Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. II - Abdullah Öcalan - E-Book

Manifest der demokratischen Zivilisation – Bd. II E-Book

Abdullah Öcalan

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In etwas mehr als drei Jahren (2007–2010) hat Abdullah Öcalan mit dem »Manifest der demokratischen Zivilisation« ein fünfbändiges Opus Magnum geschrieben, in dem er seine Erfahrungen und Erkenntnisse aus 35 Jahren radikaler Theorie und revolutionärer Praxis zusammenfügt. »Kapitalismus ist nicht Wirtschaft, sondern Herrschaft.« Im zweiten Band seines fünfteiligen Werkes kritisiert Öcalan die kapitalistische Moderne als vorläufigen Endpunkt der Geschichte und weitet dabei den Blick auf die zugrunde liegenden Strukturen aus. Ausgehend von den Analysen Fernand Braudels kritisiert er den Kapitalismus als eine Verirrung, die niemals fortschrittliches Potenzial besaß, sondern prinzipiell die Gesellschaft im Inneren zerstört, und beschreibt im Weiteren dessen reaktionäre Entwicklung durch die Idee des Nationalstaats, den historischen Nationalismus und den Faschismus. Seine aktuelle Form als kapitalistische Moderne beschreibt Öcalan in der Dreiecksbeziehung von Monopolkapitalismus, digitaler Industrialisierung und Finanzwirtschaft. »›Die kapitalistische Zivilisation‹ ist ein Buch, das man als Linker lesen muss. Und Öcalan ist einer der großen Denker unserer Zeit.« – Peter Schaber, junge Welt »Öcalan ist ein Gefangener, der zum Mythos wird, wie Mandela im zwanzigsten Jahrhundert, so er im einundzwanzigsten. Er drückt eine Reihe von Konzepten aus, die im einundzwanzigsten Jahrhundert zunehmend zu Bausteinen für die politische Konstruktion einer neuen Welt werden.« – Antonio Negri

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 621

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Abdullah Öcalan

Manifest der Demokratischen Zivilisation

Zweiter Band

Die kapitalistische ZivilisationUnmaskierte Götter und nackte Könige

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Die kapitalistische Zivilisation: Unmaskierte Götter und nackte Könige

Manifest der demokratischen Zivilisation, Band II

3. Auflage November 2021

Aus dem Türkischen: Reimar Heider

Titelmotiv: Hîlala Zêrîn Sîn (Sin, der Goldene Halbmond)

von Ercan Altuntaş, Öl und Naturfarben auf Papier, 90 x 48 cm

© Abdullah Öcalan 2009

Erscheint in der International Initiative Edition

Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)

Postfach 100511, 50445 Köln

www.freeocalan.org

eBook UNRAST Verlag, April 2023

ISBN 978-3-95405-148-9

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

in Zusammenarbeit mit

MEYMAN

Tel. +31 6 85242353

pirtukxane.net – [email protected]

Erstveröffentlichung 2009 im Mezopotamien Verlag, Neuss.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und Satz: Internationale Initiative

Inhalt

Anmerkungen des Übersetzers

Vorwort

von Radha D’Souza

Einführung

Erster Teil Faktoren der Entstehung des Kapitalismus – Der Einbrecher im Haus

A Rationalismus

B Ökonomismus

C Kapitalismus, politische Macht und Recht 89

D Der Raum des Kapitalismus

E Historisch-gesellschaftliche Zivilisationen und der Kapitalismus

Zweiter Teil Der Todfeind der Wirtschaft – Der unmaskierte Gott, der nackte König und Kommandant Geld im eigenen Palast

A Kapitalismus ist nicht Wirtschaft, sondern Herrschaft

B Belege dafür, dass Kapitalismus nicht Wirtschaft ist

C Verhältnis des Kapitalismus in Bezug zu Raum und Zeit der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Realität

D Europa in der Geburtsstunde des Kapitalismus

Dritter Teil Der Nationalstaat, der moderne Leviathan – Gott auf Erden

A Das Phänomen Nation und seine Entwicklung

B Definition des Staates

C Die Ideologie der kapitalistischen Zivilisation und ihre Erhöhung zur Religion

D Die Geschichte des jüdischen Volkes – Im Gedenken an den Völkermord

E Macht in der kapitalistischen Moderne

F Kapitalistische Moderne und Nationalstaat

Vierter Teil Die Zeit der kapitalistischen Moderne

A Der handelsmonopolistische Kapitalismus

B Die industrielle Revolution und das Zeitalter des Industrialismus

C Das Finanzzeitalter – Kommandant Geld

Fünfter Teil Schlussfolgerungen – Ist ein Kompromiss zwischen staatlicher Zivilisation und demokratischer Zivilisation möglich?

Index

Biografien

Bibliografie Abdullah Öcalans Gefängnisschriften

Anmerkungen

Anmerkungen des Übersetzers

Das Manuskript dieses Buches wurde vom Autor in seiner Zelle ausschließlich handschriftlich erstellt und von ihm später nicht überarbeitet. Es enthält keine ausdrücklichen Fußnoten. Sämtliche Fußnoten in der deutschen Ausgabe stammen daher von Übersetzern und Herausgeberinnen. Anmerkungen des Autors im Manuskript, die als Fußnoten verstanden werden könnten, sind in Klammern im Text belassen worden.

Zitate verwendet der Autor häufig aus der Erinnerung, da er in der Isolationshaft über äußerst beschränkte Arbeitsmöglichkeiten verfügt. Wo es möglich war, haben wir versucht, das Originalzitat ausfindig zu machen, und es als Fußnote ergänzt. Da sich die weitere Argumentation aber häufig auf das erinnerte Zitat bezieht, wurde es im Text meist in der Form belassen, wie es im Manuskript steht.

Der Autor verwendet eine Reihe von Bindestrich-Konstruktionen wie ana-kadın, tanrı-kral, tanrı-devlet, ulus-devlet. Diese werden in der Übersetzung meist in annähernd gleicher Form als Mutter-Frau, Gott-König, Gottes-Staat, National-Staat wiedergegeben, auch wenn das zusammengesetzte Wort im Deutschen normalerweise gebräuchlich ist.

Wenn die Übersetzung nicht eindeutig auf nur einen Begriff im Türkischen verweist oder der Originalausdruck als Fachbegriff gelten kann, so steht er in Klammern, z. B.: Stamm (kabile), Stamm (aşiret), Schatten Gottes (zıllullah). Dabei wurde nicht immer der türkische Ausdruck verwendet, sondern bei Namen und religiösen Ausdrücken gelegentlich die DMG-Umschrift des Arabischen (z. B. ʿIbāda statt ibadet). Ortsnamen wurden gemäß dem Original türkisch belassen, wo der Autor nicht eine kurdische Namensform verwendet (z. B. Diyarbakır statt Amed) und eingedeutscht, wenn sie im Deutschen unter anderen Namen bekannt sind (z. B. Konstantinopel statt Konstantinopolis).

Die Schwierigkeit der Übersetzung bestimmter Konzepte, auf die Radha D’Souza in ihrem Vorwort hinweist, gelten auch für die deutsche Ausgabe. So wurde das von ihr diskutierte Konzept qawm (türkisch: kavim), das keine direkte deutsche Entsprechung besitzt, je nach Zusammenhang als ›Stamm‹, ›Volksstamm‹ oder ›Volk‹ übersetzt.

Ein häufig verwendeter Begriff ist iktidar, Macht. Es umfasst im Türkischen auch die jeweils herrschenden Personen (die, die an der Macht sind) und hat patriarchale Konnotationen, da auch die sexuelle Potenz mit demselben Wort ausgedrückt wird. Gleichzeitig grenzt der Autor diesen Begriff der Macht nicht ausdrücklich vom Begriff der Herrschaft ab. Daher ist im Deutschen auch die Übersetzung ›Herrschaft‹ möglich, so in der emblematischen Überschrift »Kapitalismus ist nicht Wirtschaft, sondern Herrschaft.« Da der Autor sich aber auf die Machtbegriffe von Foucault und Braudel bezieht, wurde iktidar fast durchgängig als ›Macht‹ wiedergegeben. In Begriffen wie Hegemonialmacht, die sich auf Staaten beziehen, steckt dagegen das türkische Wort güç.

Vorwort

von Radha D’Souza

Beim Schreiben dieses Vorworts kann ich mich nicht des Gefühls erwehren, um wie viel aufregender meine Auseinandersetzung mit Öcalans Text sein würde, wenn ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und mit ihm bei einigen Tassen Tee, wie es im Osten bei sozialen Zusammenkünften üblich ist, die in diesem Band angesprochenen Themen diskutieren könnte. Es steht zu hoffen, dass Öcalan aus der Haft entlassen und es möglich sein wird, ihn selbst über diesen Text sprechen zu hören. Öcalan verfasste diesen Essay 2008 als »Verteidigungsschrift« in der Form einer Eingabe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dass ein Antrag an ein Gericht die einzige Möglichkeit für Öcalan war, der Welt außerhalb des Gefängnisses seine Gedanken mitzuteilen, legt Zeugnis vom Zustand der Welt ab. Wir leben in einer Welt, in der die »Demokratie« unsere Freiheiten einsperrt und in der die Gedanken eines Menschen für Staaten, die sich im Besitz der tödlichsten Waffen befinden, die die Welt jemals hervorgebracht hat, zu einem »Sicherheitsrisiko« werden. Aber dennoch ist es, inmitten von Horrorvisionen der Zukunft und der kognitiven Dissonanz, die uns heute umgibt, zugleich auch seltsam beruhigend, dass die uralte Weisheit, nach der »die Feder mächtiger ist als das Schwert«, immer noch zuzutreffen scheint.

Ich kann Öcalans Text nur als Frau aus Südasien lesen. Er ist voller Worte, Begriffe, historischer Bezugnahmen, Ereignisse, Denkweisen, Anspielungen, Analogien und vieler anderer Dinge, die mit den Quellen gemeinsamer interkultureller Bedeutungen zu tun haben. Der Mittlere Osten befindet sich geografisch und kulturell in der Mitte zwischen Okzident und Orient. Südasien und der Mittlere Osten haben enge historische, kulturelle, intellektuelle und politische Verbindungen miteinander, die bis auf die ersten Zivilisationen in den Flusstälern des Euphrats und des Tigris (Mesopotamien), des Nils (Ägypten) und des Indus (Indien) zurückgehen. Nichts demonstriert die Nähe unsrer Zivilisationen zueinander besser als die Sprache Urdu. Geboren aus der Kommunikation zwischen Arabern, Persern, Turkvölkern und Indern stellt Urdu die Verkörperung der Begegnung der Zivilisationen des Mittleren Ostens, Persiens und Indiens dar. Vor der Kolonisation unserer Länder, unserer Völker und unseres Denkens durch Europa fanden die großen philosophischen und politischen Debatten und kulturellen Interaktionen der jeweiligen Zeit zwischen den Intellektuellen des Mittleren Ostens, Persiens und Südasiens statt. Das Zusammenfließen griechischen und indischen Denkens an den Ufern des Tigris unter dem Kalifat der Abbasiden im achten und neunten Jahrhundert führte zum Aufblühen von Philosophie und Dichtung und von Wissenschaft und Musik in den Zentren Bagdad, Kufa und Sinjar. Heute sind dies Orte der Zerstörung und beispielloser menschlicher Tragödien. Die emotionalen Bedeutungen dieser Orte, wie sie den Kindern in Südasien durch Geschichten und Märchen wie etwa den Possen des Nasreddin Hodscha oder Rumis Geschichte vom Papageien und dem Kaufmann auf der Reise nach Hindustan vermittelt werden, liefern uns unbewusst Elemente unseres Verständnisses der heutigen geopolitischen Ereignisse der Region. Für viele junge Europäer und Nordamerikaner sind Kufa und Sinjar vielleicht nur die Namen von Orten, von denen sie flüchtig in den Fernsehnachrichten hören, aber in Südasien haben diese Ortsbezeichnungen einen historischen Widerhall. Beim Lesen des Texts habe ich mich gefragt, ob heute Euro-Amerikaner und asiatische Leser aus dem Mittleren Osten nicht vielleicht ganz unterschiedliche Dinge daraus mitnehmen werden.

Der ausgedehnte intellektuelle Austausch, der unsere Vergangenheit im Mittleren Osten und in Südasien bereicherte, wird auf den Müllhaufen der Geschichte verfrachtet, wo man sich, wenn überhaupt, nur in exklusiven, in den Betonkellern weit entfernter Universitäten versteckten Kreisen akademischer Experten an ihn erinnert. Öcalan muss sich, genau wie ich, beim Schreiben über unsere Geschichte und Kultur, unseren Schmerz und unser Leid als Nationen und Völker des begrifflichen Vokabulars von Bookchin und Braudel, von Foucault und Hegel, von Marx und Weber bedienen, um überhaupt mit seinen Adressaten im Mittleren Osten oder in Südasien kommunizieren zu können. Wer würde es verstehen, wenn ich von Schah Waliullahs (1703-1762) Werk über den Aufstieg und Niedergang von Imperien und seine Staatstheorien sprechen würde? Doch andererseits kennen viele gebildete Menschen in Indien, der Türkei und im Mittleren Osten Schah Waliullahs europäische Zeitgenossen Montesquieu oder Vico oder Gibbon, die ebenfalls über den Staat und den Aufstieg und Fall von Imperien geschrieben haben. Wer im Mittleren Osten weiß etwas über die Freiheitskämpfe in Indien und wer in Indien weiß etwas über die Freiheitskämpfe im Mittleren Osten, während in beiden Regionen schon Schulkinder sich ganz gut mit der französischen, russischen und amerikanischen Revolution auskennen? Wer uns kontrolliert, herrscht über uns. Wer über uns herrscht, hat die Kontrolle darüber, was wir wissen, wie wir es wissen, und wie viel wir wissen. Öcalans Thema in dieser Schrift ist die »Mentalität«, die uns, sogar mit unserer Zustimmung, der zerstörerischen Macht des Kapitalismus unterwirft. Diese »Mentalität« macht uns zu Komplizen bei der Zerstörung der Gesellschaft. Dabei ist es Öcalans Ziel, Wege zur Neuschaffung »der Denkmuster« zu finden, die wir brauchen, um das soziale Leben ins Zentrum unserer Überlegungen zu stellen.

Öcalan beginnt diesen Band mit einer Untersuchung des »Selbst«, eine Tradition, die im Osten tiefe Wurzeln hat. Er verortet sich selbst in der langen Geschichte des Mittleren Ostens und seiner Konfrontation mit dem Kapitalismus. Er beendet sein Buch mit dem Versuch, »die Trennung von Subjekt und Objekt zu überwinden, ohne sie zu verleugnen«, eine nicht-dualistische Herangehensweise, die ebenfalls tief in den intellektuellen Traditionen des Ostens verwurzelt ist. Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, besteht in den antagonistischen Beziehungen zwischen Staaten und Gemeinschaften, aber es endet mit einem Aufruf, einen » ›Globale[n] Demokratische[n] Konföderalismus‹ und regionale demokratische Konföderalismen für Asien, Afrika, Europa und Australien« auf die Agenda einer neuen Politik zu setzen. Diese Ideen erinnern an Ubaidullah Sindhis 1922 im Kontext des indischen Freiheitskampfs formulierte Losung einer Konföderation von Nationen in Indien, Asien und auf der ganzen Welt. Dazwischen fasst Öcalan in vier kurzen Kapiteln die vielfältige Geschichte der menschlichen Zivilisation von den ursprünglichen kommunitären Gesellschaften über die Zivilisationen Sumers, Babylons, Ägyptens, Indiens, Chinas, Phöniziens, der Meder, Persiens, Griechenlands, Roms, des Islams und des Christentums bis hin zur modernen Zivilisation zusammen. Was diesen Zivilisationen im Gegensatz zu den ursprünglichen kommunitären Gesellschaften gemeinsam ist, ist der Aufstieg des Staates als repressivem Apparat, der Macht zentralisiert und sich Reichtum aneignet. Öcalan betrachtet die Institution des Staates als den Mühlstein um den Hals der Menschen, der ihre Fähigkeit, als menschliche Wesen zu leben, zermürbt und zunichtemacht.

Die Staaten haben die Menschen schon immer unterdrückt, aber der kapitalistische Staat ist dabei im Hinblick auf die Techniken der Unterdrückung am fortgeschrittensten. Er zerstört auch noch die nackten Bedingungen, die für das Bestehen einer Gesellschaft unentbehrlich sind. Wissenschaft und Technik haben eine außerordentliche Konzentration von Macht über das Leben der Menschen und das Schicksal der Menschheit ermöglicht. Die Menschen haben schon immer gegen staatliche Unterdrückung rebelliert. In der vielfältigen Geschichte ihrer Rebellionen liegen die Geheimnisse des für den Neuaufbau der Gesellschaft notwendigen konstruktiven Wissens und die Möglichkeiten alternativer Formen des Lebens in dieser Welt verborgen. Daher »müssen Widerstand, Rebellion und der Aufbau des Neuen zu unserer Lebensweise werden«, eine Lehre, die die im Westen fälschlich »Mystiker« genannten Dichter-Heiligen des Ostens über die Jahrhunderte hinweg immer wieder gepredigt haben. Es ist sinnlos, nach Macht zu streben, wenn wir doch wissen, dass sie korrumpiert, oder die Staatsmacht zu erobern, wenn wir doch wissen, dass sie bisher noch immer zu Unterdrückung geführt hat. Aber wir haben die Pflicht zu kämpfen, wenn die Mächte des Bestehenden die Bedingungen, die für das Leben notwendig sind, zerstören. Rebellion sollte die Schwester der gleichermaßen wichtigen Pflicht zum Wiederaufbau unserer Lebensbedingungen sein. Dieser Wiederaufbau der Bedingungen menschlichen Lebens ist nur in kommunitären sozialen Ordnungen möglich. Öcalan sorgt sich darüber, dass die Verleugnung des sozialen Lebens das Leben »sinnentleert und zu seiner Zerschlagung und Zerrüttung führt«. Dabei kontrastiert er zwei soziale Ordnungen miteinander, die immer koexistiert haben und von denen er die eine als die staatliche und die andere als die demokratische Zivilisation bezeichnet. Diese beiden Zivilisationen können koexistieren, wenn jede die Identität der anderen anerkennt und respektiert. Für mich als südasiatische Leserin spiegelt Öcalans Auseinandersetzung mit der Macht einen Ansatz wider, der an die Traditionen des Sufismus, der Bhakti, des Sikhismus und des Buddhismus erinnert. Er lässt mich an einen Vers von Hazrat Nizamuddin Auliya von 1325 denken:

Du bist nicht mein Weggefährte

Folge deinem eigenen Pfad

Mögest du wohlhabend sein

Und ich nur ein Knecht

In Anlehnung an die Traditionen östlicher Dichter-Heiliger schreibt Öcalan, dass »militärische Siege meist nicht Freiheit, sondern Sklaverei« bringen. Die Ablehnung von weltlicher Macht und weltlichem Reichtum erfordert einen anderen Typus von Macht (Widerstandsfähigkeit) und Reichtum (menschliche Bande), der es erlaubt, die universalen Sinnzusammenhängen des Lebens und des menschlichen Schicksals zu realisieren. Die Quelle dieses Typs von Macht und Reichtum ist nur in menschlichen Gemeinschaften zu finden. Der Kapitalismus vergiftet die Quellen dieser Art von Macht und Reichtum, die im gesamten Lauf der Geschichte die Widerstandskraft der Gemeinschaften aufrechterhalten hat.

Für Marx war der Ausgangspunkt für seine Analysen des Kapitalismus die Entstehung der Warenproduktion als vorherrschender gesellschaftlicher Produktionsweise. Die von europäischen Kaufleuten und Eliten eingeführte Warenproduktion entwurzelte die bäuerliche Bevölkerung, schuf eine im Sumpf von Armut und der Qualen der Urbanisierung versinkende städtische Arbeiterklasse und war von staatlicher Unterdrückung der Armen und der Desintegration der gesellschaftlichen Ordnung begleitet. Als politischer Exilant aus Preußen suchte Marx die Antworten auf seine Forschungsfragen in der europäischen Sozialgeschichte. Aus dieser zog er den Schluss, dass Klassen und Klassenkämpfe die primären Triebkräfte der Geschichte seien und dass der Staat lediglich »der geschäftsführende Ausschuss der Bourgeoisie« sei. Für Öcalan ist der Ausgangspunkt die Verdrängung und Auflösung kohärenter, historisch gewachsener, besonders bäuerlicher Gemeinschaften, die von den Reichen in West und Ost ihrer Heimatländer und ihrer Identität, Kultur und Geschichte beraubt wurden. Auch Öcalan wendet sich in seiner Suche nach Antworten der Geschichte zu, aber für ihn ist diese Geschichte die größere Geschichte von Imperien, Kolonialismus und Imperialismus. Die Geschichte der Institution des Staates ist engstens mit dem Aufstieg der Imperien verbunden. Die Gemeinschaften gingen den Staaten voraus und tatsächlich waren es ihre Arbeit und ihr natürliches Potential, die die Staaten und Reiche der verschiedenen Zivilisationen überhaupt erst möglich machten.

Öcalans Ansatzpunkt ist das, was die Marxisten der Neuzeit als die »nationale Frage« problematisiert haben, eine Frage, die sich nach dem Tod von Marx im Lauf der russischen Revolution stellte. Konfrontiert mit der äußeren Aggression der Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Österreich) und internen Rebellionen in den russischen Kolonien griff die russische Revolution zu ganz anderen Lösungen als das Osmanische Reich, das sich ebenfalls der äußeren Aggression Großbritanniens, Frankreichs und Italiens und Rebellionen in seinen Kolonien gegenüber sah. Der revolutionäre russische Staat bot seinen Kolonien einen »New Deal« an, das heißt, eine Auflösung der ungleichen Verträge mit dem zaristischen Russland und eine neue verfassungsmäßige Basis für erneuerte Bündnisse der Kolonien mit dem russischen Staat. Im Gegensatz dazu wurden die osmanischen Kolonien in Europa und im Mittleren Osten vom osmanischen Staat abgespalten und mit Gewalt in ein Bündnis mit den Großmächten gezwungen. Aber am Ende unterdrückten beide die bäuerlichen Gemeinschaften und gaben der urbanen Industrialisierung den Vorrang. Der Weltkrieg verwandelte das Problem des Kolonialismus in ein Problem der kulturellen Identität und setzte die »nationale Frage« auf die Agenda der internationalen Politik. Während der gesamten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren nationale Unterdrückung und nationale Konflikte ein Charakteristikum der fälschlich so genannten Nationalstaaten. Der Kampf der Kurden ist eine der Auseinandersetzungen, deren Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg zurückgeht. Diese Konflikte werden oft von den Großmächten manipuliert, deren Macht und Reichtum auf dem Großkapital basieren. Dabei werden Nationalitätenkonflikte in der Regel auf der Basis der Forderung nach einem unabhängigen Staat ausgefochten. Öcalan geht an die alte »nationale Frage« auf eine neue Art heran. Seiner Meinung nach hat die neuere Geschichte gezeigt, dass konkurrierende Ansprüche auf Staatlichkeit nur zur Zerstörung genau der Gemeinschaften geführt haben, in deren Namen diese Kämpfe geführt wurden. Sein Ausgangspunkt ist die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg, als der globale Kapitalismus in »Obermesopotamien, dem fruchtbarsten Landstrich des berühmten fruchtbaren Halbmonds«, der Heimat einer der ältesten, aus Flusstälern hervorgegangenen Zivilisationen und auch die Heimat Öcalans ist, »einen Höhepunkt erreichte«.

In Europa bezeichnen Nationalität und moderne Staatlichkeit ein und dasselbe, was die Rede vom National-Staat erklärt. In den Kolonien waren Nationalität und Staatlichkeit nie gleichbedeutend. Stattdessen nahmen sie ihre Gestalt durch Kolonialkriege und innerimperialistische Rivalitäten an. Moderne politische Ideologien einschließlich des Liberalismus, Marxismus, Sozialismus und Anarchismus tendieren dazu, Nationalität mit essentialistischem Ethnozentrismus oder religiösen Fundamentalismus auf der einen und mit Staatlichkeit auf der anderen Seite in eins zu setzen. Gemeinschaften und Gesellschaft als Ausgangspunkte für ein Verständnis des Kapitalismus veranlassen Öcalan, einen anderen Forschungsweg einzuschlagen. Für Öcalan ist die Triebkraft der Geschichte der Konflikt zwischen einem repressiven Staat, der politische und ökonomische Macht in sich konzentriert, und den Kämpfen der Gemeinschaften um ihr Überleben. Diese Formulierung befreit die »nationale Frage« aus essentialistischen oder etatistischen Interpretationen und stellt sie auf eine neue historische Basis. Der Konflikt zwischen Gemeinschaften und Staaten findet sich in sämtlichen Zivilisationen. Die Geschichte kann nicht auf Klassen und Klassenkämpfe reduziert werden, die lediglich einen Aspekt des Kampfs zwischen Staat und Gemeinschaften darstellen. Die Entstehung der kapitalistischen Ausbeutung und der staatlichen Macht haben in allen menschlichen Zivilisationen tiefe Wurzeln. Wo immer es einen Staat gibt, gibt es auch Geldhändler und Grundeigentümer, die die politische Klasse an der Macht halten. Im Osten wurde die Macht der Kaufleute und Finanziers nie legitimiert. »In der gesamten Geschichte der Zivilisation, insbesondere in mittelöstlichen Gesellschaften, haben diese marginalen Gruppen von Maklern und Wucherern immer existiert. […] Niemand, nicht einmal die despotischste Regierung, wagte es, diese Gruppen zu legitimieren.« Während es wichtig ist, verlorengegangene kulturelle und philosophische Ressourcen aus der intellektuellen Geschichte des Mittleren Ostens wiederzugewinnen, müssen wir gleichzeitig auch erkennen, dass der Orientalismus diese Traditionen verfälscht hat und dass es keine Rückkehr zu einer reinen Vergangenheit geben kann, die es ohnehin nie gab. Der Kampf verschiedener Gemeinschaften um ihr Überleben hat im gegenwärtigen Kapitalismus, der die Grundlagen der Sozialität selbst zerstört, einen kritischen Punkt erreicht. Der Konflikt zwischen mächtigen Staaten und widerständigen Gemeinschaften, ein Konflikt, der sämtliche anderen Konflikte formt und antreibt, hat heute eine ganz neue Dringlichkeit angenommen.

Ginge ich von der Annahme aus, dass Liberalismus, Sozialismus, Marxismus und Anarchismus die einzig möglichen politischen Theorien und dass die griechisch-römischen philosophischen Schulen die einzigen Schulen der Philosophie seien, die uns als Quellen für unser begriffliches Repertoire dienen können, würde ich aus oben Gesagtem zweifellos den Schluss ziehen, dass Öcalan sich gegen den Liberalismus, die Ideologie des Kapitalismus stellt und daher eine Synthese von Marxismus und Anarchismus, den beiden konsistent antiliberalen Ideologien in der Auseinandersetzung mit Kapitalismus und Moderne, anstrebt. Aber Öcalan erlaubt mir, der südasiatischen Frau, keine derart schablonenhafte Schlussfolgerung. In seiner Kritik der westlichen Philosophie schreibt er ganz explizit, »das östliche Denken« scheine »diese Tatsache«, nämlich die Einheit von Körper und Geist, »begriffen zu haben«, was in dem Sprichwort »Was immer existiert, existiert im Menschen« zum Ausdruck komme. Die Grußformel im indischen Alltag, bei der die Grüßenden namasté sagen, drückt genau die Realität aus, auf die Öcalan anspielt. Tatsächlich heißt namasté – gebildet aus den Wortwurzeln des Sanskrit namaha und asté – »Ich grüße (namaha) dieses (asté)«, oder einfacher gesagt, »Ich grüße dieses Universum, das in dir verkörpert ist.« Indem wir einander grüßen, anerkennen wir das Universum, das in jedem von uns existiert. In diesem Beispiel zeigt sich, wie zutiefst philosophische Konzepte unser kulturelles Vokabular durchdringen.

Und wie könnte ich Öcalans Erwähnungen des Martyriums Hussein ibn Alis and Mansur al-Halladschs ignorieren? Wie könnte ich den profunden Einfluss von Denkern wie Shahab al-Din Suhrawardi auf das südasiatische Denken ignorieren? Diese Referenzen auf die Philosophie, Geschichte und Metaphorik des Ostens bedeuten, dass wir, um Öcalans politische Schlussfolgerungen richtig einschätzen zu können, zunächst einmal die philosophische Orientierung des vorliegenden Textes verstehen müssen. In den folgenden Abschnitten versuche ich ganz kurz, zwei der Konzepte zu beleuchten, die für Öcalans Analyse der Moderne, des Staats und der Gemeinschaft zentral sind. Bei dem einen handelt es sich um die Frage von Dualismus und Nicht-Dualismus in der Philosophie und bei dem anderen um den Komplex der ineinander verwobenen Konzepte von Nation und Staat. Ich möchte hier darlegen, dass diese beiden Konzepte, das eine aus der Philosophie und das andere aus dem Bereich der politischen Theorie, in der (hier im weitestmöglichen Sinn verstanden) westlichen und östlichen intellektuellen Tradition immer sehr verschieden verstanden und behandelt worden sind. Ich hoffe, dass mein Versuch, diese Hintergründe explizit zu machen, den Lesern zu einem besseren Verständnis der Argumente Öcalans verhilft. Im vorliegenden Text geht es um philosophische Reflexionen. Wie Öcalan schreibt, »ist Geschichtsschreibung ohne Philosophie unmöglich«.

In seiner Analyse der Gesellschaft verfolgt Marx die Entwicklung aller Arten von Dualismen und Gegensätzen auf die Entstehung des Kapitalismus zurück. In den Grundrissen sagt Marx, in den vorkapitalistischen Gesellschaften hätten sich die Gemeinschaften auf die organische Einheit von Natur und Mensch gegründet. Dann habe der Kapitalismus diese organischen Gemeinschaften gewaltsam auseinandergerissen, indem er die Bande der Menschen mit dem Land und der Natur zerschnitten habe. Die Kommodifizierung habe die Beziehungen der Menschen zur Natur in private Eigentumsverhältnisse und die Beziehungen zwischen den Menschen in Arbeits- und Klassenbeziehungen verwandelt. Die gewaltsame, bei lebendigem Leib vollzogene Abtrennung der Natur vom Menschen durch die Warenproduktion, so Marx, habe alle möglichen Dualismen wie den Dualismus zwischen Natur und Kultur, Kapital und Arbeit, Staat und Bürger, Öffentlichem und Privatem, Wirtschaft und Politik, öffentlichem Recht und Vertragsrecht, Wirtschaftswissenschaft und Ethik und so weiter in die Gesellschaft eingeführt. Öcalan dagegen setzt hier an der »wissenschaftlichen Methode« an, die auf dem Dualismus zwischen Subjekt und Objekt gründet. Dabei wurzeln die Dualismen zwischen Subjekt und Objekt, Körper und Geist, Materiellem und Spirituellem, Körper und Materie bereits in der griechisch-römischen philosophischen Tradition, also lange vor dem Aufstieg des Kapitalismus. Tatsächlich haben die Kategorien und Konzepte der griechisch-römischen intellektuellen Traditionen das konzeptuelle Repertoire für den Kapitalismus und die rechtlichen und ideologischen Ressourcen für die positivistische Wissenschaft geliefert.

Wenn wir uns statt der Soziologie oder der politischen Ökonomie der Philosophie zuwenden, sehen wir, dass der Dualismus die dominante Denkweise in der westlichen Philosophie ist. Bereits bei Thales von Milet (gest. 547 v. Chr.) können wir einen beginnenden Geist-Materie-Dualismus erkennen. Der britische Philosoph Roy Bhaskar hat festgestellt, dass im Westen bestimmte philosophische Probleme schon von Platon an immer wieder auftauchen. Dabei ergeben sich Dualismen aus Antagonismen (These versus Antithese), die ihrerseits weitere Antagonismen produzieren. Daraus folgt ein endloser Kreislauf von These und Antithese, da jede Synthese wieder eine neue These und Antithese und den Konflikt zwischen ihnen hervorbringt. In dieser Art dualistischen Denkens sind die Konflikte dauerhaft und endlos und sind in Wirklichkeit sogar die Triebkraft des Lebens selbst. Die Philosophie der Wissenschaft analysiert die Dualismen, trägt aber nichts dazu bei, sie zu überwinden. Öcalans Kritik der wissenschaftlichen Methode besagt, dass sie auf einen philosophischen Dualismus basiert. So schreibt er: »Die Trennung von Subjekt und Objekt geht bis auf Platon zurück. Die berühmte Dichotomie Platons von der Welt der Ideen und ihrer einfachen Abbilder bildet die Grundlage sämtlicher weiteren ähnlichen Dichotomien.« Der philosophische Dualismus richtet sein Augenmerk auf die Identifizierung von Differenzen, Gegensätzen, Gegenüberstellungen und Handlungen als den Quellen von Konflikten. Philosophie und positivistische Wissenschaft des Westens gehen von der Auffassung aus, dass Kämpfe und Konflikte für Vorankommen, Bewegung, Evolution, Fortschritt und Geschichte notwendig sind. In dieser Tradition haben Tatsachen, empirische Phänomene und die materielle Welt das Primat über Ontologie oder Kosmologie. Die auf »Dichotomie von Subjekt und Objekt« gegründete positivistische Wissenschaft, so Öcalan, bedeutet »die Legitimierung von Sklaverei«.

Im Gegensatz dazu ist in den östlichen intellektuellen Traditionen der Nicht-Dualismus die vorherrschende Denkweise. Konzepte wie Einheit in Vielfalt, Einheit in Dualität und Einssein der Formen des Lebens führten die östlichen Philosophen zur Entdeckung der zugrundeliegenden Einheit, die scheinbar einander entgegengesetzte Phänomene zusammenhält. Konflikte und Kämpfe dürfen nicht verleugnet werden, aber dabei sollte die grundlegende Einheit der Welt ebenfalls anerkannt werden. Ist es nicht ein Wunder, dass die Welt trotz all unserer Differenzen, Konflikte und Antagonismen so lange weiterbestanden hat? Dass das Universum »in Einheit agiert«? Und dass wir trotz aller fünfhundert Jahre währenden »wissenschaftlichen« Bemühungen des Kapitalismus immer noch nicht sagen können, wir hätten die Natur »erobert«? Wenn überhaupt etwas, finden wir jetzt heraus, dass die Natur »zurückschlägt«, um ihre Ansprüche wiederherzustellen, und wir erkennen mehr und mehr, dass die Natur dies mit ökologischer Vehemenz tut. Östliche Philosophen stellten Fragen nach den Kontinuitäten im Leben und dem Wunder der kosmologischen Einheit, die die Grundlage von so viel Vielfalt und Differenz ist. Die Menschen sind einzigartig, weil sie Instinkte, Intelligenz und Intuition besitzen, mit denen sie empirische, rationale und ontologische Realitäten erfassen können. Im Osten drehten sich die Fragen der Philosophie um die ewige Natur des LEBENS, das trotz der Regelmäßigkeit von Tod und Zerstörung weitergeht; der Zusammenhalt von Gesellschaft und Geschichte bleibt ungeachtet der Vielfalt, der Differenz und des Unfriedens im gesellschaftlichen Leben bestehen. Wie Öcalan schreibt, »erscheint als der einzige Zweck des Lebens, das Geheimnis des Universums in der Auflösung dieses Gegensatzpaars [von Leben und Tod] zu finden.«

Die östlichen Philosophen haben die Antworten auf ihre Fragen in der Ontologie und Kosmologie gesucht. Sie haben Wahrnehmung und empirische Phänomene als zweitrangig gegenüber ontologischen Wahrheiten über das LEBEN behandelt, Wahrheiten, die ihrer Auffassung nach ewige waren. Diese philosophischen Ideen führten zur Entstehung einer »nicht-dualistischen« Wissenschaft, die das Angewiesensein des menschlichen Lebens auf die Natur, das Angewiesensein des Lebens des Einzelnen auf das kommunitäre, kollektive Leben und schließlich das innere Leben der Individuen in all seinen ästhetischen, ethischen, emotionalen, psychologischen und spirituellen Aspekten anerkannte. Diese ontologischen Wahrheiten bedeuteten, dass die östliche Wissenschaft die Rolle der Wissenschaft nicht als endlose, für die Eroberung durch den Menschen offene Grenze, sondern als Gabe, als Geschenk der Natur, Gottes oder wessen auch immer betrachtete, das genutzt werden kann, um das Leben zu nähren, und das zwar bereichert werden kann, aber immer auch für künftige Generationen bewahrt werden muss. Das Leben der Einzelnen war flüchtig, während das LEBEN selbst ewig war. Die Individuen waren Treuhänder der Gaben der Natur und die Wissenschaft musste sich bei der Erforschung der Natur über den Platz der Menschen im Universum Rechenschaft ablegen. Da es eine Gabe ist, kann das Geschenk der Natur von niemandem angeeignet und in Privatbesitz genommen werden. So postulieren die ersten Zeilen des Rigveda, »Das Leben lebt vom Leben«, ein tiefes ökologisches Prinzip: Wenn wir wollen, dass das Leben weitergeht, müssen wir dafür sorgen, dass es erhalten bleibt. Der Jainismus hat seit dem siebten Jahrhundert v. Chr. die Methodologie der anekantavada oder die Philosophie der Vielseitigkeit vertreten. Anekantavada fordert uns dazu auf, uns von dualistischen Argumente wie »A hat recht und B hat unrecht« oder umgekehrt abzuwenden und stattdessen zu fragen: »Wenn A recht hat und B ebenfalls recht hat, was am Wesen der Realität lässt dann A sehen, was A sieht und B, was B sieht?« Geist und Materie, Wirtschaftliches und Politisches, materielles und spirituelles Leben sind in den intellektuellen Traditionen des Ostens keine antithetischen Beziehungen. Um zu leben, muss man seinen Lebensunterhalt verdienen, aber um dies auf anständige Art zu tun, ist ein tiefes Engagement des Geistes nötig, genau wie für ein geistiges Leben die Erfüllung biologischer Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Ähnliches) erforderlich ist.

Das nicht-dualistische Denken brachte einen ganz anderen Typ politischer Philosophie hervor. Politik ist ethisches Handeln. Wenn es zu Auseinandersetzungen, Uneinigkeit und Spaltungen kommt, wenn Staaten und Könige tyrannisch werden, wenn die Reproduktion der menschlichen Lebensbedingungen unmöglich wird, müssen die Menschen rebellieren, ja, es ist sogar ihre Pflicht, zu rebellieren. Dabei ist Zweck der Rebellion, die Gesellschaft wieder in ihr Recht einzusetzen und die Bedingungen wiederherzustellen, die für den Weiterbestand des menschlichen Lebens nötig sind. Die Sufi-Pir, die Bhakti-Heiligen und die Sikh-Gurus bestanden alle auf der Einheit des Lebens »in dieser Welt«, die auf Gemeinschaften (der Zivilgesellschaft) und Staaten (der politischen Macht) basiert, und des Lebens »in der anderen Welt«, das sich mit den Zwecken, dem Schicksal und den Lebensumständen des Menschen sowie dem Platz der Menschheit im Universum befasst. Politik als ethisches Handeln muss die beiden Dimensionen des Lebens und des LEBENS, des empirischen Lebens und des kosmischen Lebens hier und jetzt sowohl in dem, was wir tun als auch darin, wie wir es tun, zusammenbringen. Die Gegenwart ist der Ort, an dem die Vergangenheit und die Zukunft miteinander koexistieren.

Der Osten hat nie eine Theorie der »göttlichen Rechte« von Königen als ideologische Rechtfertigung für deren Macht entwickelt. Das erste Prinzip des Islam, »Es gibt keinen Gott außer Allah«, ist eine Versicherung gegen den Despotismus von Königen und unterwirft diese einem höheren Gesetz. Im Lauf der gesamten Geschichte haben Volksrebellionen Könige gestürzt und mächtige Staaten und Imperien in Staub verwandelt. Der Osten entwickelte auch kein Erbrecht wie das der Erstgeburt, das dem ältesten männlichen Nachkommen unter Ausschluss der anderen Söhne und Töchter das Land zuspricht. Der älteste Mann der Familie ist zweifellos privilegiert, aber gleichzeitig hat er auch zusätzliche Pflichten, die von ihm verlangen, treuhänderisch Land für die erweiterte Familie zu verwalten und Verantwortung für die alten, kranken und bedürftigen Verwandten und die arbeitsunfähigen Mitglieder der Gemeinschaft zu übernehmen. Dementsprechend erlangte die Institution des Privateigentums im Osten nie dieselbe historische Stabilität und Kontinuität wie in den europäischen Gesellschaften. Dies eröffnet uns verschiedene Perspektiven auf diese geschichtlichen Abläufe. So könnten wir sagen, dass Macht und Reichtum im Westen zu stabilen Staaten und Reichen sowie landbesitzenden Aristokratien führten, aber dass diese politische Stabilität auf Kosten des inneren Zusammenhalts der Gemeinschaften ging, während der Osten kolonisiert und unterworfen wurde und häufig einen chaotischen Anschein erweckte, aber seine Gemeinschaften inmitten des politischen Chaos stabil blieben. Ihre innere Widerstandskraft fordert bis zum heutigen Tag die Macht von Staaten und Imperien heraus.

Öcalan befürchtet, dass die Ausbreitung der Moderne zur Desintegration von Gesellschaften führt, die bisher widerständig geblieben waren. Die Moderne hat »das gesellschaftliche Leben negiert und sinnentleert«, was »zu seiner Zerschlagung und Zerrüttung führt«. Es ist daher wichtig für uns, orientalistische Herangehensweisen an Kultur und Denken des Mittleren Ostens zu überwinden und stattdessen in ihnen philosophische und konzeptuelle Ressourcen zu entdecken, die wir brauchen, um dem Zerfall von Gesellschaft und Gemeinschaft entgegenzutreten, der die für das menschliche Leben notwendigen Bedingungen zersetzt. Dieser Text versucht als Ganzes, dualistische Ansätze zu überschreiten, indem er sich von oppositionellen Konzeptualisierungen à la Natur versus Mensch (wie in der liberalen Wissenschaft) oder à la Gemeinschaften versus Staat (wie im anarchistischen Denken) oder à la Politik versus Ökonomie (wie im sozialistischen Denken) wegbewegt und sich bemüht, eine Synthese verschiedener Herangehensweisen an die Moderne zu entwerfen, indem er sich einen nicht-dualistischen Blick auf verschiedene, einander entgegengesetzte Ideologien zu eigen macht. Die Leser müssen sich dieser philosophischen Unterschiede erinnern, wenn sie die Einschätzungen Öcalans nicht mit den Vorbehalten und Einschränkungen verschiedener modernistischer Lösungen verwechseln wollen, die von diversen westlichen politischen Theorien für die Probleme der Moderne angeboten werden.

Öcalan greift zur Satire, wenn er schreibt, »Hegel kommentiert dies auf prächtige Weise. Über den Staat in der Person Napoleons sagt er: ›Der Staat ist die göttliche Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.‹ Napoleon hingegen bezeichnet er als ›Gott, der auf Erden wandelt‹. Diese Art, die Dinge zu beschreiben, hat mich verzaubert wie keine andere in meinem Leben und war mir sehr nützlich.« Die Kritik des Nationalstaats zieht sich als ein roter Faden durch diesen Text. Leider bin ich des Türkischen nicht mächtig und muss mich daher auf eine Übersetzung des Texts – und noch dazu eine englische – verlassen. Ungeachtet dieser Beschränkung möchte ich die Aufmerksamkeit der Leser auf zwei Worte lenken, die für Ideen, die für den europäischen National-Staat konstitutiv sind, von zentraler Bedeutung sind. Hegel liefert mehr als jeder andere europäische Philosoph das Bindeglied zwischen den Konzepten von Nation und Staat. Das Wort qawm im Arabischen, Türkischen, Persischen und in Urdu wird oft als »Nation« übersetzt, während das Wort watan als »Heimatland« interpretiert wird. Aber in den Sprachen des Mittleren Ostens und Südasiens haben die Worte qawm und watan nicht denselben begrifflichen Inhalt wie im Englischen.

Die symbiotische Verbindung von Nation und Staat in der europäischen Moderne folgt einem bestimmten Verständnis von Nation und Staatlichkeit. Das Oxford English Dictionary definiert »Heimatland« als das »Geburtsland einer Person oder eines Volkes«. Außerdem charakterisiert dasselbe Wörterbuch »Nation« als eine »Ansammlung von Personen, die durch gemeinsame Abstammung, Geschichte, Kultur oder Sprache miteinander verbunden sind und innerhalb eines bestimmten Staates oder Territoriums leben«. Ein Staat wird definiert als »eine Nation oder ein Territorium, die/das als organisierte politische Gemeinschaft unter einer einheitlichen Regierung betrachtet wird«. Der National-Staat schließlich ist ein »souveräner Staat, in dem die meisten Bürger oder Untertanen auch durch Faktoren miteinander verbunden sind, die eine Nation definieren, wie etwa Sprache oder gemeinsame Abstammung«. Hier muss man darauf hinweisen, dass im Englischen alle vier Worte sich auf das Kriterium des Territoriums beziehen. Diese Definitionen bergen eine historische Sequenz, bei der »Heimatland« eine grundlegende, an die Geburt gebundene Identität mit dem Land und der National-Staat das Zusammenfließen von Familie, Zivilgesellschaft, Staatsbürgerschaft und Staatlichkeit auf dem Gipfel der historischen Entwicklung repräsentiert. Die Idee des National-Staats vereint die Konzepte der historisch gewachsenen Gemeinschaft und der historisch entstandenen Institution des Staates, der ein definiertes Territorium hat. In Europa waren Nationen und Staaten gleichbedeutend und entwickelten sich gemeinsam. Aber der konzeptuelle Inhalt der Worte qawm und watan unterscheidet sich von dieser Konstellation.

Im Osten sind Territorialität und historisch gewachsene Gemeinschaften nicht notwendigerweise gleichbedeutend. So können etwa qawms, das heißt, historisch gewachsene Gemeinschaften vorliegen, ohne dass es ein Territorium dazu gibt. Genauso ist es möglich, dass mehrere qawms zu ein und demselben watan gehören, was einfach bedeutet, dass mehrere historisch gewachsene Gemeinschaften ein gemeinsames Heimatland haben. Diese wichtigen Bedeutungsunterschiede gehen bei der Übersetzung verloren. In der Moderne gab es daher echte Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Konzepten wie qawm und watan in das moderne politische Vokabular des Begriffsgespanns National-Staat. Je nach Wesen und Typ der antikolonialen Nationalismen in verschiedenen Teilen der islamischen Welt wie der arabischen Halbinsel, dem Maghreb, der Türkei, Persien und Südasien entwickelten sich die Fortbildung des Wortes qawm zum heutigen qawmiya, übersetzt als »Nationalismus«, und die von watan zu wataniya, übersetzt als »Patriotismus« oder »Staatbürgerschaft«, auf ganz verschiedene Weise und nahmen in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche Bedeutungen an. In Südasien, einem vielfältigen Kontinent, in dem viele qawms über lange Zeit hinweg einen gemeinsamen watan teilten, forderten die Führer der antikolonialen Ghadar-Bewegung ein radikal anderes Verfassungsmodell für Azad Hindustan (das freie Indien) nach dem Ende des britischen Kolonialismus. Ihre Vision eines freien Hindustans bestand in der Etablierung einer Konföderation von qawms in einem gemeinsamen watan. So riefen sie zur Schaffung einer »Föderation der Republiken Indiens« auf, in der jeder qawm Hindustans Teil einer Föderation sein und Hindustan die Heimat aller sein würde, die dort lebten und es als Heimat betrachteten. Unglücklicherweise behielten die modernistischen Bedeutungen von Nation und Staat die Oberhand und die Kämpfe um die Kontrolle von Nationalstaaten und blutige Spaltungen dauern bis heute an. Die bloße Tatsache, dass gemeinsame Worte mit denselben Bedeutungen im Rahmen der spezifischen Kontexte antikolonialer Bewegungen verschiedene Bedeutungen annahmen, legt eine gewisse Vorsicht im Hinblick darauf nahe, wie Ideen über Nation, National-Staat und Gemeinschaften im Englischen und in den Sprachen des Ostens interpretiert werden. Ebenso sollte sie unsere Aufmerksamkeit dafür schärfen, wie wir Öcalans Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Staat im vorliegenden Text lesen. Wenn wir Gemeinschaft als qawm und den Staat als territoriale Autorität verstehen, werden die Argumente dieses Werks im Hinblick auf die Versöhnung von Staat und Gemeinschaft leichter verständlich.

Angesichts der Bedingungen, unter denen der folgende Text geschrieben und als an den Europäischen Gerichtshof gerichtete »Verteidigungsschrift« herausgeschmuggelt wurde, wäre es unfair, ihn zu lesen, als sei er von einem gelehrten Philosophen verfasst worden, der im komfortablen Ambiente einer Universität schreibt. Aus genau diesem Grund liegt der Wert dieser Schrift in der Tatsache, dass sie von einer Person stammt, die sich in realen Kämpfen in der realen Welt engagiert hat und dies selbst nach siebzehn Jahren Isolationshaft auch weiterhin tut. Es ist erfrischend zu sehen, wie die Philosophie in die Politik zurückkehrt.

Vorwort der englischen Erstausgabe von 2017.

Einführung

Zu den ersten Dingen, die ich bei der Ausarbeitung meiner Stellungnahme gegen das kapitalistische System[1] tun muss, gehört die Befreiung von seinen geistigen Prägungen. Im Islam spricht man zu Beginn jeder Arbeit die Formel bismillah, im Namen Gottes, und auch der Kapitalismus besitzt ähnliche heilige Phrasen. Wenn wir uns also vom Kapitalismus befreien wollen, müssen wir vor allem anderen seine gebetshaften Losungen zurückweisen. Zu den genannten heiligen Phrasen des Kapitalismus gehört zunächst die ›wissenschaftliche Methode‹, die er uns aufnötigt. Diese Methode ist nicht die Ethik oder ›Moral der Freiheit‹, die durch das gesellschaftliche Leben herausdestilliert wurde und ohne die keine menschliche Gesellschaft jemals existieren kann. Ganz im Gegenteil handelt es sich um die Mentalität eines im höchsten Grade versklavten Lebens, welche das gesellschaftliche Leben negiert und sinnentleert und zu seiner Zerschlagung und Zerrüttung führt; es ist die materielle und ideelle Kultur, die diesem Leben zugrunde liegt.

Beim Versuch, mich von diesem Denken und dieser Kultur zu befreien, kann mein Hauptargument nur ich selbst sein. Descartes, der – vielleicht unbewusst – mit seiner Philosophie dem Kapitalismus den Boden bereitete[2], zweifelte an allem. Zuletzt blieb ihm nur er selbst. Hätte er auch an sich selbst zweifeln sollen? Noch wichtiger: wie kam er in diese Lage? Wir können einige Beispiele aus der Geschichte anführen, wo andere Personen etwas Ähnliches durchmachten. Die ersten Beispiele, an die wir uns erinnern sollten, sind die sumerischen Priester, die Gott erschufen, der Prophet Abraham, der an Gott zweifelte – das jüngste Beispiel hierfür ist Mohammed und seine erneute Suche nach Gott –, und die ionischen Skeptiker. In solchen historischen Momenten besitzen sowohl das neue Denken als auch das frühere Denken, welches zurückgewiesen werden muss, die Eigenschaft, die Gesellschaft radikal zu prägen und sie in verschiedene Richtungen zu lenken. Zumindest bieten sie ein fundamentales Paradigma. Der eigentliche Grund für den Zweifel ist die Untauglichkeit des alten, verwurzelten Denkens (oder auch der ideologischen Strukturierung) angesichts des sich abzeichnenden neuen Lebensstils. Die für das neue Leben notwendigen neuen Denkmuster zu entwickeln, ist dagegen äußerst schwierig und erfordert einen radikalen persönlichen Sprung vorwärts. Ob Prophet, Philosoph oder Jäger nach wissenschaftlichen Entdeckungen: Letztlich suchen sie alle aus dem gleichen Bedürfnis heraus Antworten. Wie sollen die neuen Denkmuster, die conditio sine qua non[3] des neuen gesellschaftlichen Lebens, gestaltet werden? Der große Zweifel ist die Besonderheit dieser Zwischenstufe.

Die Lebensläufe von Erasmus von Rotterdam, René Descartes und Baruch de Spinoza an dem Ort, der im siebzehnten Jahrhundert die Wiege des dauerhaften Aufstiegs des Kapitalismus darstellte (ungefähr die heutigen Niederlande), tragen so die Spuren eines historischen Abschnitts.

Meine Kindheit fällt in die 1950er Jahre, in denen der Vorstoß des globalen Kapitalismus einen Höhepunkt erreichte. Der Ort, an dem sie stattfand, ist Obermesopotamien, der fruchtbarste Landstrich des berühmten fruchtbaren Halbmonds, der von den Gebirgen Taurus und Zagros umsäumt wird, wo noch heute tief verwurzelte Denkmuster existieren und die Innovationen der Jungsteinzeit und der städtischen Zivilisation lange Zeit von Bedeutung waren: die Vorgebirge, welche die Entwicklung der Zivilisation beförderten, die prachtvollen Gegenden, wo der Übergang zum Neolithikum stattfand und wo Opfer dargebracht wurden (so in den Kulten der Tempel, deren erste, von zwölftausend Jahre alten steinernen Stelen umgebene, in der Nähe von Urfa gefunden wurden[4]).

Geradezu wie Zeus den Prometheus an den Kaukasus schmiedete, verurteilten mich die Wächter des kapitalistischen Systems konsequent zu einem Leben in völliger Einsamkeit in einem Kerker auf der Insel İmralı. Das macht es für mich unausweichlich, die Systemgegnerschaft in meiner Persönlichkeit zu analysieren. Anders gesagt, wenn wir uns diese geschichtlichen Tatsachen nicht vor Augen führen und von Neuem analysieren, können wir den Sinn nicht erfassen. Wenn ich mich nur auf die Republik Türkei versteifte, handelte ich wenig anderes als der Stier, der beim spanischen Stierkampf stets das rote Tuch angreift. Zweifellos ist hier die Republik Türkei auf einen Stierkämpfer reduziert; das ist die Rolle, die ihr zugewiesen wurde, die sie ständig und gewinnbringend spielen soll. Wir müssen – ich muss – jedoch feststellen, wer dieses brutale Spiel tatsächlich inszeniert und was dies für unser aller Leben bedeutet.

Um nicht in Irrtümer zu verfallen, welche die Gesamtheit der Gesellschaft angehen, sollten wir uns besonders das Beispiel von Karl Marx vor Augen führen. Zweifellos war Marx eine der führenden Persönlichkeiten, die den Kapitalismus analysieren und die Welt von ihm befreien wollten. Doch mittlerweile ist allgemein akzeptiert, dass es den gigantischen Bewegungen für soziale Veränderung, die von ihm inspiriert waren, letztlich nicht gelang, zu etwas anderem als den besten Dienerinnen des Kapitalismus zu werden. In diesem Sinne werde ich natürlich kein simpler Jünger des Marxismus sein.

Ich möchte verständlich machen, warum ich den Versuch einer Definition meiner Identität bei den grundlegenden Parametern beginnen lasse. Welche sind dies? Der Übergang zum Neolithikum, die Überbleibsel neolithischer Mentalität und Lebensgewohnheiten, die Machthierarchien und Staatskulte, die auf der urbanen Zivilisation beruhen, und schließlich die Spiele des Kapitalismus, die mit keiner anderen Ära vergleichbar sind.

Sogar von einer noch tiefer liegenden Schicht muss ich sprechen: Die Besonderheiten, welche die menschliche Spezies ausmachen, ihre Risiken und wie sie das Leben erleichtern.

Beim Schreiben dieser Zeilen bin ich mir bewusst, an welch einem Ort ich innerhalb der Grenzen der Legitimität, die der Kapitalismus zieht, festgehalten werde. In werde nicht leugnen, dass ich innerhalb dieser Grenzen lebe oder zu einem Prometheus gemacht werde. Ich entwickele ein Bewusstsein dafür, welche Kraft und welchen Sinn die Initiativen beinhalten, auf deren Entwicklung ich meine ständigen Bemühungen konzentriere.

Beginnen wir mit bekannten Beispielen, die schriftlich überliefert sind: Mani, der sich gegen die Macht der Sassaniden stellte, der Imam Hussein, Mansur al-Halladsch und Suhrawardi, die gegen die Mächtigen des Islam aufbegehrten, Hunderte Heilige beiderlei Geschlechts in der Tradition Jesu, Opfer der Macht, die in der Tradition Buddhas den Grausamkeiten den Rücken kehrten, diejenigen, die in den Flammen der kirchlichen Inquisition verbrannten, und die Opfer der Gräuel des Kapitalismus bis hin zum Völkermord sind nur die extremen Beispiele. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie auf dem Bewusstsein des Lebens beharrten, dass sie den Vorhang wegschieben wollten, der zwischen ihnen und dem Leben gewebt werden sollte. Das war ihr Verbrechen.

Wenn die Dualität von Leben und Tod in ein schweres Dilemma verwandelt worden ist, so sind die Gründe dafür mit Sicherheit gesellschaftliche. Im Grunde gibt es weder den Tod in dem Sinne, wie er uns präsentiert wird, noch hat das Leben, das stets beworben wird, etwas mit Leben zu tun. Unser Leben tritt uns als Simulation, als mechanische Imitation gegenüber. Um das Leben auch nur ein wenig respektieren zu können, müssen wir uns aus diesem verfluchten Kreislauf befreien.

Ich bin nun beinahe sechzig Jahre alt. Im Grunde habe ich mir die Neugier eines Vorschulkindes auf das Leben bewahrt. Das ist immer noch mein Kriterium. Ich wachse nicht in die Kriterien des Kapitalismus hinein. Innerhalb derer ist das Leben entweder voller Täuschung oder aber völlig unbedeutend. Oder alles zugleich: Simulakrum[5], Täuschung, Betrug, Gewissenlosigkeit, Hässlichkeit, Ignoranz. Und doch müssen wir das Leben höher halten als alle anderen Werte. Wer richtig leben will, steht vor der Aufgabe, das Leben zu verstehen. Verstehen bedeutet zu leben, Leben ist da, um zu verstehen. Ich glaube nicht, dass es daneben noch eine andere zutreffende Interpretation des Kosmos gibt. So schwierig, fast unmöglich die Verwirklichung auch sein mag, ich beharre darauf, dass es der absolute Sinn ist, der das Leben vorwärtstreibt. Keine Kraft kann stärker sein als die Kraft des Sinns. Anders gesagt: jede andere Kraft erweist sich gegenüber der Kraft des Sinns als bloße Täuschung und Inszenierung von Stärke.

Kehren wir zu meiner eigenen Lebenswirklichkeit zurück. Ich wollte ausdrücken, dass diese angeblichen Parameter des Lebens weit davon entfernt sind, meine Neugier auf das Leben zu befriedigen. Vielmehr waren sie die eigentlichen Ursachen, warum ich in tiefen Zweifel verfiel. Ich zweifelte nicht nur an ihnen, sie ekelten mich an.

Wo der Sinn des Lebens nicht mehr verteidigt wird, wo Sinnlosigkeit als Sinn präsentiert wird, dort breitet sich der Krebs unaufhaltsam aus. Der Grund dafür ist definitiv ein gesellschaftlicher. Es gehört zu den simplen Tatsachen der Anthropologie, dass Krebs eine gesellschaftliche Krankheit ist. Wo Sinnlosigkeit regiert oder ein blindes Anhäufen von Materie die Zelle umschließt, dort beginnt der Krebs.

Der Respekt gebietet mir, einige Fragen zu beantworten. In den Tagen, da ich diese Zeilen schreibe, haben die oberste Exekutive der Republik Türkei und die oberste Exekutive des kapitalistischen Systems, die US-Regierung, gemeinsam erklärt: »Die PKK ist der gemeinsame Feind der USA, der Türkei und des Irak.« Dank meiner Lebenserfahrung besitze ich ein tiefes Verständnis für den Sinn von Zeit und Ort meiner Gefangenschaft, wenn ich diese Erklärung höre.

Worauf ich hinauswill ist: Die kapitalistische Lebensweise ist nichts für mich. Selbst wenn ich mich manchmal nach ihr sehne, bin ich mir völlig bewusst, dass mir ein derartiger Lebensstil nicht gelingen kann. Mir ist auch klar, dass ich niemals ein »Ehe-Mann« sein kann, weder im vorkapitalistischen Sinne des Ehemanns noch im kapitalistischen. Aus Sicht des Systems mag ich in einer lächerlichen Situation sein. Aber ich halte das System für furchtbar blutig, repressiv und ausbeuterisch. Die Feststellung, dass ein solches Leben widerlich und ekelerregend ist, gehört als Gegenparameter oder Gegenparadigma notwendig zu meiner Lebensphilosophie. Ich bin sicher, dass ich mich nicht selbst überschätze. Doch dass ich mich als Mensch selbst verteidige, ist sowohl ein Grundmerkmal des Lebens als auch meine Pflicht gegenüber denen, die hohe Ansprüche an das gesellschaftliche Leben stellen. Wenn es mir um ein sinnvolles Dasein als Mitbürger geht – auch wenn ich die von den Mächtigen vorgegebene Bedeutung dieses Wortes ablehne – so betrachte ich es als meine moralische Pflicht, dementsprechend zu leben. Es geht nicht darum, zu leben oder nicht zu leben, sondern richtig zu leben. Selbst wenn uns das richtige Leben nicht gelingen sollte, das Wichtigste ist, sich niemals von dieser Suche abbringen zu lassen und Reisender auf diesem Weg zu sein.

Im kapitalistischen System existiert ein Verrat, der mehr als je zuvor in der Geschichte über die Loslösung von Worten und Taten hinausgeht. In diesem System scheinen die Worte stets dazu zu dienen, die Taten zu dementieren. In der konkreten Knechtschaft des hegemonialen Systems spielt die Tat mehr als je zuvor lediglich die Rolle eines mechanischen Geräts.

Aus vielen historischen Beispielen wissen wir, dass der Versuch, ein Programm und eine Form für ein freies Leben zu entwickeln, auf vielfältige Arten in die Irre geführt werden kann, wenn wir die Natur des Kapitalismus auf der Stufe des globalen Empire nicht analysieren. Jedes zu sprechende Wort, jede zu tuende Tat, anders gesagt: Theorie und Praxis können im Spielfeld des Gegners ihre Rolle nicht selbst festlegen. Wenn wir gegen die Begriffe und die Praxis der kapitalistischen Moderne, deren Hegemonie seit mindestens vierhundert Jahren andauert und deren Kult intensiver betrieben wird als die fanatischste Religion, nicht eine Haltung wie Heilige, Propheten oder Buddhisten entwickeln, werden wir nur stupide Wasser auf die Mühlen des Systems gießen. Viele antikapitalistische Strömungen sind entstanden. Doch es hat sich gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit von ihnen nicht mehr leisten konnte, als Wasser auf die Mühlen des Systems zu gießen.

Ich halte den Kapitalismus auf dem Gipfel der Globalisierung keineswegs für stark. Vielleicht war er sogar noch nie so schwach wie heute. Eigentlich ist er jederzeit naiv und zerbrechlich. Es gelingt der Gesellschaft jedoch nicht, sich gegen ihn auf die richtige Weise zu verteidigen. Es ist mehr als eine Metapher, wenn wir das kapitalistische Hegemoniestreben als ein gesellschaftliches Krebsgeschwür bezeichnen. Doch können wir dies nicht als ein Schicksal wie andere Schicksalsschläge interpretieren. Vielmehr müssen wir den Kapitalismus als das schwächste hegemoniale System betrachten. Notwendig ist dagegen – und sei es nur eine einzige Person – die Gesellschaftlichkeit richtig zu leben. Immer wieder sahen wir in der Geschichte, dass diejenigen, die gegen den »starken Mann« oder den Hegemon kämpften, dieselben Waffen wie er benutzten. Sowohl im Denken als auch im Handeln führt dieselbe Methode zu ähnlichen Ergebnissen. Genau das passiert immer wieder. Im Kampf gegen Rom entstanden mehrere neue Rom. Und schon früher: Der Stadtstaat, dessen Original Uruk war, pflanzt sich immer noch im »neuen Irak« fort[6]. Wenig verändert sich, sehr vieles wiederholt sich.

Auf der anderen Seite dürfen wir die Hegemonie nicht überschätzen. Gesellschaften haben Herrschaft, Ausbeutung und Repression nicht freiwillig angenommen, und sie haben auch nie gedacht, dass sie ohne Herrschaft nicht leben können. Auch von manchen Denkweisen müssen wir uns befreien: »Völlig neue Gesellschaft«, »Abfolge von Gesellschaftsformen, die sich voneinander völlig unterscheiden« – all dies sind gänzlich hohle Begriffe. Gesellschaften entwickeln sich als die Daseinsweise der menschlichen Spezies, und sie ähneln einander.

Blinde Liebe – egal, ob Liebe zur Macht oder sexuelle Liebe – kann zu den beschämendsten Situationen und in die größte Ignoranz führen. Wenn sie jedoch mit Sinn aufgeladen ist, besitzt Liebe den Wert des Nirvana oder fenafillāh[7], des Verschmelzens mit der Wirklichkeit; sie ist anā l-h.aqq[8], sie ist die Durchsetzung der gerechten und freien Gesellschaft, also der Zustand vollständiger Demokratie.

Ich bin sicher, dass ich gut daran getan habe, mich der Dorfgesellschaft nicht zu ergeben. Falsch war, die kapitalistische Moderne für das Licht zu halten. Ein großer Fehler war mein radikaler Bruch mit der Dorfgesellschaft, die ich leider erst spät analysierte, die noch nicht demokratisiert und erst recht weit entfernt von grundlegenden Kategorien wie Nationalstaat und Industrie war. Dies ist ein Grund für meine tiefe Traurigkeit. Mein Vater, den ich selten erwähne, sah in mir nicht nur die Lebensenergie, sondern sagte mir auch eine bittere Wahrheit ins Gesicht: »Bei meinem Tod wirst du keine Träne vergießen.« Er war beinahe so weise wie meine Mutter. Er glaubte an die alte Welt. Er stammte aus der Welt der Werktätigen und war im Grunde ein Demokrat. Ich versuche immer noch zu verstehen, wie die kapitalistische Göttlichkeit auf mich eine derart verfluchte und irreführende Anziehung ausüben konnte.

Karl Marx wollte den Kapitalismus mittels eines eher positivistischen Ansatzes analysieren. Diese Analyse blieb unvollendet. Die Themen Macht und Staat hat er nicht einmal angefasst. Diesen Ansatz fand ich immer zu oberflächlich. Ich begreife das Phänomen der Ausbeutung. Doch erschien sie mir immer wie eine Folge. Etwas vom Ende her anzugehen ist ein Ansatz, der stets mit Mängeln behaftet ist, und bedeutet politisch das vollständige Fehlen von Verteidigung. Marx lebte in revolutionären Zeiten, um ihn herum fanden die Revolutionen von 1848 statt. Er beobachtete genau, wie die Bourgeoisie die Macht eroberte und die Feudalherren sie verloren und sich transformierten. Er interessierte sich brennend für die politische Ökonomie und den Sozialismus.

Das Phänomen der Macht, das die breite arme und werktätige Multitude der Gesellschaft umschlang wie ein Krake und sich reorganisierte, begriff er nicht. Er konnte nicht einmal verhindern, dass seine eigene Systematik ihr letztlich als Instrument diente. Er bemerkte nicht, dass das theoretische und praktische Modell, das er vorschlug, zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Hegemoniestrebens beitrug. Dass China, das jüngste Beispiel für den aus dem Marxismus kommenden Realsozialismus, zur stärksten Stütze des hegemonialen Kapitalismus der USA herabgesunken ist, hängt eng mit diesem blinden Fleck zusammen.

Der wesentliche Grund für die Stärke der kapitalistischen Hegemonie ist der Wettlauf um freiwillige Sklaverei, den sie verursacht hat. Wenn heute der Lohn hoch ist, wird sich dann auch nur ein einziger Arbeiter gegen die Lohnarbeit stellen? Die Lage ist wirklich traurig.

Wenn ich über den Kampf gegen den Kapitalismus nachdenke, fällt mir immer die Beziehung eines Ehepaars ein. Wenn der Ehemann der Ehefrau ein nach den Maßstäben der Umgebung angemessenes Leben bietet, ist es schwer, diese Frau zum Kampf gegen ihren Mann zu bewegen. Genauso schwer ist es, einen Arbeiter, der einen satten Lohn erhält, zum Kampf gegen seinen Herrn, den Kapitalisten, zu bewegen. Der Arbeiter, der für einen Mindestlohn bereits Luftsprünge vor seinem kapitalistischen Herrn vollführt, ist gegenüber den gesellschaftlichen Multituden ein Handlanger der Systematik seines Herrn. Von Befreiung wollen wir erst gar nicht anfangen zu reden. Und wenn die Armee der Arbeitslosen lawinenartig anwächst, dann fühlt sich der Arbeiter mit sicherem Arbeitsplatz genauso sicher wie der staatliche Beamte – vielleicht noch sicherer.

Außerdem: Wo sich die staatliche Bürokratie proletarisiert, gibt es ebenso viel Bürokratisierung in den Reihen des Proletariats. An der Spitze findet eine Art Mischung von bürgerlichem und feudalem Adel statt, an der Basis eine Vermischung von Arbeitern und Beamten.

So, wie ich sie heute analysiere, ist die Stadtgesellschaft, die mich wie ein Magnet von der Dorfgesellschaft wegzog, der eigentliche Ort des gesellschaftlichen Problems. Die Hauptverantwortliche für den inneren Verfall der Gesellschaft genauso wie für den Bruch mit der Natur ist die Stadtgesellschaft und die mit ihr einhergehende Gesellschaftlichkeit. Genauer gesagt: die Gesellschaft der Stadt der staatlichen Klassenzivilisation. Selbst die primitivste Klangesellschaft ist dem Leben gegenüber weniger ignorant als die zivilisierte Gesellschaft der Stadt. Ganz im Gegenteil: Wenn die zivilisierte Stadtgesellschaft auf ihrer kapitalistischen Stufe unaufhörlich Massaker an der Umwelt anrichtet, liegt dies wahrscheinlich an der verinnerlichten systematischen Ignoranz.

Eine Intelligenz, die mit der emotionalen Intelligenz gebrochen hat, und eine Sexualität, die ihren Sinn längst verloren hat, sind die Hauptsymptome der kanzerogenen Wirklichkeit des Kapitalismus. Ob man sich zum Machterhalt auf nuklearen Terror verlässt oder für billige Arbeitskraft eine Überbevölkerung fördert, die die Welt nicht mehr tragen kann – all dies hängt mit der Substanz des Systems zusammen, insbesondere mit seiner Machtformation. Weltkriege, Kolonialkriege und Machtkämpfe, die auf allen Ebenen geführt werden und die Gesellschaft bis in ihre Kapillaren hinein beeinflussen, bedeuten nichts anderes als den Bankrott des Systems.

Liberalismus und Individualismus werden oft als die ideologische Hauptachse des Kapitalismus bezeichnet. Ich behaupte jedoch, dass kein System so sehr wie der Kapitalismus mit seiner ideologischen Hegemonie die Stärke besessen hat, das Individuum gefangen zu halten.

Nun mag man einwenden: »Die Sprache, die du benutzt, ist inhaltlich immer noch nicht weit von der Legitimität des Systems entfernt. Auch du bist ein Produkt des Systems.« Doch der Ort, an dem ich mich befinde, ist der Gegnerschaft zum System würdig. Mir ist tief bewusst, dass ich als Antikapitalist gerichtet werde und als solcher richte. Natürlich reicht dieses Richten weit über die Justiz hinaus. Unzählige Volkskulturen wurden in den letzten vierhundert Jahren in der Mühle der kapitalistischen Hegemonialbestrebungen zermahlen und vernichtet. Meine Geburtsregion ist geradezu ein Friedhof alter Kulturen. Wo immer du gräbst, wird dir eine Kultur entgegenspringen. Die Kurden, zu denen ich mich zählen muss und die sich immer noch nicht ganz begrifflich fassen können, sind wie die stummen Zeugen dieser Friedhofsruhe der Kulturen. Es ist bitter, das selbst die Gräber der Kulturen, die beinahe alle Innovationen der Geschichte geschaffen haben, vor der Auslöschung stehen. Die Gräuel im heutigen Irak sind in gewisser Weise die Rache der Kulturen.

Wir müssen die Kultur des Mittleren Ostens gegen den Kapitalismus verteidigen. Zweifellos können wir diese Aufgabe nicht erfüllen, ohne den Orientalismus zu überwinden. Ein erneuter Islamismus wäre jedoch von Kopf bis Fuß lediglich ein völlig hohles Derivat des Orientalismus. Das bringt uns zur Frage, was denn bleibt, wenn wir den Orientalismus in seiner rechten und seiner linken Interpretation zusammen mit dem Islamismus überwunden haben. Genau hier muss meine eigentliche Verteidigung beginnen. Sonst werde ich nicht über eine Position als Sprecher eines Systems herauskommen, das schon längst aus Erbrochenem besteht. Das wäre keine Verteidigung, sondern ein papageienhaftes Nachplappern.

Der Ort des Sieges des Kapitalismus waren die nordwestlichen Ufer Europas und die Insel Großbritannien. Seit vierhundert Jahren setzt der Kapitalismus seinen Siegeszug auf der Ebene des Weltsystems fort. Ins Straucheln geraten ist er in den alten Kulturzentren des Mittlern Ostens. Eigentlich ist der Kapitalismus selbst das letzte verlorene Kind dieser Kultur, das seine Herkunft verleugnet. Der Konflikt zwischen beiden ist viel tiefer als gemeinhin angenommen. Der gegenwärtige Krieg gleicht einer Neuinszenierung von Alexander der Große gegen Dareios III. mit Amateurschauspielern. George W. Bush gibt den Alexander, Ahmadineschad spielt den Dareios. Der dialektische Widerspruch liegt tief unter der Oberfläche und drückt sich in vielen Formen aus. Der Widerspruch besteht nicht nur zwischen den herrschenden Cliquen. Auch die Gegnerschaft zwischen der Gesellschaft und der Herrschaft ist in umfassender Weise Teil des Geschehens geworden.

Was sich in meiner Person ausdrückt oder was ich zumindest ausdrücken möchte, sind komplette Formen der Gegnerschaft zur Herrschaft. Dass der Kapitalismus überall Profit absaugt, ist nur eine ihrer Formen. Dagegen zu sein, reicht nicht aus, um Sozialist zu sein. Außerdem verspricht das allein auch keineswegs Erfolg. Solange wir nicht alle Formen des Widerstandes und des freien Lebens ineinander verschränkt in Worten und Taten, geradezu wie ein Orchester praktizieren, werden wir nicht weiter kommen als zum Absingen von Liedern wie »Fluch über Akkad« und die »Nippur-Klage«[9].

Was ich durchmache, betrachten meine FreundInnen und GenossInnen als schlimme Tragödie. Jedoch steht fest, dass wir das freie Leben nicht erkannt hätten, wenn diese Tragödie nicht stattgefunden hätte. Wo alles wertlos ist, wie sollten wir uns da einander in die Augen sehen? Als ein Sohn, der nicht einmal um seinen Vater weinen kann, von welcher Würde des Lebens hätte ich sprechen können? Damit kein Missverständnis aufkommt: Im Jahr, als mein Vater starb, hatte ich an den Hängen des Berges Ararat die erste Reise durch Kurdistan mit dem Ideal einer freien Identität begonnen[10]. Es heißt, die Kurden der dortigen Region Serhat sprächen immer noch voll Hochachtung von dieser Rundreise. Unser Aufbruch, mehr ein Marathon als ein Marsch zur Freiheit, dauert nun genau fünfunddreißig Jahre an. Wie wird dieser Marathonlauf enden, bei dem jeder Atemzug, jeder Ort, jede Person, die sich ihm anschließt, als legendär gelten kann?

Selbst wenn ich Armeen wie Alexander besessen hätte und von Sieg zu Sieg geeilt wäre, es wäre sicher kein Sieg der Freiheit gewesen. Ohnehin bringen militärische Siege meist nicht Freiheit, sondern Sklaverei. Nur, wenn wir uns selbst, unsere FreundInnen und GenossInnen verteidigen, können Siege einen Wert besitzen. Mich selbst gegen den Sieg der Macht zu verteidigen halte ich für mindestens ebenso notwendig wie die Verteidigung gegen die Macht. Wenn ich Armeen besessen hätte, wäre es für mich der schwerste Kampf gewesen, mich gegen ihren Sieg zu verteidigen.

In unserer Welt liegt das Leben am Boden. Es hat seinen Sinn vollständig verloren. Es herrschen Lüge, Selbstbetrug und Hässlichkeit, und ein Schweigen über all dies. Wenn ich es seit nunmehr neun Jahren in einer Einzelzelle aushalte, hat das auch damit zu tun, dass es draußen noch schlimmer ist als im Kerker von İmralı.

Meine Verteidigung, deren erster Band sich gegen den Prozess der Zivilisation als Hauptstrom richtete, wird mit der Analyse des kapitalistischen Hegemoniestrebens weiter in die Tiefe gehen. Es gibt eine Reihe von Anzeichen, dass das System an sein Ende gelangt, und wirklich weise Menschen sind derselben Überzeugung. Das eigentliche Problem ist, welche tragfähigen, freiheitlichen, demokratischen und egalitären Auswege aus dem Chaos in der Gesellschaft Fuß fassen werden.

In einer Zeit, da selbst das kapitalistische System versucht, sich vor sich selbst zu retten, ist es verständlich, dass wir beim Aufbau der Gesellschaftlichkeit besonders sorgfältig vorgehen müssen. Die Sozialismen aus zweihundert Jahren wurden vom Kapital assimiliert. Ihre Kämpferinnen und Kämpfer besaßen große Menschheitsideale und verdienen, dass wir ihrem Andenken treu bleiben. Also müssen wir alles dafür tun, verhängnisvolle Fehler zu vermeiden, um nicht ein ähnliches Schicksal heraufzubeschwören. Und mehr als das: wir dürfen nicht so tun, als hätten Sokrates, Buddha und Zarathustra ihr letztes Wort gesprochen und schwiegen nun. Wenn wir die Umsetzung ihrer Ideen nicht für aktuell halten, dann haben wir von der Philosophie der Freiheit nichts verstanden. Wenn wir auf den Schmerz und das Ächzen der Menschheit nicht reagieren, wenn wir den Raubbau an der Natur nicht stoppen, wenn wir keine Antwort auf den Verrat an der Liebe finden – von welchem Leben reden wir dann überhaupt?

Auf die Frage nach der Wissenschaftlichkeit meiner Verteidigung, antworte ich mit der Gegenfrage: welche Wissenschaftlichkeit?