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Kann man sich mit Mitte vierzig noch mal so richtig verlieben – und wenn ja, in wen bitte schön?
Eigentlich kann Grundschullehrerin Sam mit ihrem Leben zufrieden sein: Sie hat eine gemütliche Altbauwohnung in Hamburg-Eimsbüttel, tolle Freundinnen und die beste Tochter der Welt. Nur die Hoffnung auf die große Liebe hat sie längst aufgegeben – bis sie beim Klassentreffen in ihrer Heimatstadt Lüneburg ihren Jugendschwarm Max wiedertrifft. Während sie wie ein Teenie dem nächsten Date entgegenfiebert, rauben ihr die Schule, ihre alternden Eltern und der neue, erstaunlich junge Rektor Finn den letzten Nerv. Um sich von ihrem Gefühlschaos abzulenken, tut Sam das, was ihr am meisten Spaß macht: Macarons backen. Und dabei fragt sie sich, ob sie mit 43 noch einmal etwas ganz Neues wagen soll – im Job und in der Liebe …
Ein humorvoller und herrlich romantischer Roman über Liebe, Neuanfänge und das große Glück. Niemand versteht Frauen so gut wie SPIEGEL-Bestsellerautorin und Bloggerin Claudia Schaumann (WAS FÜR MICH).
»Ein Roman wie ein perfekter Sommertag: heiß, heiter und ganz viele große Gefühle.« Julia Karnick
»Warmherzig und wunderbar!« Frau von heute (über »Sommer ist meine Lieblingsfarbe«)
»Ein sehnsuchtsvoll-schöner Roman über ungerade Lebens- und Liebeswege.« Karla Paul (über »Sommer ist meine Lieblingsfarbe«)
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Eigentlich kann Grundschullehrerin Sam mit ihrem Leben zufrieden sein: Sie hat eine gemütliche Altbauwohnung in Hamburg-Eimsbüttel, tolle Freundinnen und die beste Tochter der Welt. Nur die Hoffnung auf die große Liebe hat sie längst aufgegeben – bis sie beim Klassentreffen in ihrer Heimatstadt Lüneburg ihren Jugendschwarm Max wiedertrifft. Während sie wie ein Teenie dem nächsten Date entgegenfiebert, rauben ihr die Schule, ihre alternden Eltern und der neue, erstaunlich junge Rektor Finn den letzten Nerv. Um sich von ihrem Gefühlschaos abzulenken, tut Sam das, was ihr am meisten Spaß macht: Macarons backen. Und dabei fragt sie sich, ob sie mit 43 noch einmal etwas ganz Neues wagen soll – im Job und in der Liebe …
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Claudia Schaumann
Roman
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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2025
Copyright © 2025 by Claudia Schaumann
Copyright © dieser Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Gaeb & Eggers.
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: FinePic®, München
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
LS · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32766-8V001
www.goldmann-verlag.de
Für alle Frauen, die fürchten,
dass ihre Vergangenheit ihre Zukunft bestimmt.
Ihr irrt euch. Das tut ihr!
Heute
»Du Mistkerl wirst doch wohl nicht …?« Ich hielt die Luft an. Doch, er würde. Ich atmete aus.
Der Zeiger der Wanduhr in dem fensterlosen Raum tickte vorwurfsvoll. Es war Freitagmorgen, ich trug einen rosa Stine-Goya-Tüllrock und Secondhand-Glitzersandaletten, und vor mir lag der aufregendste Abend des Jahres.
Vor mir stand leider der Kopierer, der mal wieder den Elternbrief gefressen hatte, der heute noch rausmusste. Es roch tintensüß und staubig – und wie immer ein bisschen verkokelt. Der Tüll kratzte an meinen Knien, und meine Schuhe sahen definitiv hübscher aus, als sie bequem waren. Ich öffnete die Klappe des mausgrauen Apparats und zupfte ein Blatt Papier in Fetzen heraus.
Als ich es endlich schaffte, den Brief doch noch zu kopieren, hatte es längst geklingelt. Dabei war ich heute extra pünktlich gewesen. In meinem Bauch drückte es. Ich hastete den Flur entlang, meine Schultasche schnitt mir in die Schulter, der noch warme Stapel Kopien flatterte gegen meine Brust. Das bedruckte Papier roch nach frischem Vollkornbrot, wie immer, warum auch immer.
Das Klack-klack-klack meiner Absätze hallte durch den Flur. Es klang aufregend, aber auch ein bisschen, als würden sich die niedrigen 80er-Jahre-Wände über mich lustig machen. Hahaha. Alle Klassenzimmertüren waren bereits geschlossen.
Wenn mich unser Rektor Dr. Fleischer jetzt sah, würde er durchdrehen. Er hasste Unpünktlichkeit. Er würde auch diese Schuhe und den Rock hassen und mir das zwar nicht mit Worten sagen, aber mit seinem zur Seite geneigten Kopf in Kombination mit erhobenen Brauenbalken.
Mir fiel ein, dass ich während meines Referendariats mal wegen meines zugegebenermaßen recht großen Stringtanga-Sichtfensters zur Rektorin bestellt worden war. Vermutlich meine Form des Protests. Vielleicht hätte ich meiner Unterhose die Berufswahl überlassen sollen, dann wäre ich wohl nicht Grundschullehrerin geworden. Dennoch war es unpassend gewesen. Dr. Fleischer ahnte nicht, wie viel Glück er hatte.
Zwei Flure bevor ich da war, hörte ich die 3b bereits. Meine 3b. Es fiel mir immer noch schwer, sie so zu nennen, schließlich hatte ich sie erst vor zwei Monaten von meiner Kollegin Ulla übernommen. Übernehmen müssen, weil Ulla wegen eines Burn-outs von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit kommen konnte. Ulla tat mir leid. Ich mir auch.
Natürlich war mir klar gewesen, dass ich nicht dauerhaft um eine Klassenleitung herumkommen würde, jetzt, wo Hermine größer war und ich Stunden aufgestockt hatte. Ein bisschen hatte ich mich sogar auf meine eigene erste Klasse gefreut. Stattdessen war es die 3b geworden – so etwas wie der zottelige, zähnefletschende Hund ganz hinten im Tierheim, den keiner wollte.
Ich hörte die 3b lachen, auf eine um sich beißende Art und Weise. Dann machte es Rumms, und ich presste Augen, Nase und Lippen zusammen. Etwas war umgefallen, hoffentlich ein Stuhl, bitte kein Kind.
Als ich um die Ecke bog, tauchten Ezras schwarze Haare in der Tür auf. »Sie kommt!«, rief sie. Offenbar hatte sich niemand verletzt.
Das Gebrüll in der Klasse verstummte kurz, nur um dann noch lauter zu werden. Ich klackerte schneller – und rutschte beinahe aus. Die Kopien flatterten mir aus der Hand, 28 naturweiße Zettel, wie Eisschollen um mich herum verteilt.
Eine Tür ging auf, und Britta Breuer, Klassenlehrerin der 3a, Fachleitung Mathe, schüttelte ihren geometrischen Kurzhaarschnitt. Sie starrte mich und meinen Tüll und die Elternbriefschollen an. Britta war eine der strukturiertesten Kolleginnen, und die Tatsache, dass ausgerechnet mein Chaos und ich ihre neuen Raumnachbarn waren, verursachte ihr Schnappatmung.
Ich zog eine entschuldigende Grimasse und hielt Zeige- und Mittelfinger als V hoch. Sie aber deutete unpeacig erst auf die Zettel am Boden, dann auf ihre Armbanduhr. Mit einem Knall schloss sich ihre Tür wieder.
Zwei meiner Schüler rannten auf mich zu.
»Emil hat mir den Stinkefinger gezeigt!«, rief Ezra. Ein paar Strähnen ihres Haars hingen wie Spinnennetzfäden vor ihrem Gesicht.
»Weil du mir ’ne Ohrfeige gegeben hast!«, protestierte Emil und kräuselte seine Nase.
»Wir klären das drinnen.« Oder noch besser nächste Woche im Klassenrat, weil wir endlich mit dem Stoff vorankommen mussten. Ich machte einen großen Schritt über die Papierschollen. Erst mal würde ich in der Klasse für Ruhe sorgen müssen, sonst würde Britta gleich noch mal herausspuken.
Beide Kinder musterten mich schweigend.
»Wieso siehst du aus wie eine Torte mit Füßen?«, fragte Emil.
Ezra grinste. »Ich finde, du siehst schön aus.« Sie wischte sich eifrig die Haare aus dem Gesicht. »Wie meine Zuckerwatte-Barbie. Bloß in alt.« Dann sah sie wieder Emil an. »Aber du bist ein doofes Pupskamel!« Sie boxte ihn in die Seite, trampelte mit ihrem Hausschuh auf ein paar meiner Kopien herum und fiel drauf, als Emil sie schubste.
»Mensch, Kinder!«, rutschte es mir raus. Ich sollte ihren Konflikt besser gleich klären. Sonst würde die Unruhe immer weitergehen. Und der Stoff? Der verdammte Stoff? Wie sollte ich bloß Ullas Rückstand aufholen?
Ich hielt Ezra eine Hand hin, sie griff danach und ließ sich von mir hochziehen. Einige Kopien hatten Kinderpopoknautscher.
»Ezra«, sagte ich, »könntest du bitte die Zettel für mich einsammeln?« Sie nickte, und ich flüsterte: »Danke.«
Als ich die Klasse betrat, hopste Lena von einem Tisch. Milo nahm freundlicherweise den Stuhl herunter, den er hoch über seinem Kopf balancierte.
»Entschuldigt, dass ich zu spät bin«, rief ich gegen den Lärm an. Ich reckte eine Hand als Leisefuchs über meinen Kopf und legte den anderen Zeigefinger auf meine Lippen. Normalerweise wurden Schüler leise, wenn die Lehrperson leise wurde. Die 3b nicht. Vermutlich hatte Ulla schon lange vor ihrem Zusammenbruch kapituliert. Die ständig wechselnden Vertretungen hatten ihr Übriges getan.
Ich fühlte etwas in meinem Magen, das es mir schwermachte, eine gute Lehrerin zu sein. Angst.
»Ruhe!«, rief ich, lauter als geplant.
Fast alle schauten kurz auf, starrten meinen Rock an und murmelten weiter. Wenigstens bewegten sich die meisten in Richtung ihrer Plätze.
»Guten Morgen, liebe 3b!«, rief ich.
»Morgen«, brummte es.
Luisa und Lena tuschelten in der ersten Reihe, vermutlich über mein Aussehen. Ich hatte es morgens vor dem Spiegel cool gefunden, mein Abend-Outfit gleich anzuziehen. Vielleicht hatte ich auch einfach Lust auf ein bisschen Glamour zwischen graubrotfarbenem Grundschulbeton. Vermutlich hatte ich gehofft, dass der Tag in Tüll schneller verging.
Felix grüßte nicht. Er saß mit verschränkten Armen an seinem Einzeltisch. Er war zart für sein Alter, und seine weißblonden Haare waren so kurz rasiert, dass ich sie kaum sah. Wie so oft starrte er ins Leere, den Kopf gesenkt, Falten über den Augenbrauen. Viel zu tiefe Falten für eine Kinderstirn. Wäre das hier ein Comic, würden über seinem Kopf Ausrufezeichen, Atompilze und Totenköpfe schweben. Das Einzige an ihm, was sich regte, war sein Fuß, der rhythmisch gegen ein Tischbein trat. Rumms, rumms, rumms.
Ich versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Als er nicht reagierte, beschloss ich, sein Treten zu ignorieren, und verbat mir, wütend auf ihn zu sein. Er war ein Kind, und ich war seine Lehrerin. Nicht-wütend-Werden war mein Job, Nicht-persönlich-Nehmen auch. Die Lehrerin-Sam wusste das, die übrige Sam vergaß es in letzter Zeit leider immer öfter.
Baran und Ariel starrten sich an, beide hatten die Arme vor der Brust verschränkt. Die zwei zofften sich ständig, und ich hatte noch nicht rausbekommen, worum es genau ging. Ich nickte ihnen zu, dann zauberte ich eine St.-Pauli-Flagge aus meiner Tasche.
»Schaut mal, was ich hier habe. Wer erinnert sich, über was wir in der letzten Deutschstunde gesprochen haben?«
»Leider nicht über Fußball«, brummte Monti.
»Das Dehnungs-h«, platzte es aus Jeremy heraus. »Aber wir nennen es stummes h, weil es das besser trifft.«
Genervtes Raunen. Felix’ Tritte wurden lauter.
»Felix!«, mahnte ich.
Emil sortierte Pokémon-Karten.
»Emil, Karten weg!«
»Scheiß-h!«, beschwerte sich Monti.
»Nicht schon wieder«, murrte Luisa.
»Ich mag nicht«, stöhnte Emil.
Pladatsch – die Pokémon-Karten platschten auf den Boden.
Ich drehte mich zur Tafel und schluckte.
ICH. MAG. AUCH. NICHT. MEHR, dachte ich. Dann zwang ich meine Mundwinkel nach oben und drehte mich wieder um.
»Heb die bitte ganz schnell auf und lass sie im Ranzen verschwinden«, wies ich Emil zurecht.
Im nächsten Moment kam Ezra zur Tür rein und reichte mir mit einem entzückenden Lächeln meine Kopien. Die Blätter sahen aus, als hätte sie jedes einzelne zerknüddelt, damit auf den Mülleimer gezielt, es wieder entknüddelt und anschließend geglättet, so gut es mit ihren kleinen Händen ging.
Ihre dunklen Augen glänzten stolz. »Bitte schön, Frau Lautenschläger!«
»Danke, Ezra!« Sie konnten so verdammt niedlich sein.
»Also, wer kann mir sagen, wie man eine Flagge noch nennt?«
Ich bemerkte, dass Luisa und Lena mit ihren Legami-Stiften auf dem Tisch herumkritzelten. Die beiden besaßen eine beeindruckende Anzahl der gehypten Fineliner mit den Tierkappen. Ich hörte bereits die schrille Stimme von Luisas Mutter am Handy: »Wir vermissen den himmelblauen Hip-Hippo-Hooray-Nilpferdstift mit Gänseblümchen. Könnten Sie bitte die Klasse, die gesamte Schule sowie das Außengelände danach absuchen?«
Meine beiden ukrainischen Schülerinnen schauten mich hilflos an. Ich würde mich gleich zu ihnen setzen und ihre Aufgaben mit ihnen durchgehen müssen. Dabei brauchten mich die anderen 26 doch auch.
Und ich brauchte dringend einen Kaffee.
In der vorletzten Reihe hob sich eine Hand.
»Ja, Mila?«
»Fahne. Da ist auch ein stummes h drin.«
»Genau, und wisst ihr …«
»Das ist voll ungerecht, dass Felix das darf!«, beschwerte sich Monti.
Ich legte einen Zeigefinger auf den Mund und streckte den anderen in die Luft, um Monti zu signalisieren, dass er sich bitte melden sollte. Dann folgte ich seinem Blick in Richtung Felix … Aber Felix war weg.
»Felix?«, rief ich.
»Sitzt unterm Tisch«, brummte Emil.
Mein Blick wanderte weiter runter, zu einem seltsam verdrehten Turnschuh, der gegen das Tischbein trat. Rumms, rumms, rumms.
Es fühlte sich an, als träte er mich.
Seufzend sah ich mich im Klassenraum um. Er war schmal und wegen der Nordfenster ziemlich dunkel, aber ich hatte das Beste daraus gemacht. Ein ganzes Wochenende lang hatte ich mit Hermines Hilfe die Wände gelb gestrichen, damit der Raum wärmer wirkte. In einer Ecke hatte ich zwei Regale aufgestellt und eine Leseecke mit einer Matratze und bunten Kissen geschaffen. Quer durch den Raum hingen Schnüre mit Kinderkunstwerken, und an die Wand hatte ich neben die üblichen Rechtschreibplakate ein Poster mit dem Schriftzug Chill mal deine Base gehängt. Auf der Fensterbank trockneten ein paar Pflanzen von Ulla vor sich hin, weil der Pflanzendienst und ich regelmäßig das Gießen vergaßen. Und in den Schränken herrschte Chaos, aber das sah glücklicherweise niemand außer mir.
Mein Blick fiel in meine Tasche, die ich auf den Schreibtisch gewuchtet hatte. Neben dem Lehrerkalender, Schulbüchern und eselsohrigen Zetteln steckte eine fliederfarbene Schachtel mit drei Macarons darin. Meine Freundin Ava hatte sie mir aus Paris mitgebracht. Ava wusste, wie sehr ich das pastellfarbene Gebäck liebte. Die hübsche Packung, die Eleganz, die keksige Knautschigkeit. Macarons waren einfach besonders. So besonders, dass ich mich noch nie getraut hatte, sie selbst zu backen. Dabei war Backen neben Laufengehen meine Lieblingsbeschäftigung. Mein Yoga.
Viel Spaß beim Klassentreffen!, hatte Ava auf eine Karte mit dem Foto einer Patisserie geschrieben. Ich bin sooo gespannt, was du erzählst.
Ich seufzte. Ich war auch gespannt. 25 Jahre Abi, verdammter Mist, war ich alt!
Das wird die geilste Party des Jahres, hatte Hannes in unserer Abi-WhatsApp-Gruppe angekündigt.
Vorher hatte ich allerdings ein Problem. Ein Problem mit raspelkurzem Haarschopf, das sich vor mir unter dem Tisch versteckte. Inzwischen rammte sein Knie rhythmisch gegen das Tischbein.
Ich durfte mich nicht provozieren lassen. »Komm schon, Felix«, versuchte ich es. »Du fehlst uns hier oben.«
»Keine Lust.«
Die anderen Kinder fingen an, unruhig zu werden.
Seit zwei Wochen versuchte ich, einen Gesprächstermin mit Felix’ Eltern auszumachen, aber bislang hatte niemand auf meine Mailbox-Nachrichten reagiert. Ich wusste, dass auch Ulla ihre Probleme mit ihm gehabt hatte, aber es gab nirgends Aufzeichnungen. Und Ulla war unerreichbar.
Im nächsten Moment kippte in der letzten Reihe Milo mit seinem Stuhl um. Nach einem andächtigen Schreck lachten alle. Laut, irre laut. Hilflos sah ich auf die Uhr.
Nächste Woche würde ich die Klassenarbeit schreiben müssen, in der das Dehnungs-h ein Thema war, Britta hatte sie längst durch. Seit ein paar Tagen fragten die Eltern per Mail und WhatsApp danach. Wenn wir die Arbeit dann geschrieben hatten, würden Beschwerden folgen, weil sie zu schwer gewesen sei. Und weil ich die Kinder nicht gut genug vorbereitet hatte.
Neben der 3b hatte ich sowohl die Fachleitung für Kunst als auch die Zuständigkeit für den Kunstraum von Ulla übernommen. Ich fühlte so viel Druck auf der Brust, dass ich kaum Luft bekam. Mein Leben kratzte auch ohne Tüll. Ich hatte meine Berufswahl schon oft hinterfragt, aber gerade fühlte ich mich wie die Fehlbesetzung meiner eigenen Netflix-Biografie.
Hilflos wie eine Schülerpraktikantin hielt ich erneut meine Leisefuchshand hoch, während ich den Zeigefinger der anderen Hand auf meine Lippen legte und tapfer »Schhhh!« machte. Wer sollte mich ernst nehmen, wenn ich es nicht tat? Natürlich wurde es um mich herum immer lauter, lauter, lauter.
»RUHE!!!«, rief ich. So laut, dass ich mich vor mir selbst erschreckte.
Nach Schulschluss sehnten sich meine Fourty-something-Füße nach Schlappen, aber den Schuh wollte ich mir nicht anziehen. Wie immer wenn ich nach dem Unterricht den schmalen Weg in Richtung Parkplatz entlangeilte, fühlte ich mich wie auf der Flucht. Heute kam mir nicht nur der verholzte Lavendel in die Quere, der den halben Weg überwucherte, sondern auch ein junger Typ. Erst sah ich bloß kurz hin, dann aber doch noch mal länger: dunkelblonde Haare, im Nacken angeschnitten, der Pony etwas länger, honigfarbener Teint, weißes Shirt, weite Jeans, weiße Sneaker. Was machte der denn hier?
Weil der Weg so schmal war, presste ich meine Tasche an mich und wollte nach rechts ausweichen – er auch.
»Ups!« Ich trat nach links – genau wie er. Ich schwitzte unter Tasche und Tüll.
Als ich aufsah, lächelte er, wobei einer seiner Mundwinkel den anderen um einiges überragte. Seine Haut war provozierend prall. Er war irre jung – also genau mein Typ. Als könne er meine Gedanken lesen, grinste er. Meine Wangen glühten wie zwei Herdplatten. Plötzlich hatte ich das Gefühl, jede meiner Falten spüren zu können.
Beim nächsten Versuch schafften wir es aneinander vorbei. Ich sah ihm nach, und weil er sich ebenfalls umdrehte, prallten unsere Blicke gegeneinander.
Ich hatte ein Faible für jüngere Männer. Eine Tatsache, mit der mich meine Freundin Ava und vor allem ihr Mann Jan regelmäßig foppten. Aber hey, zum Knutschen am Samstagabend auf dem Kiez waren sie perfekt. Sie sahen heiß aus und sorgten dafür, dass ich mich für ein paar Stunden unwiderstehlich fühlte. Ich wollte nichts Ernstes, ich wollte bloß meinen Spaß.
Bevor ein Kerl wieder wach wurde, haute ich ab. Die Vorstellung, jemand könnte mein ungeschminktes, mittelaltes Morgen-Ich sehen und merken, dass ich nicht immer so schlagfertig war wie in einer beschwipsten Kieznacht, hatte Albtraumpotenzial. Doch obwohl ich jedes Mal freiwillig ging, hatte ich mich in letzter Zeit hinterher so einsam gefühlt, dass ich mich fragte, ob ich langsam zu alt für dieses Spiel war.
Mit energischen Schritten erreichte ich meinen mintgrünen Fiat 500 und wuchtete meine Tasche auf den Beifahrersitz. In Gedanken war ich noch bei dem Typ. Er passte nicht zwischen die Volvos und VWs meiner Kolleginnen. War er ein Informatikstudent, der unsere Schulwebseite aus der digitalen Steinzeit holen wollte? Oder ein neuer Referendar?
Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss, kontrollierte meinen Messy Bun im Rückspiegel und zupfte an meinem Pony. Ich hatte ihn mir vor ein paar Wochen schneiden lassen. Wenn nicht jetzt, wann dann. Aber obwohl er die Stirnfalten kaschierte, konnte ich mich nicht entscheiden, ob ich ihn mochte.
»Dann wollen wir mal, oder, Mr Leather?«, fragte ich.
Na super, jetzt redete ich also mit meiner Tasche.
Mein Magen fühlte sich flau an, beinahe wie vor einem Bewerbungsgespräch. Zumindest roch es statt nach kaltem Rauch ausnahmsweise nach dem Aprikosen-Crumble in der Blumenschüssel auf dem Rücksitz, das ich gestern fürs Klassentreffen gebacken hatte.
Ich drehte das Radio an.
Normalerweise hörte ich auf dem Rückweg aus der Schule nichts, weil meine Ohren auch ohne Beats wummerten. Aber heute wollte ich auf keinen Fall müde werden. Klassentreffen nach 25 Jahren, wie würde das werden?
Hello, you fool, I love you.
Roxette. Ausgerechnet.
Ich startete den Motor – und mein Kopfkino.
April 1994
Das Mädchen, das am wenigsten Luft bekam, war die Coolste. Sie war es, die beim Jungs-fangen-die-Mädchen am schnellsten geschnappt und am festesten gegen die Wand gepresst wurde. Keine Luft bedeutete: beliebt und schön!
Betrübt schnappte ich nach Luft, viel zu viel Luft. Ich lehnte an der schnodderfarbenen Schulwand, drückte meinen Po gegen meine Hände und schaute rüber zu Manu. Hannes hielt sie im Schwitzkasten, und auf ihrer Stirn glitzerten Schweißperlen. Wie Diamanten.
Manu war schön, aber Hannes war noch schöner. Mit seinen mittelbraunen Locken sah er mindestens so gut aus wie Joey von den New Kids on the Blog. Ich schielte runter zu meiner rot-weiß gestreiften Hose mit Comicfiguren. Als meine Mutter sie mir im Laden begeistert vor die Nase gehalten hatte, weil sie sie pfiffig fand, war ich mir unsicher gewesen, was ich davon halten sollte. Jetzt war ich sicher, dass sie peinlich war.
Jeden Dienstag versammelten wir uns am Ende der Pause im Flur vor dem Bioraum im zweiten Stock des Theodor-Stein-Gymnasiums, genannt THEO. Trotz der riesigen Sprossenfenster neben der breiten Treppe fiel nur wenig Licht herein, was die ausgestopften Tiere in der deckenhohen Glasvitrine unheimlich aussehen ließ. Seit ich denken konnte, spielten wir hier vor Bio Jungs-fangen-die-Mädchen. Jede Woche dasselbe Spiel, obwohl wir als Siebtklässler eigentlich zu groß dafür waren. Es roch nach Bodenreiniger, Pubertätsschweiß und mehrfach durchgeatmeter Luft.
Meine Zeigefingerspitze prokelte in einem Loch im Wandputz wie in einer Wunde.
Unsere Schule war von außen ein beeindruckendes Rotklinkergebäude von 1830, mit wuchtigen Türen, Sprossenfenstern und Türmen. Innen sah man ihr an, wie viele Schüler bereits darin gelernt und ihre Finger in Wände gebohrt hatten. Die breiten Stufen der Steintreppen waren in der Mitte flach getrampelt und der hölzerne Handlauf von unzähligen verschwitzten Händen glänzend poliert. In den Klassenräumen im Südflügel zog es durch die Rundbogenfenster, im Chemieraum im Nordflügel klemmten die Klappstühle, und die eingebauten Tische waren zu schmal für echte Experimente. Meine Eltern hatten die Schule definitiv nicht wegen ihrer modernen Ausstattung für mich ausgesucht. Sie hatten sie gewählt, weil in der Landeszeitung gestanden hatte, dass der Zusammenhalt besonders gut sein sollte. Angeblich könne kein Ehemaliger den Schulnamen aussprechen, ohne dabei dämlich selig zu grinsen.
Ich grinste in der siebten Klasse selten, stattdessen war ich ständig auf der Suche: nach dem einen oder anderen Fachraum im Kellergewölbe, nach Gehirnzellen mit mathematischem Verständnis, einer besten Freundin – und meinem Platz in der Klasse.
»Hey, alles klar?«
Ich zuckte zusammen, so überraschend stand Charlotte neben mir.
»Ja, bei dir auch?«
»Hab mal wieder keine Hausaufgaben«, flüsterte sie. »Sonst schon.«
Ich überlegte, was ich Cooles sagen könnte. »Is doch wumpe« vielleicht? Oder besser: »Willste meine schnell abkrickeln?«
Doch Charlotte ging weiter in Richtung Treppe, um mit Rob einzuschlagen. Ich schaute zu, wie ihr blonder Pferdeschwanz beim Reden hin und her baumelte.
Seit Charlotte und ich gemeinsam ein Referat zum Thema Photosynthese ausgearbeitet hatten, hoffte ich, dass wir uns anfreunden würden. Wir hatten bereits einige Pausen miteinander verbracht und uns schon ein paarmal nachmittags getroffen. Aber Charlotte war wie der Eiswagen, der im Sommer durch unser Viertel fuhr, laut bimmelte, erst hier war und dann da. Alle freuten sich, wenn er kam. Er war aber auch schnell wieder verschwunden. Ich hörte sie und Rob lachen.
Fürs Wochenende hatte ich mich getraut, Charlotte zum Übernachten bei mir einzuladen, und ich hoffte, sie würde kommen und nicht doch mit Katinka ins Kino gehen, ihre zweite Option. Obwohl ich nicht gläubig war, hatte ich gestern Abend in meinem Bett gebetet: »Bitte, bitte, lieber Gott, lass Charlotte mich mögen, und lass den Pickel an meinem Kinn nicht noch dicker werden.«
Neben mir gluckste Manu in Hannes’ Armen zwischen langen Locken. Ich hatte bloß kinnlange Haare, weil meine Mutter bei jedem Friseurbesuch darauf bestand, mehr als die fisseligen Spitzen abzuschneiden, »damit es sich lohnte«. Als wären meine Haare beleidigt, trotzten sie jedem Styling-Schaum und hingen genauso unbeholfen herum wie ich.
Ein Sweatshirt-Ärmel schob sich zwischen Wand und mich. Er roch nach in der Sonne getrockneter Baumwolle.
»Hab dich!« Kratzige Stimmbruchstimme.
Ich drehte den Kopf zur Seite. Mein Kumpel Kai. Immer noch besser als gar kein Schwitzkasten.
»Hilfe!«, quietschte ich. Obwohl ich sehr gut Luft bekam, gehörte das einfach zu den Spielregeln.
Kais Arm lockerte sich ein bisschen, ich hätte problemlos flüchten können. Stattdessen schlang ich einen Arm um seinen und versuchte, es so aussehen zu lassen, als ob ich mich befreien wollte. Dabei hielt ich mit meinen Fingern möglichst unauffällig sein Sweatshirt fest, damit er mich nicht losließ. Bloß nicht wieder ungeärgert an der Wand lehnen wie die armen Dauer-Schwitzkastenlosen Sylvie oder Fabienne.
Kai war ein Stück größer als ich, hatte kurze hellbraune Haare und eine feine Narbe über der Lippe, die ihm seine kleine Schwester mit einem pinken Barbie-Cadillac verpasst hatte. Er war der netteste Junge, den ich kannte. Dabei war Kai nicht uncool, im Gegenteil, er war äußerst beliebt bei allen.
Kai konnte wahnsinnig gut zuhören, und im Gegensatz zu den meisten anderen machte er keinen Unterschied, ob er mit einem Mädchen oder einem Jungen redete. Als wir unseren Hund einschläfern lassen mussten, einen kleinen Dackel mit dem großen Namen Hasso, und ich deswegen todtraurig war, hatte er mehrere Pausen mit mir vor dem Kakaoautomaten gesessen und mir zugehört. Er hatte mir versichert, dass es absolut normal sei, todtraurig zu sein, auch wenn der Tote bloß ein Dackel war.
Jemand drängte so kräftig gegen uns, dass Kai und ich beinahe umkippten. Als ich aufschaute, sah ich Charlotte im Schwitzkasten neben mir. Ihr Gesicht war knallrot, ein paar blonde Haare hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst, und sie japste zufrieden nach Luft. Mein Blick wanderte von der großen Hand, die sie festhielt, den sehnigen Arm hinauf bis zu den überraschend breiten Schultern. Nutellafarbenes Haar, das sich im Nacken leicht kringelte. Max.
Ich wendete nun doch ein bisschen Kraft auf, um mich zur Seite zu drehen und ihn besser betrachten zu können.
Max sah größer aus als gestern oder vorgestern. Sein Gesicht war direkt über mir. Es war gerötet, und eine schweißnasse Strähne fiel ihm in die Stirn. So nah war ich noch keinem Jungen gewesen – außer Kai, aber der zählte nicht. Ich entdeckte ein paar verirrte Härchen zwischen seinen Brauen und kleine Mitesserpünktchen auf seiner Nase. Für einen winzigen Moment schaute er mir in die Augen. In meinem Bauch blubberte etwas. Im nächsten Moment drängte er Charlotte mit dem Becken gegen die Vitrine.
Ich schnellte zur Seite, weil Kai mich kitzelte.
»Lass … haha … das … haha!«, protestierte ich.
Er grinste. »Flehst du um Erbarmen?«
»Nei… haha … nei-in!«
Aber auch Kai war kräftiger geworden. Ich hatte keine Chance.
»Okay, okay«, rief ich, während ich mich nach Charlotte und Max umdrehte. »Bitte, bitte lass mich los.«
Die toten Tiere in der Vitrine wackelten.
»Die gehen ab wie Schmidts Katze«, bemerkte Kai leise. Dann rief er laut: »Max, pass beim Rumbumsen auf!« Seine Stimme kiekste. »Auf die Füchse, meine ich natürlich.«
Bei so was hörten natürlich alle hin.
Max presste Charlottes Arme über ihrem Kopf gegen die Wand und sah zu ihr runter, als wäre sie sein Lieblingsessen. Sie trug ein schwarzes Jerseykleid mit Spaghettiträgern über einem weißen Shirt. Ich hielt die Luft an. Es sah aus, als würden sich die zwei gleich küssen.
»Lass mich los, Max!«, protestierte sie grinsend.
Rob kam zu uns rüber, schlug mit Kai ein, und die beiden begannen, mit verschränkten Armen über Fußballer zu sprechen, Lothar Matthäus und Marco van Basten oder so. Ich stand daneben und wusste nicht, wohin mit mir.
Charlottes genüssliches Quietschen kratzte auf meiner Haut wie Schmirgelpapier. Sie lächelte, als sich unsere Blicke trafen. Ihre spitze Nase glänzte, und sie hatte rote Flecken im Gesicht. Zwei blonde Strähnen klebten an ihren Wangen. Auch Charlotte hatte feines Haar, aber irgendwie mehr davon. Sie sah unglaublich lässig aus, mit ihren Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. Genau wie sie wollte ich sein. Ich presste die Lippen aufeinander und zwang mich zu lächeln.
Als Frau Wagner, die Biolehrerin, endlich die Tür aufschloss, schmiss Charlotte ihren Eastpak neben Katinka, deren Sitznachbarin heute krank war. Ich konnte nicht anders, als die ganze Stunde zu beobachten, wie sie kleine Karopapierbriefchen hin und her schoben.
Nach der Stunde hakte sich Charlotte bei mir unter und verkündete, dass Katinka eine blöde Kuh sei. Dann wollte sie wissen, ob sie am Wochenende einen Schlafsack mitbringen sollte.
Heute
Vielleicht war der Prosecco vorweg doch keine gute Idee. Ich hatte spontan genickt, als meine Mutter mir in der Küche ein Gläschen eingegossen hatte. In eins dieser geschliffenen Kristallgläser, die in hippen Wohnzeitschriften cool aussahen, auf der buchenfarbenen Küchenarbeitsplatte meiner Eltern bloß altbacken. Vermutlich hatte ich gehofft, dass meine Schlagfertigkeit nach dem Sekt nicht wie Blattspinat in der Pfanne zusammenschrumpfen würde, wenn es gleich um Smalltalk mit meinen ehemaligen Mitschülern ging.
Meine Mutter zögerte, dann versenkte sie einen Teelöffelstiel in der Flasche. Zögerte noch mal und stellte sie zurück in den Kühlschrank. Sie bewegte sich in ihrer eigenen Küche immer ein bisschen, als wäre sie zu Gast.
»Machen wir es uns gemütlich«, sagte sie und trug die beiden Gläser auf einem ausgeblichenen Plastiktablett ins Wohnzimmer, das sie Stube nannte.
Bevor ich ihr folgte, fiel mein Blick auf das Bild mit dem verschnörkelten Goldrahmen, das an der Küchenwand zwischen den beiden Fenstern hing. Omas rosa Haus an der Schlei. Meine Mundwinkel zuckten. Ich hatte die allerschönsten Erinnerungen an die Sommerferien bei meiner Oma. Wieso das Bild ausgerechnet an dem schmalen Stück Wand hängen musste, halb verdeckt von einer der Häkelgardinen, war mir ein Rätsel. Aber ich würde mich hüten, meinen Eltern in ihre Einrichtung zu quatschen.
Meine Mutter öffnete raschelnd das Kuchenpaket vom Bäcker, das auf dem Couchtisch wartete.
»Ich hätte doch was backen können.«
Die Zitronenrolle sah blass aus.
»Ach was, dein Vater isst doch sowieso wieder nichts.«
Mein Vater war wie so oft schwer beschäftigt – mit dem Vorabendprogramm im Fernsehen. Ich überlegte, etwas zu sagen, schluckte es dann aber runter.
Ein paar Kuchengabelstiche in zähe Sahne später hockte ich auf einem extra aufgeschüttelten Kissen so weit hinten auf dem Kunstledersofa, dass meine Füße den Boden nicht berührten. Meine Finger lagen ineinander verhakt in meinem Tüllrockschoß, und ich unterdrückte den Impuls, die kühle Hand meiner Mutter von meiner wegzuschieben. Ich grübelte, was ich noch sagen könnte. Das Wetter, mein Käsebrot zum Mittagessen und den verblühten Flieder im Vorgarten hatten wir schon durch.
»Erzähl doch mal was.«
»Was soll ich denn erzählen?«
Ich warf einen verstohlenen Blick auf die Wanduhr und fragte mich, warum ich hergekommen war. Sofort beschlich mich ein schlechtes Gewissen. Ich schaute viel zu selten bei meinen Eltern vorbei. Und auch heute war ich vor allem gekommen, um in ihrem Lüneburger Reihenhaus zu übernachten, damit ich nach dem Klassentreffen nicht mehr nach Hamburg zurückfahren musste.
Garantiert hatte es eine ganze Weile gedauert, die leeren Kartons von Kaffeemaschine, Mixer und Föhn aus meinem alten Zimmer zu räumen, die mein Vater dort auf dem Bett lagerte, falls er nach Jahren mal etwas reklamieren wollte. Ich sollte also wirklich ein bisschen netter sein.
Als meiner Mutter ein Löffel fehlte, sprang ich sofort auf, um einen zu holen. Kurze Flucht, einmal durchatmen. In der Küche schob ich die Gardine zur Seite. Jetzt war Omas rosiges Haus wieder gut zu sehen. Ich stellte mir den Tobsuchtsanfall vor, den sie bekommen hätte, wenn sie von der Zitronenrolle gekostet hätte. Außer fantastisch fluchen konnte Oma nämlich auch bombastisch backen. Als ich ein Kind war, hatte sie in ihrer Küche regelmäßig Backpartys mit mir veranstaltet.
»Ob deine Klassenkameraden auch so einen sicheren Job haben wie du, mein Engel?«, wollte meine Mutter wissen, als ich wieder auf dem Sofa saß. Ihr Zeigefinger strich über meinen Arm.
»Ach Mama«, sagte ich und zog den Arm weg. Es kitzelte. Und überhaupt.
»Warum hast du unsere Enkeltochter nicht mitgebracht?«
»Die wollte unbedingt bei Linus schlafen«, erklärte ich mindestens zum dritten Mal. »Bei ihrem besten Freund. Du weißt schon, Avas jüngstem Sohn.«
Jetzt seufzte auch meine Mutter. Mir war nie aufgefallen, wie dunkel ihr Haar war, seit sie es nicht mehr färbte. »Die Ava, ach ja. Die hat doch einen Mann und drei Kinder, oder? Wenn du bloß auch einen Partner an deiner Seite hättest und Herminchen einen Vater.«
Ich versuchte, mir ein Grinsen zu verkneifen, weil ich mir in diesem Moment meine Tochter vorstellte, die jetzt laut protestiert hätte wegen des angehängten »-chens«. Ihre Patentante Ava durfte ihren Namen verniedlichen, ihre Oma nicht. Kurz sah ich sie vor mir, mit ihren wilden Locken und den Sommersprossen auf der Stupsnase. Sie war mit sechs Jahren so selbstbewusst, wie ich es mein Leben lang gern gewesen wäre. Ich liebte sie wie verrückt.
»Und die Charlotte hat es auch so gut getroffen«, fuhr meine Mutter fort. »Dabei hat die sich nie krumm gemacht.«
Ich stieß die Gabel in die Sahne. Mit vollem Mund musste ich immerhin nicht sprechen.
Auf dem Couchtisch aus Teakholz mit Tischläufer stand eine Messingvase mit Lavendel aus dem Garten. Kurz musste ich an die Schule denken, verdrängte den Gedanken aber schnell wieder.
Meine Mutter streckte schon wieder die Hand nach mir aus. »Ach Sam, so schön, dass du hier bist!«
Immerhin hatten es auch meine Eltern aufgegeben, mich Sarah-Marie zu nennen. Charlotte hatte als Erste mit Sam angefangen, und nach einem Schuljahr nannten mich alle so. Bei meinem Auszug war Sarah-Marie in Lüneburg zurückgeblieben, irgendwo ganz hinten in einer Schrankwandschublade im Kinderzimmer, zwischen ein paar pastellfarbenen Büroklammern und ausgeblichenen Mädchen.
Ich exte den Sektrest und verkündete, dass ich wirklich losmüsse.
»Wann bist du wieder da?«, fragte meine Mutter mit sehnsüchtigem Unterton, während mein Vater vor dem Fernseher bloß kurz die Hand zur Verabschiedung hob.
»Weiß ich noch nicht!!!« Drei Ausrufezeichen. Aber so freundlich wie möglich.
Im Flur schnappte ich mir die Blumenschüssel mit dem Crumble.
»Die olle Schüssel nimmst du mit?«
»Ich liebe die, weißt du doch.«
»Papa kann dich fahren.«
Aus dem Fernsehsessel hörte ich bloß Brummen, und aus der anderen Ecke die vertraute Melodie der Merci-Werbung. Haha, ausgerechnet.
»Ach was.« Ich winkte ab, öffnete die Kunststoffhaustür und schwankte raus in den kleinen Vorgarten.
»Bleib nicht zu lange«, brummte mein Vater.
Bevor ich etwas antworten konnte, fiel die Tür hinter mir zu. Sie war sogar noch älter als ich. Aber im Gegensatz zu der Schüssel und mir war sie nicht direkt nach dem Abi hier ausgezogen.
Juni 1994
Obwohl mir meine Eltern immer wieder versicherten, dass sie mich liebten, hatten sie eine seltsame Art, mir das zu zeigen.
Ich war zwölf, als ihnen einfiel, wie schön es wäre, wenn ich Tennis spielen würde, so wie sie seit vielen Jahren. Nach ein paar völlig talentfreien Trainingsstunden meldeten sie mich zum großen Kinder- und Jugendturnier ihres Vereins an. Am Anfang hoffte ich selbst noch, dass ein Wunder geschehen möge.
»Viel Erfolg, mein Schatz!«, rief meine Mutter vom Spielfeldrand, und ich spazierte im nagelneuen Tennisrock auf den roten Sand. Ich wäre so unglaublich gern sportlich gewesen.
Natürlich verlor ich jeden Satz haushoch. Und ich spürte, wie ungelenk ich dabei aussah, was mich noch mehr verunsicherte. Neben dem Platz wurde erst geschmunzelt, dann wurde es still.
0 – 15, 0 – 30, 0 – 40, Spiel, Satz, Sieg.
Immer mehr Zuschauer kamen, in Weiß und in Mitleid gekleidet. Sogar meine nächste Gegnerin hatte ein sichtlich schlechtes Gewissen, als sie mir die Filzkugel um die Ohren ballerte.
Ich strengte mich wirklich an. Wenn auch irgendwann bloß noch, um nicht zu blinzeln, damit die Tränen, die sich in meinen Augen sammelten, nicht vor allen Leuten auf den Platz tropften.
Als ich hinterher durch die schweigende Menge zur Umkleide ging, berührte mein Vater mich kurz an der Schulter. »Sarah-Marie …«, flüsterte er leise.
»Warum habt ihr mich da angemeldet?«, zischte ich, als unser Auto vom Parkplatz rollte und ich auf der Rückbank mein Gesicht mit der Hand abschirmte, um mich vor neugierigen Blicken zu schützen.
»Wir haben es doch bloß gut gemeint«, sagte meine Mutter.
Ein wenig versöhnte ich mich mit Tennis, als Charlotte und ich meinen Schläger feierlich in einer Gartenecke beerdigten, weil anzünden nicht geklappt hatte. Das blöde Ding brannte nicht mal.
Überhaupt Charlotte, was hätte ich ohne sie gemacht? Wir sprachen nie über das Beste-Freundinnen-Ding, aber wir hingen die allermeiste Zeit zusammen ab. Charlotte verstand sich noch immer mit fast allen und war mal hier und mal da, allerdings zog sie mich inzwischen fast immer am Handgelenk mit sich.
Manchmal machte mich ihre unerschrockene Ehrlichkeit sprachlos. Aber meistens war sie wirklich witzig. Vor allem brachte sie enorm viel Abwechslung in mein Leben. Und jedes Mal wenn ich Zeit mit ihr verbrachte, fühlte ich mich hinterher ein bisschen mutiger. Als hätte ihre Schlagfertigkeit auf mich abgefärbt.
Charlotte hatte auch eine ganz eigene Art, mit meinen Eltern zu reden. Ich war mir nie sicher, ob sie besonders nett sein wollte oder sich ein wenig über sie lustig machte. Beides vermutlich.
Wenn sie bei uns reinschneite und meinen Vater mit Küsschen links, rechts, links begrüßte und dazu säuselte: »Einen wunderschönen guten Tag, Herr Lautenschläger, Sie sehen aber gut gebräunt aus. Viel im Garten gewesen, wie?«, lächelte der ausnahmsweise und lief vielleicht sogar ein wenig rosa an. Anschließend fuhr er uns, wohin wir wollten, und steckte uns zusätzliches Taschengeld zu.
Ich hörte irgendwann auf, mit meinen Eltern zu reden. Natürlich sprachen wir noch miteinander, über Pausenbrote, die nächste Klausur oder den kaputten Geschirrspüler. Aber alles, was wirklich wichtig war, besprach ich mit Charlotte: die neue Krankheit Aids, Pickel, Schule, Jungs.
Die Gespräche mit meinen Eltern hatten vorher fast immer in einer Einbahnstraße der Vorwürfe geendet. Egal, was ich machte, sie schafften es, etwas Negatives daran zu finden. Als ich mir von meinem Taschengeld einen dieser hübschen Zitronenbäume kaufte und ihn stolz in meinem Zimmer aufstellte, erklärte mir meine Mutter, dass die sowieso immer eingingen. Tat er tatsächlich, ein paar Wochen später. Die Freude daran hatte ich bereits ab Tag eins verloren.
Als ich meiner Mutter aufgeregt meine erste, mühsam vom Taschengeld zusammengesparte Levi’s 501 auf dem abgetretenen Läufer im Wohnzimmer vorführte, runzelte sie die Stirn.
»Die trägt auf.«
Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen, und sie erschrak sichtlich. Dann aber merkte sie leise an, dass sie schließlich meine Mutter sei und mir die Wahrheit sagen müsse.
Ich war mir nicht sicher, was genau ich mir von ihr wünschte. So viel Wahrheit vermutlich nicht. Seit ihrem Kommentar betrachtete ich mich noch kritischer in jedem Spiegel.
Was am traurigsten war? Das Gefühl, dass meine Eltern mich gar nicht richtig kannten. Sie stellten nicht die richtigen Fragen, um echte Antworten zu bekommen. Sie schenkten mir zwar zu jedem Geburtstag ein Buch, weil sie wussten, dass ich gern las. Aber es war zielsicher eins, das mich überhaupt nicht interessierte.
Wenn ich bei Freundinnen war, beobachtete ich deren Familienleben wie eine Fernsehserie. Ich konnte mich nicht daran sattsehen, wie sich Eltern lebhaft unterhielten, diskutierten, sogar stritten. Bei uns zu Hause wurde nie gestritten. Ab und zu gab es ein paar vor die Füße gekippte Vorwürfe. Danach wurde erst recht geschwiegen. Mein Vater flüchtete meist und kam erst in der Nacht wieder.
Im Gegensatz zu meinen Eltern hatte mir meine Oma alles erzählt, sogar Dinge, die für ein zehnjähriges Mädchen vermutlich weniger geeignet waren. Ich wusste, dass ihr Nachbar eines Tages an einem Strick in seinem Stall gebaumelt hatte, und alles über Omas Krampfadern, die leuchtend blau an ihren Beinen zu explodieren schienen wie Raketen am Silvesterhimmel.
Sobald ich auf krummen Kleinkindbeinen stehen konnte, hatte Oma mich auf einen Holztritt gestellt, damit ich ihr beim Backen zusah. Sie saß niemals still, sondern rührte, schälte, schrubbte den ganzen Tag. Trotz der vielen Arbeit wirkte sie immer zufrieden. Wenn sie in ihrer Küche den Schneebesen schwang, hatte es für mich etwas Magisches.
Ab und zu hörte ich meine Mutter laut mit meiner Oma diskutieren, aber sobald ich zur Küchentür hereinkam, flüsterte Mama bloß noch, als hätte ich mit der Türklinke den Lautstärkeknopf gedreht. Meist runzelte sie dann die Stirn, zischte: »Viel Spaß beim Backen!«, schnappte sich einen von Omas Stühlen mit den Plastikschnüren und stapfte in den Garten.
»Warum backt Mama nicht mit?«, fragte ich einmal.
»Deine Mutter backt nicht gern.« Oma sah mich mitleidig an. »Weil es dreckig und dick macht.«
Ich war selten so glücklich wie mit Oma in der Küche. Ihre runzligen Wangen glänzten, ich durfte naschen, so viel ich wollte, und wenn etwas Mehl statt in der Porzellanschüssel mit den aufgemalten Blumen auf der Arbeitsplatte landete, wischte sie es einfach weg.
Nachdem sie gestorben war, bettelte ich meine Mutter an, auch mal mit mir zu backen. Und irgendwann, an einem regnerischen Nachmittag, gab sie nach. Obwohl sie keine Lust hatte, das hörte ich an ihrem Seufzer am Satzende.
Ich setzte alles daran, ihr zu zeigen, wie viel Spaß backen machte. Mit vor Aufregung zusammengepressten Lippen und meiner roten Kinderschürze stand ich auf einem Küchenstuhl und kippte das abgewogene Mehl in die Blumenschüssel. Ich hatte sie mitgenommen, als wir nach Omas Tod ihr Haus ausgeräumt hatten. »Das olle Ding?«, hatte meine Mutter gefragt.
Fasziniert sah ich zu, wie das Mehl staubte. Ich leckte meine Fingerspitze an, steckte sie in funkelnde Zuckerkristalle und wieder in meinen Mund und genoss die Süße. Beim Backen war ich nicht länger Sarah-Marie. Ich war Lisa aus Bullerbü. Oder Dolly im Internat Möwenfels. Oder eine andere Figur aus den Büchern neben meinem Bett. Wenn Schubladen aufglitten, Butter in Schüsseln klatschte und Rührlöffel gegen Porzellan klirrten, war es endlich nicht mehr so unheimlich still.
»Liebling, pass mit deinen Fettfingern auf!«, mahnte meine Mutter und holte mich zurück auf unseren rosébraunen Fliesenboden.
»Was brauchen wir als Nächstes?«, rief ich aufgeregt und drehte mich so enthusiastisch um, dass die Schüssel einen Satz machte.
Meine Mutter seufzte. »Diese Schüssel! Ich sag dir, gleich ist sie kaputt.«
»Ist sie nicht!«, widersprach ich und fuhr mit der Fingerspitze über Omas Gugelhupfrezept. Ich fühlte jeden f-bogen und g-haken, so fest hatte Oma aufgedrückt.
»Wir brauchen Vanille«, rief ich triumphierend. »Aber kein Vanillin, das taugt nichts.«
»Wer sagt das?«
»Oma!«
»Meine Mutter«, seufzte meine Mutter.
Mit einem Ratsch riss sie eine Packung Vanillin-Zucker auf und kippte es zum Mehl. Ich guckte entsetzt, wollte einen Löffel holen und drehte mich hastig um. Hinter mir klirrte es.
»Nein!«
Bitte nicht.
Ich presste meine Hände vor die Augen und wagte nicht hinzusehen.
»Hab ich doch gesagt, dass Porzellan in der Küche total unpraktisch ist«, zischte Mama.
Schließlich traute ich mich, durch meine Finger zu linsen.
»Sie ist nicht kaputt.« Ich atmete auf.
»Sie ist doch kaputt.«
Mit zusammengepressten Lippen deutete meine Mutter auf eine kleine Macke am Schüsselrand. Dort, wo die Glasur abgesprungen war, war das Porzellan rau.
»Das macht nichts«, flüsterte ich.
Ich hopste vom Stuhl, bückte mich und half der Schüssel aus dem Ei-Mehl-Vanillin-Haufen.
»Pass auf, dass du dich nicht schneidest«, ermahnte mich meine Mutter. »Das fehlt jetzt noch.«
Mit der Küchenrolle beugte sie sich stöhnend nach vorn und begann mit spitzen Fingern im Eimatsch herumzuwischen. »Diese verdammte Putzerei!«
Als ich eine neue Teigmischung anrührte – voll Karacho, höchste Stufe, rasante Umdrehungen –, ging der Handrührer kaputt. Und dieses Mal half kein Augenzuhalten.
Meine Mutter behauptete noch Jahre später, dass ich den Mixer kaputt gemacht hätte. Dabei hatte ich wirklich bloß gerührt – auf höchster Stufe halt. Auf jeden Fall war es das erste und letzte Mal, dass Mama und ich gemeinsam backten.
Heute
Im Vorgarten meiner Eltern roch es nach blühender Hecke und Restmüll. Es roch nach dem Sommer von früher. Dem aufregenden Teil des Sommers von früher. Mit der Blumenschüssel im Arm stapfte ich durch die Pforte und schloss sie hinter mir. Pforte-nicht-Schließen empfanden meine Eltern als erhobenen Mittelfinger. Ich spazierte die schmale Straße entlang in Richtung Stadtmitte. Bauernrosen quetschten sich aus den Lücken zwischen Fassaden und Asphalt und streiften mich am Arm. Das Reihenhaus meiner Eltern stand im verschlafenen Teil des Lüneburger Viertels Rotes Feld – ein paar Straßen weiter residierten die Gründerzeitvillen. Zwischen den Steinplatten wuchs kniehoch Mäusegerste. Den Namen würde ich dank Oma nie vergessen. Geduldig hatte sie mit mir jede Pflanze und jeden Stein betrachtet.
Gerade kam es mir vor, als würde das Kleinstadtpflaster unter meinen Absätzen schwanken, aber vermutlich schwankte ich selbst. Vielleicht sollte ich mir auf dem Weg noch ein Brötchen kaufen? Zu spät, wie das Schild hinter einer brezelförmigen Türklinke verkündete. In gelben Buchstaben in Ährenform stand dort: Geschlossen. Die Bäcker abseits der Touristenströme machten samstags um sechzehn Uhr Feierabend.
Für einen Moment betrachtete ich mein Spiegelbild in der Glastür. Kleine Fältchen mäanderten rechts und links meiner Augen. Sie erinnerten mich an den Amazonas. Nicht dass ich da schon mal gewesen wäre. Dafür, dass ich früher ganz weit weg wollte, war ich ganz schön nah an meiner Heimatstadt geblieben. Für große Reisen fehlten mir Mut und Geld. Ein Großteil meines Lehrerinnengehalts stand in Form von Schuhen im Schrank.
Vielleicht wäre es fairer, dachte ich, wenn man Falten fühlen könnte. Dann würde man sich beim Blick in den Spiegel nicht ständig erschrecken.
Ich überquerte eine viel befahrene Straße, jetzt war es nicht mehr weit. Sommerwärme waberte zwischen den rot geklinkerten Treppengiebelhäusern. Die weiß getünchten Häuser dazwischen sahen aus, als hätten sie ihre Sommerkleider übergestreift, noch steif von der Wäscheleine. Touristen standen im Weg herum, die Handys nach oben gerichtet.
Vor mir bummelte eine Horde Teenies, und ich wagte es nicht, sie mit Glitzersandalenschritten zu überholen.
Ich habe eine Blumenschüssel getragen, könnte ich sagen und musste grinsen, bis mir einfiel, dass sie den Witz vermutlich nicht verstehen würden. Dirty Dancing war zu lange her.
Obwohl sie Wide Leg Jeans trugen statt Levi’s 501, sah ich plötzlich Charlotte und mich mit vierzehn vor mir. Und obwohl ich auf meinen Schultern so viel mehr getragen hatte als einen bekritzelten Eastpak, waren wir herrlich unbeschwert gewesen. Oder nicht?
Charlotte hatte damals bereits einen Busen und immer mal wieder einen Freund. Wir sprachen viel über beides, aber über den Busen noch ein bisschen mehr. Außerdem über Tampons, die nächste Klassenarbeit, die Lehrer und natürlich am meisten über die Jungs in der Stufe. Grob gesagt gab es zwei Sorten von ihnen: Stadtjungs und Landjungs. Am THEO mischten sich Kinder aus Lüneburg mit Kindern von Höfen aus Dörfern in der näheren bis ziemlich weit entfernten Umgebung.
Charlotte unterhielt sich mühelos mit allen Jahrgangsjungs, egal ob über Fendt-Trecker oder die Aids-Erkrankung von Freddy Mercury. Ich beneidete sie darum, dass sie immer etwas zu sagen hatte. Allerdings hatte sie mir mit dieser Schlagfertigkeit vor zwei Jahren so wehgetan, dass seitdem Funkstille zwischen uns herrschte.
Natürlich hatte ich versucht, die Sache mit einem »Ist halt Charlotte« zu entschuldigen. Aber ich konnte einfach nicht ans Telefon gehen, wenn sie anrief. Irgendwann hatten wir so lange nichts mehr voneinander gehört, dass sich Nichtmelden normaler anfühlte als Melden.
Noch einmal um die Ecke, und ich war da. Zurück in meiner Vergangenheit. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich ankommen oder abhauen wollte. Meine Finger umklammerten das kühle Porzellan. Drei Schritte, zwei – da standen sie. Mehr oder weniger vertraute Gesichter zwischen goldenen Lichtpunkten vor der hellen Fassade der Brauerei mit dem Engel über der Eingangstür.
Ich spürte meine Unsicherheit um meine Beine streifen wie eine alte Katze. Hastig strich ich über den Tüll, in der Hoffnung, sie zu verscheuchen. Ich fühlte, wie sich Schweißperlen durch das Make-up auf meiner Oberlippe pressten. Die Unsicherheit fauchte.
Entschlossen richtete ich mich auf, schnappte nach Luft und ging auf die anderen zu. Schluss damit.
Aber dann, direkt vor dem versammelten Abi-Jahrgang 2000 des THEO, blieb ich mit meinem Absatz in einer Rille des Kleinstadtpflasters hängen.
Knie schlugen auf, Haut schürfte ab, Sekt schwappte, Glas klirrte. Lautes Lachen. Wie eine hingeklatschte Kugel Eis lag ich auf dem Boden.
Ich schloss die Augen.
Jemand rief: »Prost, Sam!«
Gelächter.
Und dann: »Du hast dich kein bisschen verändert.«
Plötzlich fiel mir die Schüssel ein. Aber sie hatte einmal mehr einen Schutzengel gehabt.
Um Zeit zu gewinnen, setzte ich mich auf und strich kleine Steinchen von den Innenseiten meiner Hände. Ich wagte nicht aufzuschauen.
Super, Sam.
Kaum war ich zurück in Lüneburg, war Sarah-Marie wieder da. Ava hätte mich nicht wiedererkannt. In Hamburg war ich die coole Freundin, die so tat, als mache sie ihr Ding. Die mit feministischen Lebensweisheiten um sich warf und sogar im Älterwerden etwas Gutes sah. Weil ich es so gern sehen wollte.
Unsicher zupfte ich an meinem Pony herum. Der Verräter pappte garantiert an meiner schweißnassen Stirn. Dabei hatte ich mir so mühsam Volumen erföhnt.
Eine Hand tauchte vor mir auf. Mein Blick glitt an ihr hoch. Über lange Finger, dunklen Flaum und Oberarme, die sich gegen einen dunkelblauen Poloshirt-Ärmel drängten.
»Sarah-Marie Lautenschläger«, sagte eine Stimme über mir, tiefer und rauer, als ich sie in Erinnerung hatte.
Niemand, wirklich niemand nannte mich mehr so.
Außer einem.
Max Buhr, dachte ich. Verdammter Mist!
Mein Gesicht glühte, als ich zu ihm aufschaute. »Hallo, Max.«
Dann griff ich zu und ließ mich an meiner kleinen Hand von seiner großen hochziehen, bis ich wieder stand. Für einen Minimoment blieben wir so stehen, schauten uns an, meine Hand in seiner. Seine Haut fühlte sich rau an, aber schützend, wie ein Kokon. Täuschte ich mich, oder war er ein wenig rot geworden?
Max trug dunkle Jeans, und sein Shirt spannte über seinem Bauch. Aber seine Augen waren noch genauso schokoladenfarben wie früher. Sein Teint hatte den Karamellton von jemandem, der regelmäßig an der frischen Luft arbeitete.
Max’ Eltern hatten einen großen Hof in einem kleinen Dorf in Richtung Amelinghausen, und ich hatte gehört, dass er ihn seit ein paar Jahren führte. Max war einer von den Landjungs aus unserem Jahrgang. Wenn ich mich nicht täuschte, war er ein VZK – verheiratet, zwei Kinder.
»Was zu trinken, Hamburg?«, fragte er.
»Okay, Kaff«, antwortete überraschend die Hamburg-Sam.
Max hob eine Augenbraue, dann machte er sich auf den Weg in die Gaststätte. Ich blieb zurück und überlegte, was um alles in der Welt ich Lässiges sagen könnte, wenn er mit unseren Getränken zurückkam.
Februar 1995
Die meisten Lehrer am THEO waren ganz okay, was sich von Herrn Dr. Dunkelsberg nicht sagen ließ. Der überfiel zu Beginn jeder Englischstunde einen von uns, die Ecke seines roten Notizbuches auf sein Opfer gerichtet wie den Lauf einer Schrotflinte.
Über meinem bekritzelten Schlampermäppchen schimmerte es grün. Die Landjungs hatten an einen alten Nagel ein Werbeposter gehängt: Wer Fendt fährt, führt. Das kleine Plakat von Joey McIntyre von den New Kids on the Blog, das Charlotte mit Tesa danebengehängt hatte, rutschte immer wieder vom rauen Putz. Auf der Rückseite sunnyboyte Jason Donovan. Bis auf ein leises Husten war es still. Charlottes Finger knibbelten an ihrer uralten Diddl-Federtasche.
Einen Moment später knallte mein Name durch den Raum. »Miss Lautenschläger!«
Charlotte presste ihren Levi’s-501-Oberschenkel solidarisch gegen meinen.
»Verdammter Mist!«, rutschte es mir leise raus.
»In English, please«, schoss er hinterher.
»Äh«, stotterte ich. »Damned shit?« Mir war heiß.
Leises Lachen. Ich spürte, wie ich rot anlief.
Dann ging das Vokabelverhör los. Ich wusste immerhin acht von zehn, dennoch schüttelte Dr. Dunkelsberg missbilligend den Kopf, als er das Ergebnis in seinem roten Buch notierte. In ein paar Wochen würde er uns unsere Noten als melodische Ziffernreihen vortragen wie die Lottozahlen.
»And now, take out your exercise books«, sagte er und schob die Ärmel seines Kordjacketts ein Stück nach oben.
Während alle in ihren Rucksäcken kramten, wehte erleichtertes Raunen durch den Raum. Die Abfragefolter war beendet.
Herr Dr. Dunkelsberg zog einen Zettel aus seiner Glattlederlehrertasche und fing an, einen Text für uns an die Tafel zu schreiben. Mir wurde noch heißer. Um die winzigen Sätze an der Tafel erkennen zu können, würde ich meine Brille aufsetzen müssen. Die doofe Hornbrille, mit der ich noch hässlicher war als ohnehin schon. Mein Magen zog sich zusammen, als ich in meinem Eastpak nach dem Etui tastete. Verzweifelt schaute ich zur Seite, aber Charlottes weiß blondierte Haare hingen im Weg, sodass ich nicht einfach von ihr abschreiben konnte.
Ausgerechnet in dem Moment, als ich mir das Ungetüm auf die Nase schob, drehte sich Hannes um.
Lässig strich er über seine mit Gel frisierten Haare, die steil nach oben zeigten, genau wie der Kragen seines weißen Poloshirts. Dann blieb sein Blick an mir hängen, und mein Herz machte einen Hüpfer, wie Weißbrot im Toaster. Hannes tippte Rob an, zeigte auf mich, und beide prusteten los. Mir fiel ein, dass ich außer der Brille auch noch einen Pickel auf der Nase hatte. Ich fühlte, wie er pulsierte.
Wie ein Reh im Lichtkegel eines Vierzigtonners verharrte ich.
»Mr Sommer and Mr Bödeker, would you please do what I told you to do«, rief Herr Dr. Dunkelsberg durch den Raum, ohne sich von der Tafel wegzudrehen.
Hannes und Rob drehten sich um, ich wäre am liebsten im Linoleum versunken.
Das einzige Geräusch, das noch zu hören war, war das rasante Kratzen von Manuelas Füller. Sie war nicht nur schön, sondern auch mit beneidenswerter Sehkraft gesegnet. Sie saß ganz hinten im U, schaute abwechselnd zur Tafel und in ihr Heft und warf hier und da ihre Locken nach hinten. Ich hätte alles dafür gegeben, in ihrer Haut zu stecken.
Als ich kurze Zeit später durch dicke Brillengläser zur Uhr sah, sah ich noch was: Max’ Blick! Einen Moment lang glaubte ich, dass auch er sich über meine Brille lustig machte. Aber er starrte mich bloß an.
Max. Max in einem grünen Claas-Werbeshirt. Max, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte. Max, der wie ich einen Pickel neben der Nase hatte. Einer großen Nase. Max, der dafür sorgte, dass sich mein Blut plötzlich anfühlte, als wäre Kohlensäure darin. Schnell schaute ich zurück auf die verdammten conditional sentences. Als ich noch mal zu ihm rübersah, starrte er konzentriert in sein Heft.
Heute
Die Abendsonne ließ die zwei großen Kupferkessel in der Brauereigaststätte glänzen. Hier oben lag aufgeregtes Touristengemurmel in der Luft, von unten dröhnten Beats herauf. Für unser Klassentreffen hatte Hannes den Gewölbekeller gemietet. Ich schaute mich nach Max um, der noch an der Theke anstand, machte ihm ein Zeichen und ging schon mal vor.