Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. III - Abdullah Öcalan - E-Book

Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. III E-Book

Abdullah Öcalan

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Beschreibung

In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem "Manifest der demokratischen Zivilisation" ein fünfbändiges Opus Magnum verfasst, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. Nachdem er in den ersten beiden Bänden die Geschichte der Zivilisation von ihren Anfängen bis zur kapitalistischen Moderne neu interpretiert hat, legt Öcalan mit dem dritten Band eine Methode für die Lösung der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts vor: die Soziologie der Freiheit. Öcalan erkennt die Notwendigkeit einer Kritik des sogenannten ›wissenschaftlichen Sozialismus‹, auf den er selbst, die kurdische Bewegung und die PKK sich in der Vergangenheit immer bezogen hatten. Industrialismus, Kapitalismus und der Nationalstaat können nicht mit den Mitteln eines orthodoxen sozialistischen Konzepts transformiert werden. Deshalb wendet Öcalan sich den originellsten Denkern der Linken zu und debattiert in bemerkenswerter Bandbreite Themen wie Existenz, Freiheit, Philosophie, Anarchismus, Natur und Ökologie. Dabei entwickelt er eine radikale und sehr weitreichende Definition von Demokratie, ausgehend von seiner zentralen These, dass es immer und überall parallel zu jeder herrschenden Zivilisation eine ›demokratische Zivilisation‹ gibt, die sich im Widerstreit mit (kapitalistischer) Herrschaft, Patriarchat und Nationalstaat befindet.

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Seitenzahl: 771

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Abdullah Öcalan

Manifest der demokratischen Zivilisation

Dritter Band

Soziologie der Freiheit

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Soziologie der Freiheit

Manifest der demokratischen Zivilisation, Band III

1. Auflage, März 2020

Aus dem Türkischen: Reimar Heider und Mehmet Salih Akın

Titelmotiv: Pepûle von Ercan Altuntaş, Öl und Naturfarben auf Papier, 90 × 48 cm

© Abdullah Öcalan 2009

Erscheint in der International Initiative Edition

Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)

Postfach 100511, 50445 Köln

www.freeocalan.org

Originaltitel: Özgürlük Sosyolojisi

Erstveröffentlichung 2009 bei Mezopotamien Verlag, Neuss

eBook UNRAST Verlag, April 2023

ISBN 978-3-95405-149-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

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Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und Satz: Internationale Initiative

Inhalt

Vorwort

von John Holloway

Vorbemerkung

Einführung

Erster Teil Einige methodische Probleme

Zweiter Teil Die Frage der Freiheit

Dritter Teil Die Kraft der gesellschaftlichen Vernunft

Vierter Teil Die Entstehung der gesellschaftlichen Frage

A Die Definition der historisch-gesellschaftlichen Frage

a) Von Sumer bis Rom

b) Von Rom bis Amsterdam

c) Die europäische Zivilisation

B Die gesellschaftliche Frage

1. Das Problem von Macht und Staat

2. Das gesellschaftliche Problem von Moral und Politik

3. Das Mentalitätsproblem der Gesellschaft

4. Wirtschaftliche Probleme der Gesellschaft

5. Das Industrialismusproblem der Gesellschaft

6. Das Ökologieproblem der Gesellschaft

7. Gesellschaftlicher Sexismus, Familien-, Frauen- und Bevölkerungsfrage

8. Das Problem der Urbanisierung der Gesellschaft

9. Das Klassen- und Bürokratieproblem der Gesellschaft

10. Bildungs- und Gesundheitsprobleme der Gesellschaft

11. Das Militarismusproblem der Gesellschaft

12. Das Friedens- und Demokratieproblem der Gesellschaft

Fünfter Teil Das System der demokratischen Zivilisation denken

A Definition der demokratischen Zivilisation

B Methodischer Ansatz der demokratischen Zivilisation

C Skizze der Geschichte der demokratischen Zivilisation

D Elemente der demokratischen Zivilisation

1. Klans

2. Familie

3. Stämme und Stammeskonföderationen

4. Volksstämme und Nationen

5. Die Elemente Dorf und Stadt

6. Die Elemente Mentalität und Wirtschaft

7. Die Elemente demokratische Politik und Selbstverteidigung

Sechster Teil Demokratische Moderne gegen kapitalistische Moderne

A Differenzierung zwischen Kapitalismus und Moderne

B Der Industrialismus der Moderne und die demokratische Moderne

C Nationalstaat, Moderne und demokratischer Konföderalismus

D Jüdische Ideologie, Kapitalismus und Moderne

E Dimensionen der demokratischen Moderne

1. Die Dimension der moralischen und politischen Gesellschaft (der demokratischen Gesellschaft)

2. Die Dimension der öko-industriellen Gesellschaft

3. Die Dimension der demokratisch-konföderalistischen Gesellschaft

Siebter Teil Probleme des Wiederaufbaus der demokratischen Moderne

A Zivilisation, Moderne und die Frage der Krise

B Die Situation der anti-systemischen Kräfte

1. Das Erbe des Realsozialismus

2. Neubewertung des Anarchismus

3. Feminismus: Aufstand der ältesten Kolonie

4. Ökologie: Aufstand der Natur

5. Kulturelle Bewegungen: Die Rache der Tradition am Nationalstaat

Achter Teil Aufgaben beim Wiederaufbau der demokratischen Moderne

A Intellektuelle Aufgaben

B Moralische Aufgaben

Neunter Teil Schlussfolgerung

Anhang

Stichwortverzeichnis

Biografien

Abdullah Öcalan

John Holloway

Bibliografie

Abdullah Öcalans Gefängnisschriften

Anmerkungen

Vorwort

von John Holloway[1]

Es ist eine große Ehre, gebeten zu werden, dieses Vorwort zu schreiben. Ich mache das mit Stolz, wegen des Autors und wegen der Bewegung, die er repräsentiert. Ich mache es, um meine Solidarität mit seinem Kampf gegen eine furchtbare Haft und meine Unterstützung der Kämpfe der Menschen in Kurdistan auszudrücken, die versuchen, inmitten der fürchterlichsten Gewalt, eine andere Welt, eine andere Lebensweise zu erschaffen. Ich mache es, um gegen die Brutalität des türkischen Staats und aller anderen mitschuldigen Staaten zu protestieren.

Das Buch wurde von Abdullah Öcalan im Gefängnis geschrieben. Durch NATO-Kräfte 1999 illegal in Kenia verhaftet, ist er seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert. Unter Verstoß gegen die in der Genfer Konvention geregelten Grundrechte wurde er sehr lange in Isolationshaft gehalten und regelmäßig bestraft, indem ihm seine Bücher und sein Schreibwerkzeug weggenommen wurden. Trotzdem ist es ihm gelungen, fünf Bände zu schreiben, in denen er seine politischen Ideen erklärt, Bände, die zu seiner Verteidigung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte präsentiert wurden. Das vorliegende Buch ist der dritte Band, 2008 im Gefängnis verfasst und hier zum ersten Mal zeitgleich auf Deutsch und Englisch veröffentlicht. Während der ganzen Jahre seiner Inhaftierung stellten Öcalans Ideen eine wesentliche Quelle der Inspiration für die Kämpfe der kurdischen Bewegung dar, die eine andere Lebensweise, eine andere, von ihnen »demokratische Moderne« genannte, Form gesellschaftlicher Organisation erschaffen, deren Zentrum in Rojava, im nordöstlichen Syrien, liegt.

Wenn man für eine so überragende Figur wie Öcalan das Vorwort für ein Buch schreibt, besteht die Gefahr, ihn zum Heiligen zu machen, einfach zu sagen, »wie großartig!«, und damit zur Herausbildung eines Personenkultes beizutragen, der zweifelsohne in der Bewegung selbst vorhanden ist. Dies ist eindeutig nicht das, was Öcalan selbst will. An verschiedenen Stellen seines Textes verdeutlicht er, dass dies Teil eines Dialogs ist und dass er Reaktionen auf seine Ideen sucht.

Als ich das Buch zu lesen begann, war mir klar, dass ich meine Unterstützung zum Ausdruck bringen wollte, aber ich war mir überhaupt nicht sicher, dass das Buch selbst mich überzeugen würde. Diese ursprüngliche Haltung änderte sich allmählich und wandelte sich zu einer ganz anderen Lektüre, in der die Kraft des Arguments mich absorbierte. Ich sage »allmählich«, weil es mich, der ich aus Europa und Lateinamerika komme, einige Zeit kostete, mich an einen anderen Referenzrahmen zu gewöhnen und auf eine Auseinandersetzung einzulassen, die sich nicht um eine Welt »da drüben«, sondern in kritischer und entscheidender Form um meine Welt, unsere Welt dreht: um unsere Welt und die Möglichkeiten, die uns noch zur Verfügung stehen, die Notbremse dieses Zugs der Zerstörung zu ziehen und etwas Anderes zu erschaffen.

Öcalans Buch ist ein wichtiger Beitrag zum Dialog der Hoffnung. Ein Dialog, der auf der ganzen Welt geführt wird, manchmal durch sprachgewandte und gut organisierte Stimmen, wie die der Zapatistas im Südosten Mexikos, häufig jedoch durch Widerstandsgruppen, die sich gegen die Plünderungen durch Bergbauunternehmen oder Stadtplaner*innen wehren oder Frauen, die gegen männliche Gewalt kämpfen. Manchmal wird der Dialog auch einfach durch Student*innen geführt, die von ihren Büchern aufschauen und denken: »Es muss einen Weg hier heraus geben, es muss eine Möglichkeit geben, eine andere Welt zu erschaffen«. So wie die Dunkelheit um uns herum zunimmt, so wie der Autoritarismus und der Militarismus uns näher an den Abgrund drücken, beteiligen sich Millionen und Abermillionen Stimmen an dem Dialog der Verzweiflung-und-Hoffnung: es muss einen Weg hier heraus geben, es muss einen Weg voran geben.

Für Öcalan liegt die Hoffnung in der Wiederherstellung der Funktion »der moralischen und politischen Gesellschaft auf der Grundlage der Freiheit« (S. 206). Dies ist die revolutionäre Aufgabe: »Die Aufgabe von Revolutionären kann nicht die Erschaffung irgendeines von ihnen entworfenen Gesellschaftsmodells sein. Nur gemessen an ihrem Beitrag zur Weiterentwicklung der moralischen und politischen Gesellschaft kann man von ihrer richtigen Aufgabe sprechen.« (S. 191). Diese moralische und politische Gesellschaft existiert als unterdrückte Grundlage in allen Gesellschaften: »[Es] wird ersichtlich, dass das System der demokratischen Zivilisation im Wesentlichen als moralische und politische Totalität der gesellschaftlichen Natur als das andere Gesicht der offiziellen Zivilisationsgeschichte stets existierte und sich fortsetzte. Trotz der gesamten Unterdrückung und Ausbeutung durch das offizielle Weltsystem konnte diese andere Seite der Gesellschaft nie vernichtet werden. Ihre Vernichtung wäre ohnehin unmöglich. Genauso wie der Kapitalismus ohne die nicht-kapitalistische Gesellschaft nicht überleben könnte, könnte auch die Zivilisation als offizielles Weltsystem ohne das System der demokratischen Zivilisation ihre Existenz nicht fortsetzen.« (S. 196 ).

Die moralische und politische Gesellschaft, so wie ich sie verstehe, ist der Kitt des Alltagslebens: das gewöhnlich unspektakuläre Kommen und Gehen der Menschen, das Vertrauen, die Freundschaften, die Lieben, das Teilen des Essens, das Vorbereiten des Essens, das Waschen der Teller und der Wäsche, das Tratschen, das Teilen und Formgeben moralischer Ideen – alle diese Aktivitäten, die uns gemein sind, jene Aktivitäten, die unsere Leben zusammenhalten und Gemeinden konstituieren und wieder aufbauen. Aber in den letzten 5000 Jahren, seit Beginn des sumerischen Reichs, wurde die moralische und politische Gesellschaft durch die offizielle Zivilisation, die auf Macht, Monopol, Patriarchat, Kapital und Städten gegründete Zivilisation, unterdrückt und blockiert. Jedoch ist es dieser Zivilisation der Macht niemals gelungen, sich von dem moralischen und politischen Unterbau zu befreien, so sehr sie dies auch immer für sich in Anspruch nehmen mag. »Der Naturzustand der Gesellschaft ohne Kapital- und Machtmonopole ist die moralische und politische Gesellschaft. Jegliche menschliche Gesellschaft hat von ihrer Entstehung bis zu ihrem Schwinden diese Eigenschaft aufzuweisen. Die Schablonen der sklavenhalterischen, feudalen, kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaften ähneln Kleidungen, die man der gesellschaftlichen Natur überzustülpen versucht; sie drücken nicht die Wirklichkeit aus. Es kann solche Behauptungen geben, aber es gibt keine solchen Gesellschaften. Da Gesellschaften, deren eigentlicher Zustand ein moralischer und politischer ist, in der gesamten Geschichte von Kapital- und Machtmonopolen stets bedrängt, ausgebeutet und kolonialisiert wurden, fanden sie nicht die Gelegenheit, sich gänzlich zu entfalten.« (S. 206). Die Zivilisation der Macht wird also wie eine Rüstung der moralischen und politischen-Gesellschaft übergeworfen, deren Entwicklung dadurch verdeckt, eingeengt und blockiert wird und die jetzt zunehmend soziozidal wird, und droht, die Gesellschaft vollständig zu zerstören. Die Geschichte der moralischen und politischen Gesellschaft (oder demokratische Zivilisation) ist eine Geschichte des Widerstands, der Rebellion und des Kampfes um das Leben: »Die Geschichte der demokratischen Zivilisation ist größtenteils die Geschichte des Widerstands und Aufstands von Stämmen und Aşirets für Freiheit, Demokratie und Gleichheit gegen alle Angriffe der Zivilisation und ihres Beharrens auf dem moralisch-politischen Gesellschaftsleben.« (S. 238f.).

Diese Vorstellung ist voller Schönheit. Die Revolution wird »selbstverständlich«. Selbstverständlich brauchen wir eine Revolution, selbstverständlich müssen wir sie machen. Aber selbstverständlich, nichts ist normaler, nichts offensichtlicher! Die Revolution ist in die Erfahrung und Kreativität unseres alltäglichen Lebens eingewebt. Wir sind es, die Tag ein, Tag aus, die moralische und politische Gesellschaft, die Substanz unseres alltäglichen Umgangs, erschaffen und erneut erschaffen. Wir sind es, die jeden Tag den Hürden gegenüberstehen, die den Zugang zu dieser Kreativität verhindern: der Umstand, dass wir zur Arbeit gehen müssen oder uns auf Prüfungen vorbereiten müssen oder daran gehindert werden, Zugang zu den Mitteln zu haben, mit denen wir unsere Kreativität realisieren können. Wir sind uns alle der Macht-Zivilisation (Kapitalismus, Patriarchat, wie immer wir es nennen wollen), die unseren Pfad blockiert, bewusst, aber gleichzeitig sind wir in einer anderen Gesellschaftlichkeit verwurzelt, die unseren Leben Bedeutung und Orientierung gibt: eine moralische und politische Gesellschaftlichkeit, die Widerstand leistet und rebelliert, die beständig gegen ihre Unterdrückung durch die offizielle Zivilisation drängt.

Der Widerstand und die Rebellion wechseln beständig die Muster, verweigern sich hier, verweigern sich da, drängen hier, drängen da gegen die von der Zivilisation der Macht ausgehenden beständigen Angriffe. Die Selbstverständlichkeit des Widerstands und der Rebellion verändert sich in dem Maße, in dem sich die Angriffe gegen uns verändern und unsere eigenen Sensibilitäten uns in verschiedene Richtungen führen. Öcalan zeigt eine außergewöhnliche Sensibilität für die sich verändernden Muster des Kampfs. Dies ist von Bedeutung, denn obgleich er in Isolationshaft gefangen ist, findet seine Argumentation in vielfacher Form in den gegenwärtigen Debatten ein starkes Echo. Die Soziologie der Freiheit ist keineswegs nur ein für den kurdischen Kampf bedeutsames Buch, sondern es handelt sich um einen wichtigen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über Kapitalismus, Patriarchat, Ökologie und Staat. Für Öcalan ist die Zivilisation der Macht in der Versklavung der Frauen und der Bezwingung der Natur begründet (und war dies seit den Zeiten des sumerischen Reichs) und fand im Staat seine Organisationsform. Folglich und selbstverständlich sind und müssen Frauenkämpfe gegen das Patriarchat und die vielen Kämpfe zur Veränderung des Verhältnisses zwischen den Menschen und anderen Lebensformen (und tatsächlich das Verständnis des Lebens selbst) im Zentrum jeder Revolution stehen, die die moralische und politische Gesellschaft erretten will. Folglich und selbstverständlich ist der Kampf in seiner Organisationsform und seinen Zielen ein anti-staatlicher Kampf: seine Organisationsform gründet in der Versammlung und sein Ziel ist nicht die Erschaffung eines kurdischen Staates (ausdrücklich nicht), sondern die Befreiung Kurdistans und der Welt vom Staat, vom Staat als Organisationsform der Unterdrückung. Die Tragweite von Öcalans Werk ist tief greifend und aufregend. Es hat eine enorme Wirkung auf die kurdische Bewegung, die sich in den Organisationsformen und der führenden Rolle, die Frauen im Kampf einnehmen, widerspiegelt. Und darüber hinaus findet sein Werk in den gegenwärtigen Kämpfen und Debatten in der ganzen Welt ein außergewöhnliches Echo.

Dieses Echo wahrzunehmen bedeutet, in die Debatte mit dem Autor hineingezogen zu werden. Im Verlauf der Lektüre des Textes bewegen wir uns durch Phasen der Zustimmung, des Enthusiasmus, des Zweifels, des Widerspruchs, vielleicht gar der Verärgerung – wie es uns bei jedem guten, provokanten Autor geht, wie es uns bei Bookchin (von dem Öcalan stark beeinflusst ist und dessen Ökologie der Freiheit[2] für den Titel dieses Buches Modell stand), Graeber, Negri, Federici oder vielen anderen gehen würde. Eine Autorin zu respektieren, heißt sie zu kritisieren. Öcalan unkritisch zu lesen, nur, weil er das Symbol einer großen Bewegung ist, hieße seiner Gefängnistür nur ein weiteres Schloss hinzuzufügen, hieße ihn einzubalsamieren, noch bevor er gestorben ist. Selbst wenn wir wissen, dass dieses Vorwort und andere Texte vielleicht niemals an seinen Wachen vorbei zu ihm gelangen mögen, müssen wir uns mit dem, was er sagt, auseinandersetzen. Gerade aufgrund der großen Bewunderung, die ich für jemanden hege, der sein Leben der Veränderung der Welt gewidmet hat und einen solchen Einfluss auf eine großartige Bewegung der Veränderung, die unter den furchtbarsten Bedingungen stattfindet, hat, genau aus diesem Grund fühle ich mich in die Debatte hineingezogen, zu sagen: »Großartig, aber vielleicht …«.

Meine eigenen Zweifel drehen sich um die Fragen der Historizität-Negativität, Geld und Markt, Arbeiterklasse und Nation. Die beständigen Verweise auf die sumerische Zivilisation, auf Babylon und Assyrien, auf die zoroastrische Tradition, haben sicherlich meine Gedankenwelt in unerforschte Gebiete ausgeweitet. Gleichzeitig haben sie jedoch das Gefühl vermittelt, dass die Gefahr besteht, die Dringlichkeit unserer Situation aus dem Blick zu verlieren. Vielleicht gibt es eine umfassendere Tendenz (man denke an Bookchin oder an David Graebers Schulden: die ersten 5000 Jahre[3]), von der Analyse des Kapitalismus zu einer sehr viel langfristigeren Perspektive zu wechseln, den Kapitalismus zum Beispiel nur als neueste Phase der Entwicklung des Patriarchats zu sehen. Sicherlich hat Öcalan recht, wenn er unsere Aufmerksamkeit auf die Kontinuitäten der Herrschaft lenken will, aber vielleicht muss sich unser unmittelbares Interesse um die besondere Form der Herrschaft drehen, die uns auf unsere Zerstörung hin zutreibt. Vielleicht müssen wir sagen, ja, aber die offizielle-Macht-Zivilisation, die die Welt heute beherrscht, trägt einen Namen: Kapitalismus. Der Kapitalismus hat seine eigene Dynamik, Zerbrechlichkeit und Schwächen, die sich von denen der sumerischen Zivilisation ziemlich unterscheiden und unendlich zerstörerischer sind. Den Begriff Kapitalismus verstehe ich nicht als Wirtschaftssystem, sondern als ein System der Herrschaft-und-des-Widerstands, dessen wesentlicher Bestandteil die Unterordnung der Frau und die Ausbeutung der Natur ist, das aber eine ganz eigene Zerbrechlichkeit besitzt, die auf seiner Abhängigkeit von uns gründet, das heißt auf der Verwandlung unserer Aktivität in abstrakte, wertproduzierende Arbeit. Diese besondere Abhängigkeit-Zerbrechlichkeit muss für die Entwicklung einer jeglichen Soziologie der Freiheit eine zentrale Stellung einnehmen.

Der Ansatz der langen geschichtlichen Betrachtungsweisen kann uns auf eine paradoxe Weise zu einer historischen Idealisierung des Widerstands, unseres Widerstands, führen. Die moralische und politische Gesellschaft, die Öcalan als Zentrum unseres Widerstands und unserer Hoffnung ansieht, kann nicht außerhalb des Herrschaftssystems stehen: sie ist unvermeidlich durchdrungen von der Macht-Zivilisation (Kapital), die sie beherrscht. Öcalan gehört einmal mehr zum Zentrum der Debatte, denn auch hier, in Lateinamerika, besteht eine Tendenz, die Gemeinschaft und insbesondere die indigene Gemeinschaft als außerhalb des Systems befindliche Quelle der Hoffnung zu idealisieren. Dies kann leicht zu einer Romantisierung, aber auch zu einer gefährlichen Dichotomie zwischen innen und außen führen und erinnert in gewisser Weise an ein ganz anderes Buch, nämlich Marcuses Der eindimensionale Mensch[4]. Die Hoffnung wird folglich auf das Außen projiziert: die moralische und politische Gesellschaft, die indigene Gemeinschaft, die Marginalisierten in der Gesellschaft. Und dieses Außen wird dann einem Innen gegenübergestellt, das als vollständig in das System integriert aufgefasst wird. In Öcalans Umgang mit dem Begriff der Arbeiterklasse wird dies sehr deutlich: »Genauso wie Sklav*innen und Leibeigene als verlängerte Arme ihrer Herr*innen existieren, stellen auch kompromisslerische (d. h. Lohn-, J.H.) Arbeiter*innen stets verlängerte Arme der Bosse dar.« (S. 243 f.). Dieselbe Dichotomie des Innen-Außen lässt sich auch dort finden, wo die gerechtfertigten Angriffe auf den Eurozentrismus in eine Zurückweisung Europas (und tatsächlich auch den nördlichen Teil Nordamerikas) als möglichen Orten der Rebellion abgleiten. Im schlimmsten Fall führt umgekehrt dieselbe Dichotomie zu einer Exotisierung der Hoffnung: für Menschen des »Nordens« liegt die Hoffnung im »globalen Süden«, in Kurdistan oder Lateinamerika, Orte, die in aufregender und komfortabler Weise weit entfernt sind.

Ein anderer Ansatz besteht darin, zu sagen, dass jede Herrschaft uns sowohl kollektiv als auch individuell zerreißt. Es besteht keine klare Unterscheidung zwischen den Integrierten und den Ausgeschlossenen. Wir sind alle unterworfen, aber es gibt immer einen Überschuss, ein Überfließen, eine Unangepasstheit, eine Rebellion, eine Würde. Das Gewöhnlichsein liegt in diesem Überschuss. Von daher rührt die Tiefe des zapatistischen Zitats: »Wir sind ziemlich gewöhnliche Frauen und Männer, Kinder und alte Leute, das heißt, Rebellen, Unangepasste, Unpassende, Träumer«. Dieses tägliche Überfließen, dieser tägliche Überschuss ist von grundlegender Bedeutung für die Selbstverständlichkeit der Revolution. Diese rebellische Würde, dieser Drang hin zu einer Welt der Würde, ist mehr oder weniger latent, mehr oder weniger kraftvoll, immer gegenwärtig. Im Allgemeinen gilt zumindest potenziell, dass je schärfer die Repression, desto kraftvoller die Rebellion: auf diese Weise führt Marx seine Vorstellung des revolutionären Wesens der Arbeiterklasse ein. Als Arbeiter*innen sind wir ausgebeutet und revoltieren deshalb gegen unsere Ausbeutung. Als Sklav*innen sind wir unterdrückt und rebellieren deshalb gegen unsere Versklavung, egal ob diese Revolte nun latent oder offen, potenziell oder wirklich ist. Wir sind niemals bloß eine Verlängerung der Bosse. Es ist nicht so, dass einige Menschen voller Würde sind und andere nicht: vielmehr ist es so, dass die Würde der Kampf gegen ihre eigene Negation ist, stärker in einigen als in anderen, latent in allen.

Wenn die Herrschaft uns auseinanderreißt, dann muss dies auch für die moralische und politische Gesellschaft wahr sein. Öcalans Vorstellung einer moralischen und politischen Gesellschaft, die als Grundlage oder sozialer Zusammenhalt in jeder gesellschaftlichen Ordnung, wie »zivilisiert« auch immer, gegenwärtig ist, ist ein Ding voller Schönheit. Aber die Geschichte der moralischen und politischen Gesellschaft ist eine Geschichte des Widerstands, wie er hervorhebt. Sie ist nicht unschuldig, sie befindet sich nicht außerhalb der herrschenden Zivilisation, die ihr Feind ist, doch sie ist unvermeidlicherweise von ihr durchdrungen. Geld ist die offensichtlichste und wirkmächtigste Form der Durchdringung des Kapitals in unsere Alltagsleben. Die moralische und politische Gesellschaft existiert als machtvolle, wunderbare Kraft. Jedoch existiert sie nicht positiv: sie existiert negativ, in der Form des Negiertseins und deshalb als Kampf gegen ihre eigene Negation.

Dasselbe trifft auf die Freiheit zu. Wir haben das Ziel noch nicht erreicht, wir wissen nicht, was Freiheit wäre. Freiheit existiert als Widerstand, als Kampf gegen ihre eigene Negation und jenseits davon, als Sehnsucht, als unser Flügelschlagen und unser Wunsch zu fliegen, es aber noch nicht zu können. Der Versuch, Öcalans Buch in die Grundlage für eine positive Soziologie der Freiheit zu verwandeln, hieße in die falsche Richtung zu gehen. Es ist vielmehr eine Provokation, die aufgegriffen und weiter vorangetrieben werden muss.

Die Vorstellung, dass uns die Herrschaft individuell und kollektiv auseinanderreißt, ist auch für Öcalans Konzeption der Nation, die einen bedeutenden Teil seiner Ausführungen darstellt, von Bedeutung. Er unterscheidet sehr genau zwischen zwei Begriffen der Nation – dem Staats-Nationalismus, der zum Faschismus tendiert, und der demokratischen Nation: »Der alternative zweite Weg der Nationenbildung erfolgt dadurch, dass gleiche oder ähnliche Sprach- und Kulturgruppen innerhalb der moralischen und politischen Gesellschaft auf der Grundlage der demokratischen Politik in eine demokratische Gesellschaft verwandelt werden. Alle Stämme, Aşirets, Volksstämme und sogar Familien beteiligen sich dabei als politische Gesellschaftseinheiten an der Nationenbildung.« (S. 240). Diese Art der Nation, so sagt er, ist »Gegengift zu Kapital- und Machtmonopolen« (S. 241). Das von Öcalan vertretene Konzept der demokratischen Nation unterscheidet sich sehr von dem Staats-Nationalismus, der auf der ganzen Welt an Kraft gewinnt: Es ist ein Konzept, das den Kampf aller Völker gegen Staat-Kapital-Macht vorantreibt ohne in irgendeiner Weise eine Überlegenheit des kurdischen Volks einzuklagen. Und dennoch ist mir die Vorstellung eines Volks oder einer Nation als Gruppierung mit einer historischen Kontinuität oder Identität unangenehm. Ich mag in derselben Region wie meine Vorfahren von vor dreihundert Jahren geboren sein oder auch nicht, ich mag dieselbe Sprache sprechen oder auch nicht, aber ich bin ziemlich sicher, dass meine Alltagserfahrung sich sehr von der ihrigen unterscheidet und wahrscheinlich der Erfahrung von Menschen, die heutzutage auf der anderen Seite der Welt leben, sehr viel ähnlicher ist. Die Vorstellung eines unverwechselbaren, ausgedehnten und generationenübergreifenden Flusses gesellschaftlicher Erfahrungen, die jeglichem Begriff der Nation zugrunde liegt, mag in bäuerlich geprägten Gesellschaften eine begrenzte Validität haben, ist aber sicher für die Mehrheit der menschlichen Bevölkerung, die in Städten lebt, sehr viel weniger relevant. Und dennoch bleibt die Vorstellung der Nation, die Vorstellung, dass wir irgendeine nationale Identität haben, weiterhin eine machtvolle Fiktion, die Millionen Menschen tötet. Die Gefahr, die Nation als Einheit zu denken, besteht darin, dass es Spaltungen innerhalb der »Nation«, wie etwa Spaltungen zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten, übertüncht. Ungeachtet der Unterschiede der von Öcalan untersuchten zwei Vorstellungen von der Nation, besteht auch die Gefahr, dass eine in die andere abgleitet. Der Kampf der Staaten (hauptsächlich der türkische, der syrische, der russische, der irakische Staat und die USA), die gegen die kurdische Bewegung kämpfen, dreht sich wahrscheinlich nicht so sehr um die Zerstörung des kurdischen Nationalismus, als vielmehr um dessen Staatswerdung, dreht sich darum, den Drang zur Autonomie in eine Forderung nach Anerkennung als »autonomer« Staat oder Provinz, vergleichbar der existierenden kurdischen Region des Irak oder einer Ausdehnung derselben, umzuwandeln. Vielleicht ist es besser, sich die Kämpfe für eine andere Welt notwendigerweise nicht nur als anti-staatlich, sondern als anti-national vorzustellen.

Ich habe eine ähnliche Sorge mit Bezug auf Öcalans Vorstellung vom Markt. Ganz anders als Marx, der die Quelle der kapitalistischen Zerstörung in dem Umstand verortet, dass menschlicher Reichtum in Form von Waren produziert wird, die auf dem Markt verkauft werden sollen, weshalb Verhältnisse zwischen Menschen durch Geld vermittelt sind, argumentiert Öcalan, dass die demokratische Zivilisation »nicht gegen den Markt [ist]; im Gegenteil, aufgrund der freien Atmosphäre, die sie bietet, stellt sie eine wahre freie Marktwirtschaft dar. Sie leugnet nicht die kreativ kompetitive Rolle des Marktes. Wogegen man ist, sind die spekulativen Gewinnmethoden.« (S.243). Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Art von Markt, an die Öcalan denkt, ganz sicher nicht die Finanzmärkte der Wall Street sind. Sie ist einem Basar viel ähnlicher, auf dem Produkte zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse ausgetauscht werden und der von der Gemeinschaft kontrolliert wird. In diesem Sinne handelt es sich um ein Konzept, das den Praktiken vieler gemeinwohlorientierter Bewegungen oder gar der großen Explosion des Tauschhandels während des Krisenaufstands[5] von 2001/2002 in Argentinien ähnelt. Trotzdem ist es schwer zu verstehen, wie Markt und Geld voneinander getrennt werden können und wie das Geld von den »spekulativen Gewinnmethoden« getrennt werden kann. Geld zerstört und trennt: Es ist der große Feind der moralischen und politischen Gesellschaft.

Ihr großartiges Vorwort zum vorherigen Band von Öcalans Manifest (ein mit Als Frau aus Südasien Öcalan lesen untertiteltes Vorwort, das einen ganz anderen Ansatz als den hier vorgestellten wählt) hat Radha D’Souza mit folgenden Worten eröffnet: »Beim Schreiben dieses Vorworts kann ich mich nicht des Gefühls erwehren, um wie viel aufregender meine Auseinandersetzung mit Öcalans Text sein würde, wenn ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und mit ihm bei einigen Tassen Tee, wie es im Osten bei sozialen Zusammenkünften üblich ist, die in diesem Band angesprochenen Themen diskutieren könnte.« Liebend gern würde ich dabeisitzen und an derselben Diskussion teilnehmen, mit Abdullah Öcalan, mit Radha D’Souza und mit David Graeber, der ein hervorragendes Vorwort für den ersten Band geschrieben hat. Mit all den Millionen Menschen, die von diesem und den anderen von Öcalan verfassten Bänden inspiriert sind. Es gäbe so viel zu diskutieren, so vielen Differenzen Ausdruck zu verleihen, so viel zu lernen, so viele Stimmen in misstönender Harmonie. Eine Konversation zwischen Genoss*innen, die denselben Hass auf den Kapitalismus, dieselbe Sehnsucht nach einer auf gegenseitiger Anerkennung der menschlichen Würden gegründeten Gesellschaft teilen.

Die Realität ist selbstverständlich sehr viel brutaler. Abdullah Öcalan ist unter entsetzlichen Bedingungen inhaftiert, während ich komfortabel in meinem professoralen Stuhl sitze. Wir können uns nicht treffen, um gemeinsam Tee zu trinken. Was wir tun können und was ich möchte, dass wir es tun, ist, seine Ideen ernst zu nehmen, über sie nachzudenken, sie zu diskutieren, mit ihnen nicht übereinzustimmen und mit ihnen übereinzustimmen, sie in Seminare und Universitäten und Versammlungen und Diskussionsgruppen einzubringen. Wir sind alle Teilnehmer*innen desselben Dialogs der Hoffnung-und-Verzweiflung, alle vereint in der Entschlossenheit, dass wir die »Zivilisation«, den Kapitalismus, der uns zerstört, brechen werden.

Vorbemerkung

Dieser dritte Band der Hauptverteidigung, die ich für mein Verfahren am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bezüglich des Urteils zur Wiederaufnahme des Verfahrens[6] angefertigt habe, stellt eine Fortsetzung und Ergänzung der ersten beiden Bände des Manifests der demokratischen Zivilisation dar. In diesen ging es darum, Macht und kapitalistische Moderne allgemein darzustellen. Darauf aufbauend wird hier die Macht als die ›Zwangsinstrumente‹ beschrieben, die auf menschlicher Anstrengung basieren und im Kern mit der Absicht konstruiert wurden, Mehrprodukt und Mehrwert abzupressen. Die Machapparate, die in vielfältigen Formen umfassend errichtet wurden, sind letztlich Repressionsmechanismen, die über der menschlichen Arbeit errichtet wurden. In der als ›kapitalistisches System‹ begrifflich gefassten Ära der Moderne sieht sich die Gesellschaft diesen Mechanismen in ihrer am weitesten entwickelten Form gegenüber. Das kapitalistische System in seiner aktuellen Ausprägung – auch als Globalisierung bezeichnet – stellt innerhalb des Modells, das wir entwickeln wollen, eine besondere Phase des allgemeinen globalen Systemkonflikts zwischen Macht und Demokratie dar.

Nun mag man sich fragen, was der EGMR als supranationales Gericht, das Individuen nur als Bürger*innen ein Klagerecht einräumt, in seiner institutionellen Eigenschaft wohl mit dieser Art von Verteidigung einer Person namens Abdullah Öcalan zu tun hat. Es gibt durchaus einen Zusammenhang, und zwar einen ganz bemerkenswerten. Wichtiger noch: Ohne eine Analyse der eurozentristischen Zivilisation lässt sich das ideologische, politische und juristische System, das als Europas soft power beschrieben wird, nicht analysieren. Diese können wir erst dann kompetenter interpretieren, wenn das eurozentristische Zivilisationssystem analysiert ist. Wir müssen uns ständig vor Augen halten, dass das europäische Zivilisationssystem zum kompetentesten ›Welt-Zivilisations-System‹ aller Zeiten geworden ist. Diese Zivilisation bringt als eine ihrer wichtigsten Dimensionen die individuelle Staatsbürgerschaft mit sich. Individuum, Individualismus und Staatsbürgerschaft sind in der Gesellschaft von größerer Bedeutung als jemals zuvor in der Geschichte. Wir sehen uns mit einem Zeitalter konfrontiert, in dem in maximaler Weise die Gesellschaft mit dem Individuum und das Individuum mit der ›symbolischen Gesellschaft‹ verschmolzen ist: die kapitalistische Moderne.

In einer Zeit, in der eine Befreiung aus der Realität dieses Zeitalters sehr schwierig – aber nicht unmöglich – ist, verfiel ich in einen ›großen Zweifel‹ bezüglich meiner Identität, die als Staatsbürger der Türkei (Mitglied der Republik Türkei) aufgebaut wurde. Es ist nicht zu leugnen, dass mich dies vor das härteste Gerichts- und Strafsystem der Geschichte gebracht hat. Die Republik Türkei, die die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet hat, weigerte sich, das Wiederaufnahmeurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) umzusetzen. Das Ministerkomitee des Europarats, das für die Überwachung der Vollstreckung von Urteilen zuständig ist, entschied jedoch, dass die von der türkischen Justiz ergriffenen Maßnahmen den Anforderungen des Urteils des EGMR entsprachen. Diese Entscheidung des Ministerkomitees war nicht nur eine Rechtsverletzung, sie war skandalös. Mehrere kleine Staaten hatten während dieses Vorgangs im Ministerkomitee selbst zugegeben, dass sie diesem Beschluss auf Druck größerer und mächtigerer Länder wie den USA zugestimmt hatten. Dies war ein Verstoß, der klar mit ihrem Anspruch einer Politik der soft power kollidiert. Daher bin ich seit nunmehr zehn Jahren in der Position einer ›Person, die nicht verurteilt werden kann‹. In dieser Lage als ›Person, die kein faires Verfahren bekommen kann‹, befinde ich mich weiterhin im Ein-Personen-Gefängnis Bursa-İmralı – einem Inselgefängnis im Marmarameer, in dem traditionellerweise zu hohen Strafen Verurteilte dem Tod überlassen werden.

Ich habe nie bezweifelt, dass die Ereignisse der Phase, die mit meiner Ankunft in Europa begann und mit meiner Verbringung nach İmralı endete, in Zusammenarbeit mit den USA und der EU geplant und umgesetzt wurden. Ebenso habe ich nie bezweifelt, dass die der Republik Türkei zugeteilte Rolle die des Gefängniswärters ist. Da dies die nackte Wahrheit ist, warum geht man dann derart verschlungene Wege? Manche mögen vielleicht mein Urteil als zu harsch empfinden. Als überzeugender Beleg dafür, dass diese Mächte mich verschleppten, dient vielleicht die Sonderanweisung der NATO, wegen der am 2. Februar 1999 sämtliche europäische Flughäfen für die Maschine, in der ich mich befand, Landeverbot erteilten. Die Zeitungen berichteten seinerzeit darüber[7]. Außerdem hat der Vertreter des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton[8], offen erklärt, dass ich entführt und nach Kenia gebracht wurde, wo ich unter üblicher Aufsicht gehalten wurde (alle mir gehörenden Briefe und Kassetten wurden am Flughafen beschlagnahmt), bis ich an die Türkei übergeben wurde; und dass all dies in Zusammenarbeit mit den USA geschah. Der unvorstellbare Verrat der griechischen Behörden (insbesondere des Außenministers, des Nationalen Nachrichtendienstes, der Spitzenbeamten der griechischen Botschaft in Nairobi, des besonders beauftragten Major Kalenteridis und des Premierministers Simitis selbst) sind offensichtliche Tatsachen, auf die einzugehen ich unnötig finde.

Wenn es also mein Recht war, im Sinne des Individualrechts von der europäischen Rechtsprechung zu profitieren; warum haben diese Mächte dann auf all diese geheimen, obskuren und betrügerischen Mittel zurückgegriffen? Welche Art von Deals gab es? Wer und im Gegenzug wofür war an diesen Deals beteiligt? Unter der Herrschaft Europas und der USA hat die Geschichte schreckliche Kolonialkriege und die Hexenverbrennungen, konfessionelle und nationale Kriege, Klassenkonflikte und ideologische Kämpfe erlebt. Vielleicht ist meine Erfahrung in diesem blutgetränkten Porträt der Geschichte nur ein einzelner Tropfen im Ozean. Sie ist jedoch von Bedeutung und bedarf der Klärung.

Zunächst muss ich festhalten, dass ich die Abstraktion des Individuums von seiner gesellschaftlichen Identität ablehne. Das Recht auf ›Individualbeschwerde‹, auf dem so beharrlich bestanden wird, hat definitiv nicht die Bedeutung, die ihm zugemessen wird. Das Konzept eines von seiner gesellschaftlichen Identität isolierten Individuums, ist nichts als eine Spitzfindigkeit der eurozentrischen offiziellen Epistemologie, die als ach so ›wissenschaftlich‹ gilt. Außerdem pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass ich im Namen der Kurdinnen und Kurden, des tragischsten Volkes der Welt, und nicht als Individuum Abdullah Öcalan vor Gericht stehe.

Schon diese kurze Aufzählung von Tatsachen gibt ausreichend Aufschluss über die Tragweite meines Prozesses. Egal wie stark das System der Zentralzivilisation[9] unter der Führung der hegemonialen Mächte USA und EU auch sein mag, man kann mich offenbar nicht einfach so um die Ecke bringen. Es ist nicht wegzuleugnen, dass alle Mächte des Systems bei meiner Verhaftung und Verurteilung eine aktive Rolle gespielt haben. Gegen dieses große, abgekartete Spiel ist mein gesamtes Volk aufgestanden und hat sich gewehrt. Es hat gegen die Verschwörung protestiert, Hunderte sind als Märtyrer gefallen, Tausende wurden verhaftet. Mein Volk hat den Zusammenhang zwischen der eigenen historischen Tragödie und meinem Prozess sehr gut verstanden und sich hinter mich gestellt, im Wissen, dass der Weg zu seiner Befreiung über das Ende dieser Tragödie führt. Die ehrenvolle Aufgabe, dies zu erklären, fiel hingegen mir zu.

Natürlich kann ich den Gegenstand dieses Verfahrens nicht aufklären, ohne meine gesellschaftliche Identität, die unser Volk verkörpert, in all ihren Aspekten zu beleuchten. Dieses ist vielleicht wie kein anderes der Unterdrückung und Ausbeutung durch das System der Zentralzivilisation ausgesetzt, das auf einer mindestens fünftausendjährigen Geschichte beruht. In diesen Tatsachen liegen die Kriterien verborgen, die mir den Umfang meiner Verteidigung diktieren. Ich muss an dieser Stelle einen Ausdruck wiederholen, den ich schon oft gebraucht habe: Es gibt Momente, da sich Geschichte in einer Person ereignet und eine Person Geschichte macht! Es lässt sich nicht leugnen, dass ich an dieser Ehre ein wenig Anteil hatte, auch wenn dies mit großen Schmerzen verbunden ist. Weil ich anders als andere eine Rolle jenseits der des ›Opfers des Schicksals‹ spielen wollte, wurden hinter meinem Rücken diese Intrigen gesponnen; das weiß ich. Deshalb habe ich meinen Prozess[10] mit der Parole ›Die Freiheit wird siegen‹ überschrieben.

In Tragödien auf der Bühne genügt es, aus dem sich ständig wiederholenden Schicksal im Sinne der Freiheit auszubrechen, um jegliches Leid erträglich zu machen. In meinem Prozess, diesem Drama unter dem Titel ›Wirklichkeit‹, in dem ich und meine Freundinnen und Freunde auftreten, die für die gleiche Sache kämpfen, wird das Schicksal eine neue Rolle bekommen: die des Besiegten.

Somit wird verständlich, warum ich diesen Band meiner Verteidigung ›Soziologie der Freiheit‹ nenne. Aber jeder Schritt in die Freiheit kann nur ein Versuch sein. Daher wäre auch ›Versuch über die Soziologie der Freiheit‹ ein passender Titel gewesen.

Zweifellos zeigt die zentrale, hegemoniale, europäische Zivilisation nur eine Seite der Medaille. Diese Zivilisation repräsentiert eher die Machtapparate, die auf dem Mehrwert basieren. Die andere Seite jedoch ist das demokratische Antlitz der Zivilisation. Die Ideen, die diesem Werke zugrunde liegen, beruhen auf dem Erbe der demokratischen Zivilisation. Vom Prozess des Sokrates bis zu meinem Verfahren, fühle ich mich leidenschaftlich dem Vermächtnis all jener unzähligen Kämpferinnen und Kämpfer, nicht nur unserer eigenen, verpflichtet, die für ihre Ideale und Moral, für ihre Völker und Kommunen gekämpft haben. Ich hoffe, dass ich zu ihrem Erbe beitragen kann, auch wenn es nur ein einzelner Tropfen im Ozean sein mag. Diese Mahnmale der Menschlichkeit bilden die wichtigsten Bausteine für meine Verteidigung. Ihr wahres historisches Fundament wiederum besteht in der fünftausend Jahre alten östlichen Weisheit und der Tradition der demokratischen Haltung. Ohne diesen Hintergrund zu berücksichtigen, lässt sich weder die Universalgeschichte der Menschheit schreiben, noch eine sinnvolle Einschätzung der Gegenwart vornehmen.

Meiner Verteidigung liegt die Idee zugrunde, dass Geschichte und Gesellschaft im System der demokratischen Zivilisation freier voranschreiten können und dass ein Leben, das auf den richtigen Fundamenten ruht, besser und schöner gelebt werden kann.

Einige Bemerkungen zu meiner Schreibtechnik werden erhellend und entschuldigend wirken. Unter den Bedingungen meiner Einzelhaft wird mir nur jeweils ein Buch, eine Zeitschrift und eine Zeitung in der Zelle gestattet. Es war nicht möglich, Notizen zu machen und mit Zitaten zu arbeiten. Meine vorrangige Methode war, mir alles, was wichtig erschien, zu merken und es in meine Persönlichkeit zu integrieren. Ich habe mich nicht sklavisch an jedes Verbot gehalten. Meine Antwort auf diese Verbote war, das Gedächtnis, den Wissensspeicher des Universums, zu sortieren und Gedanken von entscheidender Wichtigkeit Vorrang einzuräumen.

Die größte Schwäche dieser Methode ist jedoch, dass das menschliche Gedächtnis den Makel trägt, vergessen zu können. Keine Notizen machen zu können, war daher hinderlich. Als ich mich daran machte, diesen Band zu schreiben, wurde mir obendrein verboten, einen Stift in der Zelle zu haben. Nachdem am zehnten Tag der ›Bunkerstrafe‹ dieses Verbot schließlich wieder aufgehoben wurde, begann ich sofort zu schreiben. Denn es verzögerte sich alles, ich konnte mein Wort nicht halten. Meine Antwort auf das Stiftverbot war, noch mehr über mein Gesamtkonzept nachzudenken.

Die noch folgenden beiden Bände sind als eine Art konkreter Anwendung meiner Hauptideen konzipiert und sollen die Titel Zivilisationskrise im Nahen Osten und die Lösung der demokratischen Zivilisation und Die kurdische Frage und die Lösung der demokratischen Nation tragen. Für beide Bände, die jeder Intellektuelle mit einer gewissen Vorbereitung niederschreiben könnte, werde ich vermutlich längere Zeit benötigen[11]. Doch im brodelnden Nahen Osten[12] und in Kurdistan, das zu seinem Herzen geworden ist, die Aktualitäten im Lichte einer Analyse der ›historischen Gesellschaft[13]‹ zu diskutieren, ist aufregend und erfordert ein hohes Maß an Verantwortung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben sich geradezu zu einem neuen Gordischen Knoten verbunden. Diesen mit einem anti-alexandrischen Schlag zu durchtrennen (wie einst Alexander, doch mit minimalem körperlichen Einsatz, sodass die Bedeutung der entscheidende Aspekt der Kraftanstrengung ist), ist die heiligste und wichtigste aller Aufgaben.

Einführung

Die Wissensstruktur des kapitalistischen Weltsystems[14] befindet sich mindestens ebenso sehr in einer Krise wie die Apparate von Macht, Produktion und Akkumulation. Da es in der Natur der Wissensstrukturen liegt, dass sie einer freien Diskussion eher zugänglich sind, bieten sich umfangreiche Möglichkeiten zur Diskussion über die Krise, in der die Wissenschaft sich befindet. Die Rolle des Wissens innerhalb von Gesellschafts- und Machtstrukturen ist heute bedeutender als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. In den Wissens- und Informationsapparaten des gesellschaftlichen Lebens findet eine historische Revolution statt. Revolutionäre Prozesse als Krisen spielen im Wesentlichen auch eine Rolle bei der Suche nach Wahrheitsregimen. Nicht nur auf den Feldern von Akkumulation, Produktion und Macht, sondern auch im Bereich des Wissens beobachten wir heftige Kämpfe um Hegemonie. Keine Produktions-, Akkumulations- oder Machtstruktur kann sich auf Dauer behaupten, wenn sie nicht im Bereich des Wissens Legitimität erringt.

Es wird erkannt und offen diskutiert, dass die bis vor Kurzem herrschenden positiven Wissenschaftsdisziplinen keineswegs so anti-metaphysisch und anti-religiös ausgerichtet sind, wie sie dargestellt werden, sondern dass sie vielmehr eine ebenso starke metaphysische und religiöse Dimension besitzen wie Metaphysik und Religion selbst. Den siegreichen Naturwissenschaften, die der klassischen griechischen Gesellschaft und dem Europa der Aufklärung zugeschrieben werden, wurden die bedeutendsten Schläge von innen heraus versetzt. Ein Denken, das von einer ständigen, linear-progressiven Entwicklung ausgeht, bildet den größten Schwachpunkt dieser positiven Wissenschaften. Denn eine solche Struktur und ein solcher Zweck des Universums lässt sich nicht feststellen. Sowohl die subatomare Welt als auch das kosmologische Universum lassen sich nicht aus dem Dualismus von Beobachter und Beobachtetem befreien. Denn auch das menschliche Bewusstsein ist Teil dieses Vorgangs. Es lässt sich nicht vorhersagen, wie das Bewusstsein eine darüber hinausreichende Rolle einnehmen kann. Sein unbegrenztes Potenzial zur Differenzierung selbst demonstriert den Bedarf an neuen Interpretationen.

Die Soziologie, eine eurozentrische Wissensstruktur, reicht eigentlich nicht weiter als die Behauptung von Anhänger*innen der positiven Wissenschaften, die Gesellschaft sei als Phänomen ähnlich denen der Physik, Chemie und Biologie zu betrachten und mit identischen Herangehensweisen zu erklären. Die Kühnheit, die menschliche Gesellschaft mit ihrer ganz anderen Natur zu einem Objekt zu machen, führte keineswegs zur angenommenen Aufklärung, sondern zu einer noch oberflächlicheren Götzenanbetung. Dass die zur Lieferung von Wissensstrukturen für die Nationalstaaten herangezogenen philosophischen Ausführungen der deutschen Ideologen, die politische Ökonomie der englischen Ideologen und die Soziologie der französischen Philosophen Instrumente zur Legitimierung der Apparate zur Akkumulation von Macht und Kapital waren, ist in den heutigen Diskussionen über die Wissenschaft hinreichend geklärt worden. Die deutsche Philosophie, die englische politische Ökonomie und die französische Soziologie konnten letztlich nicht umhin, die Grundlage für den entstehenden Nationalstaats-Nationalismus zu schaffen. Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass eine derartige Soziologie im Großen und Ganzen Wissensstruktur des eurozentrischen kapitalistischen Weltsystems ist.

Doch dies auszusprechen löst noch nicht das Problem. Auch dass der als entgegengesetzte Weltanschauung entstandene Marx-Engels-Sozialismus bzw. dessen Soziologie nur eine sehr grobe (vulgäre) Interpretation der Gesellschaft darstellt, hat sich ausreichend gezeigt. An den Strömungen, Bewegungen und Staaten des Realsozialismus, der Sozialdemokratie und der nationalen Befreiung können wir erkennen, dass auch diese Soziologie, obgleich sie ihre Gegnerschaft behauptete, nicht umhin konnte, dem Kapitalismus noch mehr zu dienen als selbst seine offizielle Ideologie, der Liberalismus. Dass die genannten Strömungen und Bewegungen, trotz ihrer höchst edlen kämpferischen Traditionen, sogar im Namen der unterdrückten Klassen und Nationen in diese Lage geraten sind, hängt eng mit ihren Wissensstrukturen zusammen. Die Wissensstrukturen, auf die sie sich gestützt haben, mit all ihren guten und schlechten Seiten, haben insgesamt Ergebnisse hervorgebracht, die zu ihren Absichten im Widerspruch standen. Hätte es in ihren grundlegenden Paradigmen und Strukturen nicht eine Kette von ernsthaften Fehlern und Mängeln gegeben, wäre es nicht so leicht zu diesen Resultaten gekommen.

Extrem relativistische Theorien, die sich als eine weitere oppositionelle Strömung aufdrängen, waren nicht nur unfähig, sich aus den Wissensstrukturen des kapitalistischen Weltsystems zu befreien, sondern dienten – vielleicht wegen ihrer extremen Individualität – dem kapitalistischen Individualismus letztlich am allermeisten. Darunter fallen auch anarchistische Haltungen. Den Kapitalismus zu kritisieren, die starke Gegnerschaft zum Kapitalismus in einen Diskurs zu gießen, ist – wie oft gesehen – ein effektiver Weg, ihm zu dienen. Auch hierbei spielen die paradigmatische Sichtweise und die Fehler und Mängel in den Wissensstrukturen die Hauptrolle.

Weder hängen die physikalischen Wissenschaften (einschließlich Chemie und Biologie) lediglich wie behauptet mit der physikalischen Natur zusammen, noch betreffen die als Geistes- oder Humanwissenschaften bezeichneten Wissenschaften wie Literatur, Geschichte, Philosophie, politische Ökonomie und Soziologie lediglich die gesellschaftliche Natur. Ein breiterer Begriff der Sozialwissenschaft als Schnittpunkt beider Wissenschaftsbereiche ist zu begrüßen, denn jegliche Wissenschaft muss sozial sein.[15]

Doch auch durch eine Einigung über die Definition der Sozialwissenschaft wird das Problem nicht gelöst. Viel wichtiger ist, was wir als Bezugspunkt nehmen oder, anders ausgedrückt, auf welcher Einheit die Analyse der Gesellschaft basieren soll. Zu sagen: »Die Grundeinheit ist die gesellschaftliche Natur im Ganzen«, ist für die Sozialwissenschaft nicht besonders sinnvoll. Für eine sinnvolle theoretische Herangehensweise müssen wir zunächst wählen, welche Beziehungen innerhalb der zahllosen gesellschaftlichen Verhältnisse von entscheidender Wichtigkeit sind. Die zu wählende gesellschaftliche Einheit ist in dem Maße sinnvoll, wie sie das Allgemeine erklärt.

Wir wissen, dass zum gesellschaftlichen Bereich verschiedene Modelle entwickelt wurden. Diejenigen Herangehensweisen, welche die bekannte und am häufigsten verwendete Einheit, den Staat im Allgemeinen und den Nationalstaat im Besonderen, zugrunde legen, stützen sich mehr auf die bürgerliche Perspektive der Mittelklasse. In diesem Modell werden Geschichte und Gesellschaft im Umfeld der Probleme von Aufbau, Zerstörung und Teilung von Staaten untersucht. Diese Tendenz, eines der oberflächlichsten Modelle der Annäherung an die historische Gesellschaft, spielt lediglich die Rolle des offiziellen Bildungsverständnisses der Staaten. Ihr eigentlicher Zweck ist die Rolle als den Staat legitimierende Ideologie. Statt aufzuklären, dient sie dazu, die komplizierten Probleme von Geschichte und Gesellschaft zu verschleiern. Daher ist dies der am meisten diskreditierte soziologische Ansatz.

Die Marxist*innen wählen Klasse und Ökonomie als Grundeinheit der Soziologie und wollen damit eigene alternative Modelle gegen den Ansatz formulieren, der sich auf die Einheit ›Staat‹ als Bezugspunkt stützt. Die Wahl der Arbeiterklasse und der kapitalistischen Ökonomie als grundlegendes Modell für gesellschaftliche Untersuchungen trägt zwar dazu bei, Geschichte und Gesellschaft in Hinblick auf Wirtschafts- und Klassenstruktur und deren Bedeutung zu erklären, birgt jedoch mehrere nennenswerte Mängel. Dass dieser Ansatz den Staat und andere Institutionen des Überbaus als Produkt und einfache Widerspiegelung der Basis betrachtet, führt zum Abrutschen in den als Ökonomismus bezeichneten Reduktionismus. Der ökonomische Reduktionismus, genau wie der Staatsreduktionismus, kann den Fehler, die Realität der historischen Gesellschaft und ihre hochkomplexen Beziehungen zu verschleiern, nicht überwinden. Besonders die Mängel in der Analyse von Macht und Staat führen dazu, dass die unterdrückten werktätigen Klassen, in deren Namen der Marxismus zu handeln beansprucht, keine ausreichende ideologische und politische Ausstattung erlangen. Der eng begrenzte ökonomische Kampf und die Vorstellung von Zerschlagung und Aufbau von Macht und Staat in Form eines opportunistisches Staatsverschwörertums dienen dem Kapitalismus mindestens ebenso sehr wie dessen ureigenste Ideologie, der Liberalismus. Die Zustände in China und Russland beleuchten dies sehr gut.

Wir treffen auch auf Denkansätze, die Geschichte und Gesellschaft immer lediglich als die Machthaber und Regierungsgewalt interpretieren wollen. Doch solche Ansätze sind genauso mangelhaft wie diejenigen, die das Staatsmodell wählen. Zwar ist die Macht eine umfassendere Untersuchungseinheit, doch auch dieser Ansatz ist alleine unfähig, die gesellschaftliche Natur zu erklären. Weil es sich um einen höchst wichtigen Untersuchungsgegenstand handelt, besitzen Forschungen zur gesellschaftlichen Macht Aspekte, die zum Verständnis von Geschichte und Gesellschaft Erhellendes beitragen können. Doch ein Reduktionismus in Bezug auf Macht trägt dieselben Mängel, die wir bei jedem reduktionistischen Denkansatz beobachten.

Ein Ansatz, der uns ebenfalls häufig begegnet, ist die Untersuchung der Gesellschaft als Ansammlung von endlos vielen partikularen Beziehungen ohne jegliche Regel. Derartige extrem relativistische Ansätze, die wir fast als deskriptive literarische Modelle bezeichnen können, führen nur dazu, dass wir uns im gesellschaftlichen Wald verirren. Extrem universalistische Modelle und Ansätze hingegen, die wie deren Gegenteil erscheinen, aber im Kern die gleiche Rolle spielen, versuchen, die Gesellschaft in physikalischer Schlichtheit mit ein paar Gesetzen zu erklären. Dies dürfte derjenige Ansatz sein, der angesichts der reichen Vielfalt der Gesellschaft am meisten zur Erblindung beiträgt. Das positivistische Verständnis von Gesellschaft verdient es, als das gröbste Modell bezeichnet zu werden, das sowohl extremen Relativismus als auch extremen Universalismus beinhaltet.

Der Liberalismus als offizielle Ideologie der bürgerlichen Mittelklasse präsentiert sich in Form einer eklektischen Auswahl aus all diesen Modellen. So etabliert er sich als System, indem er vorgibt, richtige Aspekte jedes Modells zu vertreten. Im Kern vermischt er die mangelhaftesten Aspekte aller Modelle mit ein paar Wahrheiten und präsentiert der Gesellschaft so ständig eine höchst gefährliche Form des Eklektizismus als Untersuchungsmodell. Als offizielle Auffassung kolonialisiert und besetzt er das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft und verfestigt so seine ideologische Hegemonie.

Meine erste große Gefängnisschrift Gilgameschs Erben – Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation musste ich vorlegen, ohne viel an einem Modell arbeiten zu können, ja sogar ohne das zu bemerken. Diese Eingabe hatte ich ohne die Möglichkeit zu umfangreichen Recherchen eilig angefertigt. Ich hatte auch gar nicht den Anspruch, ein Modell zu entwickeln. Ich hatte in einem improvisierten Stil meine Vorstellungen über die gesellschaftliche Realität niedergeschrieben. Später hatte ich Gelegenheit, die Modelle einiger bedeutender Soziologen, allen voran Murray Bookchin, Immanuel Wallerstein und Fernand Braudel, zu untersuchen. Außerdem besaß ich ein Grundverständnis von Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und einigen anderen Philosophen. Am wichtigsten von ihnen war André Gunder Frank, der die Ansichten einer Reihe von Denker*innen in einem Werk namens The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?[16] zusammengestellt und herausgegeben hat. Das Werk dieses Denkers, dessen Namen ich vorher noch nie gehört hatte, erkannte ich schon bald als die anspruchsvollste Verteidigung meiner Ansichten. Dass in der letzten Zeit mehrere Denker in ihren Untersuchungen ähnliche Ansichten vertraten, brachte mich dazu, mehr über mein eigenes Modell nachzudenken.

Meine Verteidigung trug im Kern ohnehin deutliche Spuren sowohl von Immanuel Wallersteins Analyse des kapitalistischen Welt-Systems als auch von Fernand Braudels Analysen der geschichtlichen Zeitebenen und besonders der ›longue durée‹, die die Totalität der Geschichte in den Blick nehmen. Seit Langem hatte ich versucht, die Niederlage des Realsozialismus mit ähnlichen Ansätzen zu erklären; Braudels Analysen leisteten mir dazu einen Beitrag. Mir fiel es nicht schwer, die Kommentare Nietzsches und Michel Foucaults zu Moderne und Macht zu begreifen, ich fand sie auch recht nah an meinen eigenen Vorstellungen. Einen Namen kann ich nicht übergehen: Gordon Childes Werk Stufen der Kultur: Von der Urzeit zur Antike, das er auf der Grundlage von Ausgrabungen in Mesopotamien verfasst hatte, erweiterte maßgeblich meinen Horizont. Ich arbeitete viele philosophische Werke durch, als wären sie Berichte, und musste eine Auswahl treffen, ohne den Anspruch zu haben, eine eigene ›Modelleinheit‹ zu entwickeln. Es soll nicht das Missverständnis entstehen, ich präsentierte in dieser großen Verteidigung die weiterentwickelte Analysemethode als ein Modell. Mein ganzes Problem war, eine Einheit für eine integrative und entscheidende historisch-gesellschaftlichen Analyse auszuwählen. Obwohl alle bestehenden Modelle viele richtige Aspekte beinhalten, auf die ich kurz eingehen werde, besitzen sie auch alle Fehler und Mängel, die ich nicht in Kauf nehmen will. In allen konnte ich vergleichbare Defizite feststellen.

Selbst André Gunder Franks Werk The World System, das das Modell beschreibt, welchem ich mich am weitesten angenähert hatte, schien mir einen sehr ernsten Mangel zu beinhalten. Die sumerische Gesellschaft, auf die unser Weltsystem aufbaut, war offenbar die erste, die eine Akkumulation von Kapital organisierte. Ich finde auch den Ansatz sehr richtig, dass das Weltsystem von der sumerischen Gesellschaft bis heute als Hauptstrom-Zivilisation eine kumulative Akkumulation darstellt. Ich stimme darüberhinaus zu, dass die Akkumulation eine historische Kontinuität in der Form Hegemonie und Konkurrenz, Zentrum und Peripherie sowie Zu- und Abnahme aufweist. Auch die Dimensionen, in denen die Akkumulation erfolgt, nämlich die drei Säulen Wirtschaft, Politik und Ideologie/Moral, sind verständlich. In die gleiche Richtung gehen die Wichtigkeit der Akkumulationsweise im Gegensatz zur Produktionsweise und die Ansicht, dass hegemoniale Übergänge bedeutendere Resultate zeitigen als Übergänge von einer Produktionsweise zur anderen. Ich teile Franks zutreffende Kritik an Wallerstein, der in seiner Analyse des eurozentrischen kapitalistischen Welt-Systems den Kapitalismus als das einzige System präsentiert, das sich weltweit verwirklicht habe. Eine Einzigartigkeit der europäischen Zivilisation zu behaupten, halte ich für übertrieben. Weil sie solch eine abseitige Zivilisation darstellt, hätte man sie sogar als marginal betrachten können.[17] Genauso liegt Frank näher an der Wahrheit, wenn er die Begriffe für die grundlegenden Gesellschaftsformationen wie Sozialismus, Kapitalismus, Feudalismus und Sklaverei als ideologische Realitäten betrachtet. Auch seine Aussage, dass diese Begriffe weniger dazu dienen, die gesellschaftliche Realität zu erklären, sondern sie eher verschleiern, ist nicht von der Hand zu weisen und es wert, weiter diskutiert zu werden. Die Suche nach ›Einheit in der Vielfalt‹ hätte zu einer Lösung beitragen können, ist aber unzulänglich. Trotzdem leistet er offenbar einen äußerst reichen Beitrag zur Analyse der historischen Gesellschaft. Ich muss seine Analysen als eine Systemanalyse für ein besseres und schöneres gesellschaftliches Leben würdigen, mit nur geringen Fehlern. Der fundamentale Mangel ist jedoch, dass sie das Risiko in sich tragen, einen geschlossenen Kreislauf zu präsentieren, der scheinbar nicht überwunden werden kann. Er geht an die hegemonialen Machtsysteme heran, als ob sie schicksalhaft seien; besser gesagt: Er zeigt den Ausweg nicht dialektisch auf.

Immanuel Wallerstein basiert seine Analyse des kapitalistischen Welt-Systems auf einen fünfhunderjährigen Zeitabschnitt, was unzureichend ist. Offenbar wären seine Analysen noch viel produktiver, wenn er sie auf eine fünftausendjährige Basis stellte. Bei einer Reihe von Denker*innen, die in der Anthologie The World System veröffentlicht wurden, haben wir Ansätze davon gesehen. Wallersteins Vorteil dagegen liegt darin, dass er eine stärkere Analyse des Auswegs aus dem Welt-System vorlegen kann. Seine Ansätze leisten dazu einen wichtigen Beitrag.

Fernand Braudels Analyse des Kapitalismus genauso wie die historischen Zeitebenen (›kurze, mittlere und lange Dauer‹), in denen er sein holistisches Gesellschaftsverständnis präsentiert, sind wirklich geeignet, den Horizont zu erweitern. Besonders seine Feststellung, dass der Kapitalismus marktfeindlich[18] ist, und seine Betonung, dass Machtmonopole und wirtschaftliche Monopole ähnliche Akkumulationseigenschaften aufweisen, sind höchst bedeutsam. Einer meiner Lieblingssätze ist: »Macht sondert stets Kapital ab.«[19] Auch die Feststellung »Auch Macht lässt sich wie Geld ansammeln«[20], ist für verständige Geister sehr lehrreich. Entscheidend und sehr aufschlussreich ist auch, dass sowohl Wallerstein als auch Braudel einen Aspekt des Misserfolgs der sozialistischen Revolutionen darin sehen, dass es ihnen nicht gelang, die kapitalistische Moderne zu überwinden. Doch stimme ich auch zu, dass beide berühmten Denker in Hinblick auf den ›ökonomischen Reduktionismus‹ – von dem beide selbst reden – hinterfragt werden müssen.

Nochmals muss ich festhalten, dass mein sozialwissenschaftlicher Ansatz, obwohl er in geringem Maße von den genannten, wichtigen Denkern beeinflusst ist und Ähnlichkeiten zu den Ansichten vieler anderer Denker*innen besitzt, die hier unerwähnt bleiben, spezifische eigene Dimensionen beinhaltet. Ich denke, dass ich die genannten Punkte in meiner zweiten großen Gefängnisschrift, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, weiter vertiefen und systematisieren konnte. Die Grundlage für diese Überzeugung: Meiner Meinung nach konnten sich die bestehenden Epistemologien nicht davon befreien, ein Teil des Machtapparates zu sein. Dies geschieht gegen ihren Willen. Karl Marx, ein Denker mit höchst wissenschaftlichem Ansatz, war ganz zweifellos die Person, die das wahre Wesen des Kapitals am besten erkannt hat. Doch diese höchst bedeutsame Eigenschaft reichte nicht aus, um ihn von der kapitalistischen Moderne loszureißen. Die Wissensstrukturen, auf die sich Marx stützte, und sein Leben waren auf tausenderlei Weise mit der Moderne verbunden. Dies sage ich nicht als Vorwurf, sondern um seine Realität verständlich zu machen. Ähnliche Probleme gelten auch für Lenin und Mao. Auch das System, das sie sich vorstellten (angefangen mit den Wissensstrukturen und dem Verständnis von modernem Leben), war in vielen Prämissen von der kapitalistischen Moderne abhängig. Zum Beispiel dachten sie, dass sie riesige Phänomene wie Industrialismus und Nationalstaat mit sozialistischen Inhalten erobern könnten. Dabei waren und sind diese grundlegenden Formen der Moderne äußerlich und inhaltlich auf die Kapitalakkumulation fokussiert. Wer sie zur Grundlage machte, würde zwangsläufig Kapitalismus hervorbringen – trotz aller Feindseligkeit ihm gegenüber. Meine Kritik am Realsozialismus war an all diesen Punkten sehr klar geworden. Doch sie würde nicht ausreichen. Was sollte ich an die Stelle des Kritisierten setzen? Das war die wichtige Frage. Und über diese Frage dachte ich ständig nach.

Mir erscheint es sehr notwendig und problemlösend – obwohl anscheinend sehr simpel –, die Option der demokratischen Zivilisation unter ebendiesem Namen als systematischen Modellansatz zu präsentieren, bis es eine neue Benennung gibt, die passender zu sein scheint. Vor allem schlägt diese Option für das zentrale, globale Zivilisationssystem ein alternatives System vor. Die demokratische Zivilisation ist nicht nur eine Utopie für Gegenwart und Zukunft; sie erscheint auch höchst notwendig und erhellend für eine konkretere Interpretation der historischen Gesellschaft.

Es liegt in der gesellschaftlichen Natur, dass zu allen Zeiten und an allen Orten, wo Kapitalakkumulation und die Machtapparate existierten, zu denen sie führte, dagegen Widerstand stattfand und Alternativen gefunden wurden. Niemals und nirgends ließen es die Gesellschaften an Widerstand und Alternativen gegen die Kapitalakkumulation und die Machtapparate fehlen. Die Gründe dafür, dass sie meistens unterlagen, waren nicht die Abwesenheit von Widerstand und Alternativen, sondern müssen in anderen Umständen gesucht werden.

Solange wir die unfassbaren Geschichten der Ansammlungen von Kapital und Macht nicht genau verstehen, haben wir Schwierigkeiten, den Sinn des Begriffs der demokratischen Zivilisation zu erfassen. Die Wissensstrukturen schwankten dabei stets zwischen zwei Arten von Fehlern: Entweder wurden sie von den Wissen-Macht-Strukturen vollständig absorbiert oder sie konnten als sektiererische Konfessionen ohne die Möglichkeit, wissenschaftliche und politische Optionen sowie moralische Haltungen unabhängig zu wählen, nicht vermeiden, stumpf zu bleiben oder abgestumpft zu werden. Zweifellos müssen wir uns hierbei stets die Rolle der Gewalt und der verführerischen Kraft des Kapitals vergegenwärtigen. Ohne diese beiden bemerkenswerten Fehlentwicklungen von Wissensstrukturen zu verurteilen, lässt sich die Option der demokratischen Zivilisation nicht aufzeigen. Hinterfragen müssen wir nicht die Existenz der demokratischen Zivilisation, sondern die Wissen-Macht-Strukturen und das verwirrte Sektierertum, die beide nicht in der Lage sind, erstere zu erkennen. Diese Tatsachen, die wir nicht nur mit den Fehlern und Mängeln der Erzählungen der historischen Gesellschaft erklären können, lassen sich nur durch eine grundlegende Revolution in den Sozialwissenschaften transformieren.

Die Macht- und Staatsgebilde, die auf der fünftausendjährigen Akkumulation von Kapital basieren, wussten aus täglicher Erfahrung sehr genau, dass sie ihre Regime nicht würden fortführen können, ohne in gewaltigem Ausmaß ideologische und Wissensstrukturen zu organisieren. Solange die Sozialwissenschaften die Beobachtung, dass diese Gebilde die beiden anderen Drillinge der hegemonialen Machtapparate – Mehrprodukt, Mehrwert und die Legitimationswerkzeuge – ständig akkumulieren, nicht als grundlegendes Element betrachten, können die Sozialwissenschaften nicht zu sinnvollen Wahrheitsregimen werden; das müssen wir wissen. Solange wir nicht verstehen, dass die Strukturen von Mythologie, Religion, Philosophie und positiver Wissenschaft engstens mit der Geschichte der Akkumulation von Kapital und Macht verschränkt sind und ständig ihre gemeinsamen Interessen im Blick haben, ist eine Revolution in den Sozialwissenschaften nicht möglich.

Der zweite wichtige Punkt, den der Begriff der demokratischen Zivilisation beinhaltet, ist die sehr breite Grundlage für eine Revolution in den Sozialwissenschaften, die er anbietet. Ich stelle folgende These auf: Die Behauptung, alle ›Barbaren‹ der Geschichte, die nomadischen Volksstämme, das Lumpenproletariat, die Stämme, Kommunen, die häretischen Konfessionen, die Hexen, die Arbeitslosen und Armen seien stets ohne sinnvolle Bewegungen und Systeme gewesen und dies sei ihr Schicksal, bedeutet ganz klar, mythologische, religiöse, philosophische und wissenschaftliche Strukturen zu produzieren und Apparate zur Akkumulation von Wissen aufzubauen, die den Interessen derjenigen dienen, die Kapital und Macht akkumulieren. Die Geschichte besteht nicht nur aus der Vorherrschaft von Kapital und Macht. Gleichzeitig gab es, in Verschränkung und ständiger Interessensgemeinschaft mit diesen Herrschaftsformen, auch die vorherrschenden Wissensmechanismen (mythologisch, religiös, philosophisch und wissenschaftlich). Wesentlicher Grund für die Erfolglosigkeit zahlreicher führender oppositioneller sozialwissenschaftlicher Strukturen, allen voran der marxistischen Sozialwissenschaften, war, dass sie die wissenschaftlichen Revolutionen, die sich auf die Geschichte der Akkumulation von Kapital und Macht stützten, zu ihrer Grundlage machten und es ihnen nicht gelang, ein alternatives Zivilisationssystem zu entwickeln. Zweifellos wurden viele genannte Aspekte umfassend kritisiert, doch der nächste Schritt, sie in den Rahmen einer die gesamte Geschichte umfassenden Erzählung einzubetten, wurde versäumt. Es wurde kein Weltsystem-Verständnis etabliert, die entsprechenden Erzählungen kamen nicht einmal über fragmentierte Versuche hinaus.

Der dritte wichtige Punkt am System der demokratischen Zivilisation ist, dass diese Zivilisation die Kraft besaß, ab der landwirtschaftlichen Revolution städtische und industrielle Elemente zu entwickeln, ohne den Akkumulationen von Kapital, Macht und Staat, die auf der Herausbildung einer Mittelklasse beruhen und in der Gesellschaft stets die Rolle von Krebszellen spielen, eine Chance zu geben. Es heißt also »ja« zu Stadt und Industrie, aber »nein« zu den Krebszellen darin. Wenn wir uns die heutigen, gigantischen Netzwerke von Stadt-Industrie-Macht und Kommunikation anschauen und in diesem Zusammenhang die Tatsache betrachten, dass die furchtbare Umweltzerstörung, die Situation der Frau und das Niveau von Armut und Arbeitslosigkeit katastrophale Dimensionen angenommen haben, so wird deutlich, dass der Begriff des krebsartigen Wachstums in gesellschaftlichen Strukturen keineswegs unangemessen ist. Heutige führende Sozialwissenschaftler wie Immanuel Wallerstein genauso wie die zu allen Zeiten vorhandenen ›Barbaren‹ (den Begriff der Barbarei werden wir weiter unten diskutieren und neu bestimmen), die Mitglieder häretischer Konfessionen, aufständische Bäuerinnen, Utopisten, Anarchist*innen, zuletzt die Feministinnen und die immer lauter werdenden Umweltbewegungen können für die Abwehr der drohenden Gefahr des Krebswachstums im gesellschaftlichen Gewebe eine ganzheitliche Bedeutung erlangen. Keine Gesellschaft kann die gegenwärtigen Akkumulationen von Stadt, Mittelklasse, Kapital, Macht, Staat und Kommunikationsmitteln lange aushalten. Wenn auch die in einen eisernen Käfig gezwängte Gesellschaft es nicht schafft, so laut zu schreien, dass etwas dabei herauskommt, so zeigen doch die täglichen S.O.S.-Signale aus der Ökologie deutlich, dass den Problemen, die eine krisenhafte und chaotische Dimension erreicht haben, das bestehende System der Zentralzivilisation zugrunde liegt. Wir denken, dass der Ausweg aus diesem Chaos nur durch einen Ansatz gelingen wird, der tief in den historisch-gesellschaftlichen Ressourcen verwurzelt ist und die Gegenwart als den jetzigen Zustand dieser Ressourcen analysiert, und wir behaupten, dass auch die Zukunft in diesem Sinne nur durch das ›Zentrale Weltsystem der Demokratischen Zivilisation‹ gewährleistet werden kann.

Dieser Band wird sich auf die Verdeutlichung dieser These in verschiedenen Dimensionen konzentrieren. Dass ich die Geschichte in ihren universalen Dimensionen zu verstehen versuche, liegt zweifellos an meinem prinzipiellen Glauben, dass lokale Geschichten ohne eine Universalgeschichte bedeutungslos sind. Zweifellos lässt sich selbst die Geschichte der unscheinbarsten Gesellschaften im Lichte der Universalgeschichte betrachten. Außerdem halte ich es auch für ein wertvolles Prinzip, dass die Gegenwart Geschichte und die Geschichte jetzt ist. Ich muss jedoch diesen beiden wichtigen historischen Prinzipien, die ich hiermit erneut unterstreiche, einen Aspekt hinzufügen: Die lokale Gegenwart wiederholt die Geschichte nicht nur als Wiederaufführung einer Tradition. Sie spielt vielmehr eine wichtige Rolle bei der historischen Akkumulation, indem sie die eigenen spezifischen Besonderheiten hinzufügt. Die Geschichte besteht nicht nur aus einer Wiederholung; sie wiederholt sich, indem sie die Beiträge eines jeden Ortes und jedes Zeitabschnitts akkumuliert.

Ich bezweifle nicht, dass mein Ansatz auf Verständnis trifft, wenn man die Veränderungen nicht nur in meinen vorausgehenden Schriften, sondern allgemein in allen meinen schriftlichen und mündlichen Einschätzungen vor dem Hintergrund dieser Prinzipien betrachtet. Offensichtlich lassen sich meine Ansichten nicht als dröge Wiederholung oder radikales Renegatentum interpretieren. Wer zu beobachten weiß, sieht klar, dass Entwicklung Unterschiedlichkeit ist und dass die Veränderung durch Diversifikation ein maßgebliches Prinzip des Universums ist. Wenn aus Eins Zwei wird, so findet nicht nur eine simple quantitative Akkumulation statt; gleichzeitig realisiert sich Zwei immer als Unterschiedlichkeit gegenüber Eins.

Nach der Vorbemerkung und dieser Einführung werden wir im nächsten Teil ›einige methodische Probleme‹ diskutieren. Wir werden betonen, dass die extreme Zerstückelung der Wissenschaften eine Krise der Wissenschaft an sich darstellt und diese mit der Krise des Systems zusammenhängt. Wir werden auch auf die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes für die Wissenschaft eingehen.

Als weiteres Thema der Methode werden wir die verschiedenen Naturen, besonders die Verschiedenheit der gesellschaftlichen Natur betonen. Wir werden erklären, warum die Rückkehr zur (ersten) Natur gleichzeitig radikale Ansätze erfordert und dies in Zusammenhang mit der Frauenfrage behandeln.

Die Trennung von Subjekt und Objekt werden wir mit Vorsicht behandeln, die Probleme, die durch sie ausgelöst werden, und die Wege, um sie zu beseitigen, diskutieren. Wir werden den Zusammenhang mit dem System der Kapitalakkumulation aufzeigen und die Notwendigkeit betonen, es zu überwinden.

Wichtig ist auch, bei methodischen Dualismen wie Universalismus–Relativismus, Zirkularität–Linearität und Globalismus–Lokalismus offen für Neues zu sein. Darüber hinaus ist auch eine Neuinterpretation der dialektischen Methode notwendig.

Eine Klarheit der methodischen Begriffe kann die Darstellung weiterer Themen erleichtern. Aus diesem Grund erschien es notwendig, die Ausführungen zur Methode diesem Band in einem eigenen Teil voranzustellen.

Der zweite Teil trägt die Überschrift ›Die Frage der Freiheit‹. Der enge Zusammenhang zwischen dem System der demokratischen Zivilisation und der Freiheit macht die Klärung dieses Themas bedeutsam. Der herrschsüchtige Charakter des Systems der Zentralzivilisation hebt gleichzeitig den freiheitlichen Charakter der demokratischen Zivilisation hervor. In diesem Teil wird die enge Verbindung zwischen Gleichheit und Freiheit analysiert werden. Noch wichtiger: wir werden uns damit befassen, den wahren Begriff der Gleichheit auf der Grundlage der Beachtung von Unterschiedlichkeiten zu interpretieren. Wenn wir berücksichtigen, dass Begriffe von Freiheit und Gleichheit, die außerhalb des Zusammenhangs mit den Systemen analysiert werden, in den Sozialwissenschaften zu bedeutenden Problemen führen, wird ihre Neuinterpretation im Lichte unserer Hauptthese erhellend wirken.