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In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem »Manifest der demokratischen Zivilisation« ein fünfbändiges Opus Magnum geschrieben, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. Im hier vorliegenden ersten Band »Zivilisation und Wahrheit« kritisiert Öcalan die Kapitalistische Moderne als vorläufigen Endpunkt der Geschichte und weitet dabei den Blick auf die zugrunde liegenden Strukturen aus. Es steht für ihn außer Frage, dass die Kapitalistische Moderne nur eine Zivilisationsform unter vielen möglichen darstellt. Ohne die wesentlichen Stränge der zivilisatorischen Entwicklung zu verstehen, ohne ihre jeweiligen revolutionären wie reaktionären Phasen zu untersuchen (z.B. des Christentums oder des Islam), kann die Kapitalistische Moderne aber weder erklärt noch überwunden werden. Indem Öcalan die Methoden zum Verständnis von Gesellschaft, Wissen und Macht hinterfragt, scheinbar unterschiedliche geschichtliche Entwicklungen in der Welt aufeinander bezieht und sie zu einem Hauptstrom der Zivilisation zusammenführt, bereitet er einer Soziologie der Freiheit den Boden. »›Die kapitalistische Zivilisation‹ ist ein Buch, das man als Linker lesen muss. Und Öcalan ist einer der großen Denker unserer Zeit.« – Peter Schaber, junge Welt
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Seitenzahl: 438
Veröffentlichungsjahr: 2023
Abdullah Öcalan
Manifest der Demokratischen Zivilisation
Erster Band
Zivilisation und WahrheitMaskierte Götter und verhüllte Könige
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Zivilisation und Wahrheit: Maskierte Götter und verhüllte Könige
Manifest der demokratischen Zivilisation, Band 1
1. Auflage März 2017
3. leicht überarbeitete Auflage 2021
Aus dem Türkischen: Reimar Heider
Titelmotiv: Inanna von Ercan Altuntaş
Öl und Naturfarben auf Papier, 50 x 65 cm
© Abdullah Öcalan 2009
Erscheint in der International Initiative Edition
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)
Postfach 100511, 50445 Köln
www.freeocalan.org
Erstveröffentlichung der türkischen Ausgabe 2009
bei Mezopotamien Verlag, Neuss:
Uygarlık – Maskeli Tanrılar ve Örtük Krallar Çağı
eBook UNRAST Verlag, April 2023
ISBN 978-3-95405-147-2
© UNRAST-Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag und Satz: Internationale Initiative
Anmerkungen des Übersetzers
Vorwort
von Antonio Negri
Vorwort
von David Graeber
Einführung
Erster Teil Methode und Wahrheitsregime
1 Mikrokosmos
2 Die biologische Welt
3 Gesellschaft
4 Das menschliche Denken
5 Metaphysik
Zweiter Teil Quellen der Zivilisation
1 Was verdankt die Menschheit dem Fruchtbaren Halbmond?
2 Problematik der Ausbreitung der arischen Sprache und Kultur
3 Die Interpretation der gesellschaftlichen Entwicklung ausgehend vom Fruchtbaren Halbmond
Dritter Teil Urbane zivilisierte Gesellschaft: Die Zeit der maskierten Götter und verhüllten Könige
1 Die sumerische Gesellschaft
2 Analyse der zivilisierten Gesellschaft
3 Problematik der Ausbreitung der zivilisierten Gesellschaft
4 Stufen der zivilisierten Gesellschaft und die Problematik des Widerstands
Ausblick
Index
Biografien
Abdullah Öcalan
David Graeber
Antonio Negri
Bibliografie
Abdullah Öcalans Gefängnisschriften
Anmerkungen
Am 1. September 2007 begann Abdullah Öcalan mit seinem opus magnum, dem auf fünf Bände angelegten »Manifest der demokratischen Gesellschaft«. Als er am 21. Dezember 2010 den Stift aus der Hand legte, hatte er mehr als 2300 A4-Seiten mit mehr als einer halben Million Wörtern oder rund 4 350 000 Zeichen gefüllt – und zwischen dem vierten und dem fünften Band noch ein weiteres Buch verfasst, die »Roadmap für Verhandlungen«, welche bereits seit 2013 auf Deutsch vorliegt.
All dies geschah unter den Bedingungen der seit dem 15. Februar 1999 andauernden Isolationshaft. Öcalan kann grundsätzlich keinen Besuch außer von Geschwistern empfangen, und meist nicht einmal den. Schriftliche Kommunikation mit der Außenwelt ist ihm völlig verwehrt, ebenso Telefongespräche oder gar Zugang zum Internet. Diese Umstände betrachten wir als Folter. Und nicht nur wir – der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat zumindest die Haftbedingungen bis Ende 2009 als unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention gebrandmarkt. Weitere Klagen gegen die Türkei sind anhängig.
Vergleichsweise belanglos erscheint dagegen, dass uns als ÜbersetzerInnen und HerausgeberInnen keinerlei Kontakt zum Autor möglich ist. Und doch stellt uns das vor besondere Herausforderungen, weil jegliche Art von Nachfragen ausgeschlossen ist. Wir haben uns daher nach eigenem Ermessen bemüht, den Text behutsam zu bearbeiten. Dabei haben wir auf Kürzungen fast vollständig verzichtet. Statt dessen fügten wir Anmerkungen und Literaturhinweise ein. Anmerkungen des Autors wurden zumeist in Klammern im Text belassen; in wenigen Fällen wurden sie in mit * versehenen Fußnoten verschoben und mit »A. Ö.« gekennzeichnet. Sämtliche mit Zahlen versehenen Fußnoten stammen vom Übersetzer und der Herausgeberin.
Bei Zitaten ist zu bedenken, dass der Autor zumeist aus dem Gedächtnis zitiert. Sein Zugang zu Büchern und die Möglichkeit, Notizen zu machen, wurden seit 2005 systematisch eingeschränkt. Originalzitate wurden, wo es sinnvoll erschien, in Fußnoten nachgetragen.
Zwei Anmerkungen zur Übersetzung selbst: Ein zentrales Konzept im Text ist anlam. Das türkische Wort anlam bedeutet Deutung, Bedeutung oder Sinn. Anlama hingegen bedeutet Verstehen, und der Autor spielt mit der Nähe zu anlam. Der Begriff taucht in vielen Zusammenhängen und Zusammensetzungen im Text auf und lässt sich im Deutschen nicht durchgängig mit demselben Begriff wiedergeben. Daher wurde er je nach Zusammenhang als Deutung, Bedeutung oder Sinn übersetzt. Es ist daher sinnvoll, die eher passiven Begriffe Sinn und Bedeutung und den eher aktiven Begriff Deutung sowie Verstehen zusammen zu denken.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff çözümleme, Analyse. Darin steckt im Türkischen çözüm, Lösung. Wie der Autor an anderer Stelle betont hat, sollte eine Analyse einer Person oder eines Sachverhalts immer auf die Lösung eines konkreten Problems gerichtet sein. Auch diese gewollte Nähe der beiden Begriffe ist unübersetzbar und sollte deshalb hinzugedacht werden.
Die Lektüre dieses Buches von Öcalan ist eine außergewöhnliche Sache: Ein Mann im Knast, der aber noch in der Lage ist, ein Denken zu entwickeln, das jede Schließung zerstört, ein politischer Führer, der – unter unmöglichen Bedingungen – weiterhin eine ethische und zivilisierte Lehre für das eigene Volk hervorbringt und erneuert. Ein Antonio Gramsci für das eigene Land. Ein Beispiel für alle.In diesem Buch führt Öcalan seine Gedanken über den Ursprung der Zivilisation und des Dualismus (der Klasse und der Zivilisation) aus, die seit Beginn der Geschichte unser zivilisiertes Leben charakterisieren: auf der einen Seite der Staat und auf der anderen die Gemeinschaft. Das, was er hier aus der Geschichte der indoarischen Sprachen und der sozialen Strukturen des Fruchtbaren Halbmonds in anthropologischen und ethnologischen Begriffen ausgräbt, stellt tatsächlich eine große Metapher dar, ein Paradigma, das die Figuren der kapitalistischen Gesellschaft antizipiert. Auf diesen Seiten, so sagt er uns, »wollte ich eigentlich eine Grundlage für die Analyse der kapitalistischen Moderne legen« und stellt dar, wie verfehlt der Anspruch des Kapitalismus ist, »letztes System und von Dauer zu sein« – anders ausgedrückt, wie verfehlt die Behauptung ist, dass der Kapitalismus das »Ende der Geschichte« darstellt. Diese imperiale Fabel, die seit dem Ende des kalten Krieges zirkuliert, stellte die kapitalistische Hoffnung auf einen stabilen und dauerhaften status quo dar, in dem die Hegemonie der kapitalistischen Eliten dauerhaft und ihre Akkumulation des Reichtums absolut gesichert wäre. Öcalan verhöhnt diese Hoffnung und zeigt, wie sie nicht bloß in sich falsch ist, sondern für jedes Regime der Wahrheit, für jede ehrliche Möglichkeit, das Wahre zu sagen, schädlich ist. Letzteres besteht darin, sich in den Transformationen der Geschichte und den Kämpfen, die sie determinieren, zu befinden: nur so kann sie in ihrer Relativität erfasst und in ihrer Absolutheit bestätigt werden. Aber das ist nicht alles. Auch die zentrale These dieses Bandes wird hier untersucht, nämlich: »Der Kampf, den wir in schriftlicher Form verfolgen können, verläuft zwischen der staatlichen Zivilisation (im Wesentlichen beruhend auf Klassenstadt und -staat) und der nichtstaatlichen demokratischen Zivilisation, deren Rumpf die agrarische und dörfliche Gesellschaft bildet und die mit der Zeit auch die städtischen Werktätigen umfasst. Alle ideologischen, militärischen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, Konflikte und Kämpfe in der Gesellschaft spielen sich zwischen diesen beiden Hauptsystemen der Zivilisation ab.« Aber »das System der staatlichen Zivilisation entsteht gestützt auf die miteinander verschränkte Entstehung von Klasse, Stadt und Staat. Bis zur jüngsten Ära des Kapitalismus, der Ära des Finanzkapitals, entwickelt es sich immer weiter und dehnt sich aus. Dieses System beruht überwiegend auf Ausbeutung und Repression gegen die landwirtschaftliche und dörfliche Gesellschaft. Im Laufe der Zeit integriert es auch die immer zahlreicheren städtischen Werktätigen in das System von Repression und Ausbeutung. Wenn die fünftausendjährige staatliche Zivilisation trotz der ihr gegenüberstehenden demokratischen Zivilisation, die auf einer vielleicht noch größeren zeitlichen und räumlichen Ausdehnung beruht, aber der es nicht gelang, ihre ideologische, militärische, politische und wirtschaftliche Zersplitterung zu überwinden, bis heute existiert, so verdankt sie dies im Wesentlichen ihrer ideologischen Hegemonie. Systeme von Gewalt und Unterdrückung konnten nur auf der Basis ideologischer Hegemonie Erfolg haben. Der Hauptwiderspruch ist nicht nur der Klassenwiderspruch, sondern liegt gleichzeitig auf der Ebene der Zivilisation.«
Von diesen Voraussetzungen leitet sich die programmatische Wende ab, mit der Öcalan seit den 90er Jahren die kurdische nationale Befreiungsbewegung prägte und sie so in ein Projekt der »demokratischen Autonomie« verwandelte. Öcalan sagt, dass die drei Übel der gegenwärtigen Zivilisation die Nationalstaaten, der Kapitalismus und das Patriarchat seien und dass alle zusammen die »kapitalistische Moderne« konstituieren. Das Ziel der »demokratischen Autonomie« besteht vielmehr darin, eine politische und moralische Gesellschaft wieder zu erbauen, die durch die kapitalistische Moderne zerstört wurde. Das, was in Rojava, im syrischen Teil Kurdistans passiert ist, vermittelt uns eine Idee davon, was die entkolonialisierte demokratische Autonomie sein könnte, wie auch ein Maß von der Macht dieser Idee.
Man beachte diese Voraussetzung genau: es ist eine theoretische Kriegserklärung gegen »die«, so Öcalan weiter, »primitiv-nationalistische Verteidigung des Nationalstaats«. Sowohl bezogen auf die Welt der Philosophie als auch auf die Sphäre der Politik stellen wir die revolutionäre Macht dieser Aussage fest. Wir stellen dies in einer Epoche fest, in der auf Souveränität, Nationalismus und Reaktion basierende Ideologien den Unterschied zwischen rechts und links verschwimmen lassen. Aber Öcalan beharrt darauf: seine Ablehnung des nationalistischen Souveränismus richtet sich insbesondere gegen jede Bewegung der traditionellen Linken, die sich diesen Konzepten und damit der »ideologischen Borniertheit«, auf der das westliche kapitalistische System basiert, anschließt. Diese Position von Öcalan führt uns wieder die Kämpfe der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ins Gedächtnis, in denen die autonomen Bewegungen gegen jene Positionen der ›Dritten Welt‹, die (vor allem in den Entkolonialisierungsbewegungen) im Namen der nationalen Einheit jeden Bezug auf den Klassenbegriff vergaßen und sich damit ihrer Neutralisierung und Manipulation durch das kapitalistische Kommando aussetzten! Dieser theoretische Krieg entwickelt sich folglich mit großer Kohärenz. Das kurdische Volk, dieses »Volk, das keines ist«, stellt in ihm ein wahres Beispiel eines Motors des Kampfes gegen die »kapitalistische Moderne«, das heißt gegen das Kapital und jede souveräne Konzeption der Nation, dar. »In seiner großen Mehrheit wird es stets auf Sinn stiftende Anführer warten, die diesen Durst stillen. Diese Mehrheit wird die engen Gewänder des mittelalterlichen Lebens, die sie schon lange einzwängen, schnell ablegen können und sich auch nicht in einen Mini-Nationalstaat zwingen lassen, der ein festes Standbein der kapitalistischen Moderne darstellt und ihr zwar angeboten wird, doch keinem Volk die Chance auf ein freies Leben bietet. Die demokratisch-konföderale Leitungsform ist aus historischer, geografischer und aus Sicht ihrer charakteristischen Besonderheiten für die Kurden die am besten passende politische Form. Sie bietet ihnen am ehesten die Chance, ihre Ideale von Freiheit und Gleichheit zu verwirklichen.« Auf Basis dieses Modells der Gemeinschaft, in der politischen Form des »demokratischen Konföderalismus« können Kurdistan und der Nahe Osten wiederaufgebaut werden.
Es reicht nicht aus, die riesige ›letzte Kraftanstrengung‹ der Wahrnehmung eines Geistes der performativen Geschichte der Gemeinschaft, der demokratischen Konföderation, zu bewundern, mit der dieser Mann, unbestrittener Kopf einer Gemeinschaft freier Menschen, die in der halben Welt verstreut sind, einen nationalen Befreiungskampf geprägt hat und ihn in eine vollkommen neue und kräftige Figur des proletarischen Internationalismus verwandelt hat. Andere Führer der Prozesse nationaler Befreiung und von Projekten der Entkolonialisierung, wie beispielsweise Aimé Césaire und Leopold Senghor, haben sich geweigert, die Doxa als unhinterfragt hinzunehmen, nach der die Selbstbestimmung einen souveränen Nationalstaat erfordert. Aber diese Autoren und Führer haben ihr Versprechen nicht eingehalten. Die Stärke Öcalans und seines Volkes, auf dem Weg zum »demokratischen Konföderalismus« voranzuschreiten, ist im Gegensatz dazu bis heute der siegreichere Weg.
Öcalan verteidigt das Recht auf Utopie und dass jeder Revolutionär nicht anders kann, als diese zu verfolgen. Aber wir sollten angesichts dieser aufklärerischen Option nicht gerührt sein. Die Utopie Öcalans, so stellen wir bald fest, ist sehr konkret: sie ist verkörpert in den Kämpfen und Ordnungen der durch die kurdischen kommunistischen Milizen befreiten Zonen! Es ist eine wahre Utopie, die Öcalan vertritt, ein kostbares Juwel, das sich in knallharter Weise dem heutzutage so häufigen Wiederaufleben der Nationalfaschismen widersetzt. Die Utopie der demokratischen Konföderation der Völker verkörpert einen realen Prozess, der jede Schlacht gewinnen wird.
Öcalan ist ein Gefangener, der zum Mythos wird – wie Mandela im zwanzigsten Jahrhundert, so er im einundzwanzigsten. Er drückt eine Reihe von Konzepten aus, die im einundzwanzigsten Jahrhundert zunehmend zu Bausteinen für die politische Konstruktion einer neuen Welt werden.
Antonio Negri
5. Februar 2019
Übersetzung: Lars Stubbe
Marx glaubte, es sei die Fantasie, die uns menschlich macht: Im Gegensatz zu Bienen stellen sich Architekten zuerst die Bauten vor, die sie errichten wollen, und danach werden diese dann auch tatsächlich gebaut. In gewisser Hinsicht ist die große Frage, die alle revolutionären Gedanken beflügelt: Wenn wir so beim Hausbau vorgehen, warum nicht auch bei der sozialen Ordnung als Ganzes? Wie viele von uns – würden sie sich einfach eine Gesellschaft vorstellen, in der sie leben möchten – kämen dabei auf eine Vorstellung, die auch nur im Entferntesten derjenigen ähneln würde, die derzeit existiert? Doch fast jede ernsthafte Anstrengung, so wie ein Architekt vorzugehen – einen Plan für eine gerechte Gesellschaft zu entwerfen und mit dem Bau zu beginnen, scheint zu Frustrationen oder Katastrophen zu führen.
Man könnte argumentieren, dass dies der Grund dafür sei, weshalb wir eine Theorie des Sozialen haben. Die Idee einer Sozialwissenschaft entsteht aus den Trümmern revolutionärer Projekte. Wir stellen uns die sozialen Äquivalente zu schwimmenden Palästen und Tatlin-Türmen vor, versuchen sie zu errichten und müssen bestürzt feststellen, wie sie um uns herum zusammenbrechen. Bestimmt muss es soziale Äquivalente zu den Gesetzen der Physik und der Gravitation geben, deren wir uns nicht bewusst waren. Die Argumentation der Positivisten im Gefolge der Französischen Revolution oder von Marx im »Kapital« nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 ist, man müsse diese Gesetze verstehen, um solche Enttäuschungen in Zukunft zu vermeiden. Doch jeder Versuch einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die menschliche Gesellschaft – ob von rechts oder links, sei es in Form der neoklassischen Ökonomie oder des historischen Materialismus – hat sich als noch katastrophaler herausgestellt.
Ein Problem ist – zumindest das haben viele Revolutionäre auf der ganzen Welt in den 1990er Jahren begonnen zu begreifen –, dass wir mit einem sehr begrenzten Begriff von Fantasie arbeiten. Alle, sogar die Architekten, haben begriffen, dass sie ihre Entwürfe nicht aus dem Nichts entwickeln, und falls sie es tun, die meisten es vorzögen, nicht in dieser Art von Strukturen leben zu wollen. Und einige der vitalsten, kreativsten, fantasievollsten revolutionären Bewegungen zu Beginn des neuen Jahrtausends – die Zapatisten in Chiapas sind vielleicht die hervorstechendsten – waren diejenigen, die sich zugleich in einer weit zurückreichenden traditionellen Vergangenheit verorten. Es gab eine wachsende Erkenntnis in revolutionären Kreisen, dass Freiheit, Tradition und Fantasie schon immer – und vermutlich auch in Zukunft – miteinander in einer Weise verstrickt sind, die wir nicht vollständig verstehen. Unsere theoretischen Instrumente sind unzureichend.
Vielleicht das Einzige, das wir an dieser Stelle tun können, ist, in die Vergangenheit zurückzukehren und von vorne zu beginnen.
***
In solchen Fällen könnte man sagen, je anspruchsvoller der Denker, umso weiter zurück in die Vergangenheit dürfte er wahrscheinlich greifen. Wenn dem so ist, dürften Öcalans Arbeiten in den letzten fünfzehn Jahren seiner Gefangenschaft zu den ambitioniertesten gehören. Es stimmt, er hat es sorgfältig vermieden, in die Rolle eines Propheten zu schlüpfen. Letzteres wäre unter diesen Umständen ein Leichtes: Verkündigung epochaler Erklärungen ex cathedra wie ein Zarathustra der letzten Tage. Klar – das ist seine Sache nicht. Vom Temperament her ein Radikaler möchte er zugleich auch nicht in den Stiefeln anderer stehen. Er ist auch mit den Denkern, die er am meisten bewundert – Bookchin, Braudel, Foucault – nie ganz zufrieden, sondern er möchte als selbsternannter Amateur über Geschichte und Sozialwissenschaften sprechen, die derzeit nicht vorhanden sind, aber die man vielleicht erahnen kann. Wie würde eine Soziologie der Freiheit tatsächlich aussehen? Man kann es nur vermuten. Sicherlich, die bestehende Gesellschaftstheorie beschränkt sich vor allem auf jene Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, in denen wir nicht frei sind, in denen wir uns aber zumindest vorstellen können, dass unsere Handlungen von Kräften außerhalb unserer Kontrolle vorherbestimmt sind.
Öcalans geistiges Projekt ist vor allem von der Erkenntnis getrieben, dass die Umarmung des Positivismus durch die revolutionäre Linke, die Vorstellung, dass es sogar möglich sei, eine derartige Wissenschaft der Gesellschaft zu konzipieren, zur »Krankheit der Moderne« wurde, zur Religion ihrer Technokraten und Beamten und für die revolutionäre Linke zur reinen Katastrophe – denn sie bedeutet nichts für die Klassen, die tatsächlich die Dinge schaffen:
»Ich muss voll Wut und Schmerz feststellen: Es war ein großes Unglück, dass der mehr als 150-jährige edle Kampf für den ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ mit einem vulgärmaterialistischen Positivismus geführt wurde, der ihn von vornherein zum Scheitern verurteilte. Zweifellos stand dahinter ein ›Klassenbewusstsein‹, für das sie ja so oft kämpften. Aber anders, als sie dachten, war es nicht die Klasse der Arbeiter und anderer Werktätiger, die gegen die Versklavung und Proletarisierung Widerstand leistete, sondern die kleinbürgerliche Klasse, die schon längst vor der kapitalistischen Moderne kapituliert hatte und von ihr absorbiert worden war. Der Positivismus ist gerade die Ideologie ihres blinden Starrens auf den Kapitalismus und ihrer oberflächlichen Reaktionen gegen ihn.«
Schlimmer noch, eine solche Ideologie stellt sicher, dass jedes revolutionäre Experiment nur sofort wieder in die Logik der kapitalistischen Moderne zurückfällt, wie die vergangenen Revolutionen ausnahmslos gezeigt haben.
Wie lässt sich eine Alternative entwickeln – eine, die dem Sinn der Begriffe Bedeutung, Geheimnis, Kreativität, sogar Göttlichkeit gerecht wird und die sich der Kalkulation der Händler und Bürokraten entzieht, aber eindeutig Klarheit über die alltägliche Lage der Mehrheit der arbeitenden Klassen dieser Erde schafft? Wir können nur mit einer Rückkehr zur Geschichte beginnen, indem wir versuchen zu verstehen, wie diese Lage anfänglich entstanden ist. Aber das wiederum bedeutet bis zu einem gewissen Grad, sich mit dem Mythos beschäftigen zu müssen. Ich beeile mich hinzuzufügen: Hier meine ich den Mythos nicht im (positivistischen) umgangssprachlichen Sinn von »Geschichte, die nicht wahr ist«, sondern in dem Sinne, dass jede historische Darstellung, die nicht einfach nur Ereignisse beschreibt, sondern sie in gewisser Weise organisiert, als eine größere, sinnvolle Geschichte erzählt, zwangsläufig einen mythischen Charakter bekommt. Wenn Geschichte nicht in diesem Sinn mythisch ist, dann ist sie sinnlos. Insofern ist es natürlich nicht falsch, Mythen zu erschaffen, eine wirksame politische Bewegung ist schwer vorstellbar ohne sie. Positivisten tun es auch. Das Wichtigste ist, dass man ehrlich gegenüber dem ist, was man tut, während man es tut.
Hier ist Öcalan absolut ehrlich. Entwaffnend ehrlich sogar. Seinen Sinn für größere Bedeutung, so erklärt er, lässt sich auf den Quell von mythischen Bildern aus seiner Kindheit am Zagros-Gebirge zurückführen, Ort der Mänaden des Dionysos; auf die nachklingende Schuld, Vögeln die Köpfe abgerissen zu haben; auf seine erste Erfahrung des Göttlichen im Spiel der Kinder; auf die Dorf-Mädchen, die vorübergehend frei von der patriarchalen Autorität waren. Wir können annehmen, dass er uns im Kern sagt: Hier war etwas, das universal ist. Solche Erfahrungen sprechen von der historischen Tragödie einer Region, deren Frauen beispiellose Beiträge zur menschlichen Zivilisation geschaffen haben, die aber seitdem zu einem blutigen Opfer des Imperiums degradiert wurde:
»Ab diesem Zeitpunkt wurde Nordmesopotamien zur ständigen Konfliktzone zwischen dem Römischen Reich und dem Parther- bzw. Sassanidenreich. Mehrfach wechselte es den Besitzer. Dieser gesegnete Boden, auf dem die neolithische Revolution und die ersten Zivilisationen wuchsen, wurde geradezu zum dialektischen Gegenpol. Von einer Quelle der Zivilisationen wurde es zum Ort, an dem sie ertränkt werden. … Dieses Gebiet [brachte] nie wieder ein eigenes Zentrum hervor und fiel ständig Angriffen, Besatzungen, Annexionen und Kolonialisierungsbestrebungen anderer Zivilisationen zum Opfer. Dies ist eine der tragischsten Entwicklungen der Geschichte und ähnelt der Geschichte der Frau: Nachdem sie die größte Kulturrevolution geschaffen hat, ist sie das am meisten geknechtete Wesen.«
Öcalan beginnt mit diesem Gefühl der Empörung, das Tausende patriarchale Aufstände in der Geschichte auslöste (»Wir werden behandelt wie die Frauen!«), und kommt zu dem Schluss: Wenn wir nicht das gleiche endlos destruktive Muster reproduzieren wollen, müssen wir diese Logik völlig auf den Kopf stellen.
***
Wie lässt sich das bewerkstelligen? Ich denke, man kann guten Gewissens behaupten, dass es im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts zwei große zivilisatorische Erzählungen geschafft haben, die Vorstellungswelt der Menschen zu besetzen, und das mit tiefgreifenden politischen Auswirkungen.
Die erste führt uns zurück zu den Geschichten der Aufklärung über den Ursprung sozialer Ungleichheit. In ihrer zeitgenössischen Variante hört sich das in etwa so an: Es gab einmal den Menschen, der in glücklichen, kleinen, egalitären Gruppen von Jägern/Sammlern lebte. Macht und Dominanz waren unbekannt, es fehlte überhaupt jede echte soziale Struktur. Mit der Erfindung der Landwirtschaft, die speicherbare Überschüsse und unerfreuliche Eigentumsunterschiede möglich machte, begannen die Dinge, den Bach hinunterzugehen. Der eigentlich grundlegende Bruch aber kam mit dem Aufkommen der Städte und damit der Zivilisation – »Zivilisation« im wörtlichen Sinn, was schlicht bedeutet, dass Menschen in Städten leben. Die Konzentration von Bevölkerung und Ressourcen, die Urbanisierung, musste zwangsläufig auch bedeuten, dass sich herrschende Klassen bildeten, die in der Lage waren, per Beschlagnahme Kontrolle über die Überschüsse sicherzustellen; es entstanden also Staaten, Sklaverei, Eroberung, Armeen, ökologische Zerstörung, aber zugleich auch Schrift, Wissenschaft, Philosophie und organisierte Religionen. Die Zivilisation kam also als Paket. Man konnte dies als unvermeidlich annehmen, gewaltsame Ungleichheiten als Preis des Fortschritts akzeptieren, oder man konnte davon träumen, eines Tages zurückzukehren zu einer neuen Version des alten paradiesischen Zustandes – entweder durch revolutionären Wandel, technologischen Fortschritt, oder, in einigen radikalen Versionen, durch die Förderung des industriellen Zusammenbruchs und die Rückkehr zum eigentlichen Jäger-/Sammler-Dasein. Aber die Zivilisation selbst war eine Einheit, die unvermeidliche Folge der Erbsünde, Tiere und Pflanzen zu zähmen, und ihr Wesen konnte nicht geändert, nur angenommen oder abgelehnt werden.
Die zweite Geschichte war ganz anders. Man kann sie den Mythos der arischen Invasoren nennen. Diese Geschichte beginnt so: Es war einmal eine matriarchalische Zivilisation, die sich über den Fruchtbaren Halbmond und darüber hinaus erstreckte. In fast allen Jäger-/Sammler-Gesellschaften gelten Frauen als Expertinnen für die Pflanzenwelt. Logischerweise ging man davon aus, dass Frauen die Landwirtschaft erfunden haben müssen und dass dies den Grund für die außerordentliche Betonung von Göttinnenfiguren und Darstellungen mächtiger Frauen in den ersten fünftausend Jahren der Agrargesellschaft darstellt. Hier wurde der Aufstieg der Städte nicht als ein an sich problematischer Vorgang erachtet – das minoische Kreta, eine bronzezeitliche städtische Zivilisation, deren Sprache wir nicht lesen können, deren Kunst aber keine Darstellungen männlicher Autoritäten jeglicher Art aufweist, wird oft als friedlich angesehen, als anmutige, künstlerische Kulmination dieser neolithischen matriarchalen Ordnung. Der eigentliche Bruchpunkt kam nicht mit dem Aufstieg der Städte, sondern mit den Einfällen patriarchaler, nomadischer oder halbnomadischer Invasoren wie den semitischen Stämmen, die sich aus den umliegenden Wüsten auf die Gebiete von Tigris und Euphrat ausdehnten, sowie europäischer oder arischer Hirtenvölker, von denen angenommen wurde, dass sie sich irgendwo vom heutigen Südrussland aus bis nach Irland und in das Ganges-Tal ausgebreitet haben, wobei sie ihre Sprachen, ihre Kriegeraristokratien, ihre heroischen Epen und Opferrituale mitbrachten. Wieder konnte man sich mit einer der beiden Seiten identifizieren. Für viele Dichter, Romantiker, Revolutionäre und Feministinnen war dies der wehmütige Traum eines verlorenen gegangenen pazifistischen, kollektivistischen Paradieses. Imperialisten tendierten dazu, die ganze Geschichte auf den Kopf zu stellen: Britische Kolonialbeamte zum Beispiel waren dafür berüchtigt, »männliche Kriegerrassen« gegenüber den vermeintlich passiven, »weiblichen« Bauern, die erstere zu verwalten hatten, zu begünstigen. Und wie bei so vielen Dingen haben die Nazis einfach diese koloniale Logik wieder zurück nach Europa gebracht. Hitler wird notorisch vollständig mit den patriarchalen Eindringlingen identifiziert und im Rahmen der Überwältigung der minderwertigen weiblichen Population durch ihre virilen natürlichen Beherrscher gesehen.
Öcalan dagegen übernimmt die gleichen Stücke der Erzählung, aber setzt sie ganz anders zusammen. Dabei geht er von der einzigartigen Situation seines kurdischen Heimatlandes in den bergigen nördlichen Ecken jenes sehr fruchtbaren Halbmonds aus, wo die Landwirtschaft zuerst auftaucht. Er stellt fest, dass »Ari« im Kurdischen »zu Erde, Boden, Feld gehörend« bedeutet und argumentiert, dass die ursprünglichen Indoeuropäer oder »Arier« überhaupt keine Weidewirtschaft betreibenden Eindringlinge waren, sondern die Erfinder der Landwirtschaft und der neolithischen Kultur, die erfolgreich große Teile unseres Alltagslebens, das wir immer noch für selbstverständlich halten, unsere grundlegenden Gewohnheiten in Bezug auf Ernährung und Behausung sowie unser Gefühl für Spiritualität und Gemeinschaft schufen. Das war eine revolutionäre Veränderung des menschlichen Lebens, und wie Öcalan betont, war dies eine Revolution, die vor allem von Frauen ohne patriarchale Autorität geschaffen wurde. Darin bestand ihre offensichtliche Anziehungskraft, die diese Revolution auf der ganzen Welt verbreitete, wobei sich häufig die indoeuropäischen Sprachen verbreiteten, nicht durch Migration, sondern durch die bloße Kraft des Beispiels und durch den kosmopolitischen Fluss von Individuen und Gastfreundschaft, den diese neue und weitgehend friedliche Agrarwelt ermöglichte. Die Gegenkraft hier sind nicht die Nomaden, sondern wiederum der Aufstieg der Städte und besonders die von der sumerischen Priesterschaft geschaffene ideologische Grundlage, der es gelang, die Unterordnung der Frauen, die Anfänge des Staates, mystifizierende Ideologie, das Fabriksystem und das Bordell einzuführen – alles zur gleichen Zeit. Die räuberischen Eliten, oft von nomadischer Herkunft, bemächtigten sich damals nur einer bereits bestehenden Struktur und stellten sicher, dass auch die weitere Geschichte durch endlose, spektakuläre, sinnlose Kriege geprägt sein würde.
Das nennt Öcalan die »Zivilisation« – eine Ordnung, die sich als vornehme Herrschaft, Mäßigung, Legalität und Vernunft präsentiert, deren eigentliches Wesen aber Vergewaltigung, Terror, Verrat, Zynismus und Krieg ist. Ein Großteil des Konflikts der letzten fünftausend Jahre spielte sich zwischen der Gewalttätigkeit dieses ursprünglich städtischen Systems der menschlichen Ausbeutung und den Werten ab, die noch im beständigen neolithischen Fundament unseres kollektiven Daseins vorhanden sind. Hier nimmt seine Analyse der Rolle der Ideologie – und insbesondere der Religion – eine Reihe überraschender Wendungen.
Gerade wegen der revolutionären Natur des sozialen Wandels, ist – paradoxerweise – die Logik der offenbarten Religionen intuitiv sinnvoll. Im Gegensatz zu den positivistischen Empfindungen, die – desavouiert seit dem Zusammenbruch der fabianischen Träume im Ersten Weltkrieg – immer noch davon ausgehen, dass Geschichte vor allem durch den Fortschritt charakterisiert ist, der gesellschaftliche Wandel also als ein normales, relativ zunehmendes und gütiges Phänomen dargestellt wird – da man sich tatsächlich nichts anderes vorstellen kann –, ist die wirkliche Geschichte typischerweise von intensiven Momenten der sozialen Vorstellungskraft und der Schöpfung von Lebensmustern geprägt, die dann in relativ gleicher Gestalt für Tausende von Jahren hartnäckig in unserer Mitte verharren. Die Neolithische Revolution, wie Gordon Childe das ursprünglich betitelt hat, betraf die Erfindung von Lebensmustern – alles von den Techniken der Tierhaltung oder Käse auf Brot zu essen bis zu den Gewohnheiten, auf Kissen oder Stühlen zu sitzen –, die danach zum Inventar der menschlichen Existenz gehörten. Das Gleiche gilt für unsere grundlegenden sozialen Kategorien wie häusliches Leben, Kunst, Politik, Religion: »Die im Fruchtbaren Halbmond konstruierten gesellschaftlichen Realitäten existieren in ihren Grundzügen bis heute weiter.« In diesem Sinne leben wir noch alle in der Jungsteinzeit. Was die heiligen Bücher wie die Avesta, die Bibel oder der Koran lehren – dass die Wahrheiten, die unser Leben untermauern, das Ergebnis von Momenten der göttlichen Offenbarung waren–, spricht normale Bauern, Arbeiter und Händler an, nicht weil sie deren Lebensumstände mystifizieren – jedenfalls nicht in erster Linie. Vielmehr ergeben sie intuitiv Sinn, weil ihre Aussagen wahrhaftig oder wahrer sind als die Alternative in Gestalt der rationalistischen Theologie der Bürokraten. In einem höheren Sinn wird Religion, Ideologie, »Metaphysik« sowohl der Bereich, in dem man Wahrheiten ausdrücken kann, die man nicht anders ausdrücken kann, als auch ein Schlachtfeld für Kämpfe um Bedeutung, deren politische Implikationen nicht größer sein könnten. Was kann man von der Bedeutung der Muttergöttinnenfiguren wie Ishtar oder Kybele in Zeiten der patriarchalen Herrschaft ableiten? Sind sie nicht beide, so Öcalan, Ausdruck und Waffe in den Schlachten über die Bedeutung der Geschlechterverhältnisse und die tatsächliche Macht der realen Männer und Frauen, deren Existenz sonst ganz verloren gehen könnte?
***
Akademiker sind snobistische Wesen, die dazu neigen, andere zu verletzen, die in ihr Gebiet eindringen, es sei denn, man könnte sie auf ein eigenständiges Studiengebiet reduzieren. Zweifellos werden viele einwenden: Wie viel davon hält wirklich stand? Unter Berücksichtigung der Umstände, unter denen dieses Buch geschrieben wurde, halte ich die Leistung für ziemlich beeindruckend. Mit den äußerst begrenzten Ressourcen, die ihm von seinen Gefängniswärtern zugestanden wurden, hat Abdullah Öcalan wohl eine bessere Arbeit abgeliefert als solche Autoren wie Francis Fukuyama oder Jared Diamond, die Zugang zu den weltweit besten Forschungsbibliotheken haben. Zugegeben, vieles in dem Bild, das er entwirft, trotzt dem aktuellen Erkenntnisstand der professionellen Archäologen, Anthropologen und Historiker. Aber oft ist dies eine gute Sache, denn diese Erkenntnisse selbst sind einem Prozess der ständigen Transformation unterworfen. Die Vergangenheit verändert sich ständig. Wir können aber absolut sicher sein, dass in fünfzig Jahren vieles, das jetzt unhinterfragt angenommen wird, über Bord gegangen sein wird.
In einer Hinsicht jedoch stemmt sich diese Studie gegen einen Punkt des besonderen wissenschaftlichen Widerstandes, indem sie die Idee des frühen Matriarchats aufgreift. Die meisten Theorien kommen und gehen je nach intellektueller Mode; es gibt eine Generationsabfolge, in der Theorien einmal weit verbreitet sind (Karl Polanyis oder Moses Finleys Vorstellungen über die alte Ökonomie sind schöne Beispiele), um dann universell zurückgewiesen und wiederbelebt zu werden. Im Fall der Theorien über das Matriarchat oder sogar solchen, die den Frauen in den neolithischen Gesellschaften einen einzigartigen Status zusprechen, ist dies nicht geschehen. Schon von solchen Dingen zu reden, ist in gewisser Weise zu einem Tabu geworden. Da diese Vorstellungen so eifrig von bestimmten Strömungen des Feminismus vertreten werden, ist es teilweise zweifellos so, dass Akademiker dazu neigen, diese am wenigsten ernst zu nehmen; aber ansonsten scheint der Widerstand dagegen so beharrlich zu sein, dass man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, hier seien patriarchale Vorurteile im Spiel.
(Es ist bezeichnend, dass es den verbreitetsten Einwänden an Logik hapert. Am häufigsten wird auf die ethnografischen Aufzeichnungen verwiesen: Während die neolithische und die kupfersteinzeitliche Kunst, ganz zu schweigen von der minoischen Kunst, eine soziale Ordnung darstellen, in der Frauen fast alle maßgeblichen Positionen innehatten, findet man in der anthropologischen Literatur wenige oder keine Hinweise auf derartige Gesellschaften. Das stimmt.)
Aber die ethnografischen Aufzeichnungen enthalten auch keine Anhaltspunkte für demokratisch organisierte Stadtstaaten wie das antike Athen, doch wir wissen, dass es sie tatsächlich gab; diese Stadtstaaten waren in der späten Eisenzeit sogar ziemlich weit verbreitet, bevor sie weitgehend um 300 v. Chr. verschwanden. Aber selbst wenn man auf ethnografischen Parallelen besteht, funktioniert die Logik nicht. Denn ein weiteres weit verbreitetes Argument ist, dass die Existenz einer materiellen Kultur, in der praktisch alle Darstellungen von dominierenden Gestalten weiblich sind, an sich nichts bedeuten soll, da es sich nur um mythologische Szenen handele und das eigentliche gesellschaftliche Leben ganz anders hätte organisiert sein können. Andererseits ist es niemandem gelungen, ein Beispiel einer patriarchalen Gesellschaft aufzuzeigen, in der die künstlerischen Darstellungen fast ausschließlich aus Bildern von mächtigen Frauen bestehen, gleichgültig, ob diese nun mythisch oder nicht sind. So oder so, haben wir es mit einem ethnografisch präzedenzlosen Fall zu tun. Die Tatsache jedoch, dass nahezu alle Gelehrten dies so deuten, dass wir zu dem Schluss kommen müssen, Männer hätten das Geschehen in der Hand gehabt, sagt mir: Hier liegt ein klares Beispiel für ein männliches Vorurteil vor, wie man es nicht besser finden kann.
Wie Anthropologen haben Archäologen und Historiker die lästige Angewohnheit, nur füreinander zu schreiben. Die meisten schreiben nichts, was für Gelehrte in anderen Disziplinen, geschweige denn für alle außerhalb des Akademiebetriebs, bedeutsam wäre. Das ist bedauerlich, denn in den letzten Jahrzehnten haben sich Dinge aufgetan, die möglicherweise unser bisheriges Verständnis in Unordnung bringen können. Fast alle Schlüsselannahmen des zivilisatorischen Narrativs, die wir in der einen oder anderen Weise seit der Zeit von Rousseau erzählt haben, scheinen auf falschen Annahmen zu beruhen – auf solchen, die einfach faktisch falsch sind. Jäger und Sammler zum Beispiel lebten nicht ausschließlich in Kleingruppen und bildeten nicht unbedingt egalitäre Gemeinschaften (viele scheinen saisonale Muster gehabt zu haben, Hierarchien zu schaffen und sie dann wieder einzureißen). Frühe Städte dagegen waren oft verblüffend egalitär. Vor der Entstehung des Zikkurat-Systems, auf das Öcalan aufmerksam macht, gab es vielleicht ein Jahrtausend des egalitären Urbanismus, von dem wir wenig wissen. Aber die Implikationen sind potenziell außergewöhnlich, zumal, wenn man einmal weiß, worauf zu achten ist, beginnen egalitäre Experimente überall in der menschlichen Geschichte zu erscheinen. »Zivilisation« oder sogar das, was wir »Staat« nennen, sind keine einzelnen Einheiten, die als Paket kommen, das man annehmen oder verweigern kann, sondern als unbequeme Amalgame von Elementen, die sich jetzt im Prozess des Auseinanderdriftens befinden. All diese Prozesse des Umdenkens werden enorme politische Implikationen haben. In einigen Bereichen vermute ich, wird es bald klar sein, dass wir alle falsche Fragen gestellt haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es wird fast allgemein angenommen, dass die Schaffung von Gleichheit oder Demokratie in einer kleinen Gruppe relativ einfach ist, aber in einem größeren Maßstab enorme Schwierigkeiten schafft. Es wird klar, dass dies einfach nicht wahr ist. Egalitäre Städte, auch regionale Konföderationen, sind historisch allgegenwärtig. Egalitäre Haushalte sind es nicht. Es ist die kleine Einheit, das Niveau der Geschlechterverhältnisse, die Haushaltsknechtschaft, die Art der Beziehungen, die die wesentlichsten Formen der strukturellen Gewalt und die größte Intimität annehmen, in der das schwierige Werk der Schaffung einer freien Gesellschaft stattfinden muss.
In diesem Zusammenhang scheint es mir, dass Öcalan genau die richtigen Fragen stellt, oder viele von ihnen, in einem Augenblick, in dem dies kaum wichtiger sein könnte. Lasst uns hoffen, dass, während politische Bewegungen die Lehren aus der Geschichte ziehen, neue Sozialtheorien entstehen, was unvermeidlich geschehen wird, und sich unsere Erkenntnis der Vergangenheit ebenfalls revolutioniert, der Autor dieses Buches aus seiner gegenwärtigen Gefangenschaft entlassen wird und sich als ein freier Mann daran beteiligen kann.
Vorwort zur englischen Ausgabe 2015
Die erste Person, die mich empfing, als ich ins Gefängnis İmralı gebracht wurde, war die Vizepräsidentin des Antifolterkomitees des Europarats (CPT). Ihre ersten Worte waren: »Sie werden in diesem Gefängnis bleiben, wir werden es mithilfe des Europarats kontrollieren und versuchen, einige Dinge zu lösen.« Griechenland hatte mit einer historisch einmaligen Doppelzüngigkeit die Freundschaft verraten und mich unter die Aufsicht von CIA und USA gestellt. Als zur Gemengelage der Interessen noch die Beziehungen des griechischen Nationalstaats zur Republik Türkei kamen, wurde ich im »Zeitalter der nackten Könige und der unmaskierten Götter[1]« an die Felsen von İmralı geschmiedet und zu einem Schicksal verdammt, das dem des Prometheus in der Legende um nichts nachsteht.
Die Faktoren, die zu meiner Ausreise aus Syrien führten, waren noch bemerkenswerter. Im Grunde war meine Ausreise aus Syrien ein Ergebnis des Widerspruchs zwischen meiner Hochachtung vor freundschaftlichen Beziehungen und der Kurdenpolitik Israels. Israel begann nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Patron der kurdischen Frage aufzuschwingen. Dabei ließen es gewisse Empfindlichkeiten nicht zu, einen zweiten Lösungsansatz für die kurdische Frage zu ertragen, der durch meine Person symbolisiert wurde und beständig an Einfluss gewann. Meine Lösungsweise passte definitiv nicht in ihre Kalkulation. Ich möchte niemandem Unrecht tun; der MOSSAD hat mich auf indirektem Wege eingeladen, auf seinen Lösungsweg einzuschwenken. Doch dazu war ich weder moralisch noch politisch bereit. Die arabische Regierung Syriens wollte niemals mehr als ein weitgehend taktisches Verhältnis zur PKK-Führung. Außerdem war die Führung Hafiz al-Assads auf der Grundlage des Hegemoniekonfliktes zwischen den USA und der Sowjetunion entstanden. Im kritischen Zeitraum nach der Auflösung der Sowjetunion waren sie nicht in der Lage, irgendeine taktische Beziehung zu schützen. Durch das Gegengewicht, das ich – durch die PKK – gegen die Türkei bildete, suchte er in gewisser Weise eine Antwort auf die seit 1958 bis heute andauernde Bedrohung Syriens durch die Türkei und deren starke Hinwendung zu Israel. Dass die PKK in diesem Zusammenhang ein passendes Instrument darstellte, ermöglichte eine langfristige taktische Beziehung. Allerdings wollte man nicht sehen, dass diese Beziehung zu einer zweiten Kurdenpolitik führen konnte. In dieser Hinsicht blieben die Bestrebungen türkischer Führungen wirkungslos.
Diese kurze Rekapitulation zeigt bereits, dass die wesentliche Macht, die mich aus Syrien herausholte, Israel hieß. Zweifellos spielten der politische Druck der USA und der militärische Druck seitens der Türkei ebenfalls eine Rolle. Wir dürfen nicht vergessen, dass es bereits in den 1950er Jahren geheime Abkommen zwischen Israel und der Türkei gab. Ein weiteres, sogenanntes »Anti-Terror«-Zusatzabkommen, das 1996 unterzeichnet wurde, schweißte die Anti-PKK-Allianz zwischen den USA, Israel und der Türkei weiter zusammen.
Ein weiterer wichtiger Faktor, den wir in diesem Zusammenhang erwähnen müssen, ist die Kooperation zwischen der KDP-PUK-Regierung, die den USA und Israel nahestehen, oder anders ausgedrückt, die Zusammenarbeit zwischen dem 1992 gebildeten kurdischen Föderalparlament und seiner Regierung und der Republik Türkei auf der Grundlage der Gegnerschaft zur PKK. Zweifellos operierten die Regierungen der Türkei und ihre Streitkräfte gemäß eines taktischen Verständnisses der damaligen Zeit. Doch die Geschichte ging ihre eigenen Wege. Sehr unterschiedliche Auffassungen führen zu bedeutenden Entwicklungen. Der historische Irrtum der Türkei, über den sie heute so oft in Wut gerät, rührt von einer engstirnigen, egoistischen und einseitigen Auffassung her.
Das Zusammenwirken dieser negativen Faktoren führte zu meiner Ausreise aus Syrien im Jahre 1998. Ich muss klar sagen, dass auch mir die Notwendigkeit, Syrien zu verlassen, bewusst war. Ich hatte bereits zu lange gewartet; zurückgehalten von der Attraktivität der politischen Linie, die sich für Kurdistan entwickelte und der Freundschaft, die ich auf ein strategisches Niveau heben wollte. Die syrische Regierung hatte auf höchster Ebene inständig auf die Nachteile hingewiesen. Das muss ich ehrlicherweise gestehen. Und doch halte ich bis heute die strategische Freundschaft der Völker für wichtig und unverzichtbar. Diese Haltung war es auch, die mich nach Griechenland brachte. Mit dem dortigen Volk – wenn auch nicht mit der Regierung – wollte ich freundschaftliche Beziehungen aufbauen. Seiner klassischen Kultur und tragischen Geschichte messe ich große Bedeutung bei; beides drängte mich dazu, mich freundschaftlich zu verhalten.
Ein weiterer Ausweg wäre gewesen, mich in die Berge Kurdistans zu begeben. Schon als Kind wurde ich dînê çolê genannt, »verrückt nach den Bergen«. Zwei Faktoren, die ich berücksichtigen musste, ließen diese Alternative in den Hintergrund treten. In den Bergen wäre die Region, in der ich mich aufgehalten hätte, zwangsläufig äußerst intensiv bombardiert worden. Dies hätte der Bevölkerung und den Genossinnen und Genossen schweren Schaden zugefügt. Gleichzeitig wären viele Beziehungen abgerissen, so dass eine vollständige Konzentration auf den militärischen Weg unausweichlich geworden wäre. Zugleich fehlte es der Jugend in unerträglichem Ausmaß an Bildung. Auch dieser Bedarf an Bildung hielt mich davon ab, in die Berge zu gehen.
Kurz gesagt, Aussagen von offizieller und inoffizieller türkischer Seite wie »wir haben ihn in die Enge getrieben« und »schaut, wie erfolgreich wir waren« haben nicht viel mit der Realität zu tun. So betreibt die Türkei gegenüber dem Iran und dem Irak immer noch massiv die gleiche Einkreisungspolitik, doch statt eines Erfolges führte dieser Weg in die Sackgasse. Zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen sind dagegen die Folgen der taktischen Beziehungen, welche die Türkei mit Syrien und dem Iran eingegangen ist. Es lässt sich aber festhalten, dass jene Beziehungen einer Politik dienen, die sich in alle möglichen Richtungen entwickeln kann. Werden die Regierungen der Türkei wohl bereit sein, alle möglichen Konsequenzen zu tragen, wenn die Dichotomie zwischen USA, EU und Israel einerseits und Iran, Russland und China anderseits schärfer werden sollte?
Die Lektionen, die ich aus meinem dreimonatigen Abenteuer zwischen Athen, Moskau und Rom gelernt habe, sind zweifellos von historischem Wert. Die kapitalistische Moderne ist ein zentraler Begriff dieser Gefängnisschrift. Dass es mir gelang, sie hinter einer Unzahl von Masken und Rüstungen zu erkennen, hängt eng mit diesem Abenteuer zusammen. Hätte es dieses Abenteuer nicht gegeben, wäre ich entweder bei einer klassischen, primitiv-nationalistischen Verteidigung des Nationalstaats hängengeblieben, oder hätte, wie in Hunderten anderen Fällen – einschließlich derer, die einen Staat gründeten – geschehen, mein Leben als Vertreter einer klassischen linken Bewegung beendet. Keinesfalls hätte ich diese Analysen vornehmen können. Das sozialwissenschaftliche Prinzip, keine definitiven Aussagen zu treffen, ist mir stets bewusst. Doch sagt mir mein Gefühl deutlich, dass es mir nicht möglich gewesen wäre, mein jetziges Niveau von Analysen und Lösungen zu erreichen.
Für mich liegt klar auf der Hand: Die kapitalistische Moderne bezieht ihre eigentliche Stärke weder aus dem Geld noch aus den Waffen; ihre eigentliche Stärke liegt darin, sämtliche Utopien, einschließlich der jüngsten und stärksten Utopie – der sozialistischen – im eigenen Liberalismus zu ersticken, der jede Farbe annehmen kann und den besten Zauberkünstlern überlegen ist. Solange wir nicht analysieren, wie die kapitalistische Moderne alle Utopien der Menschheit im eigenen Liberalismus erstickt hat, kann selbst die anspruchsvollste Denkschule nicht umhin, bestenfalls zur Dienerin des Kapitalismus zu werden – von einem Kampf gegen ihn ganz zu schweigen. Niemand hat den Kapitalismus umfassender analysiert als Marx, wenige Menschen haben so konzentriert wie Lenin über Staat und Revolution nachgedacht. Aber heute zeigt sich, dass die marxistisch-leninistische Tradition, sosehr sie auch als sein Gegenpol gilt, dem Kapitalismus in nicht zu unterschätzendem Maße Material und Sinn gestiftet hat. Denn oft bringt die Geschichte Ergebnisse hervor, die außerhalb der Erwartungen unseres Willens – der Gesamtheit der verschiedenen Auffassungen – liegen. Ich meine dies nicht im Sinne eines unentrinnbaren Schicksals oder eines zwangsläufigen dialektischen Verhältnisses. Ganz im Gegenteil: Ich ziehe daraus die Schlussfolgerung, dass wir uns noch mehr mit Utopien der Freiheit befassen müssen.
Solange wir das Individuum und die Gesellschaft, die der Liberalismus provoziert, nicht analysieren und den Menschen nicht in seinem natürlichen Flussbett fließen lassen, werden wir nur weiter den Tod hervorbringen, der aus gesellschaftlichen Krebserkrankungen resultiert. Darauf werde ich ausführlich eingehen.
Ich will auf Folgendes hinaus: Offenbar werde ich mein Schicksal nicht korrekt analysieren können, wenn es mir nicht gelingt, das bezaubernde System hinter der ungefähr siebzigjährigen Dame, die mich als Repräsentantin des Europarates im Gefängnis İmralı willkommen geheißen hat, zu analysieren: also die kapitalistische Moderne. Hinter der gesamten Verschwörung gegen mich steckten die USA, die EU, Israel und eine zerfallene Sowjetunion. Die Rollen der Regierungen Syriens, Griechenlands und der Türkei waren dagegen eher zweitrangig und bestanden allenfalls aus bürokratischen Dienstleistungen.
Während der Verhöre durch türkische Offizielle (Repräsentanten von vier wesentlichen Institutionen: Geheimdienst des Generalstabs, Nationaler Geheimdienst MIT, Oberste Polizeibehörde und Geheimdienst der Gendarmerie) sagte ich ihnen ganz offen, dass ihre Freude über meine Ergreifung sinnlos sei. Auf hinterhältigste Weise freundschaftliche Beziehungen auszunutzen, mich mithilfe einer Verschwörung in ein Flugzeug zu werfen und sich auf mich zu stürzen ist keine heldenhafte Art zu kämpfen. Schon dies allein zeigt deutlich, aus welchem Holz die kapitalistische Moderne und der Liberalismus samt ihres Hegemons USA geschnitzt sind: ein System, in dem Repression und Ausbeutung keine Grenzen kennen.
Es ist nicht so, dass ich innerhalb der Systematik meines eigenen Kampfes den türkischen National-Etatismus nicht kennen würde. Ich habe jederzeit den Mut besessen, ihm entgegenzutreten, selbst wenn ich alleine oder in der allerschwächsten Position war. Wer mich verfolgt hat, weiß auch, dass ich gut kämpfe. Daran ist nichts merkwürdig. Für das Kurdischsein bestand ein Todesurteil. In dieser Situation musste ich entweder kämpfen, um nicht auf meine Menschenwürde verzichten zu müssen, oder mich in eine Sklaverei begeben, deren Art noch nicht einmal klar bestimmt war. Diese Tatsachen diskutiere ich nicht, ich bin auch nicht wütend darüber. Meine Wut richtet sich im Wesentlichen gegen das Unvermögen, eine ideologische Borniertheit zu überwinden. Es handelt sich um ein System, das angeblich die Menschenrechte über alles stellt. Tatsächlich jedoch zwingt eine Gruppe von Menschen in einer Weise, die es bei keinem anderen Lebewesen gibt, der eigenen Art, der Menschheit, Ausbeutung und Krieg auf. Und nicht nur das: sie vergiften die Umwelt und setzen sie der Menschheit vor.
Die Gesellschaft, in die ich geboren wurde, war voll von kulturellen Einflüssen des neolithischen Dorfes. In dieser Kultur überwiegen arglose Freundschaft und Kampf mit offenem Visier. Mit derartigen Gefühlen bin ich aufgewachsen. Als hätte es nicht schon genügt, aus allen zivilisatorischen Prozessen herausgehalten zu werden und die negativen Auswirkungen der Zivilisation als gewaltige Entfremdung zu erleben, kam dazu eine Belagerung durch den Nationalstaat und einen ethnischen Nationalismus am Ende des chauvinistischen Spektrums, der die kapitalistische Moderne mit äußerst starren, konservativen Traditionen verband. Dies ergab eine ideologische Herrschaft, die äußerst schwer aufzulösen ist. Hinzu kommt die blanke Gewalt, die stets droht. So scheint ein auswegloses Schicksal schon bei der Geburt vorgezeichnet.
Dass ich die Türkei verließ, war nicht das Resultat eines großartigen Widerstands. Ich suchte vielmehr nach einem neuen Raum für die Lösung der nationalen Frage, der wir uns durch ein paar dogmatische linke Analysen verschrieben hatten. Im Mittleren Osten konnte die PKK nicht viel mehr tun, als von einigen Lücken des Systems zu profitieren. Dennoch sollten wir eine Besonderheit des Mittleren Ostens nicht geringschätzen: seinen Willen, als Gegenkraft zum System zu existieren, und seine Versuche, dies weiter auszubauen.
Dass die PKK den Weg in die Berge ging und sich dauerhaft dem bewaffneten Widerstand zuwandte, hatte gravierende Konsequenzen. Für die Kurden bedeutete dies eine zunehmende Politisierung. Erstmals wurden so eine Loslösung von den klassischen Kollaborateuren und Freiheit als Alternative wahrnehmbar. Weder von den mittelalterlichen, klassisch despotischen Regimen noch von ihren Ausläufern, den sogenannten modernen Nationalstaaten, war eine akzeptable Weiterentwicklung zu erwarten. Dies ist der Grund, warum sich sowohl die kurdischen Kollaborateure als auch die Nationalstaaten der Region und die imperialistischen Hegemone darin einig waren, die PKK als »terroristische Organisation« abzustempeln. Die freien Kurdinnen und Kurden – als Individuen wie als Gesellschaft – stellten alles Bestehende infrage. Die Eroberungsideologie des Islam sowie die liberalen und nationalistischen Ideologien hatten das freie Kurdentum bereits längst für nicht existent und zu einer Sache der Vergangenheit erklärt.
Wenn ich als Person verbannt und stellvertretend in einem Einpersonengefängis auf einer Insel weggesperrt werde, so richtet sich dies eigentlich gegen das freie Kurdentum. Hier im Gefängnis İmralı, wo ich seit neun Jahren alleine festgehalten werde, bin ich mit einer systematischen Politik konfrontiert. Es führt zu gewichtigen Irrtümern, dies nur als die türkische Gefängnispolitik zu begreifen. Denn solche Irrtümer treiben wiederum sowohl Kurden als auch Türken in politische Sackgassen und Konflikte.
Eines habe ich jedoch gut verstanden: Das Türkentum kann weder in eigenem Namen Krieg führen noch Frieden schließen. Die Rolle, welche die kapitalistische Moderne dem Türkentum zugedacht hat, ist die einer Gendarmerie und eines Wächters, um das türkische Volk und alle anderen Völkern des Mittleren Ostens für die Repression und Ausbeutung des kapitalistischen Systems zugänglich zu machen.
Die Türkei und die Kulturen Anatoliens sowohl in Europa als auch außerhalb Europas gut einzubinden, ist daher für das kapitalistische System von großer Bedeutung. Es handelt sich nicht um eine beliebige Politik. Raffinierte Politiken und Strategien werden großenteils im Verborgenen gebündelt und koordiniert. Die Beziehungen der Türkei sowohl zur NATO als auch zur EU lassen sich vor diesem Hintergrund besser erfassen.
Allein die bis hierher angeführten Sachverhalte zeigen bereits, dass ich mich vor Gericht nicht sinnvoll werde verteidigen[2] können, ohne die kapitalistische Moderne in ihrer Tiefe verstanden zu haben. Eine Verteidigung, die sich nur auf trockene Gesetze stützt, hätte offenbar keinerlei Sinn. Auch eine oberflächliche politische und strategische Herangehensweise würde nicht aufzeigen, warum die »Wiederaufnahme des Verfahrens« unter den Teppich gekehrt wurde[3]. Eine Neuverhandlung wäre auch von großer Bedeutung, um die Lösung des freien Kurdentums darzulegen. Meine Antwort auf den Schauprozess auf İmralı unter der Überschrift »Demokratische Republik[4]«, meine umfangreichen Eingaben in den Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unter den Titeln »Gilgameschs Erben« und »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt« waren im Wesentlichen der Versuch, wirkliche Demokratie und Gerechtigkeit verständlich zu machen. Mit diesen Schriften nun bezwecke ich einerseits aufzuzeigen, dass wir die kapitalistische Moderne problematisieren und überwinden müssen. Andererseits möchte ich das politische System der Demokratisierung und seinen Zusammenhang mit der Freiheit als alternativer Lösung darstellen und mit Sinn füllen. Insofern hängen alle meine Gefängnisschriften zusammen und ergänzen einander[5].
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der erste Prozess auf İmralı den Charakter eines Schauprozesses besaß. Tatsächlich herrschten seinerzeit nicht die Bedingungen, um mich juristisch zu verteidigen. Alles war bis ins kleinste Detail vorausgeplant. Der Tag, an dem das Urteil gesprochen werden würde, regionale Herkunft und Art des vorsitzenden Richters, die Teilnehmer und Zuschauer des Prozesses, seine Verwertung in den Medien – alles war nach den Erfordernissen des Plans eingerichtet. In dieser Hinsicht gab es ein Übereinkommen mit den USA und der EU. Mir stand es nicht zu, angesichts dieser Situation auf das Recht zu pochen. Von Recht konnte ohnehin keine Rede sein. Das gilt auch für die EU. Es ging lediglich darum, wie ich im Rahmen der kurdischen Frage benutzt werden sollte. Auf diesen Zweck war alles ausgerichtet. Bei allen Vorgängen in Kenia[6] war ohnehin das EU-Recht mit Füßen getreten worden, außerdem das kenianische Recht und sogar das türkische Rechtssystem. Die Todesstrafe ständig auf der Tagesordnung zu halten, betraf die politischen Konsequenzen des Prozesses. Angeblich hatte ich Angst bekommen, daher war es hilfreich, die Drohung der Hinrichtung ständig am Leben zu halten.
Ich musste in dieser Situation einen Beitrag zum politischen Prozess leisten. Deswegen war es von Bedeutung, dass meine Verteidigungen den Charakter politischer Botschaften besaßen. Außerdem war es nötig, profunde Antworten für die Irrtümer zu finden, die zu den negativen Konsequenzen geführt hatten. Dies versuchte ich, dies war der wesentliche Ansatz für alle meine Verteidigungen in dieser Phase. Nur so konnte es gelingen, meine Rolle als Spielball zu minimieren und Beiträge zum Befreiungskampf zu leisten.
Offen gesagt habe ich mit einem Urteil des EGMR gerechnet, das meine Verhaftung für unrechtmäßig erklärt. Dies hätte eine Möglichkeit schaffen können, ein gerechtes Verfahren herbeizuführen. Dass kein solches Urteil erging, war eine offensichtliche Ungerechtigkeit. Das Gericht sah sich lediglich gezwungen, das Gerichtsverfahren als unfair zu bezeichnen. Dies war ohnehin für alle zu sehen. Während ich lange wartete und auf ein faires Gerichtsverfahren hoffte, sahen wir uns mit einem Justizskandal konfrontiert: dem Ergebnis eines schmutzigen Deals nach langen, exklusiven Gesprächen des Ministerrats des Europarats mit der türkischen Regierung. Bei diesen Gesprächen erreichten die Europäer politische Zugeständnisse der Türkei, im Gegenzug wurde in einer Art und Weise, die in etlichen Punkten dem Recht zuwiderlief, das Urteil in der Akte durch die Nachfolger der Staatssicherheitsgerichte, das 11. Schwurgericht in Ankara und das 13. Schwurgericht in Istanbul, bestätigt. Der Ministerrat des Europarats ließ sich darauf ein und hinterfragte dieses Vorgehen der türkischen Regierung nicht. Meine Anwältinnen und Anwälte haben dagegen erneut Beschwerde beim EGMR eingereicht; ein Urteil steht noch aus. Man darf wirklich gespannt sein, wie das Gericht sich angesichts seines eigenen Urteils zur Fairness des Verfahrens verhalten wird. Während wir uns auf die eigentliche juristische Verteidigung bei einer Wiederaufnahme vorbereiteten, wurde dies so vereitelt. Daher ging der juristische Prozess nie über einen Schauprozess hinaus.
In dieser Phase trat deutlicher hervor, dass die USA, die EU und die Republik Türkei intensiv kommunizierten und Kompromisse in Bezug auf die PKK, mich und die kurdische Frage ganz allgemein suchten. Die Türkei beschloss, als Gegenzug für große wirtschaftliche Zugeständnisse die kurdische Frage in der Türkei zu eliminieren, hielt aber an einer bedingten Unterstützung für den kurdischen Föderalstaat im Irak fest. Die Intensität dieser Gespräche trat immer klarer hervor. Ohnehin wurde diese Art von Zugeständnissen und Übereinkommen mit den USA stets ganz offen verhandelt. Die bedeutendsten dieser Kompromisse waren meine Verhaftung, mich ohne fairen Prozess festzuhalten, die Eliminierung der kurdischen Frage in der Türkei und die Einstufung der PKK als »terroristische Organisation«. IWF-Kredite und die Kopenhagener Kriterien der EU waren jeweils lediglich Mäntelchen für eine schmutzige Abmachung.
Offen gestanden: ein derart schmutziges und dubioses Handeln hatte ich von den Institutionen der EU nicht erwartet. Diese Tatsachen brachten mich dazu, die von der EU hochgehaltenen Normen von Demokratie und Menschenrechten ausführlich zu hinterfragen. Beim Nachdenken wurde mir bewusst, dass die Probleme grundlegender waren und ihr Verständnis ebenso grundlegende Ansätze erforderte. Zweifellos ist die EU bezüglich der Themen Menschenrechte und Demokratie anderen Regionen weit voraus. In dieser Hinsicht verkörpert sie eine Hoffnung für die Welt. Aber die ihr zugrundeliegende kapitalistische Moderne hält sie geradezu in Ketten und lässt die Aussichten für ein weiteres Fortschreiten pessimistisch erscheinen.
Die russischen Revolutionäre dachten, sie könnten den Sieg ihrer eigenen Revolution durch Revolutionen in zumindest einem Teil Europas absichern. Doch bekanntlich hat sich diese Erwartung nicht erfüllt. Im Gegenteil, die liberale europäische Konterrevolution absorbierte Sowjetrussland und das gesamte von ihm angeführte System. Gleiches gilt für die heutigen demokratischen Revolutionen. Damit die Erwartungen an Europa nicht zu den gleichen Resultaten führen, ist es realistischer, sich im Zeitalter des höchst entwickelten globalen Kapitals auf die Suche nach globaler Demokratisierung zu machen. Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten in Europa können allenfalls unter diesem Paradigma einen sinnvollen Beitrag leisten.
In Grundzügen haben wir so darzustellen versucht, warum eine Neuverhandlung nicht erwünscht war. Jede dieser Kategorien erfordert eine tiefer gehende Analyse. Die wichtigsten Themen, über die ich in meinen anderen Verteidigungen geschrieben habe, müssen auf ihre wesentlichen Ursprungsquellen reduziert werden. Eine zu starke Reduzierung führt zwar zu groben Fehlwahrnehmungen, doch da die Probleme von der Moderne herrühren, müssen wir uns dieser Schwierigkeit stellen. Doch besitzen die Hauptteile, die wir zu analysieren versuchen, ohnehin eine innere Geschlossenheit, was die Nachteile des Reduktionismus auf ein Minimum reduzieren wird.
Nach dieser Einführung folgt ein Kapitel, das ich vorrangig behandeln wollte: Methode und Wahrheitsregime. Eine Methode ist bekanntlich ein gewohnter Weg der Forschung. Es wird erhellend sein, die Methoden zu definieren, die historisch und gegenwärtig ausprobiert wurden, und unsere Analyse erleichtern, wenn die wesentlichen Gründe für die Bevorzugung bestimmter Methoden mit ihren Vor- und Nachteilen dargelegt werden. Ich bin zwar nicht vernarrt in die Methodik, doch brauchen wir stets eine Richtung, der wir folgen.