19,99 €
Der sumerische König Gilgamesch wird in einem der ältesten literarischen Dokumente der Menschheit besungen. Als Erbe seiner Zeit bleiben dem 21. Jahrhundert aber nicht nur die Zivilisationsleistungen des alten Mesopotamien, sondern auch Männerherrschaft, ideologische Manipulation, Naturzerstörung und eskalierende Konflikte. Dies nennt Öcalan die »Kapitalistische Moderne« und setzt dagegen die Idee des »Demokratischen Konföderalismus« und der »Demokratischen Autonomie«. Bereits 2001 legte Abdullah Öcalan dieses geschichtsphilosophische und zivilisationskritische Grundlagenwerk vor, das jetzt im UNRAST Verlag in einer überarbeiteten Übersetzung neu aufgelegt wird. Er setzt sich darin mit den Kontinuitäten politisch-ideologischer Macht wie auch befreiender Erneuerungen im gesellschaftlichen Leben vom frühgeschichtlichen sumerischen Priesterstaat bis hin zu den Anfängen und Visionen einer demokratischen Zivilgesellschaft auseinander. Der Autor stellt hiermit die Diskussion der kurdischen Frage in einen umfassenden sozialhistorischen Kontext. Dazu analysiert er selbstkritisch die Einflüsse von Staat, Religion, Ideologie und Gewalt auf die Theorie und Praxis der Befreiung und die Entwicklung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und bestimmt damit wesentlich ihren Kurswechsel – weg von einer nationalen Befreiungspartei hin zu einer multiethnischen und politisch offenen demokratischen Bewegung, für den gesamten Mittleren Osten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 685
Veröffentlichungsjahr: 2019
Abdullah Öcalan
Gilgameschs Erben
Vom sumerischen Priesterstaatzur demokratischen Zivilisation
Band 2
Übersetzt und herausgegeben von Internationale Initiative
»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
UNRAST
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Abdullah Öcalan: Gilgameschs Erben, Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation, Band 2
eBook UNRAST Verlag, Juli 2019 ISBN 978-3-95405-054-3
Aus dem Türkischen: Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
Titelmotiv: Enkidu / Gilgamesch von Ercan Altuntas. (Ausschnitt)
Öl und Naturfarben auf Papier, 100 x 70 cm
©Abdullah Öcalan 2001
Erscheint in der International Initiative Edition
Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)
Postfach 100511, 50445 Köln | www.freeocalan.org
© UNRAST Verlag, Münster
Fuggerstraße 13a, 48165 Münster | Tel. 02501 – 9178790 www.unrast-verlag.de | [email protected] Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Erstveröffentlichung 2001 bei Mezopotamien Verlag, Köln Abdullah Öcalan: Sümer Rahip Devletinden Demokratik Uygarliga
1. Auflage Mai 2003
2. überarbeitete Auflage 2018
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag und Satz: Internationale Initiative
Sechster TeilDas kurdische Phänomen im Mittleren Osten und mögliche Lösungswege
1. KapitelErläuterung einiger grundlegender Begriffe
1. Gesellschaft
2. Stamm und Stammeszugehörigkeit
3. Nation und Nationalstaat
4. Militärische und politische Lösung
5. Demokratische und juristische Methode
6. Staatsbürgerschaft und Nationalität
7. Die offizielle, die traditionelle und die Zivilgesellschaft
8. Die Liebe zum Land und der Internationalismus
2. KapitelProbleme der Methodik und Herangehensweise an das kurdische Phänomen
1. Ideologische Herangehensweise an die kurdische Wirklichkeit
2. Ergebnisse einer fehlerhaften Herangehensweise und die wissenschaftliche Methode
3. Weitere methodische Fehler
4. Moralische und ethische Herangehensweise an das kurdische Phänomen
5. Realistische Herangehensweise an das kurdische Phänomen
3. KapitelDer Rahmen für die kurdische Geschichte
1. Das kurdische Volk im neolithischen Zeitalter
2. Das kurdische Volk im Zeitalter der Sklaverei
3. Das kurdische Volk im feudalen Zeitalter
4. Das kurdische Volk im Zeitalter des Kapitalismus
4. KapitelDie ethnische, nationale und demokratische Bewegung des kurdischen Volkes
1. Die Zeit des primitiven feudalen Nationalismus
2. Die Zeit des bürgerlichen Nationalismus
3. Die Befreiungstendenz des Volkes
4. Die Entstehung, Entwicklung und Zukunft der PKK
5. KapitelWege zu einer Lösung der kurdischen Frage
1. Die kurdische Frage in der Türkei und die demokratische Lösung
2. Die nationale Frage im Iran und die demokratisch-islamische Lösung
3. Die arabische Variante der kurdischen Frage und die rakische Lösung
4. Identitätsbildung der syrischen Kurden und Lösung durch demokratische Teilnahme
Siebter TeilFreiheitskämpfer eines Volkes im Klammergriff der Verschwörungen
1. KapitelDie Geschichte der Verschwörungen und ihre Lehren
1. Das Verschwörertum des Altertums und die betrügerischen Mythologien
2. Das Mittelalter und das Verschwörertum unter der Maske der Religion
3. Kapitalistischer Nationalismus und Faschismus als die höchste Form des Verschwörertums
2. KapitelDie Realität des Komplotts gegen die PKK
1. Von der Entstehung bis zur offiziellen Gründungsproklamation der PKK
2. 1978-88: Innerorganisatorische Komplotte und die Politik der Liquidierung
3. 1988-98: Bandenwesen und weltweite imperialistische Intervention
3. KapitelDie Komplotte gegen die PKK-Führung sind Eingeständnis der Angst vor der freien Identität des Volkes
1. 1970-80: Die Entstehungsphase einer Avantgarde für das Volk
2. Soziologisch bedingte Persönlichkeitsspaltung und Restrukturierung
4. KapitelDie Hintergründe meiner Verschleppung aus Kenia
1. Historische Intrigen können Entwicklungen nicht aufhalten, sondern beschleunigen sie
2. Das Komplott des 15. Februar 1999 kann in einen dauerhaften Frieden und Demokratie für die Völker verwandelt werden
Achter TeilVerfügt das europäische Rechtswesen über Lösungsmöglichkeiten für die kurdische Frage?
1. KapitelEntstehung und Entwicklung des Rechtswesens
2. KapitelDie Rolle des Rechts bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme
3. KapitelEuropäisches Recht, Republik Türkei und die kurdische Frage
4. KapitelDer Prozess auf Imralı, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
1. Die Umstände und rechtswidrigen Handlungen bei der Entführung
2. Die Todesstrafe und ihre Rolle als Drohinstrument gegen das kurdische Volk
3. Politische Lynchjustiz während der Verhandlung auf Imralı
4. Gütliche Einigung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Bemühungen um einen Dialog und die Aufgaben des Europarates
Neunter TeilApo-Identität – Vom Klan zum Volk
1. KapitelDie physische Geburt, die Auflösung der Stammeskultur und das Betreten des Urwaldes der Zivilisation
2. KapitelBegegnung mit der bürgerlichen Gesellschaft und der Republik Türkei. Zweifel und revolutionäre Sicht
3. KapitelSich durch den Krieg neu erschaffen, aber wie lange noch?
I. Schutz des Freiheitswillens vor Versklavung und Verzerrung
II. Die Bewahrung des Willens zur Freiheit
III. Die Verteidigung der kurdischen Identität auf der Grundlage der Freiheit
IV Die Schaffung eines kämpfenden Volkes
V. Die Schaffung freier Militanter
VI. Die Erschaffung der freien Frau
VII. Die Schaffung einer wirklichen Volksdiplomatie
VIII. Die Schaffung von Akademien
4. KapitelAuf der Suche nach Frieden – Die Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik
Schlusswort
Hinweis
Vitae
Abdullah Öcalan
Raúl Zibechi
Prof. Dr. Ekkehard Sauermann
Selbstdarstellung der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«
Erstunterzeichnende des Gründungsaufrufs der Internationalen Initiative
Index
Die kurdische Frage stellt zweifellos eines der komplexesten Probleme des Mittleren Ostens dar. Diese Besonderheit ist vor allem auf die Entstehungsweise des Phänomens zurückzuführen und hat bis heute ein Ausmaß erreicht, das schwieriger anzugehen ist als der arabisch-israelische Konflikt. Die Gewichtigkeit und Häufigkeit der Konflikte, die von der ungelösten kurdischen Frage ausgehen, hängen unmittelbar mit der regionalen Machtsicherung der jeweiligen Beteiligten zusammen, da durch die vorherrschenden Bedingungen gerade hier eine entscheidende strategische Position aufzugeben ist oder zumindest eine humanitäre Reform ansteht. Voraussetzung für entsprechende Handlungen ist eine tief greifende und umfassende Analyse.
Da Kurdistan unter den drei tonangebenden Nationen der Region – der persischen, der arabischen und der türkischen – aufgeteilt ist, sind die Konflikte bereits vorprogrammiert. Außerdem zwingt eine Lösung in einem kurdischen Teilgebiet die anderen Länder ebenfalls zu entsprechenden Reaktionen. Die zerklüftete geografische Beschaffenheit wirkte dauerhaft als Katalysator des bewaffneten Kampfes. Jede Okkupation in jeder Phase der Geschichte erzeugte Widerstände der einen oder anderen Art. Das Leben verläuft in einer nahezu natürlich anmutenden Geisteshaltung der Rebellion. Aufgrund der verbesserten medizinischen Möglichkeiten und Versorgung ist die kurdische Gesamtbevölkerung auf über 40 Millionen Menschen angestiegen, die allein durch ihr Sein, durch ihre Existenz, eine adäquate Lösung einfordern.
Der in der Neuzeit intensiv einsetzende Zerfall der Stammesstrukturen – der historisch vorherrschenden traditionellen Gesellschaftsform – schafft erstmals die Möglichkeiten für vielerlei überfällige gesellschaftliche Neuerungen. Da gleichzeitig zeitgenössische Lösungswege vorenthalten werden, bieten diese fehlenden Neuerungen den Nährboden für neue Krisen und fügen dem vorhandenen ›gordischen Knoten‹ weitere hinzu. Zusätzlich ist es häufig ein Bestandteil der herrschenden Politik, die kurdische Existenz zu verleugnen oder sie zumindest zu stigmatisieren. Andererseits führt das Wahrnehmen der zeitgenössischen Welt mittels wachsender technischer Möglichkeiten in vielen kurdischen Kreisen zu berechtigten Forderungen nach einschneidenden Reformen. Das Ausbleiben einer Entwicklung demokratischer Lösungswege im Gesamtkontext des Mittleren Ostens sorgt dafür, dass als einzige Option zur Befreiung scheinbar nur die Gewalt übrig bleibt. Dies wiederum bedeutet verstärktes Blutvergießen in einem unausgeglichenen Kräfteverhältnis und Vertiefung von Leid und Ausweglosigkeit.
Erschwerend kommt hinzu, dass trotz Größe und Wichtigkeit des Problems sowohl internationale diplomatische als auch regionale nationale Institutionen es für die klügste Politik halten, das Problem zu verleugnen, zu verharmlosen und aufzuschieben, anstatt sich damit zu beschäftigen. Vor allem die aus der strategischen Bedeutung der Region resultierenden wechselseitigen Interessenlagen haben dafür gesorgt, dass hier ein Gemisch aus Geheimdiplomatie und offen propagierten menschenverachtenden Haltungen zur Hauptmethode einer Politik ohne Ethik geworden ist, wobei dafür interne Gründe ausschlaggebender als externe gewesen sind.
Eine wissenschaftliche Diskussion könnte die Chance auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner bezüglich einer Vorstellung eines Lösungsweges vergrößern. Es muss endlich verstanden werden, dass das gegenseitige Konfrontieren mit faits accomplis – und zwar seitens aller beteiligten Kreise – die denkbar schlechteste Logik ist. Gerade in der kurdischen Frage sollte die dialogische Methode der Lösungsmöglichkeit Anerkennung erfahren, wie es mittlerweile tendenziell weltweit passiert. Von einer Seite im Befehlston vorgebrachte Lösungsforderungen haben bisher niemandem Nutzen gebracht. Deshalb ist eine brauchbare Definition des kurdischen Phänomens von erheblicher Bedeutung. Solange Kurden von Arabern als ›jemenitische Araber‹, von Türken als ›Bergtürken‹ und von den Persern als ihresgleichen definiert werden, und solange die Kurden sich als eine ›reinblütige‹ Nation betrachten wollen, gibt es keine Basis für gemeinsame Lösungsaspekte. Die bisherige Praxis, die Realität der Aufstände und ihrer Niederschlagung, beweist diese Feststellung. Die Aktionen unter Führung der PKK – bei all ihrem Bemühen um und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit – waren eindimensional und wurden entsprechend aufgenommen.
Zweifellos weist das kurdische Phänomen erhebliche Parallelen zu ähnlichen Fällen auf der Welt auf. Ebenso auffällig aber sind die ihm eigenen Unterschiede. Eine Politik, die sich ausschließlich auf die allgemeinen Ähnlichkeiten stützen will, kann kaum zu tragbaren Resultaten führen. Ein Erfolg kann nur erzielt werden, wenn die besonderen Eigenschaften der kurdischen Frage präzise festgestellt werden und dementsprechend eine realistische und Resultate versprechende Politik angewandt wird. Das ist bis heute nicht versucht worden und der bestimmende Grund für die fortwährende Erfolglosigkeit aller betroffenen Parteien.
In Geschichte und Gegenwart gab es viele einander ähnelnde wie auch gegensätzliche Haltungen gegenüber dem kurdischen Phänomen, die bei näherer Betrachtung in drei Kategorien unterteilt werden können:
Als erste Haltung ist die Leugnung des kurdischen Phänomens zu nennen. Dieser Haltung zufolge gibt es so etwas wie Kurden nicht bzw. ist alles, was unter dem Namen der Kurden gesagt, geschrieben oder unternommen wird, das Werk des Feindes und somit anstößig. Trotz aller rasanten Entwicklung der Wissenschaftlichkeit im zwanzigsten Jahrhundert wird jede politische Situation über oder durch die herrschende Nation bestimmt. Dabei spielt es keine Rolle, dass die Kurden der eigenen Nation angehören, sich in einer Region konzentrieren, andere sozioökonomische und kulturelle Eigenschaften aufweisen und eine andere Sprachstruktur haben: Es gibt sie nicht und es soll sie auch nicht geben. Und das, obwohl viele der entwickeltesten europäischen und amerikanischen Nationen verschiedene Regionen und Kulturen als Minderheiten auf ihrem Hoheitsgebiet anerkennen und zumindest nicht permanent unterdrücken und als Menschen zweiter Klasse halten. Die kurdische Frage und das Phänomen, auf dem sie beruht, zwingen mittlerweile selbst die erbittertsten Gegner und Leugner dazu, ihre Haltung zu ändern und die Anerkennung der kurdischen Existenz als das kleinere Übel zu begreifen.
Die Parteigänger der zweiten Ansicht vertreten genau die entgegengesetzte Meinung. Mit einer emotionalen und jeglicher Objektivität fernen Haltung versuchen sie, eine Politik zu betreiben, die kaum noch eine Verbindung zum Phänomen selbst hat. Das ist die Methode der Mythisierung. Während einige diese Methode mit der Perspektive des primitiven Nationalismus oder des religiösen Glaubens anzuwenden versuchen, glaubt ein anderer Teil von sich, sie im Namen der Linken und Revolutionäre zu praktizieren. In gewisser Weise waren es solche Ansätze, deretwegen die Kurdentümelei im zwanzigsten Jahrhundert erstarb, was die realen Probleme nur noch verschlimmerte und die alten Ambitionen völlig über Bord warf. Die Schuld daran wurde vollständig den jeweiligen Staatsmächten bzw. der Behinderung durch die Gegner zugeschrieben und man sah keine Notwendigkeit, die Fehler und deren Ursachen bei sich selbst zu suchen und eine umfassende Selbstkritik zu üben. Nun sind diese Akteure an dem Punkt der Aufgabe ihrer Ansprüche, der Degeneration und uneingeschränkten Bereitschaft zur Kapitulation angelangt.
Hier sollte die Rolle einer weiteren Gruppe erwähnt werden, die sich zwischen den beiden genannten Auffassungen bewegt: Es handelt sich dabei um die traditionellen Kollaborateure, die bereits seit den Anfängen der Geschichte eine Rolle spielen, es aber durchaus verstehen, sich entsprechend dem Zeitalter in einem neuen Gewand zu zeigen. Sie sind Meister darin, ihren Platz immer an der Seite der jeweils Stärkeren einzunehmen. Sie zeigen eine unglaubliche Professionalität bei der Umsetzung einer Politik, die darauf basiert, ähnlich wie bei einem Familienbetrieb ihre Mitglieder in allen potenziellen Machtbereichen zu positionieren und daraufhinausläuft, sich dann an die Seite derer zu stellen, die gerade an der Macht sind, um damit die Herrschaft der Sippe und Dynastie aufrechtzuerhalten und ihre eigenen Interessen dauerhaft abzusichern.
Prinzipien, eigene Meinungen und Ethik existieren für sie nicht. Ihre Prinzipien und ihr gesamtes Verhalten hängen davon ab, wo sie ihre konkreten Interessen gewahrt sehen. Diese Zwischengruppe ist wesentlich dafür verantwortlich zu machen, dass gesellschaftliche Konflikte vergiftet werden und einen ausweglosen Charakter annehmen. Sie ist nicht nur mächtig, sondern verfügt über eine geschichtliche Erfahrung. Ihre Protagonisten wissen genau, mit wem und wie sie Beziehungen aufzubauen und sich zu vermarkten haben. Respekt vor echten moralischen und prinzipiellen Werten der Gesellschaft ist ihnen bewusst fremd. Diese Gruppe ist primär dafür verantwortlich, dass alle gesellschaftlichen Gegebenheiten und daraus resultierenden Probleme überhaupt in den gegenwärtigen Zustand geraten sind. Darüber hinaus sind sie in der Position, alle möglichen positiven Schritte schon im Vorfeld zu vereiteln, weil sie sich für die billigsten Dienste der staatlichen Vorherrschaft hergeben. Sie sind meisterhaft darin, ihr Spiel mit beiden Seiten zu treiben. Sie sind sogar dazu fähig, unter der Hand ihre Beziehungen mit der gegnerischen Seite aufzubauen und davon zu profitieren. Solange diese Gesellschaftsschicht nicht in ihrer Gesamtheit analysiert, entlarvt und ihr Einfluss gebannt wird, kann weder das kurdische Phänomen wirklich erfasst noch eine brauchbare Lösung entwickelt werden.
Die dritte Auffassung zeigen diejenigen, die an sich selbst den Anspruch der Wissenschaftlichkeit stellen. Zwar sind sie guten Willens, doch sind die von ihnen vorgelegten Analysen unvollständig, beinhalten verkürzte Sichtweisen und sind somit alles andere als systematisch. Deshalb spielt auch diese Auffassung eine nicht minder negative Rolle als die vorgenannten. Eine halbe Meinung ist nicht weniger gefährlich als systematisierte falsche Meinungen. Es kann nicht erwartet werden, mit einer wissenschaftlichen Methode zu Ergebnissen zu kommen, ohne einen sowohl theoretischen als auch auf Untersuchung und Beobachtung basierenden Erfahrungsschatz anzusammeln, der von dogmatischen und utopischen Einflüssen befreit ist. Anstatt sich um eine realistische und anwendbare Politik zu bemühen, halten die Vertreter der besagten Ansicht es für wissenschaftlich, sich in die unverantwortliche Position zu begeben, die Unmöglichkeit einer Lösung des Problems auf wissenschaftlichem Weg zu deklarieren.
Die Praxis der nationalistischen und sozialistischen Ansätze, die einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, hat bislang keine allzu erfolgreichen Ergebnisse vorweisen können, sondern war im Gegenteil an negativen Entwicklungen maßgeblich beteiligt. Auch die Gruppen bzw. Schichten mit Ansichten, die mit den offiziellen Doktrinen übereinstimmen, haben sich Kraft des von ihnen Erreichten deutlich als Verantwortliche für den von ihnen verursachten Nutzen und Schaden offenbart. Keine dieser Gruppen bzw. Schichten könnte von positiven Entwicklungen in der Gesamtheit des Landes oder auch nur in regionalen Teilen berichten. Die kurdische Frage ist im Zusammenspiel mit anderen Problemen eine Hauptursache für die Krisensituationen in den Ländern, an die sie – regional betrachtet – gebunden ist. In der Konsequenz bedeutet das den Konkurs der politischen Führungen.
Nichts zeigt besser auf, wozu das auf Unterdrückung, Vertuschung, Vernichtung oder Zermürbung basierende politische Verständnis führen kann, als die aktuellen Krisen in den betreffenden Ländern. Die Realität der Krise im Mittleren Osten steht in engem Zusammenhang mit dieser politischen Mentalität. Wenn überhaupt von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation die Rede sein kann, dann in dem Sinne, dass sie ihre eigenen Probleme wissenschaftlich angeht und keine demokratischen Lösungswege unversucht lässt.
Weil auch die Praxis der PKK, die an das kurdische Phänomen und die mit ihm zusammenhängende Problematik mit dem Glauben an den wissenschaftlichen Sozialismus herangeht, bei allen von ihr katalysierten wichtigen Entwicklungen weit von einer Lösung entfernt ist, besteht für sie die Notwendigkeit einer Selbstkritik. Es bedarf eines Bewusstseins, dass ein aufrechter Glaube an den wissenschaftlichen Sozialismus und eine fast schon an Dogmatismus grenzende Verbundenheit mit dessen Zielsetzungen noch lange nicht ausreichen, um die erforderliche Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten. Denn Wissenschaftlichkeit basiert auf sinnvollem Zweifeln und nicht auf Glauben.
Dogmatismus schließt wissenschaftlichen Zweifel aus. Dies erleichtert ein Abgleiten in den Dogmatismus und verschleiert den Blick auf die Realität. Bei Menschen, die aus nicht entwickelten feudalen Gesellschaften stammen, ergibt sich aufgrund des Umstandes, dass sie keine durchschnittliche wissenschaftliche Bildung genossen haben, ein besonderer Hang zum Dogmatismus. Die vorherrschende Persönlichkeitsstruktur stellt bereits das wichtigste Hindernis für eine wissenschaftliche Herangehensweise dar. Wenn dieser Nährboden mit bewusster Manipulation und mangelhafter Kenntnis zusammentrifft, steht am Ende die Instrumentalisierung durch andere. Dies trifft auch in verstärktem Maße auf die Realität der PKK zu. Daraus folgt für die PKK die Notwendigkeit, ihre eigene Praxis aufs Neue zu analysieren und daraus Lehren zu ziehen, indem auch auf frühere Erfahrungen mit der weltweiten Krise des Realsozialismus und der Krise der gegenwärtigen kapitalistischen Zivilisation zurückgegriffen wird. Es ist lebenswichtig für sie, die auf ihrem siebten außerordentlichen Kongress[1] eingeleiteten Schritte in dieser Richtung auf einem achten ordentlichen Kongress zu vervollständigen und zu perfektionieren. Es ist obligatorisch, im Wissen darum zu handeln, dass der vorrangige Weg zu einer erfolgreichen, selbstkritischen Erneuerung darüber führt, die wahrscheinlichsten und lösungsorientiertesten politischen Ergebnisse der wissenschaftlichen Methode auszumachen.
Die Analysen zu Geschichte, Gegenwart und Region habe ich im ersten Teil meiner Eingaben [Gilgameschs Erben Band I] vorgebracht. Nun werde ich versuchen, innerhalb des gesetzten Rahmens eine nähere Betrachtung des kurdischen Phänomens und der mit ihm verbundenen Problematik vorzunehmen. Es geht in gewissem Sinne um das Erproben der von mir aufgestellten theoretischen Analyse an einer der wichtigsten praktischen Fragen. Ausgehend von einigen Grundbegriffen werde ich versuchen, auf wissenschaftlicher Basis eine Konsequenz bezüglich einer realistischen und wahrscheinlichen politischen Lösung im globalen Kontext, im regionalen Kontext und speziell für die Türkei zu ziehen.
Gesellschaft bedeutet einen bewussten Zusammenhalt unter Artgenossen der Spezies Mensch zu einem bestimmten gemeinsamen Zweck, der mittels Herstellung von Werkzeugen verfolgt wird. Entscheidend an dieser Definition ist erstens, dass Arbeit mit Werkzeugen verrichtet wird, und dass sie zweitens bewusst gemeinsam mit anderen Artgenossen zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles verrichtet wird. Weder kann eine Gesellschaft aus einer einzelnen Person bestehen noch kann eine Sozialisierung ohne Werkzeuge stattfinden. Außerdem erfordert das Zusammenleben eine gemeinsame Produktion und Sicherheit, um die Fortsetzung des physischen Lebens gewährleisten zu können, was wiederum ein gemeinsames Bewusstsein notwendig macht. Innerhalb dieses Rahmens vollzog sich die Entwicklung vom Familienklan zu einer Gesellschaft von anfänglich kaum mehr als zwei Dutzend Menschen. Entsprechend dieser Definition hat die menschliche Gesellschaft von ihrer Entstehung bis zu ihren heutigen Formen größere Veränderungen durchlaufen und sich als solche durchsetzen können. Dass das heute als ›die Kurden‹ bezeichnete Phänomen eine nicht zu verleugnende gesellschaftliche Realität darstellt, lässt sich neben historischen Funden und Beweisen allein schon durch ihre Existenz aufzeigen. Obwohl sie keinen Staat besitzen und niemals zu einer Nation wurden, leben sie seit Tausenden von Jahren in extrem soliden Stammesgemeinschaften in einer bestimmten Gegend wie andere menschliche Gesellschaften auch, sprechen eine Sprache mit unterschiedlichen Dialekten, leisten Widerstand gegen fortwährende Unterdrückung und geben die Hoffnung niemals auf, zukünftig in Freiheit zu leben. Einen eindeutigeren Beweis für eine gesellschaftliche Existenz kann es nicht geben.
Ab 12000 v. u. Z. kann der Übergang zu einer Gesellschaft festgestellt werden, die sich auf Pflanzenanbau und Tierzucht stützt. Die Bevölkerung wuchs stetig und organisierte ein sesshaftes Leben. Unter diesen Bedingungen wandelte sich der Familienklan zum Familienstamm, der sich aus mehreren Familien zusammensetzte. Erstmalig in der Geschichte bildete sich diese Gesellschaftsform in der Gegend von Obermesopotamien im Becken zwischen Euphrat und Tigris. Ab 6000 v. u. Z. versippten sich die Familienstämme zu größeren Stammesgesellschaften, wobei die Institutionalisierung der sesshaften Agrargesellschaft wiederum die entscheidende Rolle spielte. Die Bildung eines entwickelten Stammesbewusstseins im Gegensatz zum bloßen Phänomen des Stammeslebens entwickelte sich erst durch das Auftreten von Mächten, die von außen angreifen, und die im Gegenzug dazu stattfindenden Verteidigungs- und Expansionsbestrebungen. Die Stammesgesellschaft ist eine universelle Gesellschaftsform, die alle sich entwickelnden Gesellschaften mehr oder weniger ausgeprägt durchlebten. Sie ging nicht zu einer politischen Formation – vergleichbar mit einem Staat – über, sondern erreichte als höchste Organisationsform eine Konföderation zwischen mehreren Stämmen. Das war die vorstaatliche politische Gesellschaft, die anfangs matriarchal ausgerichtet war. Die Ausprägung bzw. Übernahme staatlicher Strukturen im Schoß der Stammesgesellschaft bedingte die Ausbildung von Klassen. Mit dieser wiederum löste sich die Stammesbande auf und organisiertere Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten bildeten sich heraus. In der Folge waren weniger Abstammungs- oder Heiratsbande, sondern vielmehr politisch-bürokratische Beziehungen vorherrschend.
Die so entstandene Klassengesellschaft brachte eine neue gesellschaftliche Organisationsform hervor: den Staat. Größere Stammesgemeinschaften, die einer ähnlichen Sprache und Kultur angehörten, mehr oder weniger sesshaft an einem Ort lebten und zeitweise entweder durch Besatzung oder durch in ihrem Inneren entstehende eigene politische Institutionen beherrscht wurden, erhielten die Bezeichnung Volksstamm oder Nation; die vorherrschende Form des Mittelalters. Die Elite eines Stammes, der zu einer Klassengesellschaft übergegangen ist, bildete die herrschende Dynastie, während die anderen Schichten zu verarmten und versklavten Werktätigen gemacht wurden. So verlor die Zugehörigkeit zu demselben Stamm an Bedeutung – was zählte, war die Klassenzugehörigkeit.
Die Kurden haben vor rund zehntausend Jahren in der Taurus-Zagros-Gebirgskette als neolithische Gesellschaften in einer bis heute ähnlichen Stammesform zu leben begonnen. Um 6000 v. u. Z. nahm diese Stammesformation bewusstere Züge an. Etwa 3000 v. u. Z. leisteten kurdische Stämme allgemeinen Widerstand gegen den sumerischen Kolonialismus. Widerstand und Gegenangriff formten frühzeitig ein sehr starkes Stammesbewusstsein und entsprechenden Zusammenhalt. Forciert durch die günstigen geografischen Bedingungen und die ständig zunehmenden Angriffe von außen organisierten sie sich in Form von Bergstämmen. Die Fortsetzung solcher Angriffe in ähnlicher Weise bis in die Neuzeit hinein hat eine Wandlung der kurdischen Gesellschaft behindert und die Bewahrung ihres Fortbestandes in kleinen Verteidigungsgemeinschaften zu einem grundlegenden Problem gemacht. Das Aufzwingen einer religiösen Ideologie von außen hemmte zusätzlich die moralische und geistige Entwicklung. Die Gesellschaft ist zweigeteilt: auf der einen Seite die von außen kommende, regierende und mit den Stammeseliten kollaborierende offiziell herrschende Gesellschaft – und andererseits die Stammesmehrheit, welche die Werktätigen stellt. Auf dieser Grundlage ist die kurdische Frage entstanden, die auch heute noch in verstärkter Form besteht.
Nation und Nationalstaat bildeten sich als Folge des aufgrund der kapitalistischen Produktionsweise als direkte Handelsorganisation entstandenen Binnenmarktes. Sie bezeichnen die Umwandlung und Organisierung als Staat von einander ähnlichen Stammesgemeinschaften und Volksstämmen, die in einer Nation als eine übergreifende Identität ihre Form finden. Der gemeinsame Markt führt die regionalen Dialekte und Kulturen zu einer gemeinsamen Sprache und zu Formen einer nationalen Kultur. So wird mit ökonomischer Einheit und der Gemeinsamkeit von Sprache und Kultur ein Übergang vollzogen von der alten, dynastischen Monarchie zu einer neuen politischen Regierungsform. Diese ist die politische Einheit aller Bevölkerungsgruppen, deren Interessen unter der Führung der Bourgeoisie zusammenkommen. Die Republik wird überwiegend von der kapitalistischen Spielart der Politik dominiert. Stammes- und Volkszugehörigkeit werden durch die Kraft des nationalen Marktes zu nationalen Bindungen transformiert, wobei man diesen Prozess bewusst plant und manchmal sogar mit Gewalt beschleunigt. Für die Globalisierung und den insbesondere von den wissenschaftlich-technologischen Entwicklungen forcierten Weltmarkt sind der nationale Markt und Staat zum Hindernis geworden, ähnlich der konservativen Rolle vergangener feudalistischer Dynastien. Es entstehen immer mehr übernationale politische, juristische und ökonomische Einheiten sowie regionale Zusammenschlüsse, die zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die internationale Gesellschaft erlebt ihre historisch stärkste Zeit.
Aufgrund der geschilderten Bedingungen kann die kurdische Gesellschaft weder so etwas wie einen unabhängigen nationalen Markt hervorbringen noch sich auf einen Nationalstaat orientieren. Ihre strategische Position spielt eine zusätzliche negative Rolle. Auch die herrschenden Staaten selbst lassen weder die Entstehung eines Binnenmarktes noch die Entwicklung stärkerer nationaler Bindungen zu. Daher setzen sich die Bedingungen einer modernen Gesellschaft nur unter großen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen durch. Eine Entwicklung der nationalen Sprache und Kultur mit modernen Mitteln wird nicht zugelassen. Wahrend die herrschenden nationalen Gemeinschaften (›Staatsvölker‹) mithilfe des Staates für ihre eigene Sprache und Kultur weitgehende materielle und geistig-kulturelle Privilegien sowie vielseitige Entwicklungsmöglichkeiten bereitstellen, wird auf alles Kurdische lediglich mit Verbot und Verleugnung reagiert. Das gilt ebenso für wirtschaftliche Aktivitäten und freie politische Beziehungen und Institutionen. Es werden keine Mittel zum Aufbau einer Ökonomie bereitgestellt, die auf den eigenen Interessen und Ressourcen der Gesellschaft basiert sowie der Institutionalisierung einer intellektuellen und politischen Ausdrucksfreiheit. Im Gegenteil, sämtliche Versuche in diese Rchtung werden hart bestraft. Die freie Ausübung der kulturellen Identität ist ebenfalls verboten. In diesem Sinne wird eine mittelalterliche Politik der Verleugnung, begleitet von Verboten und Zwangsassimilierung, betrieben.
Die aktuelle Realität des kurdischen Phänomens zeugt von den Schwierigkeiten, auf der Grundlage nationalistischer Ideologie zu so etwas wie einer Nation bzw. einem Nationalstaat zu werden. Auf der anderen Seite zeigen der Verlust der Position von Nation und Nationalstaat als einziger zeitgenössischer Option sowie das Hervortreten von Demokratie als eine immer wichtiger werdende Gesellschafts-, Politik- und Staatsform, dass der demokratische Lösungsweg eher gangbar ist. Auch ohne die Gründung eines Nationalstaats ist ein Leben in Freiheit leicht möglich, und zwar als eine freie nationale Gemeinschaft in einem gemeinsamen demokratischen Staat. Es ist sogar bereichernder. Viele alte Nationalstaaten entwickeln sich langsam zu einer föderalistischen Union. Sichtbar wird diese neue Entwicklungsrichtung insbesondere in der föderalen Struktur der USA, dem wohl stärksten Staat der Welt, und schrittweise in ganz Europa hin zum Föderalismus der Europäischen Union (EU). Diese Situation zeigt auch in Bezug auf die kurdische Frage die Möglichkeit eines Lösungsweges auf, der auf einer demokratischen Einheit mit den von Kurden bewohnten Ländern basiert. Eine friedliche Lösung kann mit demokratischen Politikinstrumenten angestrebt werden, die auf der Basis eines breit angelegten Zivilgesellschaftsprojekts zu schaffen sind, ohne dass dabei nationalistischen Vorurteilen Raum gegeben oder Gewalt angewendet wird. Dieser Weg, der unter Ausschluss von nationalistischer Gewalt und Separatismus gegangen werden müsste, würde allen ethnischen Gemeinschaften ihre kulturelle Unversehrtheit garantieren und ein freies Leben ermöglichen. Er ist eine Lösungsmöglichkeit, die auf der ganzen Welt immer stärker zur Geltung kommt.
Die auf Klassengesellschaften basierenden Staaten haben es zu einer klassischen Methode gemacht, ihre Problemlösungen und Güterbeschaffung mit Gewalt zu lösen. Der Diplomatie fällt dabei die Rolle der Vorwandbeschaffung zu. In Zeiten, in denen das Mehrprodukt begrenzt und das militärische Gleichgewicht gestört war, wurde die Weltordnung letztlich von dem Staat bestimmt, der über die stärkste militärische Macht verfügte. Bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war dies eine der Grundregeln der Geschichte. Als das nukleare Gleichgewicht des Schreckens hergestellt wurde und aufgrund der wissenschaftlich-technologischen Revolutionen die zur Verfügung stehenden militärischen Methoden ineffektiv wurden, wurde die Suche nach einer überwiegend politischen Herangehensweise an die Probleme unumgänglich. Ein möglicher Weltkrieg wäre sowohl für die Sieger als auch für die Verlierer von tragischer Bedeutung. Auch die Kostenexplosion sowie die Ineffektivität der militärischen Methoden sind dabei ein entscheidender Faktor. Somit wird die Lösung der bestehenden gesellschaftlichen Probleme auf Grundlage demokratischer Kriterien zur vorherrschenden Methode.
Diese Entwicklungsrichtung des Zeitalters hat positive Auswirkungen auf die kurdische Frage. Ohne militärischen Druck von außen und ohne eigene Gewaltanwendung, vielmehr mittels Dialog zu einer Lösung zu kommen, indem man sich auf die Grundregeln der Demokratie einigt, bietet eine neue und realistische Möglichkeit. Wenn offensichtlich ist, dass der militärische Weg für beide Seiten erhebliche Verluste bringt, ist undenkbar, dass nicht der für alle Beteiligten letztendlich gewinnbringende Weg eingeschlagen werden sollte. Die militärische Option ist nur mit einem faschistischen Verleugnungs- und Vernichtungsdenken möglich, und es ist unausweichlich, dass Kräfte, die diesen Weg dennoch versuchen, im Weltmaßstab bloßgestellt und isoliert werden. Es ist eine vorrangige Aufgabe, die kurdische Frage aus dem militärischen Bereich herauszulösen und sie auf eine politisch-demokratische Plattform zu heben. Eine breit angelegte zivilgesellschaftliche Praxis, die nationalistische Vorurteile zu brechen vermag, wird sowohl die aus der Vergangenheit überkommenen psychologischen Hindernisse aus dem Weg räumen als auch aufzeigen, dass demokratische Toleranz und eine Atmosphäre des Friedens den Einfallsreichtum für Lösungsmöglichkeiten steigern. Sie wird auch mit dem Separatismus brechen, mit dem das Problem jahrelang gleichgesetzt wurde, und beweisen, dass aufgrund der Notwendigkeiten zeitgenössischen Staatsbürgerrechts die stärksten Verbände von Ländern und Staaten gerade durch eine Umsetzung demokratischer Kriterien entstehen.
Trotz all ihrer Fehler und Beschränktheit steht die Demokratie an der Spitze aller politischen Modelle, denn demokratische Kriterien sind der am besten geeignete Weg hin zu einer freien und egalitären Gesellschaft. Deshalb ist es die Pflicht aller Teile der Gesellschaft, die das Bedürfnis nach Demokratie verspüren, ihre Forderungen zunächst im demokratischen Rahmen zu formulieren, sofern dieser besteht, oder andernfalls für die Demokratie zu kämpfen. In dem Maße, wie die Demokratie entwickelt, systematisiert und zu einer unverzichtbaren Lebensweise gemacht wird, wird auch die Lösung von Problemen eines betreffenden Landes oder Staates in Frieden und zukunftsweisender Form eher die Regel werden statt die Ausnahme.
Dazu gehört die Umsetzung eines universellen Rechtssystems. Die zwei Grundinstitutionen Demokratie und Recht bedingen und ergänzen sich gegenseitig. Die Demokratie ist das Recht des politischen Bereiches. Fügt man noch die grundlegenden Menschenrechte hinzu, treten die Normen des zeitgenössischen demokratischen Rechtsstaates hervor. Gewisse Unterscheidungen sind zu treffen: Wenn ein Staat sich am Rechtswesen als Grundprinzip orientiert, wird er damit zum Rechtsstaat. Schafft ein Staat im Gegenteil seine eigene Rechtsprechung, handelt es sich hierbei lediglich um Staatsrecht. Erst wenn das Recht nicht nur vom Staat bestimmt wird, sondern sich auch an Kultur und Sitten der Gesellschaft orientiert und sich gleichzeitig auf universelle Rechtskriterien stützt, wird dies zu einem wirklichen Rechtsstaat führen. Als Grundregel einer demokratischen Regierungsform gilt, dass ausnahmslos alle gesellschaftlichen Fragen und Forderungen in Frieden und Gerechtigkeit entschieden werden. Die Lösung des demokratischen Rechtswesens wird allen Einzelpersonen und gesellschaftlichen Gruppen Sicherheiten bieten und damit einen großen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft leisten. Obgleich für die Gesellschaften des Mittleren Ostens keine demokratischen Rechtsstaaten existieren, wird die weitere Entwicklung unweigerlich auch diese Länder auf einen entsprechenden Weg bringen. Die kurdische Frage wird zunehmend eine Lösung im Rahmen demokratischer Rechtsprinzipien erzwingen. Die Kurdinnen und Kurden werden ihre gesellschaftlichen Rechte insbesondere dann erlangen, wenn sie sich Politik und Recht in einem demokratischen Rechtsstaat aneignen. Deshalb ist es mehr denn je die Hauptaufgabe, den Erfolg der kurdischen Sache durch demokratische und rechtliche Methoden zu suchen.
Der Begriff der Staatsbürgerschaft bezeichnet die Bindung an einen Staat und bedeutet so viel wie Mitgliedschaft in einem Staatswesen. Dabei handelt es sich um einen politischen Begriff, der keinerlei ethnische oder nationale Wertungen beinhaltet. Nationalität bedeutet dagegen die Zugehörigkeit zu einer Nation. Nationale Bindungen, die vom Besitz einer gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur ausgehen und eine dezidierte gesellschaftliche Form ausmachen, bedeuten nicht automatisch, die politischen Bindungen in gegebener Form mitzutragen. Man kann derselben Nation angehören und muss deshalb nicht gleichzeitig Staatsangehöriger desselben Staates sein. Die Mitgliedschaft in einem Staat bedeutet nicht zwangsläufig die Zugehörigkeit zu einer Nation. Diese Gleichsetzung kann nur durch eine faschistische und absolut autoritäre Denkweise aufgezwungen werden.
Im Falle der kurdischen Gesellschaft sind die Individuen Angehörige des jeweiligen Staates, in dessen Grenzen sie leben, was sie aber nicht gleichzeitig zu Angehörigen der herrschenden Nation des betreffenden Staates macht. Sie können ihre nationale Identität separat bestimmen und leben. Es stellt aber keinen Widerspruch zur eigenen nationalen Zugehörigkeit dar, als Ausdruck einer im gesamten Land, in dem sie leben, gültigen übergeordneten Identität eine nationale Bindung mit der Bezeichnung des jeweiligen Landes anzunehmen. So ist beispielsweise die Aussage, man gehöre der Nation des Iran an, sei aber gleichzeitig Kurde, nicht etwa widersprüchlich, sondern bezeichnet im Gegenteil eine ganzheitliche Identität. Das Gleiche gilt für den Irak und die Türkei. Zu sagen, man gehöre dem Volk bzw. der Nation der Türkei an, und gleichzeitig zu ergänzen, man sei Kurde, drückt eine der Wirklichkeit nahekommende und umfangreichere Identität aus. Die ethnische Identität und die für das ganze Land geltende nationale Identität dürfen nicht miteinander verwechselt werden; denn sie haben beide eine eigene Bedeutung und müssen sich nicht widersprechen. Sich dies stets vor Augen zu halten, dient dem Zusammenleben in Freiheit.
Mit dem Begriff der offiziellen Gesellschaft bezeichnen wir die Bevölkerungen, die in einem Staat und mit seinen Institutionen nach dessen Regeln leben. Dazu gehören alle vom obersten Entscheidungsträger bis zum Dorfwächter, von Arbeitern und Angestellten im staatlichen Dienst bis zum Rentner. Sie sind wesentlich an die Anordnungen und Regeln des Staates gebunden. Hier herrscht eine Beamtenmentalität, für die der Staat alles bedeutet. Darüber hinaus gibt es keine maßgebliche Erweiterung des Horizonts. In der Frühgeschichte und Antike waren sie die Sklaven des Staates; heute aber verfügen sie über eine begrenzte Freiheit. Da sie sich mit dem Staat identifizieren, glauben sie, sie seien höhergestellt als alle anderen Sektoren der Gesellschaft. Da ihr Leben gesichert ist, sind sie übertrieben regeltreu und nicht schöpferisch.
Die traditionelle Gesellschaft fasst alle Elemente der alten Gesellschaft zusammen, die außerhalb des Staates verblieben sind. Genauer gesagt bezeichnet dieser Begriff die ›Gesellschaft an sich‹, die unorganisierte Gesellschaft. In dieser Art von Gesellschaft herrscht im Denken der Menschen ein natürliches Durcheinander zwischen einer feudalen Mentalität und einer, die auf die Sklavenhaltergesellschaft zurückgeht. Es fehlen zeitgemäße demokratische Institutionen und menschenrechtliche Einrichtungen. Seit Tausenden von Jahren gilt es diesen Untertanen als Tugend, so zu leben, wie Staat und Religion es vorschreiben, und sich dem als Schicksal ausgegebenen Kapitulationsgeist zu beugen. Diese Denkweise und Gewohnheiten zeigen, dass sie tatsächlich in einer tiefen Versklavung leben.
Die Zivilgesellschaft bezeichnet zunächst einmal die bürgerliche Gesellschaft, die sich einst in freier Weise außerhalb des feudalen Staates entwickelt hat. Als später die Bourgeoisie zur offiziellen staatlichen Gesellschaft wurde, änderte sich der Umfang der Zivilgesellschaft. Heute umfasst sie alle Sektoren und Gruppen der Gesellschaft, die außerhalb des Staates stehen, sich oppositionell gegen ihn richten, eine freie Geisteshaltung sowie eine klare gesellschaftliche Programmatik und Organisiertheit besitzen. Mehr und mehr wird die Zivilgesellschaft zu einer bestimmenden Gesellschaftsform, die sich jenseits der offiziellen traditionellen Gesellschaft herausbildet. Sie entsteht im Grunde in dem Vakuum, das von der offiziellen Gesellschaft hinterlassen wird, die nicht in der Lage ist, Lösungen anzubieten, und stellt ein System gesellschaftlicher Gruppen dar, die eine hohe Befähigung zur Problembewältigung aufweisen.
Die Bedeutung der beiden Begriffe Internationalismus und Patriotismus wie auch das Verhältnis zwischen ihnen hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder gewandelt. Ein geografisches Gebiet, in dem sich eine Gesellschaft dauerhaft niedergelassen und einen Zusammenhang zwischen Unterbau und Überbau der Produktion geschaffen hat, wird Heimat oder Land genannt. Internationalismus bezeichnet das Niveau der zu einer Gemeinschaft in einer anderen Heimat aufgenommenen Beziehungen. Diese beiden Begriffe haben seit der ersten sesshaften Gesellschaft, der neolithischen Kultur, eine Bedeutung. Ebenso notwendig wie die Heimat ist auch die Beziehung zwischen zwei Heimaten. Ohne sie hätte es keinerlei historische Entwicklung gegeben. Häufig werden die Grenzen eines politischen Herrschaftsgebietes mit Heimat verwechselt. Fälschlicherweise wird auch angenommen, dass es in einem Land nur eine Nation und eine Sprache geben könne. Es kann sowohl sein, dass in einem einzigen Land mehrere Völker und Sprachen nebeneinander existieren, wie auch umgekehrt, dass in mehreren Ländern nur eine Nation und eine Sprache vorkommen. Beispielsweise existieren im Land Russland mehrere Nationen und Sprachen, während die Türken als eine einzige Nation in mehreren Heimatländern leben.
Aus kurdischer Sicht hat die Angelegenheit zwei Seiten. Obgleich Kurdistan historisch geteilt und die Sprache stark eingeschränkt wurde, haben Kurdinnen und Kurden eine Heimat und können gleichzeitig das Land innerhalb der Grenzen des jeweiligen Staates, unter dessen Dach sie sich befinden, als offizielle Heimat erleben. Ähnlich der alten Stammeszugehörigkeit hat eine übertriebene Fixierung auf Grenzen angesichts der technologischen Entwicklung an Bedeutung verloren; eine sich entwickelnde Tendenz geht dahin, die Welt als eine gemeinsame Heimat anzusehen. Die Achtung der kulturellen Existenz der Heimatländer bei gleichzeitigem Teilen mit anderen Menschen ist eine der wichtigsten Eigenschaften unserer Epoche. Damit sind Patriotismus und Internationalismus enger miteinander verknüpft denn je. Die prosaische Parole von der Handvoll Heimaterde war insbesondere ein Grundsatz der starren Nationalisten des 19. Jahrhunderts und bringt unter den heutigen Bedingungen dem Vaterland mehr Schaden als Nutzen. Ein zeitgemäßer Patriotismus kann das jeweilige Land bereichern, es materiell und ideell lebenswert zu gestalten und dies mit der Menschheit teilen. Nicht für den falschen Nationalismus der Herrschenden, sondern für die gemeinsame Heimat der Völker auf Grundlage von Freiheit und Gleichheit mit den Methoden der gemeinsamen Einheit und Aktivität zu kämpfen, bedeutet wirklichen Patriotismus.
Die Kurden leben seit Tausenden von Jahren einen verschlossenen Traditionalismus in eng gefassten Stammesverbänden. Abgesehen von einer kleinen Elite, die mit der herrschenden offiziellen Gesellschaft zusammenarbeitet, ist die kurdische Gesellschaft aus allen Epochen ausgestoßen und zur Zeitlosigkeit verurteilt. Sie hat sich einer hilflosen Mentalität hingegeben, die alles als Schicksal auffasst. Es fehlt ihr deutlich an einer kritischen und Abhilfe suchenden intellektuellen und psychischen Verfassung. Die seit Jahrhunderten andauernde harsche Unterdrückung und religiöse Propaganda hat sie daran gewöhnt, alles, sogar sinnlose und ungerechte Todesfälle, in dankbarer schicksalhafter Ergebenheit hinzunehmen. Aus dieser Situation heraus entstehen aber umgekehrt von Zeit zu Zeit heftige Ausbrüche und Aufstände. Aufgrund ihrer inneren und äußeren Bedingungen kann die kurdische Gesellschaft weder eine eigene offizielle Gesellschaft hervorbringen, noch kann sie in breiterem Umfang an der herrschenden offiziellen Gesellschaft teilhaben. Einzig die historischen Hamidiye-Regimenter[2] und die heutigen Dorfschützer-Einheiten[3] zählen in diesem Sinne zur herrschenden offiziellen Gesellschaft.
Die krisengeschüttelte Traditionsgesellschaft erlebt heute einen schwerwiegenden Zusammenbruch. Die daraus entstehenden revolutionären und aufständischen Organisationen bleiben erfolglos und können für die ausweglose Lage keine Konzepte anbieten, da das Ungleichgewicht der Kräfte zu groß ist und sie über keinerlei strategische Verbündete verfügen. Deshalb wird die Zivilgesellschaft für die Kurden zu einer wichtigen lösungsorientierten gesellschaftlichen Kraft, die es auszuprobieren gilt. Anstelle der traditionellen, offiziellen oder aufständischen Gemeinschaften, die vorhandene Krisen nur verschärfen, stellt die Perspektive einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktionsformen, die sich an den vor ihnen liegenden Aufgaben orientieren und sich in den Zusammenhang eines breit gefächerten, koordinierten Zivilgesellschaftsprojektes mit seiner Programmatik stellen, eine Gesellschaftsform dar, die mit den jeweiligen Organen im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen, ökologischen, rechtlichen, sportlichen, künstlerischen, geschichtswissenschaftlichen Bereich die kurdische Gesellschaft aus ihrer ausweglosen Situation herausholen und in eine moderne demokratische Gesellschaft umwandeln kann.
Von der Verleugnung des kurdischen Phänomens bis hin zu lärmender Parteinahme ziehen sich die Haltungen, die hauptverantwortlich für sämtliche negativen praktischen Konsequenzen sind, mit denen wir zu kämpfen haben. Das wollen wir im Folgenden behandeln:
Die ideologische Herangehensweise an die kurdische Wirklichkeit (wobei hierbei die Begriffe Phänomen und Wirklichkeit synonym für wissenschaftliche Beschreibungen eines Sachverhaltes gebraucht werden): Ein Mensch könnte ohne Ideologie zweifellos nicht leben. Jeder Mensch verfügt unwillkürlich über eine ideologische Weltanschauung. Mit ideologischem Ansatz meine ich hier in erster Linie die vier Grundkategorien: die mythologische, die religiöse, die philosophische und die wissenschaftliche Weltsicht. Alle Individuen betrachten die vor ihnen ausgebreiteten Phänomene zumeist mit einer Mischung aus diesen Ansätzen. Für einen Menschen in der Frühzeit bezieht sich die Erklärung eines Vorganges wesentlich auf die Mythologie. Wer die Mythologie am genauesten kennt, wird die beste Erklärung abgeben können und ist somit in der Position einer Autorität. Einen Schritt weiter und mit der Mythologie in enger Verbindung stehend liegt die religiöse bzw. theologische Sichtweise. Diese beiden Blickwinkel führen zu realitätsfernen Ergebnissen, stellen aber hinsichtlich der anfänglichen menschlichen Mentalität unvermeidliche Deutungsformen dar.
Der philosophische Ansatz versucht schwerpunktmäßig, ein Phänomen aus seinen eigenen Eigenschaften zu erklären. Es wird versucht, das behandelte Phänomen mittels der Fragestellungen nach Ursache, dem Wie und seinen Wirkungen zu beschreiben. Diese Sichtweise war im klassischen Zeitalter der Sklaverei als gesellschaftliche Praxis entwickelt und verbreitet. Die kapitalistische Zivilisation entwickelte den wissenschaftlichen Ansatz, der sich auf experimentelle empirische Verifizierung philosophischer Annahmen stützt. Wenn abstrakte philosophische Annahmen durch Experimente und Beobachtungen bewiesen werden, so ist eine wissenschaftliche Erklärung gegeben und damit das dem Richtigen am nächsten stehende Wissen produziert. Es widerspricht dem wissenschaftlichen Ansatz, von absolutem Wissen zu reden. Allgemeine Zustimmung findet die Ansicht, dass Wissen relativ ist, sich kontinuierlich entwickelt, damit an Bedeutungskraft gewinnt und immer neue praktische technische Entwicklungen zulässt. Es ist realistischer, von sich vertiefendem als von unveränderlichem Wissen zu sprechen.
Im Rahmen dieser Definitionen bleibt festzuhalten, dass proportional zur Steigerung des Anteils von Wissenschaftlichkeit an ideologischen Ansätzen der Informationsgrad bezüglich des zu untersuchenden Phänomens ansteigt. Jemand, der sich nur mit mythologischen oder religiösen Erklärungen begnügt, wird sich zumeist mit Schlagwörtern aus der Affäre ziehen müssen. Philosophische und theoretische Annahmen dagegen neigen aufgrund ihrer fehlenden Eignung, das Konkrete zu erfassen, zum Abgleiten in Dogmatismus oder in eine Abstraktheit, die sich an bestimmten Begriffen festhakt. Deshalb sind auf möglichst wissenschaftlicher Basis aufbauende ideologische Perspektiven, wissenschaftliche Beobachtungen und Experimente für das Wissen über ein jeweiliges Phänomen von Bedeutung.
Mit den ideologischen Sichtweisen des Altertums und des Mittelalters lässt sich die kurdische Wirklichkeit nicht zutreffend definieren. Besatzungsregime, die auf verschiedene Weise und zu unterschiedlichen Zwecken stattfanden, führten unweigerlich zu sonderbaren Legenden mit religiösen und mythologischen Kommentaren über die unterworfene Bevölkerung. Das ist einer der Hauptgründe, warum die kurdische Bevölkerung sich selbst in religiöser und mythologischer Hinsicht nicht ausreichend zu erklären weiß. Zusätzlich erschwerten Besatzung und Ausbeutung die ideologische Verteidigung. Die Kurden sind so weit erniedrigt worden, dass sie sich einem blinden Fanatismus hingaben, dem schon die unvoreingenommene Beschäftigung mit sich selbst wie Gotteslästerung vorkam. Die ersten Diskursträger eines wissenschaftlichen Ansatzes sind unter Berufung auf die europäische Zivilisation hervorgetreten.
Da eine Aufklärung des kurdischen Phänomens eine Reihe regionaler, nationaler und internationaler Interessen in Gefahr gebracht hätte, wurde darauf gesetzt, diesen Bereich mit einem Bann zu belegen und eine wissenschaftliche Erklärung zu unterbinden. Zur Durchsetzung dieser Interessen wurde Repression angewandt. Die aus diesem Grund in den Köpfen entstandene Angst und die Unterdrückung kurdischer Interessen führten dazu, dass sich niemand des Themas annahm, die kurdische Realität entweder geleugnet wurde oder je nach Interessenlage demagogische Herangehensweisen nach dem Motto ›die gehören doch zu uns‹ angewandt wurden.
Die negativen Sichtweisen, die derlei ideologische Betrachtungen dominieren, erzeugten ihren eigenen Gegensatz, der sich in der Annahme ausdrückt, es gebe eine kurdische Wirklichkeit, die für alle Zeiten und Epochen gelte. So wird sogar ein idealisiertes Kurdentum beschrieben, dem Stärke, Widerständigkeit, Trotz und Durchsetzungsvermögen zugeschrieben werden. Diese Zuschreibungen gelten vor allen Dingen für den nationalistischen Ansatz. Da ihre Gesellschaftsphilosophie eine metaphysische ist, führen solche Betrachtungen nur dazu, die vorhandene Wirklichkeit noch komplizierter zu gestalten, als sie es ohnehin ist. Die wirklichkeitsfremde Deutung der Tatsachen spiegelt sich in einer kuriosen Politik und Praxis wider.
Keine Gesellschaft ist rein und nichts geschieht plötzlich, quasi aus dem Nichts. Dass Gesellschaften sich durch eine dialektische Entwicklung in größeren zeitlichen und räumlichen Kategorien als Rahmenbedingungen verwirklichen, ist mittlerweile keine Hypothese mehr, sondern eine erwiesene wissenschaftliche Erkenntnis. Wichtig ist, die zeitlichen und räumlichen Bedingungen einer Gesellschaft in Perioden zu unterteilen und Vergleiche innerhalb der spezifischen Bedingungen jeder Epoche anzustellen, um damit das umfangreichste Wissen über das zu untersuchende Phänomen zu erlangen. Dies gilt für alle zu untersuchenden Objekte. Es gibt kein Phänomen, das nicht zu analysieren und zu definieren wäre.
Aus diesem Blickwinkel heraus lässt sich die Besonderheit der kurdischen Realität in der allgemeinen Evolutionslinie besser verstehen. Bis zur neolithischen Zeit waren sich die Gesellschaften ähnlich: Sie jagten und sammelten zusammen in Gruppen von bis zu hundert Menschen. Die Entwicklung von Sprachen und Kulturen war begrenzt und sie begannen erst allmählich, Unterschiede zu entwickeln. In dieser Epoche kann man keine Gesellschaft als einer anderen überlegen bezeichnen. Archäologische und etymologische Untersuchungen deuten daraufhin, dass die während des Neolithikums entstandene Gesellschaft in der heute von Kurden bewohnten Region beheimatet war. Daraus lässt sich für das kurdische Phänomen die Folgerung ableiten, dass sie die wohl älteste der gesellschaftlichen Existenzformen darstellt.
Diese Feststellung ist von Bedeutung, denn da die Eigenschaften der neolithischen Gesellschaft bekannt sind, erleichtert uns dies die Beschreibung ihrer Schöpferinnen und Schöpfer, der Vorväter und -mütter der Kurden. Es ist eine bedeutsame Besonderheit, in der Kategorie der alten und schöpferischen Völker an erster Stelle zu stehen. In der Folge entstand die Zivilisation und die (geschriebene) Geschichte.
Da die Merkmale der sklavenhalterischen und feudalen Ära in ähnlicher Weise bestimmend für die Situation jeder Gemeinschaft sind, entwickelten sich auch die Eigenarten der Kurden in jener Zeit weiter. Eine eigene Art der Spaltung in Klassen und Institutionen von Basis und Überbau gestalten die Gesellschaft komplexer. Aufgrund der gegebenen Bedingungen setzten die Kurden ihre Kreativität in diesen Phasen in begrenztem Maße um. Wichtig ist, diese Tatsachen durch zutreffende Beobachtungen unter Berücksichtigung der zeitlichen und räumlichen Bedingungen festzustellen, zu entsprechenden Definitionen zu gelangen und Annahmen aufzustellen.
Die kapitalistische Epoche veränderte die Gesellschaften in ihrem Dasein als Stämme und Volksstämme einschneidend. Im Umkreis eines nationalen Marktes, einer gemeinsamen Sprache und Kultur entstand das Gebilde der Nation. Alle bestehenden Gesellschaften können unter diesen Bedingungen in verschiedener Form zu Nationen werden. Es gibt kaum Gemeinschaften, die sich diesem Prozess der Nationenbildung nicht anschließen, und hierbei zeigt sich die allgemeine Problematik des nationalen Phänomens gerade für Kurdistan und seine Bevölkerungen. Sie haben in dieser Hinsicht drei Möglichkeiten: Entweder machen sie einen Prozess der Nationenbildung der ursprünglichen Form durch oder, wenn dieser Weg durch politischen und militärischen Druck verunmöglicht wird, besteht als zweite Möglichkeit die Basis für die Bildung einer gemeinsamen Nation mit dem herrschenden Staat, in dem sie leben. Heute geschieht vorwiegend dies. Die dritte Variante ist die Zwangsassimilation inklusive völliger Entfremdung und eines der Schizophrenie ähnlichen Seins.
Es gibt keine vorrangig existierenden starken Nationen oder Volksstämme, nicht einmal ›reine‹ Stammesgebilde. Maßgeblich ist vielmehr die im Verlaufe historischer Prozesse stattfindende Transformation mit ihren komplexen Strukturen: Vom Namen bis zum Phänomen selber ist hier alles einer kontinuierlichen Evolution unterworfen. Wir wissen, dass die ersten Bezeichnungen für die Kurden von den Sumerern stammen, die die menschliche Zivilisation begründet haben. Es ist wahrscheinlich, dass sogar das Wort ›Kurde‹ sumerischen Ursprungs ist. ‹KUR› bedeutet auf Sumerisch ›Berg‹, und die Endung ‹TI› beschreibt die Zugehörigkeit. So bedeutet ‹KURTI› so viel wie Bergmenschen (›die vom Berg‹). Auch heute werden die Kurden oft als Bergvolk bezeichnet. Die Türken bezeichnen sie gar als ›Bergtürken‹.
Es fällt nun nicht schwer, das kurdische Phänomen gemäß der historisch-dialektischen Methode zu interpretieren. Nach dogmatisch-ideologischer Sichtweise kann ein Volk nur dann eine Geschichte besitzen, wenn es einen Staat gründet. Doch bei genauerer Analyse von Politik und Staat ist festzustellen, dass kein Staat das Gebilde nur eines einzigen Volksstammes oder einer Nation ist, sondern Staaten vielmehr von den herrschenden Klassen mehrerer Volksstämme oder Nationen gemeinsam gegründet, wieder anderen überlassen oder unter ihnen aufgeteilt wurden. Ein Staat wird nicht von Völkern oder Nationen gegründet, sondern von den herrschenden und ausbeuterischen Klassen. Andere erobern, verändern oder zerteilen ihn. So verläuft die Geschichte.
Im Regelfall stellen die eigenen Herrscher und Ausbeuter die herrschende Dynastie oder Klasse solcher Staaten. Die Vorstellung von einem Staat eines Stammes, eines Volkes oder einer Nation ist nur Schein. Deutlicher ausgedrückt erfüllt es den Tatbestand des fortgesetzten Betrugs. Bei den Kurden existierte nun weniger ein Staat der eigenen Herrscher und Ausbeuter, als dass sie sich vielmehr an Staaten beteiligten, die von Dynastien bzw. Klassen aus anderen Ethnien beherrscht wurden; teils als Partner, teils aber nachgerade als berüchtigte Handlanger. Darin erschöpft sich ihre offizielle politische Geschichte. Ein anderes Merkmal dieser kurdischen politischen Geschichte ist jedoch in den vielfältigen und intensiven Aufständen des Volkes oder einzelner Stämme sowohl gegen die Fremdbesatzung als auch gegen die eigenen Kompradoren zu finden.
Eine mangelnde Entwicklung im politischen Bereich bedeutet keinesfalls, dass auch im kulturellen Bereich keine Entwicklung stattfindet. So haben beispielsweise die Israelis politisch gesehen erst in den letzten fünfzig Jahren einen eigenen Staat errichten können. Doch im intellektuellen, religiösen, finanziellen und handelsbezogenen Bereich sind sie weltweit tonangebend – und das, obwohl sie noch ›bis gestern‹ ohne Staat waren. Die Kulturgeschichte ist der wesentliche Bereich der Geschichte. Eine wissenschaftliche Sicht auf die kurdische Geschichte zeigt, dass die Kurden sowohl mit ihren allgemeinen Eigenschaften als auch mit ihren spezifischen Eigenarten eine recht lebhafte und vielfältige Geschichte durchlebt haben.
Ein weiterer Fehler in der Methodik war die Annahme der stalinistischen Interpretation der nationalen Frage im realsozialistischen Kontext. Es lässt sich aber nur schwerlich behaupten, dass dies einer leninistischen Sichtweise entspräche. Eine nationale oder gesellschaftliche Frage mit der Gründung oder Zerstörung eines Staates zu verbinden, ist im Grunde genommen ein Überbleibsel der Sichtweise der alten ausbeuterischen Klassen. Für die Völker ist nicht die Gründung eines Staates wichtig, sondern die Gründung einer demokratischen Regierung. Aus Sicht der wissenschaftlichen Methode geht die Errichtung der Demokratie weit über eine Staatsgründung hinaus, ist realistischer und entspricht viel eher den Interessen der Völker.
Unter Umständen stellt die Gründung eines Staates eine letzte Lösungsmöglichkeit dar, die aus Sicht der Völker nicht bevorzugt, wohl aber immer bedacht werden sollte. Der Nationalismus der herrschenden Nationen und seine Auswirkungen auf die sich als sozialistisch betrachtenden Kampfreihen forderte allerdings die Staatsgründung als eine unabdingbare Notwendigkeit jeder Organisation ein. Die einzig geeignete, den Interessen der Völker entsprechende Lösung liegt in der Gründung gemeinsamer politischer und regionaler Einheiten auf der Basis von Freiheit und gleichen Rechten sowie der Schaffung gemeinsamer nationaler Werte. Noch immer wird jahrzehntelang Blut vergossen, damit ein kleiner Staat gegründet werden kann, anstatt auf der Basis von Gleichberechtigung und Freiheit bessere Möglichkeiten für eine volle Entfaltung eines bereichernden erfüllten Lebens zu schaffen. Sezessionismus bedeutet in einem gewissen Sinne Verarmung, Eintönigkeit und Einsamkeit. Natürlich spielt dabei die dogmatische Auslegung von Ideologien, insbesondere der des Nationalismus, eine zentrale Rolle. Auch im Realsozialismus, der sich den Anschein gab, das Gegenteil hiervon zu sein, wurde die Gründung eines separaten Staates als vorrangige Lösungsform der nationalen Frage verstanden. Im Kern handelt es sich bei beiden Ansichten um weiterentwickelte Formen des bürgerlichen Nationalstrebens; sie dienen der Aufrechterhaltung der Interessen der herrschenden Klassen.
Der Dogmatismus spielte in der Geschichte immer eine zerstörerische Rolle. Sein der Zukunft zugewandtes Gesicht ist der Utopismus, der zu ebenso gefährlichen Resultaten führen kann, wenn er seine Verbindungen zur Wissenschaftlichkeit kappt. Ein wissenschaftlicher Ansatz ermöglicht erfolgreiche Lösungen, wenn er die derartigen Problemen zugrundeliegenden Phänomene zutreffend definiert, was zu einer realistischeren Politik und realistischeren Aktionen führt. Mehr Realismus bedeutet mehr Humanität. Der beste Ausdruck dafür findet sich im System der demokratischen Zivilisation.
Bei der Annäherung an das kurdische Phänomen spielt die Ethik eine wichtige Rolle. Die heutigen, übermäßig von ökonomischem und politischem Kalkül bestimmten Annäherungen können leicht zu einem völligen Außerachtlassen moralischer und ethischer Bedenken verleiten. Die Tatsache, dass Wissenschaft und Technik der Ethik und dem moralischen Empfinden um vieles voraus sind, schafft die Grundlagen für eine gefährliche Geisteshaltung. Die prinzipienlose Allianz einer von ethischen Grundsätzen unbeeinflussten Wissenschaft mit Wirtschaft und Politik hat zu den beiden Weltkriegen, vielen regionalen Stellvertreterkriegen, zum Einsatz der Atombombe, in der Folge zum nuklearen ›Gleichgewicht des Schreckens‹, zu Umweltzerstörung und gefährlicher Bevölkerungspolitik geführt. Jeder Faktor für sich könnte die Menschheit bereits an den Rand des Abgrunds bringen. Eine Wissenschaftsethik ist unbedingt notwendig. Der Grund für viele zeitgenössische Krankheiten der menschlichen Gesellschaft liegt in der Entwicklung einer Wissenschaft ohne ethische Grundsätze. Die Schwächung der Religion hat diesen Prozess noch gefährlicher gemacht, deshalb muss sich die Wissenschaft mit Bedacht ihre eigene Ethik schaffen – gestärkt durch internationale Institutionen und Organisationen.
Die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung reicht bis zum Verbot ihrer Sprache. Alle internationalen und regionalen Kräfte schweigen dazu, weil die Wahrung ihrer Interessen eine solche Haltung erfordert. Weder religiöse Gemeinsamkeiten noch Humanismus oder geltendes Völkerrecht kommen zum Tragen. Wenn es so weitergeht, werden die Kurden weiterhin genügend Stoff für Tragödien liefern: Von Halabdscha bis zu den Flüchtlingsdramen im Mittelmeerraum zeigen sich bereits die ersten Beispiele dieser bitteren Wirklichkeit. Gerade das kurdische Phänomen und die mit ihm verbundene Problematik führen eindringlich vor Augen, dass Probleme nicht nur in ihrer wirtschaftlichen, nationalen oder politischen Dimension behandelt werden dürfen, sondern unbedingt die ethische Dimension mit einbezogen werden muss.
Wir stehen am Beginn einer Phase, in der es notwendig wird, das kurdische Phänomen und die mit ihm verbundene Problematik im Rahmen dieser Kritik realistischer zu betrachten. Alle von diesem Problem betroffenen Parteien sowie internationalen Kreise müssen ihre Herangehensweise überdenken und ergänzen, um einem neuen Bosnien, Kosovo oder Tschetschenien vorzubeugen. Sie müssen eine Lösung ausarbeiten, die sich an den dringlichsten Sachverhalten und Forderungen orientiert, die sich aus den Untiefen der kurdischen Geschichte ergeben. In der Vergangenheit strebte man aufgrund wirtschaftlicher und politischer Interessen keine Lösung an. Heute hat sich die Situation dahingehend geändert, dass die ökonomischen und politischen Interessen aller Beteiligten nach einer Lösung verlangen. Ein weiteres Festhalten am Status quo produziert ein Auseinandersetzungspotenzial, das die gesamte Region mehr belasten könnte als der israelisch-arabische Konflikt oder der irakisch-iranische Krieg. Ohnehin hängt der bestehende Waffenstillstand[4] von einem prekären Gleichgewicht ab und kann jeden Moment in die Brüche gehen. Ein erneuter Kriegsausbruch würde den Verlust eines weiteren Vierteljahrhunderts bedeuten und unweigerlich in Isolation enden, ähnlich dem irakische Regime. Die Türkei müsste eine Neuordnung als eine Gelegenheit begreifen, ihre Innen- und Außenpolitik in Schwung zu bringen. Kurdische Intellektuelle und Politiker und besonders die Führungsebene der PKK müssten verantwortungsvoll ihre veralteten, dogmatischen und nicht durchsetzbaren Ansichten ablegen und mit neuen Projekten im Rahmen demokratisch-laizistischer Kriterien sowie unter Berücksichtigung universeller Rechtsnormen die politischen Geschehnisse bestimmen, indem sie die ihnen unterstehenden Kräfte für eine demokratische Friedensoffensive aktivieren. Das Ablegen von extrem nationalistischen Vorurteilen, ein Verständnis von freier Staatsbürgerschaft, Freiheit des künstlerischen Ausdrucks von Kulturschaffenden und die Öffnung von Kanälen demokratischer Politik sind die Voraussetzungen einer demokratischen Gesellschaft und Republik. Im Wissen, dass die schwere Krise der Türkei zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich insbesondere aus der Kurdistan-Problematik herleitet, ist die friedliche demokratische Konfliktlösung die Notwendigkeit eines wirklichen Patriotismus, der Einigkeit und Geschwisterlichkeit. Die Wirkung dessen würde im gesamten Mittleren Osten, im Kaukasus und in Zentralasien umfassende Entwicklungen in Gang setzen und der EU gegenüber starke Argumente an die Hand geben.
Die begriffliche Analyse der neolithischen Gesellschaft und das Herausfinden eines Prototyps der Kurden in diesem Zeitalter werden bei der Aufklärung der Geschichte eine Schlüsselrolle spielen, da die Kurden selbst heute noch verstärkt Eigenschaften der neolithischen Gesellschaft aufweisen.
Eine vergleichende Auswertung archäologischer, etymologischer und ethnologischer Fundbestände zeigt, dass die neolithische Gesellschaft vor rund 12000 Jahren in den inneren und äußeren Randgebieten des Taurus-Zagros-Bergsystems entstanden ist. Wo die Berge in Ebenen übergehen, in der Nähe der Quellen, sorgten die Niederschläge für eine Art natürliche Bewässerung. Dies bot günstige Bedingungen für den Anbau von Pflanzen und die Domestizierung von Tieren. Die Wildformen der wichtigsten Getreidearten sowie kleiner und mittelgroßer Tiere kommen in dieser Region in Hülle und Fülle vor. Außerdem verband dieses Gebiet während der langen Kaltzeiten drei Kontinente und diente den Menschenarten, die aus Ostafrika ausgewandert waren und sich von hier über die ganze Welt verbreiteten, als verlässliche Basis. Die günstige Nahrungsmittelsituation, das Klima und die Sicherheit spielten dabei wichtige Rollen. Funde belegen, dass während des gesamten Paläolithikums und Mesolithikums hier Menschen lebten. Mesolithische Werkzeuge und Beispiele von Höhlenmalerei, von denen immer weitere gefunden werden, sind aufschlussreiche Spuren. Die bei mehreren Ausgrabungen in Erdhügeln bei Çemê Xalan (türk: Hallan Çemi, bei Batman), Çemê Kota Ber (türk.: Çayönü, bei Ergani) und Urfa gefundenen Überreste neolithischer Kultur dokumentieren die Sesshaftigkeit durch erste Ansiedlungen hier um etwa 11000 v. u. Z.
Im 6. Jahrtausend v. u. Z. verbreitete sich die neolithische Kultur in der Region und wurde während der sogenannten Tell-Halaf-Periode verstärkt institutionalisiert (die ihren Namen vom nordsyrischen Fundort Teil Halaf in der Nähe von Serê Kaniyê hat). Diese Halaf-Kultur, die sich vom östlichen Mittelmeerraum bis hin zum Zagros erstreckte und sich insbesondere im oberen Mesopotamien nachweisen lässt, war bis rund 4000 v. u. Z. die tonangebende Kulturstufe. Die Geschichte zeigt, dass eine vergleichbare Akkumulation von Technologie und Wissen, wie sie in dieser zweitausend Jahre dauernden Periode existierten, lediglich im Europa ab dem 16. Jahrhundert zu finden ist. Es lässt sich feststellen, dass ein radikaler Schritt der Menschheit mit allen Erfindungen, aus denen die Zivilisation keimen sollte, in der Kultur dieses Gebietes stattfand. Daher lässt sich die besagte Periode auch als das erste goldene Zeitalter der Geschichte ansehen.
Wie bereits in Band I ausführlich dargestellt, ist das neolithische Zeitalter, was Dauer und Umfang betrifft, ein grundlegender Zeitabschnitt in der Herausbildung der psychischen und intellektuellen Struktur des Menschen. Die ersten Gedankenformen, das Aneignen von Wissen, das Verwalten, das Bewusstsein davon, eine Gesellschaft zu sein, und grundlegende ideologische Elemente wie zum Beispiel das Auftauchen eines Gottesbegriffes entwickeln sich in diesem Zeitalter. Alle Grundbegriffe der Religion und Mythologie schöpfen aus der Quelle dieser Periode. Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, die sich damals einen klaren Vorsprung vor der Tierwelt verschaffte, muss von Menschen wie eine wunderbare Situation empfunden worden sein. Religion und Mythologie nahmen als mentale Reflexionen der großen revolutionären Entwicklung der Gesellschaft Gestalt an. Revolutionäre Fortschritte auf dem Sektor der Agrarwirtschaft und Viehzucht wurden zur materiellen Grundlage dieser Religion und Mythologie.
Auch einen primitiven und archaischen Keim von Politik finden wir in dieser Gesellschaftsform. Die Gesellschaft, welche die Größe von ein paar Klans erreicht hat, sieht sich einem Verwaltungsproblem gegenübergestellt. Die erfahrensten und innovativsten Personen eines Klans erlangen Führungspositionen und es entsteht eine gesellschaftliche Hierarchie. Schamanen und Magier bestimmen die politische und geistige Leitung. Da die revolutionären Veränderungen der Landwirtschaft und Viehzucht überwiegend Kulturleistungen der Frauen sind, ist die gesellschaftliche Orientierung matriarchal. Der Mann ist recht unbedeutend und anonym, die Mutter-Frau dagegen bestimmend und bedeutsam und von daher geschichtlich spezifizierbar. Der Männerkult tritt im Wesentlichen erst im 4. Jahrtausend v. u. Z. während des Übergangs zur sumerischen Klassengesellschaft in den Vordergrund. Ein Merkmal dafür ist das Pflügen des Ackers mithilfe von Zugtieren.
Das Zentrum der Herausformung des neolithischen Gesellschaftstypus liegt zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Zagrosgebirge, den Wüsten Nordarabiens und dem anatolischen Taurus, und hier besonders in den Gebirgsausläufern und zwischen ihnen gelegenen Tälern im Quellgebiet der Flussläufe Euphrat, Tigris und Zap: Das Gebiet wird Fruchtbarer Halbmond genannt. Die Menschheit nährt sich seit rund zehntausend Jahren durch die schöpferische Rolle dieser Region. In gewissem Sinne geht diese Region während dieser gesamten Zeit der menschlichen Gesellschaft voran.
Kulturelle Ausbreitung ist nicht auf Techniken materieller Produktion begrenzt. Eine weitere belegbare Annahme ist, dass die eigentliche Quelle der indoeuropäischen Sprachgruppe, die auch die arische Sprach- und Kulturgruppe genannt wird, in den oberen Bereichen des Beckens von Tigris und Euphrat liegt. Bestimmte kurdische Dialekte, die noch immer gebräuchlich sind, stammen aus dieser Zeit. Die arische Sprache und Kultur ist im Wesentlichen ein Produkt der Revolution von Ackerbau und Viehzucht. In den meisten der Gebiete, in denen sich diese Revolution ausgebreitet hat, werden auf den besagten (Sprach-)Stamm zurückzuführende Idiome gesprochen, mit Ausnahme der aus den heutigen Wüstengebieten stammenden semitischen und in den eisigen Gebieten gebildeten finnisch-uralisch-mongolischen Sprachgruppen. Es ist eine Leistung des Kurdischen, trotz aller Besatzungen die Affinität seiner Dialekte über einen so langen Zeitraum bewahrt zu haben.
Ein richtiges Verständnis von Geschichte hat viel mit der Auffassung von Entstehung und Art der Verbreitung bestimmter Phänomene zu tun. Aufgrund ihres weitreichenden Einflusses auf andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen wäre ein fehlerhaftes Nachzeichnen der Geburts-, Entwicklungs- und Ausbreitungslinie der Geschichte unweigerlich Quelle von schwerwiegenden methodischen und inhaltlichen Fehlern in anderen Disziplinen.
Die Analyse der neolithischen Gesellschaft ist nicht nur für die Geschichte des kurdischen Volkes, sondern auch für die Menschheitsgeschichte sehr wichtig und diese niedergeschriebene Geschichte beginnt mit den Sumerern. Es ist rekonstruierbar, dass sich die Protosumerer von Nord- nach Südmesopotamien hin ausgebreitet haben. Alle historischen Daten zeigen, dass vom Oberpaläolithikum ab 20000 v. u. Z. über die gesamte mesolithische Periode von 15000 bis 11000 v. u. Z. und von der sich anschließenden neolithischen Gesellschaft bis hin zu den Sumerern (11000 bis 3000 v. u. Z) diese Region kontinuierlich bewohnt war und die Klangemeinschaften sich in einem Zustand dauerhafter Entwicklung befanden. Die darauf folgende Geschichte von den Sumerern bis heute lässt sich größtenteils aus schriftlichen Überlieferungen verfolgen. Die Urväter und Urmütter der heutigen Kurden stellen über all diese Zeiträume hinweg die Schöpfer der Kultur und Sprache des Gebietes dar. Daher können wir alle bis zu den Sumerern im oberen Mesopotamien lebenden Volksgruppen als Protokurden bezeichnen.
Dass die menschlichen Gemeinschaften dieses Gebiets selbst zu den Zeiten unerbittlicher Angriffe ihr Überleben sicherten, indem sie sich in die Berge und Wälder zurückzogen, ist aus historischen Dokumenten zu ersehen. Schon die assyrischen Könige, die für die Vertreibung und Deportation verschiedener Völker berüchtigt sind, bringen in Felsinschriften und auf Tontafeln deutlich zum Ausdruck, dass sie zwar Feldzüge in das Gebiet unternommen, aber keinen Erfolg gehabt hätten. Ahnliches lässt sich auch für fast alle nachkommenden Eroberer sagen.
Die Dialektnähe bei vielen Sprachen von Volksgruppen, die zu offiziellen Staatssprachen geworden sind, ist weniger stark ausgebildet als im Kurdischen, was der lang anhaltenden Kraft der Sprache und Kultur der neolithischen Revolution zuzuschreiben ist. Andererseits deutet dies darauf hin, dass die Protokurden und die Kurden nicht allzu viele Ortswechsel vollzogen, sesshaft blieben und somit ihre relative kulturelle und sprachliche Homogenität über lange Zeit bewahren konnten. Wenn Melodie und Inhalt eines von vor viertausend Jahren stammenden Liedes heute noch gesungen werden, so bringt dies die Kraft dieser Sprache und Kultur zum Ausdruck. Nicht nur das Gilgamesch-Epos, sondern auch die auf ein unbekanntes Mädchen zurückgeführte und Giro genannte Melodie bestätigt diese Tatsache. Die gesicherten Daten für diese literarischen Gattungen gehen auf 2000 v. u. Z. zurück. Sie weisen eine frappierende Ähnlichkeit mit Formen gebräuchlicher kurdischer Epen auf.