Glück in Salzburg (eBook) - Christine Grän - E-Book

Glück in Salzburg (eBook) E-Book

Christine Grän

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Beschreibung

Ausgerechnet während der Jedermann-Premiere bei den Salzburger Festspielen stirbt Milliardär Hugo Flock. Diagnose: Herzversagen. Seine Begleiterin Romana glaubt aber nicht an eine natürliche Todesursache. Sie denkt, dass ihr Verlobter ermordet wurde, und Verdächtige gibt es so einige: die Noch-Ehefrau, Flocks Bodyguard, seine zahlreichen Geschäftsfeinde und einen Schauspieler der Aufführung. Da passt es gut, dass Romanas Freund Martin Glück vor Ort ist. Der Chefinspektor aus Wien macht sich auf die Spuren von illegalem Medikamentenhandel in ganz großem Stil. Eine aufregende Jagd nach der Wahrheit beginnt. Die Liebe kommt dem Ermittler dazu in die Quere – kann es sein, dass Martin doch Glück bei den Frauen hat? Der neue Band aus der erfolgreichen Martin-Glück-Reihe pünktlich zum 100-Jahre-Jubiläum der Salzburger Festspiele.

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Grän & Mezei

Glück in Salzburg

Kriminalroman

ars vivendi

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juni 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © altmodern / iStock

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

eISBN 978-3-7472-0161-9

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

GLOSSAR

Autorinnen

Kapitel 1

»Dieser Reißverschluss bringt mich noch um!« Hugo Flock stehen die Schweißperlen auf der Stirn.

»So streng dich doch ein bisserl an!«, befiehlt Romana und versucht ihrerseits einen Beitrag zu leisten, indem sie die Luft anhält.

Tapfer müht sich Flock mit dem Zipp Zentimeter um Zentimeter aufwärts. »Du weißt, ich soll mich mit meinem Herzschrittmacher nicht anstrengen.« Er findet, es ist Zeit für eine kleine Pause, und lässt sich erschöpft auf eines der steinhart gepolsterten Sofas im Rokokostil fallen.

»Papperlapapp! Der Professor Pongauer hat gestern erst gesagt, dass der Schrittmacher noch wie ein Glöckerl funktioniert, und die Batterie muss frühestens in einem Jahr getauscht werden. Ein bisserl Anstrengung ist gesund, Hugo. Machst eh sonst keine Bewegung – außer beim Geldzählen.«

Hugo Flock findet den Scherz nicht gelungen. Bewegung hätte in den vergangenen Wochen eher seiner Romana gutgetan. Dann hätt sie vielleicht besser in das Kleid gepasst. »Sag, aus welcher Zeit stammt denn dieser Glitzerfetzen? Als du Größe 34 hattest?«

Romana schweigt beleidigt. Größe 34 hatte sie nie, sie war auch in ihrer Jugend schon der etwas fülligere Typ, mit den Rundungen an den richtigen Stellen. Jetzt sind die Rundungen halt noch runder geworden, na und? Das Kleid war schon beim Kaufen etwas knapp. Aber sie hatte sich in diesen Hauch aus smaragdgrünem Flitter und Pailletten auf den ersten Blick verliebt. Zu ihren roten Locken, den grünen Augen und für die Festspiele genau das Richtige. Außerdem wollte sie sich in das Kleid hineinhungern.

Aber wer kann es einem verdenken, dass man genießt, feiert und zunimmt, wenn die alte Langzeitliebe endlich die Schlampe von Ehefrau zum Teufel jagt und mit ihr, Romana Petuschnigg, ganz offiziell zu den Salzburger Festspielen fährt? Und da sind sie jetzt. In Salzburg, in Hugos Wohnung in der Franz-Josef-Straße. Und bereiten sich auf den Jedermann-Besuch vor. Ein Herzenswunsch von Romana. Flock mag den Jedermann nicht. Zu moralisierend, zu heilig, zu viel vom Sterben eines reichen Mannes. Nichts für einen Milliardär in den Achtzigern.

Tatsächlich freut sich Romana mehr auf den Festspielglanz mit den Reichen, Schönen, Prominenten als auf den Hofmannsthal und seine schwülstige Sprache. Aber das würde sie nie zugeben. Ebenso wenig wie die Sache mit dem Zunehmen.

Kritisch betrachtet sie ihr Bild im zwei Meter hohen, goldgerahmten Spiegel: Knackwurst in grünem Glitzerkondom – die Gedanken sind frei. Wenigstens der Spiegel gefällt ihr. Biedermeier? Barock? So gut kennt sie sich nicht aus. Aber er ist schön, das einzige Stück, das sie in dieser Wohnung mag. Die übrige Einrichtung ist ihr zu museal, formell und ungemütlich, total überladen. Vor allem die Ölschinken an den Wänden. Na ja, falls sie hier vielleicht einmal so was wie die Hausfrau abgeben sollte – wer weiß –, wird sie so manches entrümpeln und das Ganze mit geschmackvollen Mitbringseln von ihren Fernreisen und mit modernen Bildern aufhübschen. Denen von August Glück zum Beispiel. Kurz fällt ihr das schreckliche Bild ein, das Martin Glück für sie gemalt hat. Ihr lieber Freund Martin, der leider das Künstler-Gen seines Vaters August nicht geerbt hat. Das Bild verstaubt vermutlich irgendwo in einem Kammerl ihrer Wörthersee-Pension. Nein, hier passt es auch nicht her. Aber vielleicht wäre es das richtige Abschiedsgeschenk für die zukünftige Ex von Hugo? Ein böses Lächeln umspielt die rot geschminkten Lippen.

»Freust dich schon?« Flock ist kein Gedankenleser. »Also, dann gehen wirʼs wieder an!« Er ist aufgestanden und macht sich abermals an Romanas Reißverschluss zu schaffen. Diesmal mit Erfolg. Der Zipp ist an seinem Ziel. Ob sie mit dem Kleid auch sitzen kann, ist eine andere Frage. »Stehplatz wär für dich heute vielleicht besser als Parkett.«

Romana ignoriert das gutmütig-spöttische Lachen ihres Freundes. Sie frotzeln einander gern, wie es alte, allerbeste Freunde und Liebhaber tun.

***

Eine Stunde später stehen sie auf der Dachterrasse des Hotel Stein und schlürfen Champagner, während sie in der Abendsonne die schier unglaubliche Kulisse der Salzburger Altstadt bewundern. Den Blick über die Salzach, die Dächer der Altstadt, die Domkuppel bis hin zum Mönchsberg und der Festung Hohensalzburg. Die Mozartstadt liegt ihnen zu Füßen, wie sie malerischer nicht sein könnte. Von oben gesehen ist sie fast genauso schön wie ihr geliebter Wörthersee, muss Romana zugeben. »An die Stadt könnt ich mich gewöhnen, Hugo.«

»Wenn’s grad nicht regnet. Wir haben heut echtes Glück mit dem Wetter. Da wirst den Jedermann auf dem Dom­platz erleben und nicht im Festspielhaus. Sag, warum wolltest ausgerechnet den Jedermann sehen?«

Während Flock zwei weitere Gläser Champagner ordert, denkt Romana nach, was sie Gescheites antworten könnte. »Na ja, man liest doch immer so viel darüber. Es ist halt Weltliteratur. Und dann hautnah die Stars erleben. Angeblich ist voriges Jahr der Tod jeden Abend schon im Kostüm mit dem Fahrrad vom Festspielhaus zum Domplatz gefahren. Kannst dir den Anblick vorstellen? Vielleicht macht er das heuer auch wieder. Und wenn dann auf dem Domplatz die Sonne untergeht! Ja und natürlich der Moretti, der am Wörthersee …«

»… nicht in deiner Pension abgestiegen ist?«, sagt Flock spöttisch. »Also wenn du allen Prominenten, die nicht bei dir gewohnt haben, nachjagen willst, dann hast die nächsten Jahre viel zu tun.«

»A geh, ich mein halt, der Moretti ist einfach ein richtig grandioser Schauspieler. Zum Beispiel damals mit dem Rex …«

Jetzt hält sich Hugo demonstrativ die Ohren zu. Er mag sie sehr, seine alt gewordene Jugendliebe, mit all ihren Spinnereien und Fehlern. Aber die Romana und ihr Kulturverständnis? Mit den Festspielen, die für sie natürlich hauptsächlich aus dem Eventcharakter und dem Zusammentreffen mit Prominenten bestehen, hat er ihr wirklich eine Freude gemacht. Seit sie in Salzburg angekommen sind, strahlt sie zufrieden wie eine Katze, die gerade eine Schale Schlagobers verputzt hat. Zeit, ihr noch eine Überraschung zu präsentieren.

»Das mit dem Essengehen nach der Vorstellung wird schwierig, Romana«, fängt er an.

»Warum? Dann ist es eh schon wurscht, ob der Reißverschluss platzt. Ich hab ja eine Stola mit. – Hey, ich seh ja nichts, wenn Sie da vor mir stehen!«, tadelt sie einen Besucher der Steinterrasse, der sich mit Ellbogentechnik vor sie gedrängt hat.

»Is was, Oid…«, weiter kommt er nicht, da pflanzt sich Flocks Leibwächter vor ihm auf. Wolf Tschebull – von Freunden »der böse Wolf« genannt – hat schließlich seinen Dienstherrn und dessen Entourage immer im Blick. Respektvoll weicht der Missetäter zurück.

Flock hat einen kurzen, beunruhigten Blick auf den Mann geworfen, fährt dann aber fort: »Also, das mit dem Essengehen wird deswegen nichts, weil als Förderer der Festspiele bin ich – mit meiner Begleitung – zur Premierenfeier in der Felsenreitschule eingeladen! Na, was sagst? Ist dir doch lieber als das Menü im Goldenen Hirsch, oder?«

»Zur Premierenfeier???!!« Romana jauchzt so laut auf wie sonst nur, wenn sie in ihren Wörthersee springt. Die anderen Gäste drehen sich verwundert nach der Rothaarigen um. »Ja, Hugo!! So a Freud, das kannst dir gar nit vorstellen.« Spontan umarmt sie ihn und drückt ihn, bis ihm die Luft wegbleibt.

»Versprich mir halt, dass du dich ein bissel zurückhältst und den Moretti nicht auf den Rex anredest, wennʼs geht. Aber eigentlich ist das eh wurscht. Vielleicht wärʼs sogar ganz lustig«, sagt Flock, als er sich aus Romanas Armen befreit hat.

Doch Romana denkt in diesem Moment nicht an den berühmten Jedermann-Darsteller, sondern an Iris – Tussi – Flock. Sie stellt sich das Gesicht der Ehefrau Nummer zwei vor, wenn die in der Zeitung das Bild sieht. Wörthersee-Milliardär und Förderer der Festspiele Hugo Flock in Begleitung von Romana Petuschnigg wird darunter stehen. Und die gute Iris wird sich in den frisch aufgepolsterten Hintern beißen wollen. Selber schuld! Einen Hugo Flock betrügt man nicht. Und schon gar nicht mit so einem windigen Möchtegernmimen.

Rechtzeitig, bevor Flock zur noch größeren Überraschung des Abends ansetzt, bringt der Kellner zwei weitere Gläser Champagner.

Flock reicht Romana feierlich eines davon und wird plötzlich ernst: »Übrigens, meine Liebe, ich wollt dich noch was fragen.«

Sie wendet sich von der Märchenkulisse und ihren bösen Gedanken ab, um Hugo zuzuhören. Was kann er von ihr wollen? Dass sie nicht heimlich nach Klessheim ins Casino fährt, musste sie ihm eh schon versprechen.

Sie geht auf ihn zu und legt ihm liebevoll die Hand auf die Schulter. »Na, sag schon, Hugo.«

Er räuspert sich kurz und fährt dann in trockenem Ton fort: »Wir kennen uns jetzt über vierzig Jahre, Romana. Und nun, da ich der Iris draufgekommen bin, und dann noch der arme Christian … also, allein sein ist ja auch nicht das Wahre. Mit einem Wort, ich wollt dich fragen, ob du nach meiner Scheidung die dritte und letzte Frau Flock werden willst.«

Schockstarre. Romana, die gerade einen Schluck aus ihrem Glas nehmen wollte, verschüttet den Champagner und ist – was sie noch nie zuvor in ihrem Leben war – sprachlos. Nach einer Minute entweicht ihr schließlich ein bis zum Mönchsberg hörbares »Oh, holy shit!!«

»Heißt das in der Romana-Sprache ›Ja‹?«

Sie nickt wortlos, fällt ihrem Hugo um den Hals, der plötzlich Romanas Tränen auf seinen Wangen spürt.

»Na, na, meine Liebe, wir werden doch nicht auf unsere alten Tag sentimental werden«, tadelt er und schiebt sie sanft von sich.

Romantik und Sentimentalität hatten nie Platz in seinem Leben. Auch die Beziehung zu Romana war hauptsächlich von Leidenschaft geprägt. Früher. Sie endete irgendwann mit Romanas verzweifelter Drohung, Flock ins Jenseits zu befördern, wenn er sich nicht scheiden ließe. Weder das eine noch das andere trat ein, lediglich eine lange Funkstille. Und jetzt im Alter und eine Ehefrau später haben sie wieder zueinandergefunden. An die Stelle der Leidenschaft ist innige Freundschaft getreten. Warum sich also nicht zusammentun fürs Finale? Die Romana wird ihn in ihrem Alter wohl nicht betrügen, und außerdem bringt sie ihn zum Lachen und ist loyal. Keine schlechte Basis für die letzten Jahre. Sie ist es auch, die ihm Halt gibt in einer Zeit, da er von Iris gehörnt wird und um den verstorbenen Sohn trauert. Vor nichts graut dem alten Mann mehr als vor der Einsamkeit.

»Also gut, dann hätt ma das erledigt«, kehrt Hugo zur gewohnten Sachlichkeit zurück. »Alles Weitere planen wir nach meiner Scheidung. Und sobald wir zurück in Kärnten sind, änder ich mein Testament. Jetzt muss ich dir aber noch was geben, bevor wir zum Domplatz rüberfahren.« Er hält ihr ein kleines, in ein weißes Taschentuch eingewickeltes Etwas hin. Ein Verlobungsring in origineller Verpackung, denkt Romana. Einen Brilli hat sie schon von Hugo, aus alten Tagen. Vielleicht ist es diesmal ein Smaragd? Würde großartig zu ihrem Kleid passen! Romana Flock, lässt sie sich den Namen in Gedanken auf der Zunge zergehen, während sie neugierig das Päckchen entgegennimmt.

Mit gespielter Bescheidenheit wickelt sie es aus und erstarrt ein zweites Mal an diesem Abend: ein Hustenzuckerl!

»Weißt, das gʼhört zur Festspieletikette«, doziert der edle Spender. »Man darf bei der Vorstellung nicht husten, braucht also ein Hustenzuckerl. Aber rascheln mit dem Papier darf man auch nicht. Daher wickelt man es in ein Taschentuch. Das kannst übrigens behalten.«

***

Die letzten Meter bis zum Domplatz müssen sie zu Fuß zurücklegen. Was für ein Gewurl und Geschiebe. Dazu jede Menge Polizei, die den Bereich zu Bühne und Zuschauertribüne abgesperrt hat. Das macht Flock, der ständig Angst vor einer Entführung oder einem Anschlag hat, nervös. Er schickt den Bodyguard voraus, um sich zu erkundigen.

»Nein, keine Terrordrohung«, verkündet der nach seiner Rückkehr. Polizei und Cobra seien neuerdings bei diesen großen Anlässen ganz normal.

Während sie zur Zuschauertribüne gehen, hat Romana ausgiebig Gelegenheit, die Festspielgäste zu beobachten. So viel Tracht auf einem Fleck hat sie schon lang nicht gesehen. Festliche natürlich, mit bodenlangen Dirndlkleidern, Seidenschürzen und kostbar dekorierten Dekolletés. Über jedem Busen glitzern kleine Vermögen. Die Männer in knielangen Lederhosen. Was Romana lächerlich findet. Aber bitte, man ist halt fast am Land. Wer nicht Tracht trägt, kommt im Smoking wie ihr Hugo, und die Damen in fantastischen Abendkreationen, bei denen einem die Luft wegbleibt. Apropos Luft: Ihr Kleid zwickt gehörig, sie findet es aber trotzdem am schönsten von allen. Und bei dem ganzen Promi-Schaulaufen hat sie auch gar keine Muße, an solche Petitessen zu denken.

»Schau, dort ist dieser deutsche Quizmaster, wie heißt er schnell?«, macht sie ihren Begleiter aufmerksam. Von dem kommt nur ein desinteressiertes Grunzen. »Ist das nicht die Merkel? Na, die schaut ja vielleicht aus! Und die Ex vom Mick Jagger mit dem Ropac, dem Galeristen. Hast das Kleid gesehen? Ziemlich gewagt. Aber die kann sichʼs schon noch leisten. Und da drüben …«

»Und hier der berühmte Hugo Flock, der Milliardär vom Wörthersee, mit seiner charmanten Begleitung«, ergänzt Hugo und dreht Romana zu sich. Ja, dass das jetzt so he­rum ist, daran hat sie noch gar nicht gedacht. Dass nicht sie die Leute anschauen muss, sondern die anderen auf Flock und seine Begleiterin starren. Daran muss sie sich erst gewöhnen. Meine Güte, er hat ihr doch wirklich einen Antrag gemacht! Wenn auch mit einem Hustenzuckerl. Was sollʼs? Romana Petuschnigg, zukünftige Flock, ist sicher der glücklichste Mensch in diesem ganzen Festspiel-Luxusauflauf.

Hugo Flock freut sich, dass Romana so begeisterungsfähig ist. Ihm gibt das alles kaum noch was. Grundsätzlich mag er die Festspiele schon, höchste Theater- und Musikqualität auf einem Platz. Gern geht er in die Konzerte, manchmal auch in die Oper. Aber der Jedermann? Das Stück vom Sterben des reichen Mannes? Reich ist er selber, und sterben wird er auch. Wohl eher früher als später. Darauf muss man nicht auch noch so penetrant hingewiesen werden. Dazu all die betuchten Festspielgäste, die sich vom Hofmannsthal die Leviten lesen lassen und dafür auch noch ein Vermögen zahlen. »Ehre sei Gott in der Höhe der Preise«,hat schon Karl Kraus über den Jedermann als Salzburger Kassenmagnet gesagt. Aber auch, dass das Stück ein »aberwitziger Dreck« sei. Schon komisch, dass ein kosmopolitischer jüdischer Autor wie Hofmannsthal ein so bigottes katholisches Volksstück geschrieben hat. Und worum gehtʼs? Geld, Sex, Glaube, Tod. Immer das Gleiche seit neunundneunzig Jahren, und nach zehn Aufführungen, die er schon erlitten hat, wird er die wohl auch noch überstehen. Wer weiß, vielleicht wird es diesmal amüsanter. Die Inszenierung soll ja moderner sein. Partycharakter statt Mysterienspiel. Na ja, er wird eh einschlafen …

Sie sitzen Mitte rechts, dritte Reihe. Gott sei Dank ein Gangsitz für Romana und ihr Unglückskleid, denkt Flock. Kaum haben alle Zuschauer Platz genommen, kommt die Ansage, dass der »Tod« plötzlich erkrankt sei und kurzfristig der Schauspieler Paul Neumann für ihn einspringe.

»Ist das nicht der Liebhaber von deiner Iris?«, zischt ihm Romana zu.

Ja, das wird er wohl sein. Was für eine Ironie! Mit ihm als so viel älterem Ehemann war seine junge Frau dem Tod nur nahe, mit dem Neumann hat sie sich gleich den Tod selber ausgesucht, denkt Flock.

Der Vorhang hebt sich, und da sieht er ihn auch schon, den Neumann-Tod, wie er in düsterem Grau und High Heels über die Bühne stöckelt, »Jeeedermann!!« rufend. Flock hat keine Lust, dem Spiel vom eigenen Untergang zuzuschauen. Flüsternd: »Ich mach jetzt ein Nickerchen, Romana. Weck mich, wenn die Buhlschaft auftritt!«

Romana starrt auf Paul Neumann alias Tod. Den hat sie zuletzt am Stadttheater Klagenfurt gesehen – wie kommt der nach Salzburg? Hat es keinen anderen Ersatz gegeben? Oder hatte da die Noch-Ehefrau vom großen Salzburg-Förderer die Hand im Spiel? Womöglich hat sie dem Peter Lohmeyer was ins Essen gemischt, damit er krank wird und ihr Gschamsterer einspringen darf?! Andererseits müsste Romana ihm dankbar sein. Ohne Paul Neumann würde ihr Hugo nicht in Scheidung leben und hätte ihr heute keinen Heiratsantrag gemacht. Romana nimmt sich vor, dem Tod ausgiebig zu applaudieren.

Ah, jetzt tritt Tobias Moretti auf und streitet sich mit seinem Nachbarn, weil dem die milde Gabe des Jedermann zu wenig ist. Also, da übertreibt der Hofmannsthal schon. Warum soll man als Reicher dem Armen gleich die Hälfte geben? Tja, sie beginnt schon reich zu denken. »Ich find den unverschämt!«, wendet sie sich nach rechts zu Hugo.

»Psst«, kommt es von der Reihe dahinter. »Man versteht eh so schlecht.«

Flock schaut nur kurz auf und nickt wieder ein.

»Was ficht dich an, bist du mir krank?«, fragt die Buhlschaft den armen Moretti.

»Wieso hast mich nicht geweckt?«, meldet sich jetzt Flock von nebenan. »Ich wollte sie mir doch im durchsichtigen Hosenanzug anschauen.« Hat sie ganz vergessen in der Aufregung. Ja, der erste Auftritt der Buhlschaft in diesem Outfit, das war schon was. Inzwischen trägt sie für die Tischgesellschaft ein rotes Kleid. Auch nicht unsexy. Hugo betrachtet eine Weile das Geschehen auf der Bühne und rutscht dann wieder in seinen Sitz und schließt die Augen.

Romana ist fasziniert von den berühmten Schauspielern und beachtet ihren Hugo erst wieder, als er ausgerechnet in der Szene mit der großartigen Mavie Hörbiger einen lauten Schnarcher von sich gibt. Sie schubst ihn mit dem Ellbogen, worauf er sie unwillig anblinzelt und gleich wieder einnickt.

Was ist denn das?, denkt Romana eine halbe Stunde später. Die Bühne kippt langsam nach vorn, und die Gläser auf dem Tisch wackeln bedenklich. Die Bühne neigt sich immer steiler, und jetzt rutschen auch schon die Darsteller dem Publikum entgegen. Und als der Tod den Jedermann abholt, bewegt sich der ganze Tisch abwärts, um dann in tausend Teile zu zerspringen. Ein Spektakel, das einem Angst machen könnte. In dem Moment ist sie froh, dass sie nicht in der ersten Reihe sitzen.

Im tosenden Applaus stupst sie Hugo an. Na, der hat vielleicht einen gesunden Schlaf! Bei dem Lärm … Wenigstens mitklatschen könnte er, aus Höflichkeit. »Hugo, komm, aufwachen, es ist aus.«

Da rutscht Hugo Flock von seinem Sitz auf den Boden, wo er regungslos liegen bleibt. Romanas gellende Schreie gehen im Applaus unter.

Kapitel 2

Als ob die Toten nicht warten könnten! Für Thomas Kranzler ist jeder Kunde, der kurz vor seiner Mittagspause anruft, ein Ungustl. Es ist vier Minuten vor zwölf, und das Telefon klingelt. Er starrt es an, doch es lässt sich nicht hypnotisieren. Läutet und läutet, bis er seufzend den Hörer abnimmt: »Zum ewigen Frieden. Sie haben genau drei Minuten, dann ist hier Schluss.«

»Glück«, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Der Glück von ›Leib und Leben‹?Der seinem Chef einen rechten Haken verpasst hat und danach in die Provinz verbannt worden ist?«

Martin schaut auf seine Uhr. Er hat noch zwei Minuten. Doch der Doktor ist nicht nur ein Witzbold, sondern auch ein guter Pathologe, und prinzipiell mögen sie einander. Also hat er eine kleine Chance, dass Kranzler nicht einhängt. »Genau der, und ich hab meine Strafe verbüßt und bin wieder in Wien. In Amt und Würden. Freut mich, wenn wir uns wieder zwanglos über Leichen treffen. Weshalb ich anrufe: Die beiden Muskelmänner, die abbankelten … hattest du die schon unterm Messer?«

Die Uhr zeigt zwölf. Kranzler seufzt und greift mit der Linken nach einer Zigarette. Er raucht nicht mehr, doch es beruhigt ihn, wenn er sie in der Hand hält. »Nur weil du es bist, und dafür schuldest du mir ein Bier. Mindestens. Ich hab den Obduktionsbericht noch nicht geschrieben, aber die Substanz untersucht, an der sie letztlich gestorben sind – der eine an Nierenversagen, der andere an Herzkasperl. Beides sind mögliche Nebenwirkungen von anabolen Steroiden, du weißt schon, das Zeug, von dem man Muckis kriegt. Und davon hatten die beiden reichlich, richtige Sixpacks und Oberarme wie Rambo zu seinen besten Zeiten.«

»Und das hat dich auf die Idee gebracht?«

Kranzler sieht hinunter zu seinem Sixpack, der eher einem Bierfassl gleicht. Aber immerhin lebendig. »Na sicher, die beiden waren noch keine dreißig, da stirbt man nicht so ohne Weiteres. Außerdem ist dieses Scheißzeug weitverbreitet, nicht nur in der Viehzucht, sondern auch in Sport und Spiel. Es gibt ganze Cocktails von Steroiden, und manche sind schwer bis gar nicht nachzuweisen, siehe Spitzensport. In den vorliegenden Fällen war es aber Testosteron Enanthat, eher was Simples und relativ leicht zu finden. Man misst das Verhältnis verschiedener Kohlenstoffmoleküle und kann dadurch körpereigene von körperfremden Steroiden unterscheiden. Überdosis – bei beiden. Entweder waren die so blöd, viel zu viel einzuwerfen, oder die Tabletten waren zu hoch dosiert. Die Frage lässt sich final erst beantworten, wenn du das Zeug findest.«

»Ich krieg bestimmt einen Durchsuchungsbeschluss«, sagt Martin, »sobald du mir den Obduktionsbericht mailst. So schnell wie möglich.«

»Das kostet noch ein Bier. Mindestens.« Kranzler ist aufgestanden. »Ich muss jetzt los zu meinem Essen. Und wenn du einen Tipp willst: Der Scheiß kommt überwiegend aus China oder Indien, und verscherbelt wird er via Schwarzmarkt oder Darknet. Aber was red ich, das ist ja dein Problem. Glückwunsch übrigens, dass du wieder in Gnade gefallen bist. Man sieht sich …«

Er hat aufgehängt. Martin legt den Hörer zurück und schaut hinaus auf den sommerlichen Himmel, strahlend blau an diesem Tag, mit ein paar Schäfchenwolken. Er freut sich, sein altes Büro zurückzuhaben und wieder in seinem Luxusschrebergartenhaus am Küniglberg zu wohnen. Der Besitzer will erst in einem Jahr nach Wien kommen, bis dahin muss Martin sich eine neue Bleibe suchen. Am liebsten hätte er was mit Grün, Gärtnern ist ein schöner Ausgleich zum Schreibtischjob. Und er läuft lieber durch Parks als in der lauten Innenstadt. Seit April alles wachsen und blühen zu sehen, stimmt ihn heiter bis beinah zufrieden.

Schön wärʼs noch, denkt er, wenn er jetzt zum Kollegen Fassl gehen könnte, um mit ihm über die Anabolikafälle zu reden. Die zwei Toten, die in einem Fitnessstudio im 9. Bezirk eingeschrieben waren, die einzige Gemeinsamkeit, die er bisher feststellen konnte. Drei Monate ist es jetzt her, dass Franz Fassbinder, alias Fassl, sich auf eine Stelle in Salzburg beworben hatte und prompt versetzt wurde. Und Martin vermisst ihn, weil Franz der Einzige im Präsidium war, mit dem er wirklich reden konnte. Und lachen. Über die Arbeit. Frauen. Politik. Das Leben im Allgemeinen und im Besonderen. Franz, der immer gut drauf war, selbst als er mit eiserner Disziplin zehn Kilo abnahm. Fitness plus Diät, und der Grund war ein schönes Mädchen, das sich auf Franz einließ und ihn dann verließ, als er für sie erschlankt war. Er sei einfach zu nett, das waren ihre Abschiedsworte. Wie können Frauen so was nur denken, geschweige denn sagen?

Ich steh auf nette Frauen, überlegt Martin, während er aufräumt, das gekippte Fenster zumacht, seine Waffe im Schreibtisch einschließt. Doch er hat keine mehr getroffen, seit er wieder in Wien ist. Gigi aus Graz war die letzte Liebe, vielmehr eine Liebelei, mehr wollten sie ja nicht voneinander. Und Lily, mit der es ernst hätte werden können, verschwand zu ihrem Ex-Mann, dem Vater ihrer Tochter, nach Italien. Sie wollte es noch einmal versuchen, und irgendwie wünscht er ihr auch, dass es gut geht, obwohl es verdammt wehgetan hat damals. So viel Schmerz liegt in der Liebe. Vielleicht ganz gut, dass er eine Pause einlegt. Seine Fälle löst, den Garten bearbeitet, den Küniglberg rauf- und runterläuft, mit Bekannten was essen oder trinken geht, ab und zu in ein Jazzlokal oder ins Kino. Und natürlich seine Saxofonstunden nimmt. Kein aufregendes, aber ein angenehmes Leben, damit könnt er sich arrangieren. Doch der Franz fehlt ihm, und während er zur Tram geht, um in den 9. Bezirk zu kommen, fällt ihm ein, dass er den Fassl ja besuchen könnte. Eine Woche Salzburg, zuletzt war er als Kind da, und er erinnert sich vor allem an den Zwergerlgarten, die grotesken Marmorfiguren im Schlosspark Mirabell. Damals war Salzburg noch keine Event-Stadt, die von Touristenhorden heimgesucht wird. Und natürlich war Martin noch nie bei den Salzburger Festspielen, Pfingsten, Ostern oder Sommer. Jazz mag er schon, doch zu klassischer Musik fühlt er sich einfach nicht hingezogen. Der Vater war nur der Malerei verbunden, und die Mutter früher mehr der Operetten- und Schlagertyp. Doch nach dem Tod des Vaters hat sich Lotte neu erfunden. Hat das Alte abgestreift und sich in unbekannte Abenteuer gestürzt. Jetzt wohnt sie in einer Wohngemeinschaft, hängt den halben Tag am Computer, hört Musik aus den Siebzigern und trägt Hippiegewänder, die an einer Fünfundsiebzigjährigen ganz schön retro ausschauen. Lotte kifft auch gelegentlich und ist angeblich Vegetarierin geworden – mit regelmäßigen Rückfällen, wenn sie an einem erstklassigen Würstelstand nicht vorbeigehen kann. Na Hauptsach, sie ist glücklich, denkt Martin, inzwischen in der Tram, die in Wien auch Bim heißt.

Das Fitnessstudio, dessen Mitgliedsausweise in den Portemonnaies der Toten waren, liegt im 9. Bezirk, der inzwischen ein Szeneviertel ist, erkennbar an den vielen kleinen Läden und Restaurants und Bars und alten Häusern, die renoviert und ausgebaut wurden. Die Stadt verändert sich jeden Tag, und immer wieder wundert er sich, wie Wien es schafft, seinen Mythos als lebenswerteste Stadt der Welt zu bewahren. Grad weil man nirgendwo einen Parkplatz bekommt, der Verkehr in jedem Jahr grauslicher wird und Horden von Touristen die Innenstadt zertrampeln.

Das Servitenviertel ist – noch – weitgehend verschont von Wien-Reisenden, und in einer kleinen Querstraße der Servitengasse findet Martin das Studio in einem alten Lagerhaus, das frisch gestrichen wurde, eidottergelb. »Your Workout« steht auf einem blauen Schild in gelber Schrift. Alles sieht neu aus, wie geschaffen für die Hippster, die da kommen werden. Er geht durch die Drehtür und wird von einem jungen Mann gestoppt, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem jungen Arnold Schwarzenegger aufweist.

»Suchst du was, kann ich helfen?«

So, wie er sich vor Martin aufgebaut hat, scheint ein Durchkommen ohne Antwort unmöglich. »Sicher, ich such den Besitzer oder Geschäftsführer … Wer grad da ist …«

Der Möchtegern-Arnie lächelt immer noch freundlich. »Na, da hast du Glück, er steht vor dir: Andy Hubmann, Manager … Willst Mitglied werden?«

Du könntest schon mehr Muskeln vertragen, sagt sein Blick, doch Martin ist nicht dieser Meinung. Ein Muskelprotz wollte er nie sein. Na ja, vielleicht signifikantere Bauchmuskeln …

Er zückt seinen Polizeiausweis, und das Lächeln verschwindet aus Andys Gesicht, weicht einem Ausdruck zwischen Angst und Aggression.

»Können wir irgendwo in Ruhe reden?«, fragt Martin.

Andy weist schweigend auf eine Tür, auf der in großen Lettern »Management« geschrieben ist. Martin folgt ihm. Hinter der Tür findet sich ein fensterloses Zimmer im Kleinformat. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein schmaler Aktenschrank. Computer, Drucker, Telefon. Auffallend ist eine Blumenvase mit roten Rosen, sie sind schon ein wenig verwelkt. Andy ist Martins Blick gefolgt: »Die sind von meiner Freundin, ich hatte vor drei Tagen Geburtstag. Ist alles noch provisorisch hier, wir haben erst seit vier Monaten auf.« Er wechselt vom Du zum Sie: »Was führt Sie her, Herr Kommissar?«

»Chefinspektor«, sagt Martin, »aber das ist nicht so wichtig. Ich komme wegen einem Ihrer Kunden: Matthias Gruber. Er liegt im Krankenhaus. Nierenversagen. Dieser Matthias erzählte dem behandelnden Arzt, dass er Testosteron Enanthat geschluckt hat seit vier Wochen. Und dass er die Anabolika bei Ihnen gekauft hat, Herr Hubmann. Das sind illegale Substanzen, die dem Arzneimittelgesetz unterliegen. Aber das wissen Sie sicher.«

»Der lügt doch«, sagt Hubmann.

Alle lügen, denkt Martin. Ich hab jetzt auch gelogen, aber es dient einem guten Zweck – der Wahrheit. »Wenn man so kurz davor ist, a Bankerl zu reißn, Herr Hubmann, dann lügt man nicht mehr. Also: Woher haben Sie die Anabolika, und wer von Ihren Kunden hat sie von Ihnen bezogen? Um eine Anzeige werden Sie nicht herumkommen, aber wenn Sie hier und jetzt ein Geständnis ablegen, wird sich das sicher sehr günstig auswirken.«

Sein Gegenüber hat den Kopf in die Hände gestützt. Er hat einen Stiernacken, denkt Martin, wahrscheinlich nimmt er das Zeug selber. »Wenn ich jetzt mein Studio verliere … Mein ganzes Geld steckt da drin.«

Jetzt tut er ihm fast schon leid. Martins Stimme kann sehr sanft werden. »Wahrscheinlich gibtʼs ja nur ein Bußgeld … und es geht doch darum, Schlimmeres zu verhüten. Was, wenn einer stirbt? Womöglich sind die Tabletten überdosiert oder verunreinigt oder was weiß ich … Wollen S’ vielleicht eine Anklage wegen Totschlags riskieren?«

***

Jeder gute Anwalt wird das Geständnis in der Luft zerreißen, das weiß Martin auch. Doch seine Notlüge hat Andy Hubmann immerhin dazu gebracht, ihm eine Briefkastenadresse in Salzburg zu verraten, bei der er die Anabolika bestellt hat. Den Tipp hatte er angeblich von einem Kollegen, einem Ukrainer, der inzwischen zurück in die Heimat gegangen ist. Hubmann hat ihm auch eine Liste seiner Anabolikakunden im Fitnessclub gegeben, vierzehn sind es, zwei davon sind jetzt tot, aber das hat ihm Martin erst ganz am Schluss ihres Gesprächs verraten.

Hubmanns Reaktion kam überraschend: Er fing an zu weinen, lautlos, ein kleiner Junge mit großen Muskeln, der sich schämt und nicht mehr weiterweiß. Und da hat Martin ihn tatsächlich getröstet und gemeint, ein guter Anwalt würde ihn sicher raushauen, denn die kleinen Fische ließe man oft schwimmen, um an die großen Haie zu kommen. Und dann ging er, nach einem letzten Blick auf das Studio, in dem ein paar junge Männer an Maschinen ihre Körper formten, und Martin dachte ketzerisch, dass die Welt vielleicht ein besserer Ort wäre, wenn so viel Zeit, Energie und Geld aufs Hirntraining verwendet würde.

Er weiß, dass der Handel mit Steroiden inzwischen ein Milliardengeschäft ist, der große Schmäh von Kraft und Leistung und schnellen Erfolgen. Erst im März wurden am Wiener Flughafen 423 Kilo verschiedenster Anabolika beschlagnahmt, das Zeug wird tonnenweise kreuz und quer durch Europa geschmuggelt, der Zoll kommt gar nicht hinterher. Zollfahnder ist ein Job, der ihn auch mal gereizt hat, man kommt viel rum …

Das Beisl in der Servitengasse ist bummvoll, doch die Wirtin schenkt ihm ein Lächeln und ein Ottakringer Helles ein, das er an der Theke trinkt. Es herrscht gute Stimmung, eine fröhliche Geräuschkulisse, vorwiegend im Wiener Slang, und Martin prostet sich selber zu und beglückwünscht sich, dass er nicht mehr willkürlich von einem Bundesland ins andere versetzt wird, sondern wieder in seiner Heimatstadt arbeiten darf. Andererseits wär die Briefkastenadresse in Salzburg doch ein guter Grund, endlich den Fassl heimzusuchen, den wird er von zu Hause anrufen und fragen, ob er bei ihm unterkommen kann. Weil, wie selbst der Kulturtrottel weiß, die Festspiele angefangen haben, und das ist die Zeit, in der es kein einziges freies Bett mehr gibt in Salzburg und Umgebung. Die Mozartstadt im Jedermann-Rausch. Fassl aber wohnt in Maxglan, einem Bezirk, in den sich Touristen fast nie verirren.

***

Er ruft den Franz an, bevor er zum Maturatreffen fährt, vor Wochen schon hat er sein Kommen zugesagt und bereut es jetzt, weil er gar keine Lust hat, auf einen Haufen Sechsundvierzigjähriger in der Midlifekrise zu treffen. Fassl ist sofort am Telefon und freut sich riesig über den Blitzbesuch. Na sicher könne er bei ihm wohnen, er habe ein sehr bequemes Ausziehbett im Wohnzimmer, an Hotels oder Pensionen brauche er gar nicht erst zu denken. Er erwarte Martin, sie könnten ja in sein Stammbeisl gehen, gleich ums Eck von der Mühlbachgasse. Geiles Gulasch gäb es dort und …

Martin beendet das Gespräch mit einem »Ich freu mich – und bis morgen dann«, steht eine Weile unentschlossen vor dem Kleiderschrank und wählt schließlich Jeans, ein weißes Hemd und ein schwarzes Jackett. Überlegt, ob er das Auto nehmen soll, und entscheidet sich dafür. Er wird halt nur ein Glas trinken und sich früh verabschieden. Und sollte es wider Erwarten lustig werden, lässt er den Wagen eben stehen. Besoffen fahren – das waren Jugendsünden, über die ist er schon lange hinweg.

Martin verabschiedet sich von dem wunderbaren Parkplatz in der Straße direkt neben der Siedlung und fährt in Richtung 7. Bezirk zum Hotel am Brillantengrund, wo Rüdiger Stein das Maturatreffen organisiert hat. Typisch Rüdiger, denkt Martin, während er im Samstagabendverkehr Runden dreht, weil er natürlich keinen Platz findet um die Zeit. Das Parkhaus ist besetzt, und er verflucht seine Entscheidung für das Auto. Das Handy klingelt, und am Display taucht Romanas Nummer auf. Martin drückt sie weg. Keine Zeit jetzt, Wörthersee-Klatsch zu hören und Neuigkeiten über Alex, den Hund. Während der Nebensaison war nicht viel los am See, und Romana fadisierte sich, was zu vermehrten Anrufen führte. Er flucht, als ihm ein Porschefahrer einen freien Platz vor der Nase wegschnappt, weil er einfach schneller war als das alte Käfer-Cabrio.

Die Wut sofort in ein Lächeln verwandeln, sagt Martins Therapeutin. Diese Wut, die ihn beinah seinen Job gekostet hat. Jetzt grinst er grimassenhaft, sieht sich im Rückspiegel an und muss darüber lachen … Und dann sieht er einen freien Platz fast vor dem Hotel und parkt ein. Dieses Glücksgefühl … Es ist verschwunden, sobald er ausgestiegen ist, aber immerhin …

Um die fünfundzwanzig Ehemalige sind gekommen und stehen im Gastraum mit Sekt- oder Weingläsern herum. Jede und jeder trägt ein Namensschild, falls am Äußeren nicht mehr zu erkennen. Martin hat seines in die Jacketttasche gesteckt. Vielleicht will er gar nicht identifiziert werden. Die Schule empfand er als Vorstufe zum Gefängnis, und ein paar seiner Lehrer beherrschten die Folter des Geistes. Sein bester Freund, vielleicht sein einziger in der Schulzeit, starb bei einem Motorradunfall, als er achtzehn war.

Eine hübsche Kellnerin hält ihm ein Tablett vor die Nase, er nimmt ein Glas Weißwein, schaut sich um und erkennt ein paar Gesichter. Komisch, dass einige Leute graziös altern und andere einfach nur schiach werden. Vor achtundzwanzig Jahren haben sie nach bestandener Matura leichten Herzens voneinander Abschied genommen und sind in die Welt gezogen. So viele Pläne gab es und kaum Zweifel daran, dass das Leben für jeden ein Quantum Glück bereithält. Martin lächelt einer hübschen Brünetten zu, an deren Namen er sich nur vage erinnert, Marion oder Maria oder Marianne, so was in der Art, und beim Maturaball haben sie in irgendeiner Ecke rumgebusselt, aber die Geschichte nicht zu Ende gebracht. Kondomvergesslichkeit. Und jetzt kommt ein kleiner Mann mit Nickelbrille und Pferdeschwanz auf ihn zugestürzt …

»Mensch Martin, schön, dass du mal wieder dabei bist. Gut schaust du aus, die Ehefrau wollte nicht mit …?«

»Geschieden«, sagt Martin und lässt die kurze Umarmung über sich ergehen, ohne sie zu erwidern. Er hat Rüdiger schon in der Schule nicht besonders leiden können. Der war immer schon ein Angeber und Gschaftlhuber, mischte sich in alles ein und verpetzte Mitschüler im Zweifelsfall bei den Lehrern.

»So ein Kommissar ist halt dauernd auf Verbrecherjagd, damit unsereins gut schlafen kann«, sagt Rüdiger mit einem Augenzwinkern.

Er trägt einen weißen Leinenanzug, kunstvoll zerknittert, und ein schwarzes Hemd, das zwei Knöpfe zu weit offen ist. Martin findet, dass Rüdiger bescheuert aussieht. »Chefinspektor, nicht Kommissar. Und was machst du so? Schon den Pulitzerpreis gewonnen?«

Das gequälte Lächeln seines Gegenübers erfreut Martins Herz. »Noch nicht, mein Lieber, aber was nicht ist, kann ja noch werden. Nein, ich habe mir meine journalistische Freiheit bewahrt, indem ich eben nicht für eine Publikation arbeite, sondern als Freier für alle Medien – Presse, Standard, News, auch ein paar wichtige deutsche Publikationen sind dabei. Ich kann wirklich nicht klagen, man rennt mir die Tür ein.«

»Das freut mich«, lügt Martin und möchte gerne weitergehen zu der Brünetten, die wirklich gut küsste – falls ihm nicht seine Erinnerung einen Streich spielt. Als er sich in Bewegung setzt, hält Rüdiger ihn am Arm fest. »Du, ich bin da an einer Story dran, die könnte dich auch interessieren.«

Nein, denkt Martin, doch der Druck auf seinen Arm hat sich verstärkt. Rüdigers rundes Gesicht glüht vor Aufregung: »Ich habe einen Insider-Tipp von ganz oben bekommen – Quelle darf ich natürlich nicht verraten –, dass es Leute gibt, die bei uns Medikamente aufkaufen und in Länder exportieren, in denen die Preise sehr viel höher liegen. Mit gewaltigen Gewinnspannen.«

Martin schüttelt den Griff ab. »Interessant. Aber meines Wissens ist das nicht strafbar. Bloß geschäftstüchtig.«

Rüdigers Gesicht offenbart keinerlei Selbstzweifel. »Na, vielleicht doch, wenn dadurch die Medikamente in Österreich knapp werden, verstehst du … Wusstest du, dass in Österreich bei mehreren Hundert Medikamenten Engpässe herrschen? Darunter auch lebenswichtige Pharmazeutika! Vielleicht ist das kein Verbrechen, aber zumindest ein Riesenskandal. Und ich werde ihn aufdecken! De omni re scibili et quibusdam aliis.«

Der Rüdiger und sein großes Latinum! »Na, dann wünsch ich dir viel Glück dabei«, sagt Martin und entzieht ihm seinen Arm, um in einer blitzschnellen Kehrtwende das Weite zu suchen.

»Der Martin war immer schon so was von uncharmant«, wird Rüdiger zu seiner nächsten Gesprächspartnerin sagen. Sie wird ihm zustimmen, aber nur, weil sie in der Maturaklasse in Martin verliebt war und keinen Stich bei ihm kriegte. »Ein Zornpinkel war er auch«, wird über ihn getratscht. Sowohl bei Mitschülern wie auch bei Lehrern konnte er ganz schön ausfallend werden, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Und es gab diverse Raufereien auf dem Schulhof, von denen er manche gewann und andere verlor, weil er auch vor Mutproben mit Stärkeren nicht zurückschreckte. »Eigensinnig war er«, setzt Rüdiger nach, und eine der Frauen widerspricht mit dem Satz, er sei halt anders gewesen, irgendwie »besonders«. Ob Martin Glück »besonders« war oder immer noch ist, darüber wird kurz diskutiert, bis ein anderes Thema in den Vordergrund rückt.

Martin spürt Blicke im Rücken und hört gelegentliches Flüstern, das er aber nicht auf sich bezieht. Schließlich gibt es unter den ehemaligen Mitschülern Ärzte, Banker, sogar einen halbwegs berühmten Schauspieler. Da hat ein Kriminaler wenig Chancen, Aufmerksamkeit zu erregen. Er steht neben der Brünetten, die Marion heißt und sich an den Maturaballkuss erinnern kann. Marion ist Zahnärztin, ziemlich frisch geschieden, mit einer Tochter, die inzwischen in der Praxis mitarbeitet. Sie ist groß und ein wenig ausladend und trägt ein gepunktetes Kleid mit gewagtem Ausschnitt. Ihm gefällt, wie sie aussieht, und er mag ihr Lachen, das ihn an Lily erinnert. Sie reden über Politik und Essen und empfehlenswerte Lokale und stellen fest, dass sie schon einige Anknüpfungspunkte haben. Doch dann, als Marion ihr viertes Glas Wein trinkt, während er sich noch an seinem ersten festhält, wird sie gesprächiger, genau genommen redet sie wie ein Wasserfall und lässt ihn überhaupt nicht mehr zu Wort kommen. Und nein, er interessiert sich nicht für Golf und Kreuzfahrten, für Zahnimplantate und Versicherungen, die Ärzten das Leben schwermachen. Als das Buffet eröffnet wird, auf das sich alle stürzen, als hätten sie noch nie etwas zu essen bekommen, verabschiedet sich Martin von Marion mit seinem nettesten Lächeln und den Worten, dass er zur Toilette müsse.