Getrieben - Charlie Donlea - E-Book

Getrieben E-Book

Charlie Donlea

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Beschreibung

Zwei Frauen, getrennt durch 40 Jahre – ein Serienkiller, der beide verbindet: »Getrieben« ist ein rasanter, raffiniert geplotteter Psychothriller aus den USA. Chicago 1979: Ein Serienkiller verschleppt und tötet fünf Frauen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Die Stadt ist in Aufruhr, die Polizei tappt im Dunklen – bis Angela Mitchell sich bei den Cops meldet, die den Fall akribisch aus Zeitungsberichten rekonstruiert hat und den entscheidenden Hinweis liefert. Kurz darauf ist Angela spurlos verschwunden. 40 Jahre später stößt Rory Moore, Forensikerin für Cold Cases bei der Polizei von Chicago, mehr oder weniger zufällig auf die alte Geschichte: Ihr verstorbener Vater hat den Serienkiller als Anwalt vertreten – und offenbar alles daran gesetzt, dass sein Klient inhaftiert bleibt. Doch nun wird der Mann auf Bewährung entlassen. Rory kann nicht anders, als sich in den Fall zu verbeißen: Weshalb hat ihr Vater gegen seinen Eid als Anwalt verstoßen? Und was hat es mit dem spurlosen Verschwinden von Angela Mitchell auf sich? Die Forensikerin ahnt nicht, dass ihr dieser Fall weitaus mehr abverlangen wird als ihren unbestechlichen Blick für die Wahrheit … Geschickt verknüpft der amerikanische Bestseller-Autor Charlie Donlea die Handlungsstränge von zwei Zeitebenen zu einem atemlosen Psychothriller, der am Ende mit mehr als einer schockierenden Wahrheit aufwartet.

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Seitenzahl: 346

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Charlie Donlea

Getrieben

Psychothriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Sonja Rebernik-Heidegger

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Chicago 1979: Ein Serienkiller verschleppt und tötet fünf Frauen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Die Stadt ist in Aufruhr, die Polizei tappt im Dunklen – bis Angela Mitchell sich bei den Cops meldet, die den Fall akribisch aus Zeitungsberichten rekonstruiert hat und den entscheidenden Hinweis liefert. Kurz darauf ist Angela spurlos verschwunden.

40 Jahre später stößt Rory Moore, Forensikerin für Cold Cases bei der Polizei von Chicago, mehr oder weniger zufällig auf die alte Geschichte: Ihr verstorbener Vater hat den Serienkiller als Anwalt vertreten – und offenbar alles daran gesetzt, dass sein Klient inhaftiert bleibt. Doch nun wird der Mann auf Bewährung entlassen. Rory kann nicht anders, als sich in den Fall zu verbeißen: Weshalb hat ihr Vater gegen seinen Eid als Anwalt verstoßen? Und was hat es mit dem spurlosen Verschwinden von Angela Mitchell auf sich?

Die Forensikerin ahnt nicht, dass ihr dieser Fall weitaus mehr abverlangen wird als ihren unbestechlichen Blick für die Wahrheit …

 

»Donleas filmischer Stil lässt den Leser hautnah mitzittern.« New York Journal of Books

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

DER RAUSCH

DANACH

DER SÜSSE DUFT DER ROSEN

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

CHICAGO

CHICAGO

CHICAGO

CHICAGO

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

CHICAGO

CHICAGO

Kapitel 10

CHICAGO

Kapitel 11

Kapitel 12

CHICAGO

Kapitel 13

CHICAGO

CHICAGO

Kapitel 14

CHICAGO

Kapitel 15

CHICAGO

Kapitel 16

CHICAGO

Kapitel 17

CHICAGO

Kapitel 18

CHICAGO

CHICAGO

CHICAGO

Kapitel 19

CHICAGO

CHICAGO

CHICAGO

Kapitel 20

TEIL II

CHICAGO

Kapitel 21

CHICAGO

Kapitel 22

CHICAGO

Kapitel 23

CHICAGO

Kapitel 24

CHICAGO

Kapitel 25

CHICAGO

TEIL III

CHICAGO

Kapitel 26

CHICAGO

Kapitel 27

CHICAGO

Kapitel 28

CHICAGO

Kapitel 29

CHICAGO

TEIL IV

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Danksagung

Für Cecilia A. Donat

Großtante, alte Lady, Freundin

Ich glaube, ich schreibe ein Requiem für mich selbst.

Mozart

DER RAUSCH

Chicago, 9. August 1979

Die Schlinge um seinen Hals zog sich immer mehr zu, und in seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Der Sauerstoffmangel führte zu einer herrlichen Mischung aus Euphorie und Panik. Er ließ sich vorsichtig vom Stuhl gleiten, bis die Nylonschlinge sein gesamtes Körpergewicht trug. Menschen, die »den Rausch« nicht verstanden, hätten sein Flaschenzugsystem wohl als barbarisch bezeichnet, doch er wusste um die unendliche Macht, die es über ihn hatte. Der Rausch war wirksamer als jede Droge. Es gab kein vergleichbares Gefühl. Kurz gesagt, er lebte dafür.

Das Seil, an dem die Nylonschlinge befestigt war, glitt ächzend über die Rolle, während er sich langsam dem Boden näherte. Es verlief nach unten zu einer zweiten Rolle und anschließend wieder nach oben über eine dritte und letzte Rolle, sodass es ein M bildete.

Am anderen Ende des Seils war ebenfalls eine Schlinge aus weichem Nylon befestigt, die um den Hals seines Opfers lag. Jedes Mal, wenn er den sicheren Stuhl verließ und sich die Schlinge um seinen Hals zuzog, schwebte die Frau wie von Zauberhand nach oben und baumelte zwei Meter vor ihm über dem Boden.

Ihre Panik hatte endlich nachgelassen. Sie strampelte nicht mehr. Wenn sie jetzt vom Boden abhob, geschah es wie im Traum. Der Rausch breitete sich wie ein warmer Mantel über seine Seele, und der Anblick ihres in der Luft schwebenden Körpers versetzte ihn in Verzückung. Er hielt ihr Gewicht so lange wie möglich, bis er an der Schwelle der Bewusstlosigkeit angelangt war und die Ekstase eintrat. Einen Moment lang schloss er die Augen. Es war verlockend, noch einen Schritt weiterzugehen, aber er wusste, wie gefährlich das war. Wenn er es zu lange hinauszögerte, gab es kein Zurück. Trotzdem konnte er nicht widerstehen.

Er öffnete die Augen einen Spaltbreit und betrachtete sein Opfer. Die Schlinge zog sich noch enger zusammen und drückte immer stärker auf seine Halsschlagader, bis er Sterne sah. Er ließ einen Moment lang los, schloss die Augen und versank in der Dunkelheit. Nur ganz kurz. Nur eine Sekunde lang.

DANACH

Chicago, 9. August 1979

Als er wieder zu sich kam, schnappte er gierig nach Luft, doch da war nichts. Panisch tastete er mit dem Fuß nach der Stuhlkante, bis er die glatte Holzoberfläche spürte. Er setzte die Füße darauf ab, löste die Schlinge um seinen Hals und atmete einige Male tief ein, während sein Opfer nach unten sank. Ihre Beine gaben nach, und sie sackte auf dem Betonboden in sich zusammen. Ihr Körpergewicht zog das Seil auf ihre Seite, bis der dicke Sicherheitsknoten auf seiner Seite in der Rolle stecken blieb, sodass die Schlinge um seinen Hals nicht wieder enger wurde.

Er zog sich das Nylon über den Kopf und wartete darauf, dass die Rötung der Haut abklang. Heute Nacht war er zu weit gegangen, das war ihm durchaus klar. Obwohl er zum Schutz einen Schaumstoffkragen unter der Schlinge trug, würde er sich dieses Mal etwas einfallen lassen müssen, um die dunkelvioletten Druckstellen zu verstecken. Er musste jetzt vorsichtiger sein als je zuvor. Die Öffentlichkeit interessierte sich bereits für den Fall, die Journalisten schrieben einen Artikel nach dem anderen. Die Polizei hatte eine Warnung ausgegeben, und die Angst stieg. Er ging bei der Auswahl seiner Opfer noch überlegter vor, plante genauer und verwischte seine Spuren sorgfältiger. Für die Leichen hatte er das perfekte Versteck gefunden, aber der Rausch ließ sich nicht so leicht verbergen, und er hatte Angst, dass sein geheimes Doppelleben ans Licht kommen könnte, weil er es nicht schaffte, das Hochgefühl zu kaschieren, das ihn noch Tage nach den Sitzungen begleitete. Es wäre klug gewesen, eine Pause einzulegen. Sich bedeckt zu halten, bis die Panik nachgelassen hatte. Doch der Rausch war zu stark, als dass er ihn hätte ignorieren können. Er war sein Lebensmittelpunkt.

Er setzte sich auf den Stuhl und drehte seinem Opfer den Rücken zu. Er brauchte einen Moment, um seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Als er so weit war, ging er zu der Leiche, machte sie sauber und bereitete sie für den Transport am nächsten Tag vor. Danach verließ er den Raum, verschloss die Tür und stieg in seinen Wagen. Die Fahrt nach Hause reichte nicht, um die Nachwirkungen des Rausches einzudämmen. Als er am Straßenrand hielt, sah er, dass das Haus im Dunkeln lag, und das war auch gut so. Er zitterte noch immer, und ein normales Gespräch wäre unmöglich gewesen. Er trat ein, warf seine Klamotten in die Waschmaschine, duschte eilig und legte sich ins Bett.

Sie rührte sich, als er zu ihr unter die Decke schlüpfte.

»Wie spät ist es?«, fragte sie mit geschlossenen Augen, und ohne den Kopf vom Kissen zu heben.

»Spät.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Schlaf weiter.«

Sie legte ein Bein über seinen Oberschenkel und einen Arm über seine Brust. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Normalerweise dauerte es mehrere Stunden, bis er sich beruhigt hatte. Er schloss die Augen und versuchte, das Adrenalin unter Kontrolle zu bekommen, das durch seine Adern schoss. Er dachte an die letzten Stunden zurück. Es gelang ihm nie, sich an alles zu erinnern – nicht genau jedenfalls und nicht so kurz danach. In den kommenden Wochen würden sich die Einzelheiten wieder einstellen, aber heute blitzten hinter seinen geschlossenen Lidern nur kurze Bilder des vergangenen Abends auf. Das Gesicht des Opfers. Die Angst in ihren Augen. Die Nylonschlinge um ihren Hals.

Die Bilder und Geräusche wirbelten durch seine Gedanken, und er gab sich ihnen hin, als sie sich erneut rührte. Sie schmiegte sich enger an ihn. Und während der Rausch ihn gefangen hielt und das mit Endorphinen gesättigte Blut ihm in den Ohren rauschte, erlaubte er ihr, seinen Hals und schließlich seine Schulter zu küssen. Er erlaubte, dass ihre Hand in seine Boxershorts glitt.

Im nächsten Moment übernahm der Rausch, und er rollte sich auf sie. Er hielt die Augen geschlossen, während sie leise unter ihm stöhnte, was er erfolgreich ausblendete.

Er dachte an seinen Arbeitsraum. An die Dunkelheit. An die Tatsache, dass er dort er selbst sein konnte. Er verfiel in einen sanften Rhythmus und konzentrierte sich auf die Frau, die er heute Abend dorthin gebracht hatte. Die Frau, die wie ein Geist vor ihm in der Luft geschwebt hatte.

DER SÜSSE DUFT DER ROSEN

Die Frau streckte die Hand aus, setzte die Schere an und schnitt die Rose vom Strauch. Das wiederholte sie, bis sie sechs langstielige Rosen in der Hand hielt. Dann stieg sie die Stufen zu der Veranda hinter ihrem Haus hinauf, legte die Rosen auf den Tisch und setzte sich in den Schaukelstuhl. Sie starrte aufs Feld hinaus und sah zu, wie das Mädchen auf das Haus zukam, die Treppe hochging und vor ihr stehen blieb.

Ihre Stimme klang hoch und unschuldig, wie die Stimme eines Kindes sein sollte.

»Warum holst du jeden Tag Rosen aus dem Garten?«, fragte das Mädchen.

»Weil sie so schön sind. Wenn ich die Blüten am Strauch lasse, verblühen sie und verdorren. Aber wenn ich sie abschneide, hat ihre Existenz einen Sinn.«

»Soll ich sie binden?«, fragte das Mädchen.

Sie war zehn Jahre alt und das süßeste Ding, das jemals in ihr Leben getreten war. Die Frau holte einen Bindedraht aus der Schürze, gab ihn dem Mädchen und sah zu, wie sie vorsichtig nach den Rosen griff. Sie achtete sorgfältig darauf, sich nicht an den Dornen zu stechen, und band die Blumen zu einem festen Strauß.

»Was machst du damit?«, fragte das Mädchen.

Die Frau nahm die Blumen an sich. »Geh hinein und deck den Tisch fürs Abendessen.«

»Ich sehe jeden Tag, wie du sie schneidest, und ich binde sie, aber danach sehe ich die Blumen nie wieder.«

Die Frau lächelte. »Wir haben nach dem Abendessen noch einiges zu tun. Du darfst heute Abend lackieren, wenn du glaubst, dass deine Hand ruhig genug ist.«

Die Frau hoffte, dass der Köder verlockend genug war, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Das Mädchen lächelte. »Ganz allein?«

»Ja, es wird Zeit, dass du es lernst.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen, versprochen«, sagte das Mädchen, bevor sie ins Haus lief.

Die Frau wartete, bis ihr das Klappern der Teller verriet, dass das Mädchen sich an die Arbeit gemacht hatte. Dann erhob sie sich aus dem Schaukelstuhl, nahm die Rosen und ging damit die Treppe hinunter und durch den Garten hinter dem Haus. Die Sonne ging bereits unter, und die Schatten der Birken fielen auf das Gras.

Sie hob die Blumen an die Nase und atmete den süßen Duft der Rosen tief ein.

TEIL I

DER DIEB

Kapitel 1

Chicago, 30. September 2019

Die Schmerzen in der Brust hatten vor einem Jahr begonnen, und es stand außer Frage, was sie auslöste. Sie waren stressbedingt, aber die Ärzte hatten ihm versichert, dass sie ihn nicht umbringen würden. Heute Nacht war es allerdings besonders schlimm, und er wachte schweißgebadet auf. Er versuchte, tief Luft zu holen, aber es war, als würde er durch einen Strohhalm atmen. Je mehr er sich bemühte, Luft in die Lunge zu befördern, desto panischer wurde er. Er setzte sich auf und kämpfte gegen das Gefühl an, gleich zu ersticken. Die Vergangenheit hatte ihn gelehrt, dass dieser Zustand vorüberging. Er griff nach der Aspirin-Packung in der Nachttischschublade und legte eine Tablette zusammen mit einer Nitroglycerin-Tablette unter die Zunge. Zehn Minuten später entspannten sich seine Brustmuskeln, und die Lunge konnte sich wieder ausdehnen.

Es war klar, dass sein jüngster Angina-pectoris-Anfall mit dem Brief des Bewährungsausschusses zusammenhing, der auf dem Nachttisch lag. Er hatte den Brief wieder und wieder gelesen, bevor er eingeschlafen war. In der Anlage lud ihn der Richter zu einem Treffen ein. Er griff nach dem Umschlag und stieg aus dem Bett. Das schweißnasse T-Shirt klebte ihm auf der Haut, als er nach unten in sein Büro ging. Er drehte das Zahlenschloss am Safe unter dem Schreibtisch und öffnete ihn. Im Inneren befand sich ein ganzer Stapel Briefe von derselben Adresse, und er legte den neuesten obendrauf.

Der erste Brief war nach der ersten Anhörung vor zehn Jahren gekommen. Danach hatte sich der Ausschuss zweimal im Jahr mit seinem Mandanten getroffen, ihm die Freiheit verweigert und die Gründe dafür in einem sorgfältig formulierten Bericht dargelegt, der jeglichen Einsprüchen und Berufungen standgehalten hatte. Doch letztes Jahr war plötzlich alles ganz anders gewesen. Der Bericht stammte dieses Mal von dem Vorsitzenden des Ausschusses, der äußerst ausführlich beschrieb, wie beeindruckt die Mitglieder von den Fortschritten seines Mandanten in den letzten Jahren seien und dass dieser der Inbegriff einer erfolgreichen »Rehabilitierung« sei. Nach dem letzten Satz – der erklärte, wie enthusiastisch der Ausschuss dem nächsten Treffen entgegensehe und welche wunderbaren Chancen sein Mandant in naher Zukunft haben werde – hatten die Schmerzen in der Brust begonnen.

Dieser jüngste Brief war wie ein Güterzug voller Schmerz, Kummer, Geheimnisse und Lügen, der immer nur als winziger Punkt am Horizont erkennbar gewesen war, letzten Endes aber doch in den Bahnhof einfahren würde. Mittlerweile wurde er jeden Tag größer, und er konnte ihn unmöglich aufhalten, obwohl er es bei Gott versucht hatte.

Sein Blick ruhte auf dem mittleren Safefach. Darin lag ein dicker Aktenordner mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen. Nachforschungen, die er vor allem in Zeiten der Angst und des Leids, wie er sie heute Nacht erlebte, zutiefst bereute. Die Auswirkungen dessen, was er herausgefunden hatte, waren jedoch so tiefgreifend und lebensverändernd gewesen, dass er sich ohne sie leer gefühlt hätte. Trotzdem verursachte ihm der Gedanke, dass seine eigenen Lügen und Betrügereien nach Jahren aus dem Schatten gezerrt werden würden, buchstäblich körperliche Schmerzen.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und bemühte sich, Sauerstoff in die Lunge zu bekommen. Seine größte Angst war, dass sein Mandant bald freikommen und seine Suche fortsetzen würde. Die Nachforschungen waren vor langer Zeit als erfolglos eingestellt worden, doch sobald der Mann aus dem Gefängnis trat, würde er sie wieder aufnehmen. Und das durfte nicht passieren. Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um das zu verhindern.

Erneut erfasste ein Schauder seinen Körper, gefolgt von einem neuerlichen Schweißausbruch. Er schloss den Safe und drehte das Rad. In diesem Moment kam der Schmerz zurück, und seine Lunge zog sich zusammen. Er lehnte sich in dem Stuhl zurück und kämpfte gegen die Panik an, die der Sauerstoffmangel auslöste. Das Gefühl würde vorübergehen. Das tat es immer.

Kapitel 2

Chicago, 1. Oktober 2019

Rory Moore setzte sich die Kontaktlinsen ein, verdrehte die Augen und blinzelte einige Male, um wieder klar zu sehen. Sie hasste die dicken Brillengläser, die im Gegensatz zu den Kontaktlinsen alles irgendwie verzerrten, aber sie liebte den Schutz, den ihr die breite Brillenfassung bot. Also hatte sie sich für einen Kompromiss entschieden. Nachdem sich die Augen an die Kontaktlinsen gewöhnt hatten, setzte sie die Brille aus dem Supermarkt auf und versteckte sich dahinter wie ein Krieger hinter seinem Schild. Für Rory war jeder Tag ein Kampf.

Sie hatten ein Treffen im Harold Washington Library Center vereinbart, und dreißig Minuten nachdem Rory ihre Rüstung angelegt hatte – die Brille, eine tief in die Stirn gezogene Beanie und einen bis unters Kinn zugeknöpften Mantel mit hochgeschlagenem Kragen –, stieg sie aus dem Auto und betrat die Bibliothek. Das erste Treffen mit einem Klienten fand immer an einem öffentlichen Ort statt. Natürlich hatten die meisten Sammler Probleme damit, weil sie ihre wertvollen Trophäen außer Hauses bringen mussten, aber wenn sie Rory Moore und ihre Fähigkeiten als Restauratorin wollten, dann mussten sie sich an ihre Vorgaben halten.

Das heutige Treffen erforderte größere Aufmerksamkeit als gewöhnlich, denn es handelte sich um einen Gefallen für Detective Ron Davidson, der nicht nur ein guter Freund, sondern auch ihr Vorgesetzter war. Da es sich bei den Restaurierungen bloß um ihren Nebenjob handelte – oder um ein »Hobby«, wie es manche Leute ärgerlicherweise nannten –, fühlte sich etwas in ihr geehrt, dass Davidson sich an sie gewandt hatte. Nicht jeder verstand Rory Moores komplizierte Persönlichkeit, aber im Laufe der Jahre hatte Ron Davidson die Mauern durchbrochen und sich ihre Bewunderung verdient. Wenn er sie um einen Gefallen bat, musste Rory nicht lange überlegen.

Rory trat durch die Tür in die Bibliothek und entdeckte die Kestner-Puppe sofort. Sie befand sich in einer langen, schmalen Schachtel und lag in den Armen eines in der Eingangshalle wartenden Mannes. Ein einziger Wimpernschlag und ein schneller Blick reichten, und Rory hatte die Beurteilung des Mannes abgeschlossen. Die Gedanken zuckten wie Blitze durch ihren Kopf. Mitte fünfzig, wohlhabend, ein Fachmann auf seinem Gebiet – Wirtschaft, Medizin oder Recht –, glatt rasiert, glänzende Schuhe, Sakko, keine Krawatte. Im nächsten Augenblick revidierte sie ihre erste Einschätzung. Er war kein Arzt oder Anwalt. Eher der Besitzer eines Kleinunternehmens. Versicherungen oder so.

Sie atmete tief ein, rückte die Brille zurecht und ging auf ihn zu.

»Mr Byrd?«

»Ja«, erwiderte der Mann. »Rory?«

Der Mann war sicher dreißig Zentimeter größer als Rory, die nur einen Meter sechzig maß, und sah erwartungsvoll auf sein schmächtiges Gegenüber hinunter. Rory ließ seine Frage unbeantwortet.

»Mal sehen, was Sie da haben.« Sie deutete auf die Porzellanpuppe, die sorgfältig in der Schachtel verstaut war, und betrat den Hauptbereich der Bibliothek.

Mr Byrd folgte ihr zu einem Tisch in der Ecke. Die Bibliothek war am Nachmittag nur spärlich besucht. Rory klopfte auf den Tisch, und Mr Byrd legte die Schachtel ab.

»Worum geht es?«, fragte Rory.

»Die Puppe gehört meiner Tochter. Sie hat sie zu ihrem fünften Geburtstag bekommen, und bis vor Kurzem hatte sie keinen einzigen Kratzer.«

Rory beugte sich ein wenig hinüber und betrachtete die Puppe durch das Plastikfenster in der Schachtel. Ein tiefer Riss verlief mitten durch das Porzellangesicht. Er begann irgendwo hinter dem Haaransatz und zog sich über die linke Augenhöhle und die linke Wange. »Ich habe sie fallen lassen«, gestand Mr Byrd. »Ich bin vollkommen fertig, weil ich so unvorsichtig war.«

Rory nickte. »Darf ich mal sehen?«

Er schob die Schachtel in ihre Richtung, und Rory öffnete sie vorsichtig. Sie untersuchte die Puppe wie ein Chirurg einen bereits narkotisierten Patienten auf dem OP-Tisch.

»Hat sie nur diesen Sprung, oder ist Porzellan abgesplittert?«, fragte sie.

Mr Byrd griff in seine Tasche und zog eine Plastiktüte heraus, in der sich mehrere kleine Porzellanteile befanden. Rory sah, wie sein Adamsapfel auf und ab hüpfte, als er schluckte. Er hatte seine Gefühle kaum im Griff.

»Mehr habe ich nicht gefunden. Aber es war ein Holzboden, deswegen glaube ich, dass ich keins übersehen habe.«

Rory nahm die Tüte und betrachtete die Splitter. Dann strich sie mit dem Finger vorsichtig über das gesprungene Porzellan. Der Riss war sauber und sollte sich tadellos reparieren lassen. Die Wange und die Stirn würden danach wie neu aussehen, aber die Augenhöhle war eine andere Sache. Sie würde ihr ganzes Geschick erfordern, und möglicherweise würde Rory auch die eine Person um Hilfe bitten müssen, die noch besser Puppen restaurieren konnte als sie. Sie war sich sicher, dass die Splitter vom Hinterkopf stammten. Auch hier würde die Reparatur aufgrund der Haare und der kleinen Teile in der Plastiktüte eine Herausforderung werden. Sie wollte die Puppe allerdings erst in ihrer Werkstatt aus der Schachtel heben, damit nicht noch mehr Porzellan herausbrach.

Sie nickte bedächtig, den Blick aber auf die Puppe gerichtet.

»Das lässt sich reparieren.«

»Gott sei Dank«, erwiderte Mr Byrd.

»Zwei Wochen. Einen Monat vielleicht.«

»Nehmen Sie sich so lange Zeit wie nötig.«

»Einen Preis kann ich Ihnen erst nennen, nachdem ich angefangen habe.«

»Es ist mir egal, wie viel es kostet – solange Sie es reparieren können.«

Rory nickte erneut. Sie legte die Tüte mit den Splittern in die Schachtel und verschloss sie.

»Ich brauche eine Telefonnummer, unter der ich Sie erreichen kann«, erklärte sie.

Mr Byrd holte eine Visitenkarte aus seiner Geldbörse. Rory warf einen Blick darauf, bevor sie sie einsteckte. BYRD VERSICHERUNGEN – Walter Byrd, Inhaber.

Rory wollte die Schachtel gerade hochheben, als Mr Byrd eine Hand auf ihre legte. Sie konnte es nicht ausstehen, wenn ein Fremder sie berührte, und wollte gerade zurückweichen, als er zu reden begann.

»Die Puppe gehörte meiner Tochter«, sagte er leise.

Die Vergangenheitsform machte sie stutzig. Und das war auch so beabsichtigt gewesen. Rory warf einen Blick auf die Hand des Mannes und sah ihm anschließend in die Augen.

»Sie ist letztes Jahr gestorben«, erklärte er.

Rory ließ sich langsam auf den Stuhl sinken. Ein normaler Mensch hätte wohl mit einer Standardphrase geantwortet wie etwa: Das tut mir leid, oder: Ich verstehe, warum Ihnen die Puppe so viel bedeutet. Aber Rory Moore war alles andere als normal.

»Was ist passiert?«, fragte sie.

»Sie wurde ermordet«, antwortete Mr Byrd, nahm die Hand weg und ließ sich ihr gegenüber nieder. »Die Polizei glaubt, dass sie erdrosselt wurde. Ihre Leiche wurde letztes Jahr im Januar im Grant Park gefunden. Sie war beinahe steif gefroren.«

Rory betrachtete erneut die Kestner-Puppe in der Schachtel. Das rechte Auge war friedlich geschlossen, das linke geöffnet. Sie wusste genau, was hier los war und warum Detective Davidson auf diesem Treffen bestanden hatte. Es war ein klassischer Lockvogeltrick, und Davidson wusste, dass Rory ihm nicht widerstehen konnte.

»Der Mörder wurde also nicht gefasst?«, fragte Rory.

Mr Byrd schüttelte den Kopf und starrte auf die Puppe seiner toten Tochter hinunter. »Es gab nicht die geringste Spur. Mittlerweile rufen die Detectives nicht einmal mehr zurück. Es sieht aus, als hätten sie den Fall einfach zu den Akten gelegt.«

Rorys Anwesenheit in der Bibliothek bewies, dass Mr Byrd falschlag, denn immerhin hatte Ron Davidson sie davon überzeugt, hierherzukommen.

Mr Byrd blickte wieder zu ihr auf.

»Hören Sie, das hier ist kein abgekartetes Spiel. Ich habe Camilles Puppe vor ein paar Tagen aus dem Regal geholt, weil ich meine Tochter schrecklich vermisste und etwas brauchte, das mich an sie erinnerte. Dabei habe ich das verdammte Ding fallen lassen. Ich schaffe es nicht, meiner Frau davon zu erzählen, weil ich ein so schlechtes Gewissen habe und weil ich weiß, dass sie wieder in die Depression abrutschen wird. Meine Tochter hat diese Puppe als Kind vergöttert. Bitte glauben Sie mir, dass ich tatsächlich will, dass Sie sie reparieren. Aber Detective Davidson hat mir gesagt, dass Ihre Arbeit auf dem Gebiet der forensischen Rekonstruktion in ganz Chicago und darüber hinaus sehr geschätzt wird. Ich bin bereit, Ihnen jeden Preis zu zahlen, wenn Sie es schaffen, das Verbrechen zu rekonstruieren und den Mann zu finden, der meiner Tochter die Hände um den Hals gelegt und das Leben aus ihr herausgequetscht hat.«

Mr Byrds Blick wurde Rory mit einem Mal zu viel, denn er schien sogar den Schutzschild ihrer Brille zu durchbrechen. Sie stand auf, nahm die Schachtel mit der Puppe und klemmte sie sich unter den Arm.

»Die Reparatur wird etwa einen Monat dauern, die Sache mit Ihrer Tochter wesentlich länger. Ich mache einige Anrufe und melde mich dann wieder.«

Rory trat aus der Bibliothek in den Herbstmorgen. Sie hatte es schon gespürt, kaum dass Camille Byrds Vater die Vergangenheitsform verwendet hatte, dieses zarte Kribbeln, und hatte das kaum hörbare Flüstern gehört. Ihr Vorgesetzter wusste verdammt gut, dass sie es nicht ignorieren konnte.

»Du bist ein verdammter Mistkerl, Ron«, murmelte Rory. Sie hatte sich eine Auszeit von ihrem Job in der forensischen Rekonstruktion genommen. Eine absichtliche Pause, zu der sie sich immer wieder zwang, um nicht in einen Burn-out oder eine Depression zu verfallen. Doch dieses Mal hatte sie sich länger Zeit genommen als sonst, und langsam wurde ihr Vorgesetzter nervös.

Als Rory mit Camille Byrds ramponierter Puppe unter dem Arm zum Auto ging, war ihr klar, dass ihre Auszeit vorüber war.

Kapitel 3

Chicago, 2. Oktober 2019

Ihr Handy vibrierte bereits zum fünften Mal an diesem Morgen, und sie ignorierte es erneut. Rory hielt den Blick auf ihr Spiegelbild gerichtet, während sie sich die dunkelbraunen Haare zurückband. Sie war kein Morgenmensch und ging aus Prinzip nicht vor dem Mittagessen ans Telefon. Da ihr Vorgesetzter das wusste, hatte sie kein schlechtes Gewissen, dass sie nicht dranging.

»Wer ruft denn da ständig an?«, fragte eine Stimme aus dem Schlafzimmer.

»Ich treffe mich mit Davidson.«

»Ich wusste gar nicht, dass du wieder arbeiten willst«, sagte der Mann.

Rory kam aus dem Badezimmer und legte ihre Armbanduhr an. »Sehen wir uns heute Abend?«, fragte sie.

»Okay, dann reden wir eben nicht darüber.«

Rory trat zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Lane Phillips war ihr … ja, was eigentlich? Rory war nicht traditionell genug, um ihn als »Freund« zu bezeichnen, außerdem war sie bereits über dreißig und fand dieses Wort zu kindisch. Sie hatte nie darüber nachgedacht, ihn zu heiraten, obwohl sie seit fast zehn Jahren miteinander schliefen. Trotzdem war er mehr als ein Liebhaber. Abgesehen von ihrem Vater war er der einzige Mann auf diesem Planeten, der sie verstand. Lane … er gehörte zu ihr, und das war alles, worauf Rory sich einlassen konnte und womit sie beide einverstanden waren.

»Ich erzähle dir davon, wenn es etwas zu erzählen gibt. Im Moment weiß ich selbst nicht, was das wird.«

»Na gut.« Lane richtete sich auf. »Ich wurde gebeten, als Sachverständiger in einem Mordprozess auszusagen. Es geht in ein paar Wochen los, darum treffe ich mich heute mit dem Staatsanwalt. Danach unterrichte ich bis neun.«

Als Rory einen Schritt zurücktreten wollte, packte er sie an den Hüften.

»Bist du dir sicher, dass du mir nicht verraten willst, wie Davidson es geschafft hat, dich wieder an Bord zu holen?«

»Komm heute nach dem Unterricht vorbei, dann erzähle ich dir alles.«

Rory küsste ihn noch einmal, schob seine fordernden Hände beiseite und verließ das Schlafzimmer. Eine Minute später öffnete und schloss sich die Eingangstür.

 

Ihr Handy klingelte noch zweimal, während sie auf dem Kennedy Expressway im morgendlichen Verkehr steckte. Sie nahm die Abfahrt an der Ohio Street und kurvte durch die schachbrettartig angelegten Straßen von Chicago, bis sie am Grant Park angelangt war. Dort fuhr sie fünfzehn Minuten lang im Kreis, bis sie eine Parklücke fand, die aber eigentlich sogar für ihren winzigen Honda zu klein war.

Sie nahm den Fußgängertunnel unter dem Lake Shore Drive und ging einen malerischen Pfad entlang bis zum höchsten Punkt des Parks. Der Grant Park war ein herrliches Stück Grün zwischen den Wolkenkratzern im Stadtbezirk The Loop und dem Seeufer und sehr beliebt bei Touristen, was auch an diesem Morgen nicht zu übersehen war. Rory schob sich zwischen ihnen hindurch, bis sie Ron Davidson auf einer Bank in der Nähe der Buckingham Fountain sitzen sah.

Es war ein milder Oktobertag, und die anderen Parkbesucher trugen kurze Hosen und Sweatshirts und genossen den Sonnenschein und den Wind, der vom Lake Michigan herüberwehte. Rory hingegen war für einen bitterkalten Herbsttag gerüstet: grauer Mantel, graue Jeans und die Madden-Girl-Schnürstiefel, die sie selbst an den heißesten Sommertagen trug. Als Rory sich dem Detective näherte, zog sie sich ihre lappige Fleecemütze so tief in die Stirn, dass sie den oberen Rand der Brillenfassung berührte. So fühlte sie sich sicher.

Grußlos setzte sie sich neben ihn.

»Gelobt sei Jesus Christus, die Dame in Grau ist wieder unter uns«, empfing Davidson sie.

Die beiden hatten oft genug zusammengearbeitet, und Davidson kannte Rorys Eigenheiten. Sie schüttelte niemals jemandem die Hand – das hatte Davidson gelernt, nachdem er es einige Male vergeblich versucht und mit ausgestreckter Hand vor ihr gestanden hatte, während Rory jeglichen Blickkontakt vermied. Abgesehen von Ron traf sie sich ungern mit Kollegen, und sie hatte so gut wie nichts für bürokratische Notwendigkeiten übrig. Sie akzeptierte keine Deadlines und arbeitete ausschließlich allein. Sie rief zurück, wenn es ihr passte, und manchmal auch gar nicht. Sie hasste Politik, und wenn jemand – egal ob ein Stadtrat oder der Bürgermeister – sie ins Rampenlicht zerren wollte, verschwand sie oft wochenlang von der Bildfläche. Kurz gesagt, sie verursachte Ron Davidson jede Menge Kopfschmerzen.

»Du warst lange untergetaucht, Gray.«

Rorys Mundwinkel wanderten kaum merklich nach oben, während sie die Buckingham Fountain betrachtete. Niemand außer Davidson nannte sie Gray, und im Laufe der Jahre hatte sie sich mit dem Spitznamen angefreundet, den sie ihrer Kleidung, aber auch ihrer nach außen hin gleichgültigen Art verdankte.

»Ich war beschäftigt.«

»Wie geht es Lane?«

»Gut.«

»Ist er ein besserer Vorgesetzter als ich?«

»Er ist nicht mein Vorgesetzter.«

»Aber du arbeitest doch die ganze Zeit für ihn.«

»Ich arbeite mit ihm.«

Ron Davidson hielt einen Moment lang inne. »Du hast sechs Monate lang auf keinen einzigen Anruf reagiert.«

»Ich sagte doch, dass ich mir eine Auszeit nehmen möchte.«

»Es gab ein paar Fälle, bei denen ich deine Hilfe gebraucht hätte.«

»Ich war ausgebrannt. Ich brauchte eine Pause. Was ist deiner Meinung nach der Grund dafür, dass die meisten deiner Detectives einen Dreck wert sind?«

»Mann, ich habe deine Offenheit vermisst, Gray.«

Sie saßen einige Minuten zufrieden schweigend nebeneinander und beobachteten die Touristen, die durch den Park schlenderten.

»Hilfst du mir?«, fragte Davidson schließlich.

»Es war echt fies, mich so zu ködern«, erwiderte Rory.

»Du hast dich ein halbes Jahr ausgeklinkt. Du warst zu beschäftigt mit Lane Phillips und seinem Serienmörder-Projekt. Also bin ich kreativ geworden. Ich dachte, das würde dir gefallen.«

Schweigen.

»Also?«, fragte Davidson erneut, nachdem genügend Zeit vergangen war.

»Ich bin hier, oder?« Rory ließ den Springbrunnen nicht aus den Augen. »Erzähl mir von ihr.«

»Camille Byrd, zweiundzwanzig, erdrosselt. Die Leiche wurde hier im Park entsorgt.«

»Wann?«

»Letzten Januar, also vor einundzwanzig Monaten«, antwortete Davidson.

»Und ihr habt gar nichts?«

»Ich habe Druck gemacht und gedroht, aber meine Jungs sind bei diesem Fall mit ihrer Weisheit am Ende, Rory.«

»Ich brauche die Akte.« Rory fixierte immer noch den Springbrunnen, aber sie merkte, wie der Leiter der Mordkommission kaum merklich den Kopf hob und erleichtert ausatmete.

»Danke«, sagte er.

»Wer ist Walter Byrd?«

»Ein wohlhabender Geschäftsmann und guter Freund des Bürgermeisters, deshalb ist es besonders wichtig, dass wir die Sache abschließen.«

»Weil er reich ist und gute Beziehungen hat?«, fragte Rory. »Es sollte doch wohl dasselbe für alle Eltern gelten, deren Kind ermordet wurde. Wo wurde die Leiche gefunden?«

Davidson deutete in die entsprechende Richtung. »Weiter östlich. Ich zeige es dir.«

Sie durchquerten den Park, bis sie zu einer grasigen Anhöhe kamen, die an beiden Seiten von einer Reihe Birken flankiert wurde. Rory überlegte bereits, wie jemand eine Leiche hierhergebracht haben könnte.

Davidson trat auf das Gras. »Hier wurde sie gefunden.«

»Erdrosselt?«

Davidson nickte.

»Vergewaltigt?«

»Nein.«

Rory ging zu dem Fundort und drehte sich langsam im Kreis. Ihr Blick wanderte über den Lake Michigan, die Boote auf dem Wasser und die Skyline von Chicago. Am blauen Himmel hingen vereinzelte weiße Wolken. Sie stellte sich vor, wie die Leiche der jungen Frau mitten im Winter ausgesehen haben mochte. Aufgedunsen, leblos und steif gefroren. Sie sah sogar die kahlen Bäume vor sich.

»Warum hat er sie hier abgelegt?«, überlegte sie laut. »Es ist doch unnötig riskant, und die Bäume geben absolut keine Deckung. Wer auch immer es war, er wollte, dass sie gefunden wird.«

»Es sei denn, er hätte sie hier ermordet. Irgendetwas gerät außer Kontrolle. Es kommt zum Streit. Er bringt sie um und flüchtet.«

»Eine Beziehungstat«, erwiderte Rory. »Aber ich gehe mal davon aus, dass ihr diesen Ansatz bereits abgearbeitet habt, oder? Ihr habt doch sicher mit sämtlichen vergangenen und aktuellen Liebschaften, Arbeitskollegen und Verflossenen gesprochen.«

Davidson nickte. »Ja, sie sind alle sauber.«

»Dann war es niemand, den sie kannte. Sie wurde irgendwo anders getötet und dann hierhergebracht. Aber warum?«

»Meine Jungs haben keine Ahnung.«

»Ich brauche alles, Ron. Sämtliche Infos, Obduktionsberichte, Befragungen. Alles.«

Rory verfiel erneut in Schweigen. Tausend Dinge schwirrten ihr im Kopf herum, und sie kannte sich gut genug, um gar nicht erst zu versuchen, den Zustrom an Informationen einzudämmen. Sie nahm nicht alles bewusst wahr, sie wusste nur, dass sie alles aufnehmen musste, und ihr Gehirn würde in den nächsten Tagen und Wochen das Gesehene verarbeiten.

Rory würde die Informationen sortieren, die Akte studieren und Camille Byrd kennenlernen. Sie würde dieser armen jungen Frau, die hier erdrosselt aufgefunden worden war, eine Geschichte geben. Sie würde Dinge sehen, die den Detectives entgangen waren. Ihr unglaublicher Verstand würde das Puzzle zusammensetzen, das allen anderen zu schwer gewesen war, und am Ende würde sie das Verbrechen in seiner Gesamtheit erfassen.

Das Klingeln des Telefons riss Rory aus ihren Gedanken. Es war ihr Vater. Sie überlegte, ob sie ihn ebenfalls ignorieren sollte, entschied sich dann aber dagegen.

»Dad, ich bin gerade beschäftigt. Kann ich dich zurückrufen?«

»Rory?«

Sie kannte die Stimme der Frau am anderen Ende der Leitung nicht, aber es war deutlich zu hören, dass sie sehr besorgt war.

»Ja?« Sie machte ein paar Schritte von Davidson fort.

»Rory, hier ist Celia Banner. Die Sekretärin Ihres Vaters.«

»Was ist los? Ich hatte Dads Nummer auf dem Display.«

»Ich rufe aus seinem Haus an. Er hatte einen Herzinfarkt, Rory.«

»Wie bitte?«

»Wir wollten uns zum Frühstück treffen, aber er ist nicht aufgetaucht. Es ist schrecklich, Rory.«

»Was heißt das?«

Das Schweigen glich einem Vakuum. »Celia! Was heißt das?«

»Er ist tot, Rory.«

Kapitel 4

Chicago, 14. Oktober 2019

Nach der Beerdigung ihres Vaters dauerte es noch eine ganze Woche, bis Rory die Zeit – und den Mut – aufbrachte, sein Büro zu betreten. Im Grunde genommen war es auch ihr Büro, aber da sie seit ihrem Studienabschluss vor mehr als einem Jahrzehnt keinen einzigen Gerichtsfall übernommen hatte, war Rorys Einsatz für The Moore Law Group, wie die Kanzlei ihres Vaters hieß, nicht gleich ersichtlich. Ihr Name stand auf dem Briefkopf, und sie zahlte Steuern für die Einkünfte aus der Arbeit, die sie für ihren Vater erledigte – zum Großteil Rechercheaufträge und Verhandlungsvorbereitungen –, doch im Laufe der Jahre hatte ihr Engagement beim Chicago Police Department und bei Lanes Projekt einfach zu viel Zeit in Anspruch genommen.

Abgesehen von ihrer Mitarbeit war The Moore Law Group ein Einzelunternehmen mit zwei Angestellten – einem Anwaltsgehilfen und einer Sekretärin –, und auch die Liste der Mandanten war überschaubar, weshalb Rory annahm, dass die Auflösung der Kanzlei zwar etwas Zeit und Fachwissen in Anspruch nehmen würde, aber trotzdem in ein paar Wochen zu bewältigen sein sollte. Rorys juristischer Abschluss machte sie zur perfekten und einzigen Kandidatin, die geschäftlichen Angelegenheiten ihres Vaters zu klären. Ihre Mutter war vor Jahren gestorben, und sie hatte keine Geschwister.

Rory betrat das Gebäude in der North Clark Street und fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Der Empfangsbereich bestand aus einem Tisch und mehreren braunen Aktenschränken aus den Siebzigern.

Sie legte die Post der letzten Woche auf den Empfangstisch und machte sich auf den Weg ins Büro ihres Vaters. Ihre erste Aufgabe würde sein, die laufenden Fälle an andere Kanzleien zu vermitteln, danach mussten ausstehende Rechnungen beglichen und die Angestellten aus den vorhandenen Geldmitteln bezahlt werden. Wenn das erledigt war, konnte Rory den Mietvertrag für die Räumlichkeiten kündigen und das Büro schließen.

Celia, die Sekretärin, wollte mittags vorbeikommen, um die Akten durchzusehen und bei der Neuvergabe der Fälle zu helfen. Rory stellte ihre Tasche ab, öffnete eine Dose Diät-Cola und machte sich an die Arbeit. Bald schon war sie von Aktenbergen umgeben, die sie auf dem Schreibtisch ihres Vaters gestapelt hatte. Sie hatte die Aktenschränke im Empfangsbereich geleert und den Inhalt in drei Kategorien unterteilt.

Anhängig. In Bearbeitung. Abgeschlossen.

Sie hörte, wie die Eingangstür geöffnet wurde, und kurz darauf erschien Celia. Rory hatte die Frau in all den Jahren nur einige wenige Male gesehen. Sie erhob sich.

»Oh, Rory«, seufzte Celia, lief an den Aktenstapeln vorbei und schloss sie in die Arme.

Rorys Arme hingen steif herab, und sie blinzelte mehrere Male hinter den Brillengläsern, während die fremde Frau ihre persönliche Distanzzone auf eine Weise missachtete, wie es die meisten ihrer Bekannten niemals gewagt hätten.

»Es tut mir so leid«, hauchte Celia ihr ins Ohr.

Genau das hatte sie bereits bei der Beerdigung gesagt, als Rory stoisch in der spärlich beleuchteten Aufbahrungshalle neben dem Sarg mit dem wächsernen Leichnam ihres Vaters gestanden hatte. Als sie nun Celias warmen Atem im Ohr spürte und ihre Tränen am Hals, erwachte Rory aus ihrer Starre, legte die Hände auf Celias Schultern und befreite sich. Sie holte tief Luft und atmete die Angst aus, die langsam in ihr hochstieg.

»Ich habe die Aktenschränke schon mal durchgesehen«, sagte sie schließlich.

Ein verwirrter Ausdruck machte sich auf Celias Gesicht breit, als sie sich umsah und erkannte, wie viel Rory bereits geschafft hatte. Sie zog ihren Mantel zurecht, um sich zu sammeln, und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Ich dachte … Sind Sie schon die ganze Woche hier?«

»Nein, erst seit heute Morgen. Ich bin vor ein paar Stunden gekommen.«

Rory hatte vor langer Zeit aufgegeben, jemandem zu erklären, warum sie solche Aufgaben sehr viel schneller erledigen konnte als alle anderen. Das war ein weiterer Grund, warum sie nie als Anwältin gearbeitet hatte. Es langweilte sie zu Tode. Sie erinnerte sich an Studienkollegen, die stundenlang über Büchern gehockt hatten, deren Inhalt Rory bereits nach dem ersten Durchblättern auswendig konnte. Andere besuchten monatelang Vorbereitungskurse für die Anwaltsprüfung, während Rory sie auf Anhieb bestanden hatte, ohne auch nur ein Buch dafür aufzuschlagen.

Ein weiterer Grund, warum sie schließlich einen anderen Weg eingeschlagen hatte, war ihre starke Abneigung gegenüber Menschen allgemein. Bei der Vorstellung, mit dem gegnerischen Anwalt über die Gefängnisstrafe eines unbedeutenden Kleinkriminellen zu streiten, begann ihre Haut zu kribbeln, und der Gedanke, vor den Richter zu treten, um ein Plädoyer zu halten, versetzte sie derart in Panik, dass sie keine Luft mehr bekam. Sie war entschieden besser dafür geeignet, allein zu arbeiten, Tatorte zu rekonstruieren und ihre Ergebnisse am Ende in einem schriftlichen Bericht für den leitenden Detective zusammenzufassen.

Rory Moores Welt war eine von hohen Mauern umgebene Schutzzone, die nur wenige betreten durften, und die Anzahl derjenigen, die sie verstanden, war sogar noch kleiner.

Deshalb waren die Entdeckungen, die sie im Laufe des Vormittags gemacht hatte, auch besonders verstörend. Ihr Vater hatte mehrere aktive Fälle, die in den kommenden Monaten vor Gericht kommen sollten und um die sie sich sofort kümmern musste. Rory hatte bereits überlegt, wie wahrscheinlich es war, dass sie ihr Diplom doch noch entstauben und die bittere Pille schlucken musste. Vielleicht blieb ihr am Ende tatsächlich nichts anderes übrig, als vor Gericht eine Erklärung abzugeben, dass der ursprünglich vorgesehene Anwalt verstorben war und der Prozess im besten Fall vertagt und im schlimmsten Fall für nichtig erklärt werden musste. Sie würde den Richter bitten müssen, ihr zu sagen, was sie verdammt noch mal jetzt tun sollte.

»Vor ein paar Stunden?«, fragte Celia und riss Rory aus ihren Gedanken. »Wie kann das sein? Es sieht aus, als hätten Sie sämtliche Fälle durchgesehen, die wir jemals bearbeitet haben.«

»Ist auch so. Alle Akten, die ich in den Schränken finden konnte. Ich hatte allerdings keinen Zugang zu den Computern.«

Das war gelogen. Für Rory war es kein Problem gewesen, sich in den Computer ihres Vaters einzuloggen. Das Passwort war nicht sonderlich kompliziert, und Rory hatte die Sicherheitsvorkehrungen nach wenigen Minuten außer Kraft gesetzt. Obwohl sie jedes Recht dazu hatte, war sie in letzter Zeit so selten hier gewesen, dass es ihr vorkam wie ein Regelverstoß.

»Im Computer ist dasselbe wie im Aktenschrank«, erklärte Celia.

»Gut, dann ist das hier alles.« Rory deutete auf den ersten Stapel. »Das sind die anhängigen Fälle. Es sollte nicht allzu aufwendig sein, die Mandanten anzurufen und ihnen die Lage zu erklären. Die Kanzlei kann sie nicht mehr vertreten, und sie müssen sich anderswo umsehen. Ich glaube, es wäre gut, eine Liste mit Kanzleien zusammenzustellen, die sich mit ähnlichen Fällen beschäftigen, damit die Mandanten einen Anhaltspunkt haben.«

»Natürlich«, stimmte Celia ihr zu. »Das hätte Ihr Vater sicher auch so gewollt.«

»Der zweite Stapel sind die abgeschlossenen Fälle. Ein einfacher Brief, dass Frank Moore verstorben ist, sollte genügen. Kann ich Ihnen diese beiden Stapel übergeben?«

»Selbstverständlich«, antwortete Celia. »Ich kümmere mich darum. Was ist mit diesen Akten hier?«

Rory warf einen Blick auf die letzten drei Stapel und begann beinahe zu hyperventilieren. Die Mauern, die sie um ihre Existenz gebaut hatte, fingen an zu schwanken, und immer mehr unerlaubte Besucher stürmten darauf ein.

»Das sind Dads aktive Fälle. Ich habe sie in drei Kategorien unterteilt.« Rory legte die Hand auf den ersten Stapel. »Derzeit laufende Verhandlungen zum Strafmaß bei Strafverfahren mit Schuldeingeständnis – zwölf.« Sie begann zu schwitzen, während sie den zweiten Stapel berührte. »Bevorstehende Gerichtstermine – sechzehn.« Ein Schweißtropfen kullerte ihre Wirbelsäule hinunter. »Und schließlich …«, sie legte die Hand auf den letzten Stapel, »in Vorbereitung auf ein Gerichtsverfahren – drei.« Das letzte Wort blieb ihr beinahe im Hals stecken, und sie hustete, um ihre Angst nicht zu zeigen. Drei Fälle, um die sie sich sofort kümmern musste.

Celia musterte sie besorgt, als sie sah, wie ihr sämtliches Blut aus den Wangen wich, als würde sie bald ebenfalls einen Herzinfarkt erleiden. »Alles okay?«

Rory hustete erneut und riss sich zusammen.

»Mir geht es gut. Ich werde einen Weg finden, um die aktiven Fälle abzuarbeiten, wenn Sie sich um den Rest kümmern.«

Celia nickte und griff nach dem Stapel mit den anhängigen Fällen. »Ich kontaktiere zuerst diese Mandanten hier.« Sie trug die Akten zu ihrem Tisch im Empfangsbereich und machte sich an die Arbeit.