19,99 €
Der sumerische König Gilgamesch wird in einem der ältesten literarischen Dokumente der Menschheit besungen. Als Erbe seiner Zeit bleiben dem 21. Jahrhundert aber nicht nur die Zivilisationsleistungen des alten Mesopotamien, sondern auch Männerherrschaft, ideologische Manipulation, Naturzerstörung und eskalierende Konflikte. Dies nennt Öcalan die »Kapitalistische Moderne« und setzt dagegen die Idee des »Demokratischen Konföderalismus« und der »Demokratischen Autonomie«. Bereits 2001 legte Abdullah Öcalan dieses geschichtsphilosophische und zivilisationskritische Grundlagenwerk vor, das jetzt im UNRAST Verlag in einer überarbeiteten Übersetzung neu aufgelegt wird. Er setzt sich darin mit den Kontinuitäten politisch-ideologischer Macht wie auch befreiender Erneuerungen im gesellschaftlichen Leben vom frühgeschichtlichen sumerischen Priesterstaat bis hin zu den Anfängen und Visionen einer demokratischen Zivilgesellschaft auseinander. Der Autor stellt hiermit die Diskussion der kurdischen Frage in einen umfassenden sozialhistorischen Kontext. Dazu analysiert er selbstkritisch die Einflüsse von Staat, Religion, Ideologie und Gewalt auf die Theorie und Praxis der Befreiung und die Entwicklung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bestimmt damit wesentlich ihren Kurswechsel – weg von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer multiethnischen und politisch offenen demokratischen Bewegung, für den gesamten Mittleren Osten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 894
Veröffentlichungsjahr: 2019
Abdullah Öcalan
Gilgameschs Erben
Vom sumerischen Priesterstaatzur demokratischen Zivilisation
Band 1
Übersetzt und herausgegeben von Internationale Initiative
»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
UNRAST
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Abdullah Öcalan: Gilgameschs Erben, Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation, Band 1
eBook UNRAST Verlag, Juli 2019
ISBN 978-3-95405-053-6
Aus dem Türkischen: Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
Titelmotiv: Enkidu / Gilgamesch von Ercan Altuntaş (Ausschnitt) Öl und Naturfarben auf Papier, 100 x 70 cm
© Abdullah Öcalan 2001
Erscheint in der International Initiative Edition Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)
Postfach 100511, 50445 Köln | www.freeocalan.org
© UNRAST Verlag, Münster
Fuggerstraße 13a, 48165 Münster | Tel. 02501 – 9178790 www.unrast-verlag.de | [email protected] Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Erstveröffentlichung 2001 bei Mezopotamien Verlag, Köln Abdullah Öcalan: Sümer Rahip Devletinden Demokratik Uygarlığa
1. Auflage Mai 2003
2. überarbeitete Auflage 2018
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und Satz: Internationale Initiative
Vorwort der Herausgeberin zur Neuausgabe
VorwortVon Raúl Zibechi
Einleitung zur 1. Auflage (2003)Von Ekkehard Sauermann
Erster TeilDie Sklavenhaltergesellschaft und die zivilisatorische Entwicklung
1. KapitelSumer: Die Geburt der Zivilisation an den Ufern von Euphrat und Tigris
2. KapitelDie historische Rolle der sumerischen Zivilisation und ihre Institutionalisierung
1. Die Bildung der Klassengesellschaft
2. Status der Frauen: Verfall und Absturz
3. Urbane Revolution und Stadtstaat
4. Die ökonomischen Institutionen
5. Die Überbauinstitutionen der sumerischen Gesellschaft
6. Sein und Bewusstsein
7. Die ersten schriftlichen Rechtsnormen
3. KapitelBleibende Resultate der sumerischen Zivilisation
1. Ursprung der sumerischen Sklavenhalterzivilisation
2. Der sumerische Staat
3. Die Lehre von den Göttern
4. Die sumerische Klassengesellschaft
4. KapitelMethodische Probleme bezüglich historischer Entwicklung und Ausbreitung
5. KapitelDie Periode der Ausbreitung und Reife der Sklavenhalterzivilisation
1. Die ägyptische Zivilisation
2. Die altindische Punjab- und Industal-Zivilisation von Harappa und Mohenjo-Daro
3. Die chinesische Zivilisation
4. Die Entwicklung in den Nachbargebieten
6. KapitelDie Zeit der sklavenhalterischen Stadtstaaten im Mittleren Osten
7. KapitelWiderstand und Reform der Sklavenhalterzivilisation
8. KapitelDer Gipfel der Sklavenhalterzivilisation
1. Die griechische Zivilisation
2. Die römische Periode der Sklavenhalterzivilisation
3. Der medisch-persische Aufbruch und die Weggabelung zwischen Ost und West
9. KapitelDer Verfall der Sklavenhalterzivilisation
1. Ist die sklavenhalterische Form der Zivilisation zwingend notwendig?
2. Die Rolle der Klassengesellschaft
3. Zusammenbruch oder Reform
4. Der räumlich-zeitliche Kontext des Sklavenhaltersystems
5. Das Erbe der Sklavenhalterzivilisation
Zweiter TeilDas Zeitalter der feudalen Zivilisation
1. KapitelDie ideologische Identität des feudalen Zeitalters
2. KapitelDer Islam als revolutionäre Kraft des feudalen Zeitalters
1. Die Einheit Allahs
2. Die Persönlichkeit Mohammeds
3. KapitelInstitutionalisierung und Expansion der feudalen Zivilisation
1. Die Institutionalisierungsphase des Christentums
2. Die Institutionalisierung und Expansion nach der islamischen Revolution
3. Die Universalität der feudalen Zivilisation
4. KapitelGipfel und Verfall der feudalen Zivilisation
5. KapitelAnstelle eines Schlusswortes für den zweiten Teil
Dritter TeilDie Zivilisation des kapitalistischen Zeitalters
1. KapitelGeburt und ideologische Identität der kapitalistischen Zivilisation
1. Mentalitätsstuktur
2. Individualismus
3. Humanismus
2. KapitelEntwicklung und Institutionalisierung der kapitalistischen Zivilisation
1. Das (Heimat-)Land
2. Der Begriff der Nation
3. Die Republik
4. Die (Staats-)Bürgerschaft
5. Das Prinzip Laizismus (Säkularismus)
6. Die Demokratie
7. Die Rechtsstaatlichkeit
8. Die Menschenrechte
3. KapitelExpansion und Gipfel der kapitalistischen Zivilisation
4. KapitelDie allgemeine Krise der Zivilisation und das Zeitalter der demokratischen Zivilisation
1. Auflösung eines Zivilisationssystems
2. Die Grundlinien der Alternative
3. Politik und Staat
4. Die Phase des Übergangs
5. Kapitalistische Zivilisation als letzte Form der Klassenzivilisation
6. Religion und wissenschaftlicher Sozialismus
Vierter TeilIdeologische Identität, räumliche und zeitliche Bedingungen der neuen zivilisatorischen Entwicklung
1. Ideologische Identität
2. Ein neues Programm für die kurdische Bewegung
3. Strategie und Taktik
4. Die Zeit als schöpferisches Element
5. Die räumliche Dimension
Fünfter TeilKann aus der Kulturtradition des Mittleren Ostens eine neue zivilisatorische Synthese entstehen?
1.Die Rolle der Ideologie in den mittelöstlichen Zivilisationen
2. Erneuerung der mittelöstlichen ideologischen Identität
3. Projekt der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation
4. Theorie und Praxis der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation
5. Die Rolle der Völker für die Bildung der Antithese der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation
Hinweis
Index
Fünfzehn Jahre nach der Erstausgabe erscheint zu unserer großen Freude eine ausführlich überarbeitete Neuausgabe der ersten großen Gefängnisschrift von Abdullah Öcalan. Wie alle seine Gefängnisschriften stellt sie eine Eingabe an ein Gericht dar, in diesem Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Verteidigungsrede im Prozess auf İmralı, in dem gegen Öcalan 1999 die Todesstrafe verhängt wurde, war das erste Werk Öcalans, das vollständig auf Deutsch veröffentlicht wurde. Zur Lösung der kurdischen Frage: Visionen einer demokratischen Republik begründete den Strategiewechsel der kurdischen Freiheitsbewegung und leitete den bisher längsten Waffenstillstand in der Geschichte des bewaffneten Konflikts ein. Gilgameschs Erben erschien im türkischen Original im Jahre 2001 und unterfütterte diese Neuausrichtung durch eine fundierte geschichtsphilosophische Argumentation. Als Versuch über die Geschichte des Mittleren Ostens seit der neolithischen Revolution bildet diese Schrift gleichzeitig die Grundlage für alle folgenden Gefängnisschriften Öcalans.
Deutsch war die erste westliche Sprache, in die das Werk mit dem Originaltitel Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation übersetzt wurde. Die erste Auflage verkaufte sich gut, wurde zu unserem Erstaunen aber außerhalb kurdischer Kreise zunächst wenig rezipiert. Dies änderte sich erst mit der englischsprachigen Ausgabe des ersten Bandes, der 2007 als The Roots of Civilisation bei Pluto Press in London erschien. Die englische Ausgabe bedeutete den internationalen Durchbruch Öcalans als Autor. Die deutsche Ausgabe von Gilgameschs Erben indes war bald vergriffen, zumal große Teile der Restauflage bei einer polizeilichen Durchsuchung des Mezopotamien-Vertriebs im Jahre 2005 konfisziert und nie zurückgegeben wurden. Umso größer war das Interesse an den nachfolgenden Schriften Urfa – Segen und Fluch einer Stadt, Plädoyer für den freien Menschen und ganz besonders Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, das ausführlich rezensiert, viel zitiert und bereits mehrfach neu aufgelegt wurde. Mit der Revolution in Rojava und besonders dem erfolgreichen Widerstand in Kobanê wuchs weltweit das Interesse an Öcalans Gefängnisschriften, mit denen er die ideologischen und strategischen Grundlagen für die dortigen Entwicklungen gelegt hatte. Mittlerweile erscheinen sie in zwanzig Sprachen.
Dank der Zusammenarbeit der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« mit dem UNRAST-Verlag konnte nun endlich die dringend notwendige Neuausgabe von Gilgameschs Erben stattfinden. Wir sind zuversichtlich, durch die gründliche Neubearbeitung das Werk für eine noch breitere Leserschaft zugänglich machen zu können.
Für den Autor selbst hat sich in der Zwischenzeit wenig zum Positiven gewandelt. Die Isolationshaft, in der er seit 1999 gehalten wird, ist über die Jahre immer weiter verschärft worden. Seit dem 5. April 2015 ist die gesamte Gefängnisinsel İmralı von der Außenwelt abgeschnitten. Nur ein einziges Mal konnte seither durch einen Hungerstreik ein Besuch erstritten werden. Konsultationen mit Anwältinnen oder Anwälten werden schon seit Juli 2011 vollständig unterbunden. Telefon- oder Briefkontakt mit den Gefangenen gibt es ebenfalls keinen. İmralı, die Gefängnisinsel vor der Küste Istanbuls, ist ein schwarzes Loch im Herzen Europas. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Organ des Europarates, der Adressat des vorliegenden Buches, hat sich als unwillig oder unfähig erwiesen, diese Isolation zu durchbrechen.
Eine besonders negative Rolle spielt in Europa der deutsche Staat. Durch einen Erlass hat das Bundesinnenministerium 2017 alle Länder aufgefordert, das Zeigen von Abbildungen Öcalans zu unterbinden. Im März 2018 wurde der Mezopotamien- Verlag durchsucht und sämtliche Bücher – darunter etliche Werke Öcalans – beschlagnahmt. Damit unterstützt Deutschland die türkische Kriegspolitik weiter – zusätzlich zu allen Waffenlieferungen und der politischen Rückendeckung.
Öcalan hat sich seit mindestens 1993 intensiv für eine friedliche Lösung des Konflikts mit dem türkischen Staat eingesetzt, wie auch das vorliegende Buch belegt. Der türkische Staat hat darauf fast durchgängig mit Repression geantwor tet. Dialogverweigerung, Absetzung gewählter BürgermeisterInnen, Inhaftierung von Abgeordneten, Zerstörung kurdischer Städte und Förderung islamistischer Paramilitärs bis hin zum Islamischen Staat sind einige der Methoden aus dem Arsenal anti-kurdischer Politik der Türkei. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Kanton Afrin in Nordsyrien ist nur die jüngste Eskalation dieser Art von Politik.
Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass Öcalan eine Schlüsselrolle für eine friedliche Lösung spielt. Die drohende Eskalation des Konfliktes nach seiner Verschleppung unterband er durch besonnene Äußerungen und mutige Initiativen wie die Friedensgruppen. Sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla leitete im Sommer 1999 die bisher längste Phase von Waffenstillstand und Entspannung des Konfliktes ein. Mit seinen Gefängnisschriften bewirkte er einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der kurdischen Freiheitsbewegung: Waffengewalt soll nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden. Den Dialog mit staatlichen Stellen von 2009 bis 2015 versuchte Öcalan immer wieder für eine friedliche, politische Lösung des Konfliktes zu nutzen. Bahnbrechend war sein Friedensaufruf an Newroz 2013, der weltweit Beachtung fand. Diese Stimme der Vernunft wegzusperren und zu isolieren dient nur den Kräften, die auf Krieg und Militarismus setzen.
Auch beinahe zwanzig Jahre nach der Verschleppung Öcalans und der Gründung der Internationale Initiative sind wir wie am ersten Tag überzeugt, dass die Forderungen »Freiheit für Abdullah Öcalan« und »Frieden in Kurdistan« untrennbar zusammengehören. Am 4. April 2019 feiern wir Öcalans siebzigsten Geburtstag. Wir rufen alle auf, sich diesen Forderungen anzuschließen und sagen: »Freiheit für Öcalan! Die Zeit ist reif!«
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
Es ist eine fast unlösbare Aufgabe, die wesentlichen Beiträge des Denkens von Abdullah Öcalan für die revolutionären Bewegungen der Welt in wenigen Worten zusammenzufassen, aufgrund der unterschiedlichen Themen, die er behandelt, wegen des umfassenden Blicks seiner Analyse, aber vor allem, weil er die »Überwindung der philosophischen Grundlagen sowohl der klassischen kapitalistischen Zivilisation als auch der realsozialistischen Praxis« (441-442) als Ausgangspunkt nimmt.
Dies ist einer der Schlüssel der tiefgreifenden Radikalität seines Denkens, das bereits in diesem Buch, »Gilgameschs Erben«, entworfen wird. Die Krise der Zivilisation kann weder durch die Restauration des Faschismus noch des Realsozialismus überwunden werden. Gegen die Auffassung der Mehrheit der linken Strömungen geht es nicht um eine »Rückkehr« zu einem, um seine »Abweichungen« bereinigten, verbesserten Staatssozialismus, sondern um etwas viel Grundlegenderes, das auf theoretischer und politischer Ebene etwas Neues hervorbringt. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese Radikalität sowohl die klassischen Intellektuellen als auch die orthodoxen Aktivisten stört. Dessenungeachtet sticht in dieser ersten Arbeit Öcalans im Gefängnis der Zusammenhang seines Denkens hervor, der sich von diesem ersten Buch bis hin zu seinen letzten Texten zieht. Er sieht die Emanzipation der Frauen, den Schutz der Natur und die Kontrolle der schädlichen Auswirkungen der Technologie als vorrangig an (445). Für den Gefangenen auf İmralı sind dies die zentralen Schlussfolgerungen seiner umfassenden Rekonstruktion der Geschichte der Zivilisationen, ausgehend von seiner auf Mesopotamien, an den Ufern von Euphrat und Tigris, konzentrierten Vision.
Die herausragende Rolle, die er der Ethik beim Aufbau einer neuen Welt zuweist, ist ein neuralgischer Punkt, der mit zwei weiteren Fragen, die im sozialistischen Lager häufig ignoriert werden, Hand in Hand geht: die Bedeutung der Individualität (die kein Synonym für Individualismus ist) als Vorbedingung für die Übernahme von Verantwortung in einer Gesellschaft frei handelnder Individuen und die Wiederherstellung der Rolle der Zivilgesellschaft, die Öcalan als »dritten Bereich« definiert.
Aus meiner, unvermeidlich auf Lateinamerika konzentrierten, Sichtweise, hat mich der fünfte Teil dieses Buches am stärksten beeindruckt. Unter dem Titel »Kann aus der Kulturtradition des Mittleren Ostens eine neue zivilisatorische Synthese entstehen?« weist Öcalan die moderne Theorie des tabula rasa (nach der die ganze Vergangenheit ausgelöscht werden muss), von der sich die Jakobiner bis hin zu den Bolschewisten beeinflussen ließen, zurück und macht sich daran, diese Vergangenheit als eine der Quellen der zukünftigen Gesellschaft zurückzugewinnen, um die ersehnte »demokratische Zivilisation« zu erschaffen.
Dies bringt mich im Allgemeinen zu der konkreten Erfahrung der indigenen Bewegungen meines Kontinents zurück. Im Besonderen verbindet mich die Arbeit der Rekonstruktion der Geschichte von Öcalan mit dem Satz eines indigenen Anführers aus Ecuador, einem Anwalt aus dem Volk der Kichwa, der einer der wichtigsten Organisationen des Landes, Ecuarinari, vorsteht.
»Wir bewegen uns in den Spuren unserer Vorfahren«, sagte mir Carlos Pérez Guartambel in seinem Dorf, umgeben von Gemeindemitgliedern, die Widerstand gegen den Bergbau leisten und die Wasserressourcen und das Leben verteidigen.
Tatsächlich gelingt es ihm in dieser Arbeit die kulturellen Traditionen des Nahen Ostens, mit seiner Geographie und der Zeit als »kreativem Element«, die die Schaffung eines sozialen Geflechts mit einer unvorstellbaren Diversität ermöglichten, zu verschmelzen. Er schließt seine Ausführungen mit einem schönen Satz, der, so glaube ich, seine Suche nach den Quellen des gegenwärtigen emanzipatorischen Prozesses, zusammenfasst: »Auch der Baum der Kultur des Mittleren Ostens ist ein Phänomen dieser Art: Er hat tiefe Wurzeln geschlagen und seine Samen in die Welt hinaus getragen.« (492).
Aber der Inhalt dieses Samens muss noch bestimmt werden, die Quellen des Lebens dieser Region und was sie der Welt anbieten kann. Öcalan vervollständigt seine Beschreibung, indem er aufzeigt, dass der Nahe Osten eine Art Grab ist, in dem sich nichts ändert: »Die Welt verändert sich ständig, doch er ändert sich nie« (494). Ein Wunder. Wir können uns das Leben nicht als etwas von der Vergangenheit Getrenntes vorstellen, da es dann kein Leben wäre, sondern ein lebloser Fetzen, wie ein stehender Fluss, der nicht fließen kann und dessen Wasser verfault, wie die patriarchale kapitalistische Zivilisation.
Es ist zum Allgemeinplatz geworden, zu sagen, dass der Kampf der Kurden in Nordsyrien bei der zapatistischen Bewegung auf ein Echo trifft.
Das Denken Öcalans wie auch die Geschehnisse in der Region Rojava befinden sich im Einklang mit dem, was ein Großteil der sozialen Bewegungen Lateinamerikas macht. Dies hängt in großem Maße damit zusammen, dass die einen wie die anderen durch den Westen kolonisiert worden sind und dass unsere Völker sich auf sich selbst besinnen mussten, um zu überleben, sich in ihren Gemeinschaften und in ihren uralten Kulturen einschließen mussten, wie in »Gräbern«, in denen es möglich war, das Leben wieder zu erschaffen.
Es lassen sich mindestens drei Echos in diesen Bewegungen finden.
Das erste bezieht sich auf den Nationalstaat. Unterschiedliche Völker, wie die Mapuche aus Chile und Argentinien, die Nasa im Süden Kolumbiens, die Aymara aus Bolivien, die Indigenen der Amazonasregion und des Tieflands identifizieren sich weder mit dem Staat, noch wollen sie Posten in staatlichen Institutionen besetzen. Die neuen schwarzen Bewegungen in Kolumbien und Brasilien folgen vergleichbaren Prozessen, die sie vom politischen Schachspiel im Nationalstaat fernhalten.
Es handelt sich nicht um eine ideologische Frage. Für die Mehrzahl von ihnen stellen die Nationalstaaten keinen Teil ihrer Geschichte und Lebenserfahrungen als Völker dar, sondern werden als durch den Kolonialismus und die kreolischen Eliten auferlegt verstanden.
Die Kurden Rojavas wollen keinen Staat aufbauen. Öcalan erachtet den Nationalstaat als zur »kapitalistischen Zivilisation« gehörige Form der Macht. Für die Kurden, die seine Ideen teilen, ist sogar der antistaatliche Kampf wichtiger als der Klassenkampf, was von denjenigen Vertretern der lateinamerikanischen Linken, die immer noch auf das 19. Jahrhundert schauen, als Häresie angesehen wird. Diese Linke sieht den Staat weiterhin als Schild zum Schutz der Arbeiter an.
In dem Buch »Die kapitalistische Zivilisation. Unmaskierte Götter und nackte Könige«, dem zweiten Band seines Manifests der demokratischen Zivilisation, vertritt der kurdische Anführer eine der zapatistischen Praxis sehr verwandte These. Die Ergreifung der Staatsmacht, schreibt Öcalan, »korrumpiert noch den treuesten Revolutionär«. Er schließt mit einer Reflexion die für die Erinnerung an den hundertsten Jahrestag der Russischen Revolution angemessen klingt: »Einhundertfünfzig Jahre heldenhaften Kampfes wurden im Wirbelwind der Macht erstickt und verflüchtigten sich«.
Das zweite Echo liegt in der Ökonomie. Die Zapatisten machen sich oft lustig über die »Gesetze« der Ökonomie und stellen diese Disziplin nicht in das Zentrum ihres Denkens, wie aus der Sammlung der Kommuniqués des mittlerweile nicht mehr vorhandenen Subcomandante Marcos ersichtlich ist. Öcalan hebt seinerseits hervor: »[D]er Kapitalismus ist Macht, nicht Ökonomie«. Die Kapitalisten nutzen die Ökonomie, aber den Kern des Systems bildet die Gewalt, bewaffnet oder unbewaffnet, den von der Gesellschaft produzierten Überschuss zu konfiszieren.
Der Zapatismus definiert das gegenwärtige extraktive Modell (Monokulturen wie das Soja, offener Tagebau und Megainfrastrukturprojekte) als »vierter Weltkrieg« gegen die Völker, aufgrund des Einsatzes und des Missbrauchs der Gewalt zur Gestaltung der Gesellschaften.
In beiden Bewegungen lässt sich eine frontale Kritik am Ökonomismus ausmachen. Öcalan erinnert daran: »[I]n den Kolonialkriegen, in denen die ursprüngliche Akkumulation geschah, gab es keine ökonomischen Regeln«. Indigene und schwarze Bewegungen Lateinamerikas sehen sich ihrerseits mit einer Kolonialmacht oder der »Kolonialität der Macht« konfrontiert, ein Begriff, den der peruanische Soziologe Aníbal Quijano zur Beschreibung des Kerns der Herrschaft auf diesem Kontinent verwendet.
Tatsächlich ist der Ökonomismus eine Plage, die die kritischen Bewegungen kontaminiert, die Hand in Hand mit dem Evolutionismus einhergeht. Eine Legion von Linken geht davon aus, dass das Ende des Kapitalismus durch die Abfolge mehr oder weniger tiefgreifender ökonomischer Krisen zustande kommt. Öcalan widersetzt sich dieser Perspektive und weist den Vorschlag jener zurück, die denken, dass der Kapitalismus »als natürliches Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung« entstanden ist. Zapatisten und Kurden scheinen mit der These Walter Benjamins übereinzustimmen, dass der Fortschritt wie ein destruktiver Wirbelsturm ist.
Drittens verteidigen die lateinamerikanischen Bewegungen das Konzept des »Guten Lebens« (Buen Vivir), das sie dem kapitalistischen Produktivismus entgegensetzen. Die 2008 bzw. 2009 verabschiedeten Verfassungen Ecuadors und Boliviens betonten, dass die Natur »ein Rechtssubjekt« ist, während sie bislang immer als Objekt zur Erlangung von Reichtum angesehen wurde. In den Bewegungen bricht sich zunehmend die Vorstellung Bahn, dass wir uns etwas Größerem als einer Krise des Kapitalismus gegenübersehen, nämlich einer Krise der Zivilisation.
Die kurdische Bewegung vertritt den Standpunkt, dass der Kapitalismus zur Krise der modernen westlichen kapitalistischen Zivilisation führt. Diese Analyse erlaubt es uns, die Ideologie des Fortschritts und der Entwicklung zu überwinden, integriert in sich die verschiedenen, mit dem Patriarchat und dem Rassismus verbundenen Unterdrückungsformen, die Krise der Umwelt und des Gesundheitssystems und setzt einen viel tieferen und umfassenderen Blick auf die stattfindenden Krisen voraus.
Eine Zivilisation kommt in die Krise, wenn sie nicht mehr über die (materiellen und symbolischen) Ressourcen verfügt, um die von ihr geschaffenen Probleme zu lösen. Deswegen fühlen derart durch Geographie und Kultur voneinander getrennte Bewegungen, dass sich die Menschheit an der Schwelle einer neuen Welt befindet.
Jenseits dieser drei Echos finden wir eine weitere große Übereinstimmung: die Frauen in der Bewegung stehen im Zentrum der lateinamerikanischen Bewegungen und bilden den Kern des Denkens von Öcalan. Die Bewegung »Ni Una Menos« hat Tausende Frauen auf die Straßen Argentiniens gebracht, die Empathie und Gemeinsamkeit mit ihresgleichen in Rojava empfinden.
»Der starke und listige Mann«, schreibt Öcalan, ist der Ursprung des Staates. Eine grundlegend patriarchale Institution, die durch und für die Unterdrückung entworfen wurde, die sich nicht in ein Instrument zur Befreiung verwandeln lässt.
Montevideo, im Januar 2018
Aus dem Spanischen von Lars Stubbe
Diese umfangreiche Schrift ist ein zeitgeschichtliches Dokument von hoher Aussage- und Wirkungskraft: Eine herausragende Persönlichkeit unseres Zeitalters, die über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, welche sie für bedeutende gesellschaftliche Funktionen im nationalen und internationalen Maßstab qualifizieren, verschafft sich mit dieser Schrift Gehör. Abdullah Öcalan offenbart dabei eine herausragende Schärfe und Tiefgründigkeit des Geistes, die ihm eine breite öffentliche Wirksamkeit sichern könnte. Er ist aber als Konsequenz aus seinem politischen Wirken völlig isoliert und bis auf das Äußerste mit physischer und psychischer Vernichtung bedroht.
Viele aufgeklärte Zeitgenossinnen und -genossen bewundern historische Persönlichkeiten, die gegen den Zeitgeist auftreten und dafür verfolgt, eingekerkert und vernichtet werden und damit als Leitbilder in die konfliktreiche Geschichte der menschlichen Zivilisation eingehen. Die besondere Zuwendung zu den Aussagen solcher Persönlichkeiten ergibt sich auch aus dem Blickwinkel, dass deren ideelle Werke zu ihren Lebzeiten vor der Öffentlichkeit verschlossen wurden und oftmals erst lange nach ihrem Tod die Menschheit erreichten. Bei Lektüre solcher Werke verbietet sich eine kleinliche und besserwisserische Haltung. Geduld und Verständnis beim Lesen gründen sich auf das Wissen von den extremen Bedingungen, unter denen solche Werke entstanden sind. Das Motiv, ein solches Werk zu lesen und ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, verbindet sich daher mit einer moralischen und ideellen Solidarisierung mit dem verfolgten Autor. In dieser Tradition steht auch die Schrift von Abdullah Öcalan und eine hiermit herausgeforderte Motivierung, sich seinem vorliegenden Werk zuzuwenden.
Der aktuelle Vorzug dieses Werkes gegenüber seinen zahllosen Vorläufern ist, dass es sich direkt an uns alle als Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, Mitbetroffene und Mitstreiter von Abdullah Öcalan wendet und uns dabei hilft, nach einem Weg zur Beantwortung drängender existenzieller Fragen unserer Zeit zu suchen. Die hiermit verbundene politische Annäherung an das Werk birgt die Chance in sich, zu einer ideell und praktisch wirksamen Solidarität mit dem Autor zu führen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und trotz veränderter Rechtslage in der Türkei diesem Schicksal nicht wirklich entronnen – als einziger Gefangener auf der Insel İmralı, nur umgeben von seinen militärischen Bewachern, um sein geistiges und physisches Überleben ringen muss. Seine Schrift ist ein Ergebnis dieses Ringens, legt Zeugnis von der unerhörten geistigen und seelischen Anspannung und Anstrengung des Autors ab, der seinen Blick über seine individuelle Existenz hinaus-richtet – auf das Leben und Überleben des kurdischen Volkes, der Völker des Mittleren Ostens und schließlich der ganzen Menschheit. Angesichts der extremen Herausforderung an sein eigenes Schicksal bringt Abdullah Öcalan die Kraft und Größe auf, von einer hohen Warte aus sich dem Schicksal des kurdischen Volkes sowie der ganzen Weltgemeinschaft zuzuwenden.
Die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Prozesses der Zuwendung sind herausfordernd, provozierend, teilweise auch irritierend und schockierend, aber durchgängig konstruktiv und produktiv. Zu vielen seiner gewonnenen Problemsichten und Einsichten können auch all jene gelangen, die sich gegenüber der vorherrschenden massiven Meinungsmanipulation ihre Unabhängigkeit bewahrt und schöpferische Gegenmittel gefunden haben.
Über diesen Erfahrungshorizont hinausgehend, den der Autor mit vielen Zeitgenossen teilt, speist er in sein Werk die konzentrierte politische und soziale Erfahrung ein, die er auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene gewonnen hat. Dieser Schatz an Kampf- und Lebenserfahrung wird von ihm angesichts der extremen individuellen Belastungsproben verdichtet – wie der Stahl gehärtet wird: durch hochgradige Hitze und extreme Abkühlung. Dabei zählen nicht nur die ideellen und politischen Ergebnisse, die der Autor auf diesem Wege erzielt. Von großem Gewicht und einer gewissen eigenständigen Bedeutung ist der Weg, den er in diese Richtung eingeschlagen hat. Abdullah Öcalan geht es nicht nur darum, ein bestimmtes Ziel zu umreißen, sondern seine Leserinnen und Leser auf seinen Weg mitzunehmen, ihnen seine Erfahrungen und Einsichten bei der Suche nach einem konstruktiven Ausweg zu vermitteln. Gerade auf diesem Gebiet möchte er in einen Dialog eintreten. Dieses Werk ist der groß angelegte Versuch eines Dialogs mit seinen Kampfgefährten, den Frauen und Männern seines kurdischen Volkes sowie der anderen Völker, die alle herausgefordert sind, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden.
Abdullah Öcalan offenbart sein eigenes bisheriges und gegenwärtiges Ringen, sich als ein Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten und zu bewähren. Von da schlägt er eine Brücke zu allen, die objektiv herausgefordert sind, einen ähnlichen Entwicklungsprozess zu vollziehen, um ihre Würde zu bewahren und die Würde der Menschheit zu verteidigen. Auf diesen individuellen und zugleich gemeinschaftlichen Prozess richtet sich sein Dialog.
Da ihm andere Möglichkeiten zur öffentlichen Debatte versperrt sind und er durch eine Schweigemauer abgeschirmt und total isoliert werden soll, konzentriert Öcalan seine Bereitschaft zum Dialog auf diese Schrift. Infolge ihres dialogischen Charakters sind die beiden Bände seines Werkes auch nicht abgeschlossen und ausgereift, sondern wie ein Werkstatt-Buch zu begreifen. Öcalan bezieht die engagierten Leserinnen und Leser, die diese Schrift nicht einfach nur konsumieren, sondern sich aktiv und kritisch mit ihr auseinandersetzen wollen, partnerschaftlich in seine Gedanken-Werkstatt mit ein. Aus dieser Eigenart der Schrift als Dialog- und Werkstatt-Buch ergeben sich weitere Besonderheiten – so das zyklische Herangehen, was mehrfache Wiederholungen und Bekräftigungen einschließt, wie sie in einem dialogischen Gespräch üblich sind. Wer möglichst schnell mit diesem Werk fertig werden und zum Ziel kommen möchte, könnte davon irritiert sein. Wer sich hingegen auf einen anstrengenden und schöpferischen Dialog mit diesem ungewöhnlichen Autor einlässt, wird auch aus diesen Neben- und Rückwegen, aus denen sich ein ganzes Wegenetz ergibt, Gewinn ziehen. Es handelt sich hier um eines jener Werke, von denen der große Naturwissenschaftler und Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts, Georg Christoph Lichtenberg, sagte, dass der Klang beim Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch nicht nur Rückschlüsse auf das Buch, sondern auch auf den Kopf des Lesers zulässt. Am besten gerüstet für diese Lektüre sind jene Leserinnen und Leser, die sich angesichts der Bedrohung der Menschheit durch den von der Bush-Regierung angekündigten und in Afghanistan und im Irak begonnenen weltumspannenden und ununterbrochenen Krieg herausgefordert sehen, eine tiefgründige Lebensbilanz zu ziehen. Auf dieser Grundlage können sie sich mit Abdullah Öcalans Bilanz und Ausblick als gleichberechtigte und selbstbewusste Subjekte messen.
Der Autor nimmt mit seiner Schrift und ihren offenen Erörterungen der bisherigen eigenen Politik die Möglichkeit wahr, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der kurdischen Befreiungsbewegung zu erreichen und ihnen im Rahmen einer historischen Betrachtung konkrete Gedanken zur programmatischen, strategischen und taktischen Weiterführung ihres Kampfes zu übermitteln. Diese Schrift ist ein Vermächtnis des ehemaligen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)[1], der von seiner Partei radikal physisch getrennt worden ist, sich aber mit ihr auf das Engste verbunden fühlt. Auf diesem Weg versucht er, den Mitgliedern sowie Anhängerinnen und Anhängern der kurdischen Befreiungsbewegung den Reichtum seiner unter extremen Bedingungen und Herausforderungen gewonnenen Einsichten zu übermitteln.
Der Autor geht davon aus, dass das fundierte Herangehen an die kurdische Problematik ausschlaggebend ist sowohl für das richtige Erfassen als auch für die praktische Bewältigung dieser Herausforderung. Die bisherigen Versuche zur Erklärung und Lösung dieses Problems sind nach seiner Einschätzung bereits vom Ansatz her falsch und irreführend. Öcalan behauptet, dass das Phänomen des Kurdentums wie ein schwarzes Loch sei, dass um die kurdische Realität herum falsche Vorstellungen und Begriffe gebildet worden sind und dass es beispielsweise leichtsinnig sei, das kurdische Phänomen als eine Nation oder auch als Kolonie bzw. Halbkolonie zu definieren. Der Autor schildert eindringlich die historische und aktuelle Tragödie des kurdischen Volkes, die darin bestehe, dass es wie kaum ein anderes Volk in der Geschichte permanent und oftmals gleichzeitig zahlreiche Invasionen, Katastrophen und Kriege erdulden musste. Demzufolge gab es in der wechselvollen kurdischen Geschichte nur geringe Chancen für das Erzielen kultureller und politischer Errungenschaften. Stattdessen musste sich das kurdische Volk fortlaufend darauf konzentrieren, seine physische Existenz gegen grenzenlose Invasionen und Plünderungen zu schützen. In einer solchen Situation konnte sich keine vorwärtsweisende Stimme Gehör verschaffen und keine Kreativität entfalten.
Diese dramatische Schilderung findet ihren Kontrast durch die immer wieder getroffene Feststellung Öcalans, dass gerade die Kurdinnen und Kurden eine ausschlaggebende Rolle am Beginn der Geschichte der Zivilisation gespielt haben. Öcalan geht davon aus, dass sein Volk einen besonders tiefen Einfluss auf die Kultur Mesopotamiens hatte und damit die Kultur einer Epoche mit erschaffen habe, welche die Zivilisationsgeschichte viel umfangreicher und nachhaltiger beeinflusst habe als dies den heutigen USA und der Europäischen Union (EU) zugesprochen werden könne.
Welche aktuellen und perspektivischen Lösungswege entwickelt Öcalan für sein Volk?
Zunächst geht er davon aus, dass das kurdische Volk (speziell in der Türkei) sich, wie bereits häufig in seiner Geschichte, auch gegenwärtig in einer Situation befinde, die nur mit »weder Krieg noch Frieden« beschrieben werden könne. Dieser permanente Ausnahmezustand sei bereits zur Normalität geworden. Für die sich hieraus ergebende explosive Situation sei ein Ausweg dringend erforderlich.
Als Frucht langer und dramatischer Erfahrungen der kurdischen Befreiungsbewegung sowie reiflicher Überlegungen gelangt Öcalan zu dem Schluss, dass jeglicher nationalistische und separatistische Ausweg aus strategischen und prinzipiellen Gründen abzulehnen sei. Der Autor geht davon aus, dass die Rolle der Nationen und Nationalstaaten weltpolitisch zurückgeht und sich stattdessen weltweit eine Entwicklung in Richtung auf föderalistische Strukturen vollzieht. Vor diesem Hintergrund sieht Öcalan einen Lösungsweg, der auf einer demokratischen Einheit der vom kurdischen Volk bewohnten Länder basiert.
Dies bedeutet für ihn, dass die gegebenen Grenzziehungen des Mittleren Ostens als historischer Tatbestand anerkannt werden und innerhalb dieser Länder ein Kampf um Grundrechte und Demokratie geführt wird. Im Ergebnis eines solchen Ringens könne sich ein demokratischer Mittlerer Osten mit einer Institution nach Art der Europäischen Union herausbilden, welcher die Sehnsucht aller Völker nach Einheit in Freiheit verwirklicht. Aus dieser Perspektive ergeben sich Schlussfolgerungen im Hinblick auf Durchsetzung einer politisch-demokratischen Plattform an Stelle militärischer Auseinandersetzungen, auf allseitigen Dialog statt innerer wie äußerer militärischer Gewaltanwendung.
Öcalan bemüht sich nicht nur um den Nachweis, dass ein solcher Weg im Lebensinteresse des kurdischen Volkes liegt. Er orientiert darüber hinaus darauf, dass die Kurdinnen und Kurden mit ihrem engagierten Einsatz für eine solche friedliche und demokratische Entwicklung eine Brückenfunktion zwischen den drei großen Nationen des Mittleren Ostens ausüben können. Gerade die Kurden könnten sich aufgrund ihrer geografischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Lage in dieser neuen Phase der Geschichte des Mittleren Ostens als eine zukunftsweisende demokratische Kraft formieren und zu Subjekten eines Kampfes werden, der sowohl ihrer eigenen Befreiung dient als auch die Nachbarvölker in den Prozess einer demokratischen Lösung einbindet. Abdullah Öcalan zieht eine Parallele zwischen jener Schlüsselrolle, welche das kurdische Volk nach seinem Geschichtsverständnis bei der Herausbildung der ursprünglichen Zivilisation geleistet hat, und ihrer perspektivischen Schlüsselrolle bei der Herausbildung einer demokratischen Zivilisationsform im gesamten Mittleren Osten. Nach seiner Auffassung hält nunmehr das kurdische Volk jenen goldenen Schlüssel in der Hand, auf den die Völker der Region ihre gesamte Geschichte hindurch gehofft haben.
Öcalan geht davon aus, dass die PKK organischer Bestandteil des kurdischen Volkes ist, dass sie mit diesem sowohl die Stärken wie die Schwächen teilt und in ihrem Entwicklungsprozess ständig mit beiden Seiten als einem äußeren und inneren Problem konfrontiert war.
Die historische Notwendigkeit der Gründung der PKK erklärt der Autor aus dem Fehlen einer politischen Bewegung, welche die Interessen der Kurdinnen und Kurden konsequent hätte vertreten können. Diese Lücke bestand nach seiner Einschätzung auch im Hinblick auf eine den rebellischen Traditionen der Religion entsprechende spirituelle Volksbewegung. Öcalan meint, dass die PKK sowohl diese politische Funktion ausfüllen als auch für die spirituelle Funktion ein Äquivalent schaffen musste. Was Letzteres betrifft, so vergleicht der Autor die kurdische Befreiungsbewegung mit jenen Bewegungen in der Geschichte des Mittleren Ostens, die von den Propheten angeführt wurden. Er verweist darauf, dass es Jesus nur mit Mühe und Not gelang, zwölf Apostel zusammen zu bringen; dass aber um sie herum viele Arme und Geknechtete versammelt waren, die auf ein Wunder warteten; und dass auf dieser Grundlage der größte Glaubenskampf in der Geschichte entstehen konnte.
Diese Gemeinsamkeit der PKK mit der Bewegung der Apostel und Propheten rührt nach Öcalans Verständnis von der allgemein mystischen Atmosphäre des Nahen und Mittleren Ostens her. Deshalb könnten die modernen Organisationsformen des Westens für diese Region kein Modell bilden. In diesem Kontext charakterisiert der Verfasser die PKK als eine Synthese zwischen einer halbmodernen sozialistischen Organisation und einer klassischen nahöstlichen Identität. Nach seiner Einschätzung sind sowohl die Stärke als auch die Schwäche der PKK in dieser Synthese angelegt.
Obwohl der Autor auf eine Reihe von Ereignissen und Problemen in der Geschichte der PKK eingeht, legt er mit dem zweiten Band keine systematische Geschichte der PKK vor. Einer Behandlung der Entwicklungsgeschichte dieser Organisation steht die stark selektive, episodische und subjektiv überhöhte Darstellungsweise Öcalans entgegen. Daraus ergeben sich unter anderem erhebliche Lücken im Hinblick auf die Analyse der verschiedenen Etappen und Phasen in der Entwicklung der PKK.
Ein Grund für den stark selektiven Charakter der Darlegungen und Einschätzungen zur Entwicklung der PKK besteht offenbar darin, dass Öcalans Behandlung dieser Problematik auf eine historische Begründung der herangereiften politischen und organisatorischen Transformation zielt. Unter dieser Warte hebt er die bisherigen gewaltigen Anstrengungen und die dramatischen Rückschläge hervor, welche die Befreiungsbewegung erlitten hat. Diese führt er teilweise auf die Unreife der Bewegung zurück, lastet sie aber auch Erscheinungen des Verrats und und der Kollaboration an. In der Verurteilung bestimmter Verfehlungen der PKK geht der ehemalige Vorsitzende dieser Organisation sehr weit. So spricht er davon, dass sich zeitweise ein Bandenwesen entwickelt habe und ungerechtfertigte Kriegsmaßnahmen durchgeführt worden seien, die zahlreichen Unschuldigen das Leben gekostet und großen politischen sowie moralischen Schaden angerichtet hätten. Eine zentrale Ursache hierfür sieht er darin, dass die Strategie der legitimen Selbstverteidigung nicht genügend theoretisch untermauert gewesen sei. Unter dieser Bedingung sei es möglich gewesen, dass infolge kleinbürgerlicher Mentalität und verantwortungsloser Unfähigkeit der politischen und militärische Leitung einer Verwahrlosung in Richtung auf ein Bandenwesen nur ungenügend entgegengewirkt werden konnte. Die entscheidende Grundlage für die Überwindung dieser gravierenden Mängel sieht Öcalan in einem Erneuerungsprozess, in dem die prinzipielle und strategische Neuorientierung auf eine demokratische Zivilisation im Mittelpunkt steht. Über ihre regionale und weltpolitische Bedeutung hinaus liegt für Öcalan in dieser Orientierung ein mächtiger Impuls zur Lösung der äußeren wie inneren Probleme der Befreiungsbewegung, die ihr perspektivisch neue Handlungsfähigkeit verleiht.
In diesem Zusammenhang richtet der Autor sein besonderes Augenmerk auf die Türkei, wo in der Zeit von 1993 bis 1996 durch staatliche Terrormaßnahmen fast 4000 Dörfer und Weiler entvölkert und Tausende unschuldige Menschen ermordet worden sind, ein wirtschaftliches Embargo über die kurdischen Provinzen verhängt und flächendeckende Militäroperationen durchgeführt wurden. Öcalan stellt fest, dass dies das dunkelste und schmerzvollste Kapitel in der Geschichte der Region gewesen sei und er unterstellt, dass hierbei die türkische Administration die Kontrolle über ihr eigenes Handeln verloren habe. Nachdem im Februar 1998 der türkische Staat einen begrenzten Versuch unternahm, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, verkündete die PKK einseitig einen Waffenstillstand. In einem Aufruf vom 2. September 1999 ordnete die PKK-Führung den militärischen Rückzug an und beschränkte sich in der Folgezeit auf eine reine Verteidigungsstrategie. Öcalan stellt fest, dass seitdem eine Art Waffenruhe herrscht und sich beide Seiten in einer Phase des Nachdenkens befinden.[2] Er schätzt ein, dass eine negative Aufhebung dieser Patt-Situation dazu führen muss, dass die politische Initiative ähnlich wie zur Zeit der militärischen Zuspitzung bis 1996 an das ultarechte Spektrum im nationalen wie internationalen Rahmen verschenkt wird. In diesem Kontext erklärt Öcalan die prinzipielle und strategische Bereitschaft der PKK zum friedlichen und demokratischen Konsens, präzisiert aber gleichzeitig das Recht und die Pflicht des kurdischen Volkes auf Selbstverteidigung.
Aus diesem Blickwinkel verurteilt er, dass bestimmte militärische Aktionen der kurdischen Befreiungsbewegung in der Vergangenheit über das Recht auf Selbstverteidigung hinausgegangen sind und sich demzufolge verselbstständigt, von den eigentlichen Zielen entfernt und damit den ultrarechten türkischen Kräften sowie ihren internationalen Hintermännern in die Hände gespielt haben. Der Autor spezifiziert die Bedingungen und Gründe, unter denen Selbstverteidigung gerechtfertigt und notwendig ist. Er benennt Prinzipien und Mittel, welche eingehalten werden müssen, damit Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen, der Verwirklichung einer demokratischen Zivilisation einschließlich rechtsstaatlicher Verhältnisse (vor allem hinsichtlich der Menschenrechte und verbindlicher Regeln des Völkerrechts) verwirklicht werden kann.
Der andere Grund für den selektiven – und insbesondere stark subjektiven – Charakter seiner Aussagen zur Geschichte der PKK ist offenbar der starke autobiographische Blickwinkel, der gerade bei der Behandlung dieser Problematik in den Vordergrund seiner Schrift tritt. In gewisser Hinsicht handelt es sich insgesamt bei der zweibändigen Schrift Öcalans um ein autobiographisches Werk, wobei die direkten autobiographischen Aussagen zumeist (mit Ausnahme der Passagen zur PKK) relativ knapp und zurückhaltend sind, aber organisch verbunden mit jener umfassenden Auskunft über seine Weltsicht, die der Autor durchgängig in seiner Schrift vermittelt. Der autobiographische Aspekt spielt auch eine Rolle im Rahmen der Funktion dieser Schrift als juristische Eingabe, da sich hiermit der Betroffene als Persönlichkeit einbringt, und zwar als Beschwerde führender Angeklagter und Ankläger zugleich. Auch für die Rolle der Schrift als Aufklärungswerk für eine breite Öffentlichkeit ist das Sichtbarmachen der persönlichen Beweggründe und Erfahrungen des Autors bedeutsam. Vor allem aber ist der Adressat der Selbstdarstellung Öcalans die kurdische Bewegung, der er sich zugehörig fühlt und der sein persönliches Vermächtnis gilt – ein Vermächtnis, bei dessen Abfassung er davon ausgehen musste, dass es auf Grund der zunächst verhängten Todesstrafe sein letztes Vermächtnis sein könnte.
Der Inhalt sowie die Art und Weise der Selbstdarstellung Öcalans stellen für den Leser eine besondere Herausforderung dar. Hierbei ist das Verständnis des Sachverhaltes entscheidend, dass Öcalan die Aussagen zu seiner Person aus einer extremen Situation des psychischen und physischen Überlebenskampfes heraus getroffen hat. Dabei ist von Bedeutung, dass er sich nicht nur für das Ringen um sein Überleben schlechthin entschieden hat, sondern für die äußerste Anspannung seines Willens zum Leben sowie zum schöpferischen Nachdenken und Schaffen unter diesen äußerst bedrohlichen Bedingungen. Hierbei spielt für seine Motivation eine zentrale Rolle, dass er gegenüber dem kurdischen Volk und der PKK gerade in dieser angespannten Situation eine erhöhte Verantwortung empfindet und in dieser Richtung optimal wirksam werden möchte. Dass Öcalan im Rahmen seiner Behandlung der Entwicklung der PKK seinem positiven Anteil an den Erfolgen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, ist sicherlich nicht zuletzt der Herausforderung zur Auseinandersetzung mit Kritikern und Kontrahenten geschuldet, die seine Abwesenheit für die Einflussnahme auf Orientierung und Wirksamkeit der PKK zu nutzen suchen.
Bei der Einordnung seines eigenen Anteils im Rahmen seiner Abrechnung mit gravierenden Fehlern und Mängeln der PKK werden von ihm seine eigenen Leistungen weit deutlicher und konkreter herausgearbeitet als sein Versagen. Öcalan setzt mehrfach an zur Selbstkritik und bekennt sich generell zur Notwendigkeit eines selbstkritischen Herangehens. Aber die Resultate bleiben recht allgemein und teilweise mystisch, sodass dem auf ihn bezogenen Heroismus kein prinzipieller Schaden zugefügt wird. Seine eigene Verantwortung im Hinblick auf die von ihm scharf verurteilte zeitweilige Tendenz zum Bandenwesen reduziert er mit direkten und indirekten Hinweisen, dass die betreffenden Kämpfer entgegen seinen Anweisungen und Ambitionen gehandelt hätten. Diese Aussagen bleiben relativ verschwommen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass Öcalan gerade im Rahmen einer solchen juristischen Eingabe die juristische Verantwortung für Vergehen innerhalb der eigenen Organisation nicht übernehmen kann.
In gewisser Hinsicht sind diese beiden Bände ein origineller und originärer Beitrag zur Zivilisationsgeschichte und somit ein eigenwilliges Geschichtswerk. Der Autor behandelt exemplarisch die Zivilisationsgeschichte des Mittleren Ostens und aus diesem Blickwinkel der gesamten Menschheit. Er analysiert die gegenwärtige Lage und Perspektive der Menschheit unter besonderer Berücksichtigung der Region des Mittleren Ostens sowie, in diesen historischen Zusammenhang einbezogen, die Geschichte, Lage und Perspektive des kurdischen Volkes.
Abdullah Öcalan erhebt die Herausbildung von Humanismus und Demokratie sowie deren ständige Gefährdung und den Kampf um de ren Durchsetzung und Bewahrung zum durchgängigen Kriterium seiner Geschichtsbetrachtung. Dies ist der konstituierende Vorzug dieser Schrift. Sie enthält ein leidenschaftliches Bekenntnis zu Humanismus und Demokratie. Und zwar nicht in einem plakativen und unverbindlichen Sinn, wie das häufig bei solcherlei Bekenntnissen zu verzeichnen ist. Abdullah Öcalan markiert nachdrücklich Verbindlichkeiten und eindeutige Kriterien – wie beispielsweise die Würdigung der Rolle der Frau und der unterdrückten Völker – für die Entwicklung und Gestaltung von Humanismus und Demokratie.
Die relativ umfangreiche Geschichtsbetrachtung Öcalans weist eine Reihe von Vorzügen auf, die sie in bestimmten Punkten von thematisch vergleichbaren Geschichtswerken abhebt. Der allgemeine Vorzug der starken inneren Verbundenheit des Autors mit dieser Problematik und seine engagiert humanistische und prinzipiell gegen religiösen und politischen Fundamentalismus gerichtete Sicht wird verstärkt durch den Problemreichtum seiner Gedanken sowie die Kraft und Bildhaftigkeit seiner Sprache. Diese Art der Darstellung fordert heraus, vermittelt Impulse, zwingt zum Nachdenken und zu produktivem Dialog mit dem Verfasser. Unabhängig davon, ob es sich bei den Leserinnen und Lesern dieses Werkes um wissenschaftlich geschulte Menschen, um politische Aktivistinnen und Aktivisten oder interessierte Laien handelt, wer sich mit diesem Werk ernsthaft auseinandersetzt, wird aus diesem Prozess verändert hervorgehen, angeregt, nachdenklich, bereichert – und natürlich zu Widerspruch herausgefordert.
Diese potenzielle Wirkungsmöglichkeit des Werkes beruht darauf, dass es dem Verfasser nicht darum gegangen ist, ein Geschichtswerk über den Mittleren Osten und die kurdische Frage schlechthin zu schreiben. Es geht ihm vorzugsweise um aktuelle und perspektivische Lösungswege für die bedrohlichen Konflikte in dieser Region, eingebettet in die Überwindung der Zivilisationskrise der Menschheit. Ein solches weitgespanntes und komplexes Geschichtswerk in Angriff zu nehmen, ist ein wagemutiges Vorhaben und wäre es selbst für ein Autorenkollektiv von Experten bzw. einen erfahrenen Historiker, der mit einer solchen gewichtigen Publikation sein Lebenswerk krönen möchte. Eine entscheidende Rolle bei der Verwirklichung eines solchen Vorhabens kommt der Art und Weise des wissenschaftlichen Herangehens zu, der Methodologie. Die von Öcalan angewandte Methodologie wird stark von seinem besonderen Gegenstand und Anliegen bestimmt:
Öcalan geht davon aus, dass die Völker dieser Region – einschließlich des kurdischen Volkes – in den Fesseln der Vergangenheit verharren und im Hinblick auf die Bewältigung der extremen aktuellen Herausforderungen gelähmt und demzufolge zu einer Objektrolle der expansiven Weltmächte verurteilt sind. Die Kennzeichnung dieser Situation ist zwar durchgängig realistisch, aber zugleich so dramatisch, dass der Eindruck erweckt wird, dass nur noch ein Wunder die Rettung bringen kann. Von dieser Warte aus entwickelt Öcalan das Hauptanliegen seiner Schrift, nämlich fundamentale Gedanken über einen Ausweg aus dieser Situation und über eine historische Chance für diese Völker.
Von dieser Fixierung Öcalans auf ein »historisches Wunder« ist weitgehend sein methodologisches Herangehen geprägt. Hierbei spielt die von ihm konzipierte Zielvorstellung eine entscheidende Rolle. Der Autor geht davon aus, dass sich die Menschheit in einem Entwicklungsstadium ihrer Zivilisation befindet, die vor allem bestimmt ist durch die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution. In diesem Stadium sieht er die Weltgemeinschaft der Völker potenziell im Stande, alle ihre Angelegenheiten auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene zivilisatorisch zu lösen. Das heißt, humanistisch und demokratisch, auf der Grundlage von demokratischen Rechts- und Gesellschaftsnormen. In einem solchen Rahmen sieht Öcalan fundamentale Möglichkeiten, die Lebensprobleme des kurdischen Volkes und darüber hinaus auch jener Länder, in denen es beheimatet ist, zu lösen. Wie bereits erwähnt, zieht er dabei aus den Erfahrungen des kurdischen Befreiungskampfes den Schluss, generell rein nationalistische Lösungen abzulehnen. Öcalan wendet sich damit auch gegen einen Sonderweg seines Volkes. Aber er spricht ihm die besondere Verantwortung zu, in diese Richtung einen Vorstoß zu wagen, mit gutem Beispiel voranzugehen und damit ein konstruktives Zeichen zu setzen.
Da ein solcher Weg mit den Interessen der Völker der Region sowie der gesamten Weltgemeinschaft prinzipiell übereinstimmt, verspricht sich Öcalan davon perspektivisch eine wachsende Erfolgsaussicht. Der Autor ist sich dessen bewusst, dass einem solchen konstruktiven Weg starke destruktive, das heißt, nationalistische, imperialistische sowie kompradorische Kräfte entgegenstehen und jeder Erfolg, auch der kleinste Fortschritt, nur im zielstrebigen und beharrlichen Ringen gegen diese inhumanen Kräfte, auf Grundlage der Überzeugung, Gewinnung und Mobilisierung der humanistisch und demokratisch orientieren Gegenkräfte, erreicht werden kann.
Bei der Kennzeichnung der destruktiven Kräfte strebt Öcalan eine objektivierende Untersuchung an. So benennt er beispielsweise bei der Aufdeckung des an ihm und der PKK verübten Komplottes eindeutig die Rolle führender Kräfte der USA sowie einiger Staaten der EU. Gleichzeitig hebt er das demokratische Potenzial hervor, das in diesen Staaten vorhanden ist und für die Verwirklichung einer demokratischen Zivilisation im Mittleren Osten genutzt werden kann. Diese Hervorhebung erfolgt teilweise so stark, dass eine Fehlinterpretation in der Weise möglich ist, als würde die beispielgebende Wirkung, wie er sie in diesen Staaten als Möglichkeit sieht, bereits eine aktuelle und positiv wirkende Erscheinung sein.
So wichtig für Öcalan die Nutzung des demokratischen Potenzials der europäischen Zivilisation für die Entfaltung der schöpferischen zivilisatorischen Kräfte im Mittleren Osten ist, so nachdrücklich besteht er darauf, dass die Freisetzung und Gestaltung dieses Potenzials primär das Werk der Völker dieser Region selbst sein muss. Jene regionalen und nationalen Kräfte ausfindig und kenntlich zu machen, die dieses Werk verwirklichen könnten, fordert Öcalan die größte geistige und politische Anspannung ab, da er sich ja mit seiner dramatischen Einschätzung der aktuellen Unfähigkeit dieser Kräfte in gewisser Weise eine optimistische Aussage versperrt hat. Um dieses scheinbar unlösbare Problem einer Lösung näher zu bringen, entwickelt Öcalan eine eigentümliche Sichtweise, die ohne Überhöhung, Dramatisierung und Mythologisierung nicht umgesetzt werden kann:
Das eine Charakteristikum dieser Sichtweise ist ein radikaler Rückgriff auf das Phänomen des Neolithikums und auf die urgesellschaftliche Verfassung in dieser Region, die nach seiner Einschätzung immer noch wirkt und im bäuerlichen Milieu auch gegenwärtig in Erscheinung tritt. Hierbei spielt offenbar eine Rolle, dass Öcalan zeitweise einen Teil seiner Hoffnung mit dem Realen Sozialismus verknüpft hatte und aus Enttäuschung über dessen historische Mängel und seinen Untergang nach alternativen sozialistischen Quellen sucht.
Öcalan beschränkt seine Geschichtsbetrachtung natürlich nicht auf diese Entwicklungsstufe des Neolithikums. Er gesteht auch der nachfolgenden Entwicklung der Klassengesellschaften ihre Rolle als ein notwendi ges Durchgangsstadium in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit zu. Aber immer wiedersetzt er diesen Ausbeutergesellschaften, insbesondere den von ihnen verursachten ideologischen Deformierungen des Menschen, die urgesellschaftliche Keimform als ständiges potenzielles Gegengewicht im Erinnerungs- und Beharrungsvermögen der Unterdrückten und Ausgebeuteten entgegen. Dieses Herangehen gründet Öcalan auch auf seine These, dass gegenwärtig im Mittleren Osten und insbesondere im kurdischen Volk immer noch neolithische Existenz- und Bewusstseinsformen präsent sind. Hierin sieht er einen entscheidenden Grund für die Überlebenskraft der alten Kultur und damit auch für erfolgreichen Widerstand gegenüber fremden Einflüssen bei der bäuerlichen Bevölkerung dieser Region.
Zum anderen gründet Öcalan seinen historischen Optimismus im Hinblick auf die perspektivische Schöpferkraft der Völker des Mittleren Ostens auf seine hohe Einschätzung der Rolle der Ideen und Persönlichkeiten des Widerstandes in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs. Unter diesem Gesichtswinkel schenkt er den Propheten im Mittleren Osten seine besondere Aufmerksamkeit. Dazu hat er bemerkenswerte Studien über die Rolle des Jesus von Nazareth und des Propheten Mohammed in seine Schrift einbezogen. Bei solcherart Darstellungen bedient sich Öcalan einer besonders eindringlichen und poetischen Sprache. In die Reihe der von ihm behandelten Widerstandsbewegungen ordnet er die PKK und in die Abfolge der prophetischen Widerstandskämpfer seine eigene Person ein.
Da es Öcalan infolge dieser Herangehensweise möglich wird, fortlaufend historische und aktuelle Bezüge miteinander zu verbinden und damit große historische Zeiträume mit großen Schritten zu bewältigen, ist es für ihn nicht problematisch, sich als individuelles Subjekt der Geschichte in die Abfolge von Sokrates, Abraham, Noah, Zarathustra, Jesus und Mohammed einzureihen. Hierbei ist sein Gesichtspunkt entscheidend, dass ihn mit diesen Persönlichkeiten der Umstand verbindet, sich in einer historischen Umbruchszeit an die Spitze einer zukunftsorientierten Volksbewegung gesetzt zu haben und danach zu trachten, eine ruhmreiche Vergangenheit mit einer ruhmreichen Zukunft zu verknüpfen. Dass bei solchen heroischen Parallelen der Respekt vor diesen historischen Persönlichkeiten für Öcalan keine besondere Hemmschwelle darstellt, ergibt sich aus seiner stolzen Selbstgewissheit, in seinem persönlichen Werdegang jene ideologischen Fesseln der Vergangenheit abgestreift zu haben, welche die werktätigen Menschen zu geschichtslosen Objekten herabwürdigen.
Für seine Geschichtsbetrachtung, die sich insbesondere auf diese zwei Charakteristika – auf die geschichtsbewegende Rolle progressiver Ideen und volksverbundener Persönlichkeiten – orientiert, nimmt der Autor in Anspruch, dass es sich hierbei um ein wissenschaftliches Vorhaben handelt, das sich prinzipiell abhebt von allen bisherigen Publikationen zu dieser Thematik, die nach seiner Einschätzung vom Standpunkt der Ausbeuterklassen sowie dem kolonialistisch orientierten Eurozentrismus geprägt sind. Von dieser Warte aus kritisiert Öcalan an der marxistischen Geschichtsbetrachtung die – von ihm unterstellte – Geringschätzung der Rolle der Ideologie sowie progressiver Persönlichkeiten.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die – vermeintliche – Unterbewertung der urgesellschaftlichen Ordnung als auch der Herausbildung der Sklavenhaltergesellschaft in Sumer. Dass der Verfasser diesen historischen Keimformen seine besondere Aufmerksamkeit widmet, ergibt sich insbesondere daraus, dass er gegenwärtig vorhandenen Keimen im Mittleren Osten und speziell im kurdischen Volk nachspürt, die sich nach seiner Erwartung zur machtvollen Bewegung für eine demokratische Alternative entwickeln könnten.
Dabei ist Öcalans Verhältnis zum Marxismus ambivalent: Bei seiner zivilisationsgeschichtlichen Abhandlung praktiziert der Verfasser das materialistische Herangehen der marxistischen Geschichtswissenschaft, indem er die Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen zur methodologischen Grundlage nimmt und auf diese Weise die kontinuierliche Abfolge historischer Produktionsweisen nachvollzieht. Gerade dadurch gelingt es ihm auch, die antagonistischen Gesellschaftsverhältnisse zu charakterisieren und Schlussfolgerungen im Hinblick auf den objektiv bedingten Klassenkampf der Unterdrückten und Ausgebeuteten zu ziehen. Öcalan stimmt auch insofern mit der marxistischen Geschichtsauffassung überein, dass er den gesellschaftlichen Überbau aus diesen materiell dominierten Verhältnissen ableitet. Für Marx vollzieht sich die Abfolge der materiell bedingten Produktionsweise keineswegs automatisch und mechanisch. Während Marx in ihr die primäre Kontinuitätslinie in der Geschichte sieht, spricht Öcalan einer spezifischen Kontinuität des gesellschaftlichen Überbaus – insbesondere des Staates und der Ideologie – ein starkes Eigengewicht sowie Eigengesetzlichkeit zu. Hieraus ergibt sich in seinem zivilisationsgeschichtlichen Abriss ein Bruch zwischen konkret-historischer Behandlung der verschiedenen gesellschaftlichen Entwicklungsetappen einerseits und einer abstrahierenden, übergeschichtlichen Behandlung des Ausbeuterstaates und der Ausbeuterideologie andererseits sowie auch der sozialen, politischen und insbesondere ideologischen Gegenbewegung (einschließlich der sie repräsentierenden herausragenden Persönlichkeiten). In diesem voluntaristischen Rahmen hat Öcalan keine Schwierigkeiten, die Staaten des Realen Sozialismus mit dem sumerischen Ausbeuterstaat auf eine Ebene zu bringen und den Marxismus – wenn auch mit Einschränkungen – in die Nachbarschaft der Ausbeuterideologien zu befördern.
Die Aussagen von Öcalan über den Marxismus legen einmal Zeugnis davon ab, über welche Überzeugungs- und Wirkungskraft die von Marx (und seinen schöpferischen Nachfolgern) entwickelte und angewandte Methodologie der Gesellschaftsanalyse verfügt. Gerade hierauf gründet Öcalan seine Methoden der Geschichtsbetrachtung sowie einige seiner historischen Prämissen. Zugleich legen sie Zeugnis davon ab, in welcher selektiven, reduzierten und vergröbernden Gestalt marxistisches Gedankengut an ihn wie auch an viele andere Sympathisanten der marxistischen Bewegung herangetragen worden ist. Öcalan hatte offenbar keine Gelegenheit, die zahlreichen Arbeiten marxistischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Geschichte, Philosophie und Soziologie ausführlich kennenzulernen, in denen die eigenständige Rolle von Erscheinungen des Überbaus vorgenommen wurde. Hier vor allem der Ideologie und speziell der historischen Rolle der Religion sowie der progressiven Persönlichkeiten in diesem Umfeld.
Angesichts dieser Umstände sollte weniger auf die unzureichende Kompetenz des Autors im Hinblick auf die Interpretation und Anwendung der marxistischen Lehre hingewiesen und vielmehr seine Bereitschaft zur Nutzung jener methodologischen Aspekte des Marxismus anerkannt werden, die von ihm im Prozess seiner Aneignung des Marxismus als unverzichtbar anerkannt worden sind.
Die programmatische sowie strategisch-taktische Orientierung für die kurdische Befreiungsbewegung wird im ersten Band eröffnet und nimmt im zweiten Band einen breiten Raum ein. Diese Orientierung gewinnt an Profil durch die weit gefasste und komplexe Anlage der Schrift, vor allem durch die historische und weltpolitische Einordnung der kurdischen Frage. Damit wird einer pragmatischen Sicht entgegengewirkt und dieses spezielle Anliegen von Öcalan gewinnt historische Würde und gedankliche Tiefe. Insbesondere wird dieses Profil inhaltlich dadurch geprägt, dass Öcalan als Reminiszenz seines geschichtlichen Exkurses zu der Schlussfolgerung gelangt, dass nunmehr in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit das Ziel einer demokratischen Weltzivilisation auf die Tagesordnung getreten und damit auch für die Zielvorstellungen der kurdischen Befreiungsbewegung bestimmend geworden ist. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt der programmatischen Gedanken Abdullah Öcalans.
Aber gerade aus diesem Punkt ergibt sich folgendes Problem: Der Abschluss des ersten Bandes ist auf den zweiten Juli 2001 datiert, der des zweiten Bandes auf den Zeitraum vom elften April bis 28. August 2001 (Insel İmralı / Geschlossene Haftanstalt).
Die Kerngedanken des ersten Bandes beziehen sich allerdings auf den historischen Zeitraum bis zum Ende des Kalten Krieges 1989/90 und schließen mit der perspektivischen Sicht auf eine demokratische Weltordnung ab. Damit reflektiert der Autor den historischen Sachverhalt, dass zu diesem Zeitpunkt eine solche konstruktive Alternative zum Kalten Krieg in greifbare Nähe gerückt schien. Aber die Führung der Vereinigten Staaten von Amerika hatte bereits zu diesem Zeitpunkt entschlossen die Weichen dafür gestellt, dass nicht nur der Kalte Krieg mittels der Fixierung auf ein neues Feindbild weitergeführt, sondern dessen stabilisierender Aspekt einer friedlichen Koexistenz zwischen unterschiedlichen Staaten beseitigt und die destruktive Seite fortentwickelt wird. 1991 verkündete der damalige Präsident Bush senior erstmalig öffentlich die Errichtung einer Neuen Weltordnung als zentrales Ziel der US-Führung. Mit dem damals gegen den Irak geführten Krieg wird dieses Ziel militärisch eingeleitet. Seit diesem Zeitpunkt zeichnet sich ab, dass die proklamierte Neue Weltordnung unter unumschränkter Führung der USA mittels Krieg – also als Neue Welt- Kriegs-Ordnung – errichtet werden soll. Durch den NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 wird diese massive militaristische Einflussnahme der US- Führung direkt in der europäischen Region durchgesetzt. Diese gravierende weltpolitische Wende wird von Öcalan nicht generell analysiert. Damit werden seine konstruktiven Gedanken über die Menschheitsperspektive einer demokratischen Weltordnung allerdings nicht hinfällig und wird der Wert seiner hierauf gerichteten historischen Gedankenführung nicht herabgesetzt. Wohl aber ergeben sich aus dieser destruktiven weltpolitischen Entwicklungsrichtung zwingend Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Art und Weise sowie Etappen der Durchsetzung einer demokratischen Alternative für die Weltpolitik, den Nahen und Mittleren Osten sowie speziell auch für das kurdische Volk. Diese Schlussfolgerungen sind nicht nur für die strategische und taktische Orientierung und Mobilisierung, sondern insbesondere auch für die Programmatik der Befreiungsbewegung von zentraler Bedeutung. Wenn die Schrift Öcalans in dieser Hinsicht im Wesentlichen mit dem Zeitraum von 1989/90 abschlösse, dann handelte es sich um eine historisches Dokument von hoher Aktualität. Da aber die vorliegende Schrift auf die erste Hälfte des Jahres 2001 datiert ist, könnte der Eindruck entstehen, dass der Autor den Anspruch erhebt, auch die Dekade bis zu diesem, für die aktuelle Entwicklung entscheidenden Jahr analytisch zu bewältigen. Es gibt in Öcalans Schrift durchaus Hinweise und Ansätze, welche für die Untersuchung dieses jüngsten Zeitraums genutzt werden können und in denen aktuelle Einsichten angemerkt sind. Dies betrifft vor allem die prinzipielle Kapitalismus-Kritik des Verfassers, in die auch die USA eingeschlossen sind. Im zweiten Band wird auch insofern eine Aktualisierung vorgenommen, als Öcalan am Beispiel des gegen ihn gerichteten Komplottes die bedrohliche Rolle der Führung der USA sowie bestimmter NATO-Staaten für den Frieden und die Sicherheit der Völker enthüllt. Aber zum einen ersetzen diese Gedanken nicht eine fundamentale Analyse, die jener gleichkommt, die Öcalan zu anderen historischen Perioden vorlegt. Zum anderen führt die analytische Lücke durch ihre eigentümliche Unbestimmtheit zur Verunsicherung, wenn Öcalan die Alternative einer demokratischen Weltordnung einerseits als Perspektive und andererseits als sich bereits vollziehende aktuelle Realisierung kennzeichnet. Hieraus resultiert die potenzielle Gefahr, dass eine Nachbarschaft dieser Einschätzung Öcalans zu solchen Autoren wie Michael Hardt und Antonio Negri konstruiert werden könnte. Diese beiden Autoren zeichnen verantwortlich für das Buch »Empire. Die neue Weltordnung«, in dem sie ein globalisiertes Imperium proklamieren und den USA eine Vorbildwirkung zuschreiben, womit sie die Friedens-und Befreiungsbewegung desorientieren und politisch entwaffnen.
Noch bedenklicher ist, dass durch bewusst selektive Auslegung der Gedanken Öcalans über die vermeintliche weltpolitische Demokratiesubstanz der USA, die scheinheilige Motivierung des Krieges gegen den Irak als Unternehmen zur »Demokratisierung der Region« als berechtigt gestützt werden könnte.
Eine weitere Erscheinungsform der Gebundenheit der zeitgeschichtlichen Analysen Öcalans an die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges ist seine Einschätzung des Realen Sozialismus sowie der Nationalen Befreiungsbewegung. Während ein Vorzug seiner historischen Analysen gerade darin liegt, sowohl die Kontraste als auch das Zusammenspiel von Licht und Schatten herauszuarbeiten und bildhaft darzustellen, ist seine Einschätzung des Realen Sozialismus angesichts dessen Niederlage ambivalent und oftmals vergröbernd, holzschnittartig. Dies ist auch deshalb politisch und wissenschaftlich problematisch, weil angesichts der globalen imperialen Offensive eine möglichst fundierte Analyse aller Gegenkräfte herausgefordert ist. Wie bei vielen anderen radikal Betroffenen spielen bei seiner negativen Beurteilung des Realen Sozialismus offensichtlich die bittere persönliche Enttäuschung sowie der fehlende historische Abstand gegenüber dieser gravierenden Niederlage eine Rolle. Die Aussagen des Autors zu dieser Problematik signalisieren, dass eine differenzierende wissenschaftliche Analyse dieses Phänomens und speziell der tieferen Ursachen seiner historischen Niederlage noch aussteht. Von Öcalan angesichts der äußeren Umstände der Arbeit an seiner Schrift einen konstruktiven weiterführenden Beitrag auf diesem Gebiet zu verlangen, wäre eine überzogene Erwartung. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Großteil jener im Sozialismus ausgebildeten Wissenschaftler, die eigentlich für eine solche Aufgabe prädestiniert sind, sich dieser Herausforderung gar nicht erst gestellt hat.
Vor allem kann Öcalan nicht angelastet werden, dass er die nachdrückliche historische Relativierung der sozialistischen Entwicklungsstufe durch Marx – als mit den Muttermalen des Kapitalismus behafteter niederer Phase einer neuen Gesellschaftsformation – nicht zur Kenntnis genommen hat. Im Unterschied zu der Mehrheit seiner im Realen Sozialismus tätigen Anhänger war Marx eine Idealisierung dieser sozialistischen Etappe völlig fremd. Gerade auf diesem Gebiet haben die für diese Thematik zuständigen Spezialisten größtenteils versagt, und zwar nicht nur in der Zeit des Realen Sozialismus, sondern insbesondere nach dessen Niederlage. In dieser extremen Belastungs- und Bewährungssituation hat sich ein Großteil dieser marxistisch ausgebildeten Persönlichkeiten von Marx abgewandt statt ihr vorangegangenes Versagen durch tiefgründige Beschäftigung mit dessen wissenschaftlicher Methodologie wieder gut zu machen. Damit wurden Sympathisanten der marxistischen Lehre und Bewegung wie Abdullah Öcalan im Stich gelassen. Und gerade dieses Grundgefühl hat offenbar in wesentlichen Punkten die Arbeit von Öcalan an seiner Schrift geprägt: dass er von jenen Kräften und Persönlichkeiten aus der marxistischen Bewegung, an die er eine bestimmte Hoffnung geknüpft hat, im Stich gelassen worden ist und sich damit auf seine individuellen Kräfte zurückgeworfen sieht. Dieser Sachverhalt wird von ihm besonders deutlich belegt durch seine Aussagen über den Verrat, den er im Rahmen des gegen ihn geschmiedeten Komplotts gerade von ehemaligen Repräsentanten der Sowjetunion erfahren musste.
Während viele der Vorkämpfer und Vorbilder Öcalans gerade unter den Bedingungen der Kerkerhaft das »Kapital« von Karl Marx studiert und daraus inhaltliche und methodologische Ansätze für vertieftes Geschichts- und Perspektivverständnis gewonnen haben, sucht Öcalan angesichts seiner Enttäuschung nach einer Alternative zum »Kapital« und wählt andere Ausgangspunkte, um zum Ursprung zu gelangen.
Die kritischen Feststellungen zielen nicht auf eine Abwertung der zeitgeschichtlichen und perspektivischen Aussagen von Abdullah Öcalan, sondern auf deren partielle Relativierung – im Sinne des vom Autor herausgeforderten Dialogs. Hierbei kann davon ausgegangen werden, dass der Charakter der vorliegenden Schrift als eines Werkstattbuches gerade bei dieser aktuellen und zukunftsorientierten Problematik besonders deutlich wird – befindet sich doch hier die Geschichte selbst in einem Werkstatt-Prozess.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte benötigte fast zwei Jahre für die Urteilsfindung in dem von Öcalan angestrengten Verfahren. Vermutet wird, dass sich dieser lange Zeitraum aus der Hartnäckigkeit des türkischen Vertreters ergeben hat, der auch gegen das Urteil stimmte. Das Abstimmungsergebnis: sechs zu eins. Das am zwölften März 2003 ergangene Urteil enthält zwei entscheidende Aussagen:
Einmal wird die Rechtmäßigkeit des Gerichtsurteils infrage gestellt, in dem Öcalan am 29. Juni 1999 zum Tode verurteilt worden ist. Obwohl die Todesstrafe im Jahr 2002 aufgehoben wurde – und damit von türkischer Seite die Sprengkraft des »Falles« entschärft worden ist –, sah sich das Gericht veranlasst, in dieser Hinsicht Einwände zu erheben. Hierbei werden allerdings nicht prinzipielle Erwägungen angeführt, sondern Verfahrensfehler.
Zum anderen werden sowohl das Komplott als auch die unmenschlichen Haftbedingungen als rechtens eingeschätzt. Die Klagepunkte der Anwälte Öcalans im Hinblick auf Verschleppung ihres Mandanten sowie seine verschärfte Isolationshaft wurden zurückgewiesen. In den Stellungnahmen Öcalans wird aber gerade dieser Aspekt in den Mittelpunkt gerückt: die internationale Verschwörung, welche zu seiner Verschleppung, Misshandlung und Verurteilung geführt hat. Gerade dieser Tatbestand bietet die Möglichkeit, den »Fall Öcalan« in den Zusammenhang zu bringen, welcher zu jenem großangelegten Komplott geführt hat, das seit dem Herbst 2001 als weltweiter ununterbrochener »Krieg gegen den Terrorismus« in den Vordergrund der Zeitgeschichte gerückt ist. In diesem Rahmen wird Öcalan zu einem Prototyp des Terroristen abgestempelt. Die Richter sahen ihre Verantwortung nicht darin, diesem verleumderischen Vorwurf nachzugehen.
Für sie war diese Etikettierung Öcalans offenbar eine Prämisse ihres Verfahrens. Die entscheidende Prämisse des »Krieges gegen den Terrorismus« besteht ja darin, dass nicht irgendein Gericht entscheiden darf, wer ein »Terrorist« ist und wie mit dem Betreffenden umgegangen wird. Dies liegt ausschließlich in der Kompetenz der US-Führung sowie ihrer Komplizen. Gerade in dieser Hinsicht besteht für diese Kräfte die Bedeutung solcher Persönlichkeiten wie Öcalan darin, dass sie zu Terroristen abgestempelt werden können, und nicht darin, ob sie wirklich welche sind. Deshalb ist die konstruktive Absage Öcalans an jeglichen Terrorismus und die konsequente Betonung eines friedlichen und demokratischen Weges für die US-Führung wie ihre türkischen Verbündeten kein erfreuliches Ereignis, an dem man anknüpfen könnte, sondern ein zusätzliches Ärgernis, das man ignorieren und blockieren muss. Die entscheidende Herausforderung gegenüber diesen destruktiven Kräften liegt im konstruktiven Charakter des Auftretens von Öcalan und speziell seiner Schrift.
Ein anderes Urteil zu sprechen, hätte für die Richter bedeutet, sich der undifferenzierten Hexenjagd gegen »Terroristen« entgegenzustellen und auch für dieses politisch und juristisch brisante Gebiet die prinzipielle Beachtung der Menschenrechte sowie die strikte Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Eine solche Möglichkeit, die noch vor wenigen Monaten angesichts der allgemeinen »Terrorismus«-Hysterie außerhalb »real-politischer« Überlegungen lag, inzwischen aber angesichts der Ernüchterung über den extremen Staatsterrorismus der USA an Boden gewinnt, wurde in diesem Fall vertan.
Bei der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes geht es nicht nur um den Fall Öcalan. Dieses Gerichtsurteil hat exemplarischen Charakter. Das hierdurch ausgesandte Signal lautet: Bei dem Ausfindigmachen, Einfangen und Behandeln von vermeintlichen Terroristen – denn: ob sie wirklich welche sind, kann ja erst im juristischen Verfahren ermittelt werden – werden keine juristischen Beschränkungen auferlegt. Als zuständig betrachtet sich dieses Gericht lediglich für die Beachtung bestimmter elementarer Regeln des Gerichtsprozesses im engeren Sinne, die nach diesem Urteil auch für Angeklagte zu gelten haben, denen »Terrorismus« zur Last gelegt wird.
Mit seinem Urteil hat dieser Europäische Gerichtshof sein Wirkungsfeld prinzipiell eingeschränkt und einen Gesichtsverlust in Kauf genommen. Mit seiner Kritik an Verfahrensfehlern konnte er diesen Sachverhalt abschwächen und einen gewissen Anschein seiner Unabhängigkeit vermitteln.