kulinarischen Zwecken diente.

Sehr früh am nächsten Morgen beaufsichtigte Cully das Festmachen des Bootes an seinem normalen Anlegeplatz im Jachthafen Fünf. Als er an Deck kam, trug er keine Arbeitskleidung, sondern hatte sich für einen Landgang umgezogen und trug einen marineblauen Blazer und graue Freizeithosen. Er drückte ein zusammengefaltetes Taschentuch gegen seine linke Backe und erklärte Harry, {16}er habe starke Zahnschmerzen und müsse sofort einen Zahnarzt aufsuchen.

Wenn eine Jacht wie die Bewitched in ihren Heimathafen zurückkehrt, ist es üblich, daß der Skipper kurz den Hafenmeister anruft und Neuigkeiten mit ihm austauscht. Das unterblieb. Cully setzte sich schnellen Schritts in Richtung State Street in Bewegung.

Harry machte für sich, Richie und Mrs. Pherson Frühstück. Als letztere nicht erschien, nahm er an, sie wolle sich nach einer recht lebhaften Nacht ausschlafen.

Nachdem sie die Pantry aufgeräumt hatten, nahmen sich Harry und sein Sohn das übrige Boot vor und begannen bei der Kabine, die Cully King und Mrs. Pherson belegt hatten. Mrs. Pherson schlief nicht, wie Harry angenommen hatte, ruhte sich nicht aus nach einer stürmischen Nacht. Nein, sie war gar nicht da. Und es gab auch keinerlei Anzeichen dafür, daß sie jemals dagewesen war, keine Lippenstiftflecken auf den Kissenbezügen, keine feuchten Handtücher, keine Haare zwischen den Borsten der silbernen Bürste, auf der Bewitched eingraviert war, keine gebrauchten Papiertücher im Abfalleimer. Obgleich das Bett frisch bezogen war, war der Wäschekorb leer.

Harry Arnold begann, an seinen fünf Sinnen zu zweifeln. Hatte er tatsächlich am Nachmittag des vorangegangenen Tages eine Frau die Bewitched betreten sehen? Doch, das hatte er, denn etwas war ihm im Gedächtnis haften geblieben, was ihm das bewies: Der blau-weiß gestreifte Mantel, den die Frau getragen hatte, hatte wie einer der Spinnaker der Bewitched ausgesehen. Das hatte er einfach nicht vergessen können. Und dann tauchten auch noch andere {17}Dinge auf, die seine Erinnerung untermauerten – eine grüne Schatulle, die die Frau bei sich gehabt hatte, und die diamantenbesetzten Ohrstecker, die sie trug.

Mrs. Pherson war mitsamt ihrer grünen Schatulle und ihrem Spinnakermantel spurlos verschwunden.

Wo aber war inzwischen Cully King, und was tat er? Wir werden zeigen, daß er eine Pfandleihe in der unteren State Street aufsuchte und dort versuchte, ein Paar Diamantohrstecker an deren Besitzer loszuwerden. Wie ihr Mann bezeugen wird, gehörten diese Ohrstecker Mrs. Pherson, und sie hatte sie getragen, als sie an Bord der Bewitched gegangen war.

Anfangs wollte Mr. King siebenhundert Dollar für die Ohrstecker haben, gab sich dann aber mit fünfhundert zufrieden. Er erzählte, daß er, da er fremd in der Stadt sei, keinen Kredit bekommen könne, aber dringend Bargeld brauche, um einen Zahnarzt zu bezahlen. Er schien Schmerzen zu haben, verzog das Gesicht, drückte ein Taschentuch gegen seine linke Backe und deutete an, ein Backenzahn sei die Ursache seiner Beschwerden. Beweise dafür, daß das alles nur gespielt war, wird uns der Zahnarzt liefern, der die Häftlinge des Bezirksgefängnisses betreut. Die Zähne von Cully King sind ausnahmslos in hervorragendem Zustand.

Wir wissen nicht, wo sich Mr. King an den folgenden vier Tagen aufgehalten hat. In vier Tagen kann viel geschehen. Der Leichnam einer Frau kann aus dem Wasser gefischt werden, und kleinere Kratzer auf der Haut können so gut verheilen, daß man sie kaum noch sieht. Nun, ich bin sicher, daß der Herr Verteidiger Sie darauf aufmerksam machen wird, daß ich das Adjektiv ›kleinere‹ benutzt habe.«

{18}Donnelly, ein großer, zerbrechlich wirkender Mann mit granitgrauem Haar, stand von seinem Platz auf. An ihm waren keine der nervösen Maniriertheiten zu bemerken, die die meisten anderen Personen im Gerichtssaal auszeichneten. Weder kratzte noch wand er sich, er schmollte nicht, kreuzte nicht die Arme, verlagerte sein Gewicht nicht von einem Bein aufs andere. Irgend etwas schien die beweglichen Teile seines Körpers eingefroren zu haben.

Er klang gelangweilt. »Ich habe gar nicht gewußt, daß es zu den Obliegenheiten eines Staatsanwaltes gehört, Gedanken zu lesen.«

»Erheben Sie Einspruch, Mr. Donnelly?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Dann sagen Sie das um des Protokolls willen auch.«

»Ich erhebe Einspruch gegen den Versuch von Mr. Owen, meine Gedanken zu lesen, und dies mit folgender Begründung …«

»Oh, nehmen Sie’s doch nicht so ernst, Mr. Donnelly. Die Geschworenen sind zu Beginn darauf aufmerksam gemacht worden, daß alles, was die Herren hier in ihren eröffnenden Erklärungen von sich geben, nicht mehr als rhetorische Effekthascherei sein kann … Fahren Sie bitte fort, Mr. Owen.«

»Es fällt mir schwer, mich genau der Stelle zu erinnern, an der ich so rüde unterbrochen wurde.«

»Kratzer«, sagte der Richter. »Kratzer auf dem Gesicht des Angeklagten, die angeblich schnell verheilen würden, weil sie nur geringfügig gewesen seien.«

»Danke, Euer Ehren … Ja, und warum waren sie geringfügig? Weil sie ihm von einer Frau beigebracht wurden, die {19}durch den Kampf ums Überleben geschwächt war und die verzweifelt versuchte, den teuflischen Griff, mit dem jene Hände ihre Kehle umspannten, zu lockern. In der Tat ein tödlicher Griff. Halten Euer Ehren auch das für bloße rhetorische Effekthascherei?«

Holla ho und trallalla. Der Richter saß schweigend da, das Kinn auf seine verschränkten Hände gestützt, die Augen zur Decke gerichtet, als erwarte er, daß von dort etwas Interessantes kommen werde, ein Unwetter, ein Erdbeben oder gar ein Himmelsbeben.

Das stille Übergehen war eine neue Masche des Richters und brachte den Staatsanwalt auf die Palme. Um seine Fassung wiederzugewinnen, ging er zum Kühlbehälter und holte sich einen Becher Wasser. Es war nicht mehr als ein Mundvoll und half kaum. Der alte Bastard versucht, mich zum Narren zu halten, und Donnelly weidet sich dran, kann gar nicht genug kriegen.

Die drei Männer waren nun so intensiv miteinander beschäftigt, daß sie die anderen Personen im Saal gänzlich vergessen zu haben schienen – die Geschworenen, die Protokollführerin, die Justizangestellte und den Gerichtsdiener, ja selbst den Angeklagten Cully King. Er war gänzlich unwichtig, so unwichtig wie die Zuschauer bei einem Boxkampf, zu dem es eigentlich ja auch nur zweier Kämpfer und eines Schiedsrichters bedarf.

Cully Paul King. Niemand kannte ihn, keiner kümmerte sich um ihn. Ein Schwarzer von der anderen Seite des Kontinents.

Der Richter rührte sich in seiner schwarzen Robe, die vor Alter grün zu werden begann. Er war nur noch darauf {20}bedacht, endlich den Ruhestand zu erreichen und sich von dieser Robe zu befreien wie eine alte Krähe sich in der Mauser von ihren abgenutzten Federn befreit.

»Wer ist dran?« fragte er plötzlich.

»Ich habe eine Frage gestellt«, sagte Owen gereizt, »und warte noch immer auf eine Antwort.«

»Wer sollte Ihre Frage denn beantworten?«

»Sie.«

»Und das werde ich. Ja, in der Tat, das werde ich.«

Eva Foster, die Justizangestellte, beugte sich zum Gerichtsdiener, der am gleichen Tisch saß wie sie. »Er hat wieder gepichelt. Schließen Sie bloß den Schnaps weg.«

»Zeitverschwendung«, sagte der Gerichtsdiener. »Er hat überall Schlüssel versteckt.«

»Sie sind doch so was wie ein Polizist. Finden Sie sie.«

»Ich werde antworten«, wiederholte der Richter. »Also, wie lautete Ihre Frage, Mr. Owen?«

»Sie hat inzwischen ihre Bedeutung verloren.«

»Das ist bedauerlich, ja, wirklich, sehr schade.« Der Richter hörte sich an wie ein Mensch, der guten Mutes und bereit ist, sich noch größerem Unheil zu stellen. »Kommen wir also zu was anderem.«

Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und sah auf den Angeklagten hinunter, als sei dieser gerade eben erst hereingebracht und den Geschworenen vorgestellt worden. »Haben Sie irgend etwas zu sagen?«

»Ich glaube nicht. Bislang hat mir noch niemand eine Frage gestellt.«

»Ich bin sicher, daß das noch kommen wird.«

»Ja, Sir.«

{21}»Tja, ich will sogar selbst die Kugel ins Rollen bringen.«

Die Protokollführerin Mildred Noon nahm die Hände von der Stenographiermaschine und schob ihren Stuhl so dicht wie möglich an den Richtertisch heran. »Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Euer Ehren. Warum wollen wir den Staatsanwalt nicht seine Eröffnungsrede beenden lassen?«

»Wir, Mildred? Wir?«

»Sie.«

»Ich. Das ist schon besser. Also gut.« Er blickte kurz zum Staatsanwalt hinüber. »Sie können fortfahren, Mr. Owen.«

»Es ist schier unmöglich, nach einer solchen Unterbrechung fortzufahren.«

»Tun Sie Ihr Bestes, Mr. Owen. Ich bin sicher, Sie werden Worte finden. Das tun Sie doch immer.«

Der Angeklagte saß still auf seinem Platz neben Donnelly. Nur seine Pupillen schienen sich zu bewegen, braun und glänzend wie schmelzende Schokolade. Seine Hautfarbe war so hell wie Kupfer – ein Farbton, der sehr selten war und sehr bewundert wurde auf jenen Inseln, wo er zuhause war.

In seinen siebenunddreißig Jahren hatte Cully schon etliche Gerichtssäle in der Karibik von innen gesehen – auf seiner Heimatinsel St. John etwa, einen auch auf den Bahamas und einen auf Puerto Rico, der so klein war, daß Gerichtssaal und Gefängnis in diesen Gerichtssaal hier gepaßt hätten. Die drangvolle Enge, die Hitze, die Luftfeuchtigkeit und der Lärm, weil alles durcheinander redete, trugen dort erheblich dazu bei, die Gerichtsverfahren zu beschleunigen. Ein Prozeß dauerte selten länger als ein oder zwei {22}Tage. Irgend jemand landete für gewöhnlich im Gefängnis. Ob es den richtigen traf oder nicht, machte kaum etwas aus, denn als Gefängnis diente ein Hinterzimmer im Hause des Gefängnisaufsehers, dessen Frau eine hervorragende Köchin war und sehr liberale Ansichten hatte. Sie spielte gern Monopoli, war aber eine schlechte Verliererin. Als sie nach einwöchigem Spiel Cully 349 Dollar schuldete, sah dieser sich urplötzlich aus dem Gefängnis entlassen und mit 1,29 Dollar in der Tasche sowie dem abschließenden Hinweis der Aufsehersgattin, das sei alles, was ihm zukomme, da er wahrscheinlich geschummelt habe, auf sein Schiff zurückgeschickt.

»Sie können fortfahren, Mr. Owen«, sagte der Richter.

»Ja, Euer Ehren … Harry Arnold und sein Sohn Richie blieben an Bord der Bewitched, teils um das Boot bis zur Ankunft seines Eigners, Mr. Belasco, der sich in Palm Springs bei seinem kranken Vater aufhielt, in Ordnung zu halten, teils aber auch, weil sie nicht wußten, was sie sonst hätten tun sollen. Sie waren es nicht gewohnt, Befehle zu erteilen, sondern solchen zu gehorchen. Und in Ermangelung von Befehlen, denen sie hätten gehorchen können, rührten sie sich nicht von der Stelle.

Richie surfte draußen vor der Mole, und Harry verbrachte viel Zeit damit, sich mit den Fischern am Kai des Handelshafens zu unterhalten. Die anhaltende Abwesenheit von Cully King und Mrs. Pherson beunruhigte ihn jedoch immer stärker. Und dann hörte Harry am Abend des 5. Mai in den Nachrichten, daß der nackte Leichnam einer Frau gefunden worden war, der sich im Seetang verfangen hatte. Der Körper war von einem Boot der Küstenwache {23}geborgen und an Land gebracht worden. Wir können davon ausgehen, daß auch Cully King jene Nachrichtensendung hörte, denn er erschien etwa zur gleichen Zeit auf der Bewitched wie die Polizei. Später am Abend traf auch Mr. Belasco aus Palm Springs ein, und er war es, der den Vorschlag machte, man solle doch im Logbuch des Schiffes nachsehen, ob dort ein Eintrag zu finden sei, aus dem hervorgehe, daß man in San Diego eine Frau an Bord genommen habe. Das war nicht der Fall.

Als Cully King von der Polizei verhört wurde, antwortete er kurz und vorsichtig. Auf Grund der Aussagen der beiden Arnolds sah er sich genötigt zuzugeben, daß Mrs. Pherson an Bord gekommen war, aber er behauptete, nicht zu wissen, was ihr dann widerfahren sei, und verweigerte jede weitere Aussage, bevor er nicht einen Anwalt habe.

Noch bevor Mr. King überhaupt die geringste Chance gehabt hatte, einen Anwalt zu kontaktieren, erschien wie durch ein Wunder ein solcher auf der Bildfläche, und zwar unmittelbar nachdem man Kings habhaft geworden war.

Er war kein gewöhnlicher Anwalt, dieser Charles Donnelly. Er war weithin bekannt, nicht nur auf Grund seiner Tätigkeit als Verteidiger, sondern auch wegen der beträchtlichen Honorare, die er für seine Dienste forderte. Niemand kann sich erklären, warum er diesen Fall übernimmt, da King überhaupt kein Geld hat.«

Donnelly erhob sich und wandte sich an den Richter. »Meine Honorare, Euer Ehren, haben mit diesem Verfahren nichts zu tun und entziehen sich Mr. Owens Kenntnis. Ich muß deshalb Einspruch erheben.«

Bevor er zu einer Entscheidung kam, lehnte sich Richter {24}Hazeltine in seinem Stuhl zurück und studierte wiederum ein Weilchen die Saaldecke. Es bereitete ihm ein gewisses Vergnügen, die beiden Anwälte warten zu lassen. Dadurch wurden sie daran erinnert, daß dies, wenn auch ein kleines, so doch einzig und allein sein Königreich war, und sie allenfalls Bauern, die sich auf den Feldern abrackerten.

»Dem Einspruch wird stattgegeben«, sagte er schließlich. »Es besteht kein Anlaß, auf Mr. Donnellys Honorare einzugehen, da er hier nicht wegen überhöhter Forderungen vor Gericht steht. Beschränken Sie bitte Ihre Ausführungen auf relevantere Sachverhalte.«

Der Staatsanwalt protestierte. »Ich halte diese Frage für durchaus relevant, Euer Ehren, vor allem angesichts der Tatsache, daß der Angeklagte finanziell nicht in der Lage ist, die Art von Honoraren zu zahlen, wie Mr. Donnelly sie fordert.«

»Möchten Sie sich der Mißachtung des Gerichts schuldig machen, Mr. Owen?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Dann achten Sie ein wenig mehr auf das, was Sie sagen.«

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf und fuhr in seiner Erklärung fort. »Es wurde gerichtlich verfügt, daß die Bewitched im Hafen und die Besatzung an Bord zu bleiben hätten. Das gesamte Boot wurde mehrfach von Vertretern der Justizbehörde durchsucht, aber es fanden sich keine Spuren einer Anwesenheit von Mrs. Pherson.

Eine Woche später wurde eines der Kleidungsstücke von Mrs. Pherson aus dem Meer geborgen, das im Netz eines Fischereibootes hängengeblieben war. Es war der blauweiß gestreifte Mantel, den sie bei Verlassen des Hotels {25}getragen hatte. Er wird Ihnen noch als Beweisstück vorgeführt werden, und Sie werden ihn sich anschauen und dabei entdecken können, was am bedeutsamsten an ihm ist – nämlich, daß er von oben bis unten zugeknöpft ist. Und warum ist das so bedeutsam? Weil es zeigt, daß Mrs. Pherson diesen Mantel nicht trug, als sie über Bord ging. Er wurde ihr nicht von der Strömung oder von Meerestieren vom Leib gerissen. Dieser Mantel war, als man ihn aus dem Fangnetz herausholte, zugeknöpft. Mrs. Pherson war eine sehr ordentliche Frau und hatte die Angewohnheit, ein Kleidungsstück zuzuknöpfen oder seinen Reißverschluß zu schließen, wenn sie es auf den Bügel hängte, um es so in Form zu halten. Der Mantel wurde von einem Bügel genommen und dann ins Meer geworfen. Es besteht der begründete Verdacht, daß auch ihre übrige Habe über Bord geworfen, bislang aber noch nicht gefunden worden ist. Es ist, so behaupte ich, sogar mehr als ein begründeter Verdacht. Der Mann, der auf dem Stuhl des Angeklagten sitzt, wurde dabei beobachtet, wie er eben dies tat.«

Ach Gott, ach Gott, dachte der Richter. Dieser Owen ist zutiefst verliebt in den Klang seiner eigenen Stimme. Wäre die Benutzung von Tonbandgeräten hier im Gericht nicht verboten, würde er das alles wohl auf Cassette aufnehmen und zu Hause beim Abendessen der Familie vorspielen.

Der Richter war Virginia Owen schon mehrfach begegnet – sie war ein genauso scharfäugiger und langweiliger Mensch wie Oliver Owen. Aber auch die vernünftigste Frau tut hin und wieder etwas Dummes, und Virginia hatte nicht nur Oliver Owen geheiratet, sondern ihm auch noch drei Söhne geschenkt. Der Richter mochte Kinder nicht {26}sehr, deshalb ging er ihnen aus dem Wege, vor allem jenen, die mit Owen verwandt waren. Die hatten ein paar ganz miese Erbanlagen.

Owens Rede nahm ihren Fortgang und klang eher wie ein abschließendes Plädoyer denn wie eine eröffnende Erklärung, eher wie eine rhetorische Darbietung denn wie eine zusammenfassende Würdigung des Beweismaterials, das man später zu präsentieren gedachte.

 

Charles Donnelly fing an, auf dem leeren gelben Blatt, das vor ihm lag, herumzukritzeln – einen Holzschuppen mit einem Tor, mit kreuzweisen Verstrebungen, alles sehr schnell gezeichnet und ohne den Stift jemals abzusetzen. Dann einen weiteren Schuppen und noch einen, bis es drei Reihen Schuppen waren, alle einander so gleich, als hätte er sie durchgepaust.

Er hatte schon so viele Jahre vor sich hingekritzelt (wobei es eben darauf ankam, den Stift nicht abzusetzen), daß er sich schon gar nicht mehr daran erinnern konnte, wer ihm das als Kind beigebracht hatte. Die Sache war zu trivial, um sich Gedanken oder gar Sorgen darüber zu machen, aber dann hatte er eines Tages doch einen Psychiater befragt. Der hatte angeregt, daß Donnelly zwar von den Kritzeleien Abstand nehmen, sehr wohl aber auch weiterhin Papier und Schreibgeräte mit sich führen solle.

Auch wenn es den Anschein hatte, als sei Donnelly ganz und gar mit der nächsten Reihe von Schuppen beschäftigt, hörte er doch sehr aufmerksam zu, was Owen sagte. Jener hatte im Verlauf seiner Rede höchst überflüssigerweise das Wort »schwarz« gebraucht, und dies stets in abfälliger {27}Weise. Schwarzer Mann, weiße Frau; böse, gut; Voodoo und schwarze Magie im Gegensatz zu gesundem Menschenverstand.

Der Prozeß hatte noch kaum richtig begonnen, da lag Owens ganze Engstirnigkeit schon offen zutage. Er schien in dem Kästchen seiner Vorurteile eingesperrt zu sein, und dieses Kästchen füllte sich mehr und mehr mit Mexikanern, Juden, Schwarzen, Schwulen und Orientalen, bis kaum noch Platz genug war für Owen selbst, den er aber gebraucht hätte, um seine Arbeit ordentlich zu erledigen. In wenigstens einem Punkt hatte er es versäumt, seine Hausaufgaben zu machen. Der Geschworene Nr. 7, ein Computertechniker namens Hudson, hatte eine Schwester, die schon seit Jahren glücklich mit einem Schwarzen verheiratet war.

»Habsucht«, sagte Owen. »Schuld an Mrs. Phersons gewaltsamem Ende ist die Habsucht dieses Mannes. Habsucht ist eine der sieben Todsünden, und in Mrs. Phersons Fall war sie in der Tat tödlich. Jawohl, und in Mr. Kings Fall könnte sie das ebenfalls sein. Das Motiv der persönlichen Bereicherung macht diesen Mord zu einem aus niedrigen Beweggründen begangenen. Und wenn jemand des vorsätzlichen Mordes aus niedrigen Beweggründen angeklagt ist, so darf der Betreffende nicht gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt werden und muß, falls er schuldig gesprochen wird, entweder in der Gaskammer sterben oder den Rest seines Lebens ohne Hoffnung auf eine Strafaussetzung im Gefängnis verbringen. Das zeigt die Schwere an, die der Staat Kalifornien einem Verbrechen wie dem vorsätzlichen Mord um der persönlichen {28}Bereicherung willen beimißt. Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, sind gehalten, dem zu entsprechen.

Augenblicklich läßt sich noch nicht genau sagen, um wieviel es bei der Sache ging. Die 500 Dollar, die Cully beim Pfandleiher erhielt, sind sicher nur ein Teil dessen, was er bekam oder zu bekommen hoffte. Mehr, wahrscheinlich ging es um sehr viel mehr. Nach Aussagen von Tyler Pherson, ihres Ehemannes also, enthielt die grüne Lederschatulle Familienschmuck, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Diese grüne Schatulle ist noch nicht gefunden worden und wird vielleicht auch nie gefunden werden. Cully King könnte sie nach Mrs. Phersons Tod in einem Anfall von Panik über Bord geworfen haben, zusammen mit allem anderen, was ihr gehörte.

Rhetorische Effekthascherei? Nein, in der Tat nicht. Hier geht es um Beweismaterial, das Ihnen Harry Arnold vom Zeugenstand aus liefern wird, wohnte er doch dieser den Angeklagten verurteilenden Szene bei.«

Während der Pause, die dieser Ankündigung folgte, ging ein langer und schwerer Seufzer des Zweifels durch den Saal. Es ließ sich unmöglich sagen, wo er herkam, vielleicht vom Tisch des Verteidigers oder von dem der Justizangestellten oder auch aus der ersten Zuschauerreihe. Der Richter hatte allerdings den starken Verdacht, daß er von Charles Donnelly gekommen war.

Er wandte deshalb seine Aufmerksamkeit diesem zu. Das war ein Mann, der ihm Rätsel aufgegeben hatte, seit sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Ein merkwürdiger Vogel, dachte der Richter, blickte zur Wanduhr, dann auf seine eigene und stellte eine Abweichung von zwei Minuten {29}fest. Er beschloß, der Wanduhr Glauben zu schenken, auf der es zwei Minuten später war.

Er sagte: »Sind Sie so gut wie am Ende, Mr. Owen?«

»Ich bin fertig, Euer Ehren.«

»Gut. Das Gericht zieht sich für fünfzehn Minuten zurück. Die Geschworenen seien ermahnt, den Fall mit niemandem und auch nicht untereinander zu erörtern.«

Er beugte sich vor und sagte flüsternd zur Protokollführerin: »Haben Sie mich das Wort ›gut‹ sagen hören, Mildred?«

»Ich war nicht ganz sicher, Sir. Ich meinte, Sie hätten sich nur geräuspert.«

»Natürlich. Ich habe mich nur geräuspert.«

Bevor Mildred das Papier aus der Stenographiermaschine nahm, löschte sie das Wort »gut«. Sie und den Richter verband eine lange und enge Arbeitsbeziehung. Obwohl sie ihn manchmal privat Georgy Porgy nannte, redete sie ihn im direkten Gespräch stets mit Sir an, denn sie hatte wirklich Respekt vor seinen Fähigkeiten und seinem gesunden Menschenverstand.

Er hätte sich schon vor Jahren wieder verheiraten sollen, dachte sie, während sie den langen Streifen des Stenographierpapiers in Form einer Acht zusammenrollte.

Die Justizangestellte Eva Foster trug die Dauer der Verhandlungspause in ihrem Buch ein. Sie hatte die geflüsterte Unterredung zwischen dem Richter und Mildred beobachtet und gesehen, daß Mildred danach etwas gelöscht hatte.

Nachdem die Geschworenen und die Zuschauer hinausgegangen waren, sprach sie Mildred unter der Tür an.

»Sie hätten das nicht tun sollen«, sagte sie.

{30}Mildred riß die Augen auf in dem Versuch, überrascht auszusehen. »Was tun?«

»Streichen.«

»Ich habe lediglich einen Fehler korrigiert.«

»Ach Unsinn«, sagte Eva. »Die Art und Weise, wie Sie vor diesem Mann katzbuckeln, widert mich an.«

»Sie sind viel zu schnell angewidert, meine Liebe. Das bekommt Ihren Arterien gar nicht.«

»Meinen Arterien?«

»Ekel zieht die Arterien zusammen, und das führt zu einer Bindegewebsentzündung im Kleinhirn und zu weiteren Komplikationen, die mir im Moment nicht gegenwärtig sind.«

»Das können sie auch nicht sein, weil es sie nämlich gar nicht gibt. Sie wollen mich nur auf den Arm nehmen.«

»Das muß ich«, sagte Mildred fröhlich. »Ich war es leid, darauf zu warten, daß Sie das selber tun.«

Eva schritt davon, weniger verärgert als enttäuscht darüber, daß Mildred darauf beharrte, ihre Rolle als Frau zu gering einzuschätzen und damit die Bedeutung der Frau in der modernen Gesellschaft überhaupt abzuwerten.

Eva Foster hatte zwei runde, vollendet geformte und herausfordernd ungefesselte Brüste. Alles andere an ihr war lang und dünn und gerade – ihr Haar, ihre Beine, ihr Hals, ihre Nase, ihr Mund und selbst ihre Denkprozesse. Dieses Denken konnte ohne das geringste Zögern oder die Andeutung eines Eingeständnisses, daß da noch etwas dazwischenlag, von A nach Z gelangen.

Niemand hätte auch nur ahnen können, was für ein bewegtes Leben sie in ihrer Phantasie lebte und was für höchst {31}unterschiedliche Gestalten darin in Erscheinung traten. Es gab jedoch Hinweise darauf – ein bestimmter Gesichtsausdruck in unbeobachteten Augenblicken; ein gelegentliches verträumtes Lächeln; eine Garderobe, die den Großteil ihres Gehalts verschlang.

Auf halbem Wege zur Registratur begegnete sie im Flur Donnelly. Er sagte nichts, als sie aneinander vorbeigingen, und in seinen Augen war nicht das geringste Anzeichen dafür zu entdecken, daß er sie überhaupt wahrgenommen hatte. Sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie ihm von dem Traum erzählte, den sie in der vergangenen Nacht gehabt hatte: Sie befanden sich auf einem Bahnhof, und Donnelly saß in einem sich gerade in Bewegung setzenden Zug. Sie rannte neben dem Zug her, und da beugte er sich herab, hob sie auf, riß sie in seine Arme und entführte sie.

Sie war glücklich aufgewacht, was sie noch mehr geärgert hatte als der Traum. Man konnte sie weder einfach aufheben noch entführen, und Donnelly lebte sowieso auf einem anderen Stern und war mit einem wohlhabenden Mädchen aus den Reihen der oberen Zehntausend verheiratet (wiewohl unglücklich, versteht sich – den Gerüchten am Gericht zufolge waren alle verheirateten Männer stets unglücklich und auf dem Sprunge, ihre Frauen um der Liebe einer Sekretärin oder Registratorin willen im Stich zu lassen).

»Kotzbrocken«, sagte Eva leise vor sich hin. »Du widerlicher kalter Fisch, bleib bloß weg von meinem Bahnhof.«

Der Richter zog sich in sein Amtszimmer zurück und legte sich, dem Rat seines Arztes folgend, auf die braune {32}Ledercouch. Sie waren zusammen alt geworden, die Couch und der Mann. An beiden zeigten sich die Wunden der Zeit, merkwürdige Säcke und Wülste. Eines der Kissen auf der Couch war voller Kratzer, die von den Pfoten des kleinen Dackels stammten, den er nach dem Tod seiner Frau täglich ins Büro mitgebracht hatte.

Als die Dackelhündin nicht mehr selbst auf die Couch hatte springen können, hatte der Richter sie hinaufgehoben, und dann hatte sie dort den ganzen Tag gelegen, nur mit Unterbrechung der Mittagspause – es war ihr egal gewesen, wo sie lag, solange sie mit ihm zusammen war.

Eines Morgens war eine Verhandlung ganz plötzlich und ohne Angabe von Gründen vertagt worden. Niemand hatte gewußt, was los war, bis Mildred den Richter dabei beobachtet hatte, wie er den toten kleinen Hund, in seinen Pullover eingewickelt, hinaus zum Parkplatz getragen hatte.

Weder seine Frau noch der Dackel waren jemals ersetzt worden.

Der Hausarzt des Richters hatte ihn streng ermahnt und ihm sehr klare Anweisungen gegeben. In jeder Verhandlungspause und auch in der Mittagspause sollte er sich hinlegen und an gar nichts denken. Er sollte sich eine Wandtafel, auf der mit Kreide Wörter aufgeschrieben waren, und einen Schwamm vorstellen, der sich vor und zurück, auf und ab bewegte, bis alle Wörter weg waren. Aber der Richter hatte entdeckt, daß die Wörter, sobald sie verschwunden waren, durch Bilder ersetzt wurden.

An diesem Morgen war es das Bild einer jungen Frau, die ihre beiden Kinder von der Brücke geworfen hatte und die erfolgreich von einem Anwalt, den ihr das Gericht {33}beigegeben hatte, verteidigt worden war. Etwa ein Jahr nach dem Prozeß brachte sie erneut ein ungewolltes Kind zur Welt, das sie die Toilette hinunterzuspülen versuchte. Die dabei entstandene Überschwemmung führte schnell zu ihrer Festnahme. Es überraschte niemanden, daß sie schuldig gesprochen und nach Corona geschickt wurde, wo es, wie der Richter inständig hoffte, zu den Rehabilitationsmaßnahmen gehören würde, sie über Methoden der Empfängnisverhütung zu informieren.

Der Schwamm bewegte sich auf der Tafel hin und her, das Bild der jungen Frau verschwand, und der Richter schlief ein.

Die Verhandlungspause dehnte sich von fünfzehn auf vierundzwanzig Minuten aus. Chronische Unpünktlichkeit seitens eines Richters mit einem ohnehin schon überfüllten Terminkalender war nach Eva Fosters Meinung unverzeihlich und würde nicht mehr vorkommen, wenn erst eine Frau auf dem Richterstuhl säße.

Nachdem der Gerichtsdiener enteilt war, um den Richter zu holen, und nun alle auf sein Wiedererscheinen warteten, blieb Eva bei der Stenographiermaschine stehen, um mit Mildred Noon zu reden.

»Sie und ich sollten hier das Sagen haben«, meinte sie. »Und warum haben wir’s nicht?«

»Aus einem einfachen Grund – wir sind keine Juristen.«

»Das könnten wir aber sein. Wir könnten hier in dieser Stadt entsprechende Abendkurse besuchen.«

»Nicht ich. Das ist die einzige Zeit des Tages, die ich mit meinem Mann zusammen sein kann.«

»Aber möchten Sie nicht etwas aus sich machen?«

{34}»Ich dachte, ich wäre schon etwas.«

»Ich meine ein richtiges Etwas.«

»Ich fürchte, ich werde mich mit einem ganz gewöhnlichen Etwas begnügen müssen.«

»Sind Sie denn damit einverstanden, daß die Männer die Welt beherrschen?«

»Nun, ich habe dazu jedenfalls gar keine Zeit«, sagte Mildred vergnügt. »Jetzt vergessen Sie mal diese Idee und gehen Sie lieber an Ihren Platz. Die Tür des Richters geht auf.«

»Der König erscheint. Wir werden beim Mittagessen noch mal darüber reden.«

Den Teufel werden wir, dachte Mildred. Gelassen vor ihrer Maschine sitzend, sah sie zufrieden und entspannt aus. Es hatte jahrelanger Übung bedurft, um nicht mehr nervös zu werden, insbesondere nicht zu Beginn eines Mordprozesses. Sie hatte es gelernt, sich innerlich dadurch vorzubereiten, daß sie die Namen der Zeugen durchging und sich mit medizinischen Begriffen vertraut machte, die aller Wahrscheinlichkeit nach von den Psychiatern und Pathologen gebraucht werden würden.

Die Protokollführer arbeiteten immer paarweise zusammen. Seit sechs Jahren war Mildreds Partner ein kleiner, stiller Mann namens Ortig.

Ortig hätte jedes Alter zwischen dreißig und fünfzig haben können. Er gab niemals Informationen über sein Alter oder zu seiner Person. Da Mildred sehr leicht zu einem Gespräch zu bewegen war, war es für sie ganz vorteilhaft, einen Partner zu haben, der niemals Fragen stellte oder beantwortete. Sie und Ortig lösten sich alle zehn oder {35}fünfzehn Minuten ab, denn ihr Job erforderte hohe Konzentration und schnelle Reaktion.

Wenn Ortig hereinkam, um zu übernehmen, setzte er sich an die Maschine neben ihr und gab mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken zu verstehen, daß er bereit sei, beim nächsten Satz weiterzumachen. Sie waren wie zwei Jongleure im Zirkus, die die hochgeworfenen Holzkeulen im Fluge voneinander übernehmen.

 

Der Richter kam herein, schlug mit seinen abgewetzten schwarzen Flügeln und ließ sich auf dem Rand seines Stuhles nieder. Er war erzürnt – über sich selbst, weil er verschlafen hatte, über die Angestellten des Gerichts, weil sie nicht genug Verstand gehabt hatten, ihn rechtzeitig zu wecken, und vor allem über den Doktor, der ihm den Rat gegeben hatte, sich in den Pausen hinzulegen. Was er brauchte, war keine Ruhe, sondern Aktivität. Er sollte sich zu Musik bewegen wie die Aerobictänzer, die er im Fernsehen sah. Die Geschworene Nr. 12 unterrichtete Aerobic, die Künste der Selbstverteidigung sowie Wasserballett und sah sehr fit aus. Er hatte allerdings noch niemals Männer in seinem Alter solche Dinge tun sehen.

»Meine Damen und Herren«, sagte er, »Sie haben die Eröffnungserklärung des Staatsanwaltes Mr. Owen gehört. Wir kommen jetzt zur Eröffnungserklärung des Verteidigers Mr. Donnelly. Sind Sie bereit, Mr. Donnelly?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Und warum nicht?«

»Angesichts dessen, was zur Gültigkeit dieser Erklärungen gesagt worden ist, möchte ich auf die mir jetzt {36}eingeräumte Möglichkeit verzichten und keine Erklärung abgeben.«

»Sie wollen wirklich keine eröffnende Erklärung abgeben?«

»Nein, Euer Ehren.«

»Das ist ziemlich ungewöhnlich, Mr. Donnelly. Haben Sie das mit Ihrem Mandanten besprochen?«

»Mein Mandant vertraut meinen Fähigkeiten.«

Der Angeklagte, der zunächst so überrascht ausgesehen hatte wie all die anderen Leute im Gerichtssaal auch, lächelte nun alle an, zuerst Donnelly, dann die Geschworenen, dann den Richter. Es war ein warmes, vertrauensvolles Lächeln, das einige der Anwesenden rührte, andere ärgerte.

Donnelly bemerkte es nicht einmal. »Mein Mandant sitzt hier und ist genötigt, sich allerlei gegen ihn erhobene Anschuldigungen anzuhören, von denen die meisten in den dunklen Winkeln im Kopfe des Herrn Staatsanwaltes ausgebrütet worden sind. Mir erscheint es schlichtweg sinnlos, mich zu erheben und dem allem zu widersprechen. Ich möchte lieber warten, bis ich die Unschuld meines Mandanten beweisen kann, beweisen anhand der Aussagen von vereidigten Zeugen, die ins Kreuzverhör genommen werden.«

»Mich brauchen Sie nicht weiter zu überzeugen«, sagte der Richter. »Es sei Ihnen gestattet, auf die eröffnende Erklärung zu verzichten. So wollen wir denn ohne weitere Umschweife mit der Vernehmung der Zeugen beginnen. Mr. Owen, steht Ihr erster Zeuge zur Verfügung?«

»Nein, Euer Ehren. Dem Zeugen wurde zu verstehen {37}gegeben, daß er nicht vor heute nachmittag aufgerufen werden würde.«

»Sind überhaupt schon Zeugen von Ihnen da?«

»Augenblicklich nicht. Der Vormittag sollte den Eröffnungserklärungen vorbehalten sein.« Er starrte kalt und vorwurfsvoll über die ganze Länge des Tisches zu Donnelly hinüber. »Mich hat der Herr Verteidiger nicht auf seine neue Masche vorbereitet.«

»Das Verfahren wäre also zum Stillstand gekommen.«

»Es scheint so, Euer Ehren.«

»Nun gut, dann vertagen wir uns also bis heute um ein Uhr dreißig. Die Zuschauer bleiben bitte auf ihren Plätzen, bis die Geschworenen den Saal verlassen haben. Die Geschworenen lassen bitte ihre Notizbücher auf ihren jeweiligen Sitzen liegen, sie werden dann vom Justizwachtmeister eingesammelt. Ich möchte Sie alle wiederum daran erinnern, daß Sie den Fall mit niemandem und auch nicht untereinander erörtern dürfen.«

Die Geschworenen verließen ordentlich und nacheinander den Saal, wobei sie befangen dreinblickten und sorgsam den Blicken der Zuschauer und des Angeklagten auswichen.

Donnelly verfügte über eine Personalakte jedes einzelnen Geschworenen, die ihm sein Mitarbeiter Bill Gunther sowie zwei Assistenten zusammengestellt hatten und die die verschiedensten Angaben von der Sozialversicherungsnummer bis zu Lieblingsgerichten, Zeitschriftenabonnements, Autos, Mitgliedschaft in Kirchen, falls gegeben, Familienstand und Zahl der Kinder enthielten. Besaß er oder sie eine Benutzerkarte der Öffentlichen Bücherei? Einen {38}Hund oder eine Katze? Vielleicht würde nichts von alledem Einfluß auf das Ergebnis haben, aber Donnelly wußte ebenso gut wie der Richter, daß sich eine dieser scheinbar so irrelevanten und trivialen Gegebenheiten unmittelbar auf das Urteil auswirken konnte. Eine Stimme, eine einzige Stimme konnte eine Einigung der Geschworenen verhindern – und das war es, was er anstrebte.

Die Stimme, die eine solche Einigung verhindern könnte, wäre möglicherweise die von Miss Lisa Roy, die in einer Modeboutique beschäftigt war und als Hobby Burmesen züchtete. Sie mochte weniger geneigt sein, gegen Cully zu stimmen, weil der auf die 4000-Meilen-Reise der Bewitched eine Katze mitgenommen hatte. Oder es könnte die Stimme von Mr. Hudson sein, dessen schwarzer Schwager in Chicago ein Grund für ihn wäre, dem Staatsanwalt seine Vorurteile Schwarzen gegenüber zu verübeln.

Auch wenn sich der Staatsanwalt nur auf Indizien stützen konnte, war er doch in einer starken Position – im wesentlichen deshalb, weil es an weiteren Verdächtigen und Motiven fehlte. Das Beste, was sich Donnelly zu diesem Zeitpunkt erhoffen konnte, war Uneinigkeit unter den Geschworenen.

Eine Stimme reichte dazu aus, und um die ging es Donnelly.

 

In seinem Amtszimmer entledigte sich der Richter seiner Robe und zog eine Tweedjacke an. Er fühlte sich plötzlich müde, als sei er nicht in seiner Phantasie, sondern in Wirklichkeit zu den Klängen von Musik herumgesprungen. Sein Herz schlug schnell, und als er in den Spiegel schaute, um {39}sich die Haare zu kämmen, bemerkte er, daß sein Gesicht gerötet und schweißnaß war.

Normalerweise setzte er sich in der Mittagspause in seinen Wagen und fuhr zu einem Fischrestaurant an der Uferpromenade. Dort entspannte er sich dann bei einer Flasche Bier der Brauerei Molson und einer Garnelenplatte oder frisch gefangenem Hummer. Aber heute war es noch zu früh fürs Mittagessen, und er wußte zudem, daß es ihm nicht gelingen würde, sich zu entspannen, da ihn die Aussicht, die Geräusche und der Geruch ständig an den verhandelten Fall erinnern würden. Selbst die Bewitched wäre am äußersten Ende des Jachthafens zu sehen, denn sie war zu groß für die inneren Liegeplätze.

Statt also hinaus zu seinem Auto zu gehen, legte er sich wieder auf die braune Ledercouch. Er wußte wohl, daß das schlechte Zeichen waren – der beschleunigte Puls und das gerötete Gesicht, das Gefühl der Schwäche und das Schwitzen, das auf keine körperliche Anstrengung zurückzuführen war. Er fürchtete den Tod nicht, aber es wäre schon verdammt ärgerlich, wenn er sich aus diesem Fall verabschieden müßte, bevor er ihn zu einem Ende gebracht hätte.

Alles schien klar genug zu sein: ein Mann, eine Frau, Lust und Zorn und Habgier. Er hatte bei Dutzenden solcher Prozesse den Vorsitz gehabt – Messerstechereien in elenden kleinen Bars, Schießereien mit Pistolen und Revolvern, Schläge mit der Faust, dem Hammer, dem Baseballschläger. Dieser Fall aber paßte nicht zu dem vertrauten Muster. Der Schauplatz stimmte nicht – eine weithin bekannte Rennjacht; die Frau paßte nicht – verheiratet, anständig, ergeben. Natürlich ließen sich diese Dinge {40}miteinander in Einklang bringen – auch auf Rennjachten passierten Geschichten, und auch honorige Frauen hatten manchmal Pech. Aber das dritte Element, der Angeklagte nämlich, schien nirgends hinzupassen. Er war ein unwahrscheinlicher Skipper für eine berühmte Jacht, ein Schwarzer von sechs- oder siebenunddreißig Jahren, der weitaus jünger aussah und agierte. Vielleicht war er, wenn er am Ruder stand, älter als seine Jahre, aber im Gerichtssaal wirkte er fast kindlich, folgte den Vorgängen mit wachem Interesse, lächelte bei der kleinsten Herausforderung und war sich anscheinend über die Situation, in der er sich befand, nicht im klaren oder zumindest nicht darüber beunruhigt. Der Richter hatte einen Zeitungsartikel gelesen, der den Eigner des Bootes, Mr. Belasco, mit den Worten zitierte: »Cully King ist der beste Skipper, den man für Geld bekommen kann. Er ist sachlich, selbstsicher und fürchtet sich vor nichts.«

Er erschien immer noch furchtlos, obwohl er doch wußte, daß im Fall eines Schuldspruchs die gleichen Geschworenen die Strafe festsetzen und über sein Schicksal entscheiden würden, nämlich Tod in der Gaskammer oder ein Leben im Gefängnis ohne Aussicht auf Strafaussetzung.

Irgendwo tief in seinem Inneren muß er Angst haben, dachte der Richter, so wie wahrscheinlich auch ich irgendwo in mir drinnen Angst habe, und ich bin dreißig Jahre älter und habe nur sehr wenig zu verlieren und niemanden, der betrauert, daß ich’s verliere.

Schweiß strömte dem Richter über das Gesicht. Er zog ein Taschentuch hervor, um ihn abzuwischen, und eine Knoblauchkapsel fiel herab und kullerte über den Boden. {41}Er hob sie auf, steckte sie in den Mund und begann zu kauen. »Knoblauch«, so hatte ihn der Leiter des Reformhauses belehrt, »regeneriert die Gallengänge, das Blut, die Därme.« Der Richter war sich wohl bewußt, daß das auch von einem Dutzend anderer Produkte in den Regalen behauptet wurde, aber es würde schwierig werden, einen Betrug nachzuweisen, war es doch einfach unmöglich festzustellen, ob sich die Gallengänge regenerierten oder degenerierten. Aber das war letztlich auch egal. Der Knoblauch erfüllte schließlich seinen wahren Zweck und verhalf ihm zu ungestörter Ruhe.

Er schloß die Augen und stellte sich wieder die Wandtafel vor und den Schwamm, der die Wörter wegwischte, bis ein Bild erschien. Das Bild war diesmal das Cully Kings, der ihn anlächelte, freundlich, fast gütig, als ob er niemandem die Schuld an seiner Lage zuschriebe und hoffte, niemand würde sie ihm geben.

Woher kam die Zuversicht dieses Mannes? Er verdankte sie sicherlich nicht seiner Herkunft, die ihn eigentlich nur Wachsamkeit und Mißtrauen gelehrt haben konnte. Auf St. John geboren, war er mit zwölf von Zuhause durchgebrannt und zur See gegangen, um seine Jünglingsjahre zwischen den Hafenkneipen und Rumbuden der Karibik zu verbringen und zwischendurch so gut wie jeden Job auf so gut wie jedem Schiff zu übernehmen. Die Haut eines Weißen würde, wäre sie so viele Jahre lang der Sonne und dem Wind ausgesetzt gewesen, die Narben alter Geschwüre aufweisen und verhornte Stellen, die die Entstehung neuer anzeigten. Cully Kings Gesicht aber war ruhig und glatt wie die Oberfläche eines Weihers. Da gab es keine von den {42}Stürmen auf hoher See verursachten Sorgenfalten, keine Erinnerungsmale von Raufereien in Bordellen oder von Auseinandersetzungen, die mit Messern oder Polizeipistolen entschieden worden waren. Er hatte ungezeichnet überlebt, gerade so, als habe er alle schlimmen Erfahrungen weggewischt wie der Schwamm die Wörter auf der Tafel des Richters weggewischt hatte.

Der Richter kaute die Kapsel zuende, und der Knoblauchduft zog unter der Tür hindurch in das Büro seiner Sekretärin, wo er mit dem Duft von Estée Lauders »Youth Dew« wetteiferte.

Aber eigentlich war es kein echter Wettkampf. Estée wurde stets um eine Nasenlänge geschlagen.

Um ein Uhr vierzig wurde die Verhandlung fortgesetzt. Eva Foster notierte die Zeit ordnungsgemäß in ihrem Buch; dann durchmaß sie den Raum zwischen der Richterbank und dem Tisch der Anwälte, eine Bibel in der Hand.

»Bitte geben Sie Ihren vollen Namen zu Protokoll und buchstabieren Sie den letzten.«

»Peter Gray Belasco. B-E-L-A-S-C-O.«

»Heben Sie Ihre rechte Hand. Schwören Sie feierlich, daß Sie in der vor diesem Gericht verhandelten Sache die Wahrheit sagen werden, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«

»Ja, ich schwöre es.«

»Bitte setzen Sie sich.«

Belasco setzte sich im Zeugenstand nieder – ein großer, drahtiger Mann in seinen späten Fünfzigern, der gewohnheitsmäßig die Augen zusammenkniff.

Belascos Vollbart weitete sich an den Seiten zu einem {43}kurzen, freundlichen Lächeln, das Cully zugedacht war. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Staatsanwalt zu.

»Wo haben Sie Ihren Wohnsitz, Mr. Belasco?«

»Santa Felicia, achtundsechzig Rosalita Lane.«

»Und welchen Beruf üben Sie aus?«

»Bergbauingenieur, pensioniert. Genauer: halbpensioniert.«

»Wie lange sind Sie schon pensioniert oder halbpensioniert?«

»Seit vierzehn Jahren.«

»Haben Sie sich ein spezielles Hobby zugelegt, das Sie beschäftigt hält?«

»Ich nehme mit meiner Jacht Bewitched an Rennen teil.«

»Seien Sie bitte so gut und beschreiben Sie den Geschworenen die Jacht.«

»Es handelt sich um eine Aluminiumketsch von sechsundzwanzig Metern Länge.«

»Wo nehmen Sie mit Ihrer Jacht an Rennen teil?«

»Wo immer ein Rennen stattfindet, das ich erreichen kann. Überall auf der Welt, genau betrachtet.«

»Zum Beispiel?«

»Von New York zu den Bermudas. Von Sydney nach Hobart. Fastnet an der Südwestküste Englands. Das Transpac von hier nach Honolulu. Das ist das Rennen, an dem ich gerade teilnehmen wollte, als es zu diesem Unglück kam.«

»Haben Sie jemals eines dieser Rennen gewonnen?«

»Nein, nicht einmal annähernd. Aber ich hab’ mein Boot zumindest niemals versenkt. Vor ein paar Jahren sind wir mal beim Transpac als erste ins Ziel gekommen, mußten uns {44}aber auf Grund unseres Handikaps mit dem vierten Platz begnügen.«

»Wie wird so ein Handikap bei einem Rennen berechnet?«

»Es ist ein zeitliches Handikap, das sich nach der Größe des Schiffes und seiner Segelfläche richtet. Ein kleineres Boot kann einen ganzen Tag später ins Ziel kommen als die Bewitched und trotzdem zum Sieger erklärt werden.«

»Diese Jacht, die Bewitched, wie würden Sie die beschreiben?«

»Wie schon gesagt, es ist eine Aluminiumketsch, die von Bug bis Heck sechsundzwanzig Meter mißt.«

»Haben Sie im letzten Frühjahr an einem Rennen teilgenommen, das von Nassau nach St. Thomas auf den Jungferninseln führte?«

»Ja.«

»Und was haben Sie nach dem Rennen gemacht?«

»Meine Crew bedauert – wir waren letzte – und dann bin ich nach Hause, nach Kalifornien geflogen. Ich habe hier zu viele dringliche Geschäftsinteressen und kann nicht meine gesamte Zeit mit Segeln verbringen.«

»Welche Vorkehrungen trafen Sie bezüglich des Bootes?«

»Cully King ist mein Skipper, und ich wies ihn an, das Boot durch den Panamakanal hierher zurückzubringen.«

»Hält sich Mr. King zum gegenwärtigen Zeitpunkt hier im Gerichtssaal auf?«

»Ja, Sir. Er sitzt dort drüben. Erstklassiger Kapitän, kennt das Boot gut und ist sehr kompetent.«

»Wir brauchen nicht darauf einzugehen, wie befähigt {45}Mr. King zu seinem Job ist.« Der Staatsanwalt warf Belasco einen kalten, säuerlichen Blick zu, um ihn daran zu erinnern, daß er hier Zeuge der Anklage war und nicht Pressesprecher der Verteidigung. »Sie einigten sich also vertraglich, daß Mr. King das Boot hierher zurückbringen sollte?«

»Ja.«

»Und wie sahen die finanziellen Regelungen dieser Abmachung aus?«

»Es ist üblich, den Skipper nach Meilen zu bezahlen, ein Dollar, ein Dollar fünfzig, zwei Dollar. Ich bot Cully den Spitzenpreis von zwei Dollar fünfzig, weil ich sehr viel Geld in die Bewitched investiert habe.«

»Wie weit ist es schätzungsweise auf dem Seeweg von St. Thomas nach Santa Felicia?«

»Das hängt von den Wetterbedingungen ab. Aber 4000 Meilen kommen der Sache sehr nahe.«

»Also verdiente Mr. King ungefähr 12000 Dollar.«

»Ja, aber davon muß er seine Mannschaft bezahlen. Wenn nur drei Mann an Bord der Bewitched sind, dann ist das sehr knapp, und sie müssen hart und lange arbeiten, will sagen auch entsprechend bezahlt werden. Es ist eine nicht ganz ungefährliche und auch schwere Arbeit. Entlang der Westküste Mittelamerikas werden auf Grund der politischen Unruhen vorbeifahrende Boote gelegentlich verfolgt, in irgendeinen Hafen geschleppt und dort festgehalten. Angesichts all dieser Umstände nehme ich an, daß Harry Arnold und sein Sohn einen beträchtlichen Teil dieser 12000 Dollar bekommen. Bislang ist das allerdings alles reine Theorie, denn ich habe noch gar keine Gelegenheit gefunden, irgend jemandem irgend etwas zu bezahlen.«

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