Goldregen - Cassandra Leuenroth - E-Book

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Cassandra Leuenroth

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Beschreibung

Peters Tochter Motty ist ihm heimlich durch die Pforte in die Märchenwelt gefolgt und wird jetzt in Demiawiburg vermisst. Mellia versucht unterdes, auch nach der Entdeckung ihrer ungeheuerlichen Bestimmung ihr normales Studentenleben weiterzuführen. Da erhalten sie und Viola überraschend die Gelegenheit, als Studiogäste die Goldregenshow zu sehen. Bei ihrem Besuch im lokalen Fernsehsender machen sie eine interessante Bekanntschaft. »Goldregen« ist die achte Folge der Würfelwinkel-WG. Die Serie erzählt in 26 Teilen von der Feenstudentin Mellia Weiselhain, ihrer märchenhaften Wohngemeinschaft und — ganz nebenbei — auch noch die Vorgeschichte zu »Prinzessin Beribetscha«. Märchenreich, 1961. In der Reichsstadt Demiawiburg gibt es drei Hochschulen, jede Menge Studenten, Exilanten aus den benachbarten Königreichen und der Grauen Welt — und ein Haus im Würfelwinkel Nummer 17, dessen zusammengewürfelte Bewohner sich erst zusammenraufen müssen, um die alltäglichen Herausforderungen in einer märchenhaften Reichsstadt zu bestehen: Hexen, Zwerge, verzauberte Frösche, ein verwunschener Fernsehmoderator, drei Prinzen, die um die Thronfolge wetteifern, und das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Toreschluss in die Stadt zurückkommt. Zum Glück hält nicht nur Frau Holle ihre schützende Hand über die bunte Schar. Dennoch erfahren Mellias Ambitionen, eine gute Fee zu werden, manche ungeahnte Kehrtwende. Wird sie nach drei Jahren die Abschlussprüfung bestehen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cassandra Leuenroth

Die Würfelwinkel-WG

Folge 8: Goldregen

Oktober 1961

© CEGL, 2022

Lorichsstraße 28a

22307 Hamburg

 

Umschlagentwurf: TheaDelphia

Lektorat & Korrektorat: Albert Lossat

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Rechteinhaber.

Kapitel 1

»Weisen Sie Ihre Schüler bitte darauf hin, dass hier nichts im Park angefasst werden darf.«

»Schüler?« fragte Herr Paxfax.

Ursel kicherte. »Sehen wir aus wie eine Schulklasse?«

»Ihre Studenten dann eben. Jedenfalls dürfen die nichts anfassen. Also im Park.«

»Nicht einmal einander?« fragte Carlin mit großen Augen. »Vielleicht bekommen wir ja Angst da drinnen und müssen uns an den Händen halten.«

Die Parkbeschützerin setzte eine mitleidige Miene auf.

»Ihre eigenen Sachen und auch Ihre eigene Gruppe dürfen Sie natürlich anfassen. Aber nichts, was zum Park gehört, und auch keine anderen Besucher.«

»Seltsame Welt«, murmelte Fenella.

»Ja, deswegen sind wir hier«, sagte Safran. »Um ein paar seltsame Dinge zu erleben.«

Wir standen am Eingang zum Märchenwald. Nach einer kurzen Wegstrecke, die wir von dem verborgenen Pfortenausgang neben einem Wartehäuschen genommen hatten, waren wir nun bei einem parkähnlichen Gelände angekommen. Ja, man konnte es nicht anders bezeichnen, denn selbst ein Park sah bei uns zu Hause schon anders aus. Und dies hier nannten sie gar einen Märchenwald.

Mit mir im Grauen Seminar waren neben Safran und Ursel noch zwei Studenten aus dem zweiten Jahr. Fenella kannte ich schon aus dem Entenkurs und mochte sie gern. Carlin traf ich hier zum ersten Mal; er hatte ein freundliches Mopsgesicht und schien immer gut gelaunt. Dann gab es noch einen recht stillen Jungen namens Laurian, der im dritten Jahr war und schon so aussah, als würde er hier nur noch ein Letztes an Erkenntnis und Weisheit einatmen, aber nicht mehr als das Notwendigste von sich geben.

Jetzt warteten wir in der Schlange zwischen lauter Kindergruppen und Familien neben einem Häuschen in einer zuckerbunten Pappmaché-Verkleidung, das hier in der Grauen Welt merkwürdig fehl am Platze wirkte. Es sollte wohl Lebkuchen und anderes Naschwerk darstellen, aber das Ganze sah so armselig aus, dass ich mich fragte, warum die Kinder um uns herum alle so fröhlich und aufgeregt wirkten.

»Ich finde das ja ganz phantastisch, wie der das macht«, schwärmte Ursel.

»Wer macht was?« erkundigte ich mich.

»Na, Herr Paxfax. Ich meine, ich bin schon ziemlich gut in Pforten, aber bislang habe ich es noch nie geschafft, jemanden mitzunehmen. Mal ein Stück Kuchen und zweimal sogar unseren Hund. Aber keine Menschen. Und dieser Mann geht hin und macht eine Pforte auf für sich selbst und noch sechs andere. Einfach toll.«

»Ja, stimmt eigentlich.«

Ich musste lachen, als ich an Viola dachte, wie sie damals am Zauberwald mit Andi in der Tasche den Weg hatte abkürzen wollen und der Frosch dann unversehens und allein zu Boden geplatscht war, während sie selber durch die Pforte verschwand.

Ich selbst hatte nur einmal ein Glas Kirschen transportiert, aber zum Beispiel Knut mitzunehmen, hätte ich mir bestimmt nicht zugetraut.

Neben dem Kuchenhaus bildete ein schnörkeleisernes Tor den Eingang zum Märchenwald. Während Herr Paxfax mit dem Herrn im Hüttchen verhandelte, spähte Ursel durch den Zaun in den Park hinein, wo man schon mancherlei an Merkwürdigkeiten ausmachen konnte. In der Ferne war das angeregte Schnattern von Enten zu hören.

Auch Fenella betrachtete mit skeptischer Miene das Torhaus, hielt sich aber eben noch zurück, die künstlichen Kuchenziegel zu befingern.

»Wenn sie daraus Lebkuchen machen«, bemerkte sie, »muss es nicht Wunder nehmen, dass hier nichts schmeckt.«

Ich grinste. »Du hattest also auch den herrlichen Kuchen in dem Grauen Café?«

»Oh ja.«

Fenella machte ein so bedeutsames Gesicht, dass Herr Paxfax sich bemüßigt fühlte, eine Erklärung abzugeben. Natürlich sei das hier kein echter Lebkuchen.

»So etwas essen nicht einmal Graufexe«, setzte er halblaut hinzu. »Im übrigen wäre es ja nicht besonders klug, ein essbares Kassenhäuschen aufzustellen.«

Dann verteilte er die Eintrittskarten, die er am Lebkuchenhaus gekauft hatte.

»Es kostet hier Eintritt?« fragte Safran entrüstet.

»Ja, denken Sie sich, Herr Öllerich.«

Safran Öllerich, das war mir schon damals im Taubenkurs aufgefallen, war anscheinend aus Prinzip gegen so ziemlich alles. Auf seine etwas mürrische und gelangweilte Art betrachtete er die Dinge um sich herum, als könnte recht eigentlich nichts vor seinem anspruchsvollen Urteil bestehen. Ganz besonders aber ging mir seine nachlässige Art auf die Nerven, in der Gegend herumzuschlurfen, als würde ihn alles endlos ermüden.

Jetzt gerade lehnte er an einem Baumstamm und fand es sichtlich unter seiner Würde, sich eine Eintrittskarte kaufen zu lassen für einen Park, in den er nur aus purer Herablassung mit hineinschlurfte.

Sei es drum. Tatsache war, es kostete hier Eintritt, und Herr Paxfax bezahlte für uns alle: das gehörte zum Seminar dazu.

»Und außerdem«, ermahnte er ihn, »sind wir ja hier nur zu Gast.«

»Natürlich.« Safran stieß sich vom Baum ab und schlenderte betont nachlässig hinter Herrn Paxfax in den Wald, als wären die Bäume ringsum nur andere gelangweilte Partygäste. Seinem Blick war deutlich zu entnehmen, dass er diesen Ausflug (wenn nicht gleich den ganzen Tag) schon für vollkommen vertändelt hielt.

»Blöder Eumel«, warf ich ihm hinterher.

Fenella indessen blickte ihm mit einem eigentümlichen Ausdruck nach.

»Also ich finde, er hat was.«

»Ach ja? Und was sollte das sein?«

»Hm, das weiß ich noch nicht. Aber ich hätte Lust, es herauszufinden.«

»Nur zu«, ermunterte ich sie. »Meinen Segen hast du.«

Jedenfalls behauptete ich das. Insgeheim ärgerte es mich, dass ausgerechnet Fenella, die ich eigentlich nett und interessant fand, sich so unverhohlen für jemanden begeisterte, den ich weder nett noch interessant finden konnte.

Sie lächelte versonnen.

»Er weiß, was er will, das gefällt mir.«

»Hauptsächlich will er vorankommen, scheint mir. Und zwar um jeden Preis.«

»Aber daran ist doch nichts Schlechtes.«

Ich seufzte.

»Nein, sicher nicht.«

Dann wurden wir alle durch den Märchenpark gelotst. Staunend wie misstrauisch schoben wir uns voran durch die Anlage. Da kam auch schon ein Rotkäppchen heran, das aber auch nur geschoben wurde, oder jedenfalls schien es über den Waldboden zu fahren.

»Sehr richtig«, sagte Herr Paxfax, »denn die Figuren sind ja alle auf Schienen.«

»Das ist verrückt«, sagte Fenella.

»Das ist es. Hatte ich Ihnen zu viel versprochen?«

So stiefelten wir nacheinander in verschiedene Märchenszenen hinein. Dabei musste man nicht einmal in den tiefen Wald, wo finstere Gestalten im Dickicht wohnen, denn so etwas wie unseren Finsterwald hatten sie hier anscheinend nicht zur Hand. Man ging einen vorgezeichneten Weg entlang, und an jeder Station war irgendeine kleine Geschichte aufgebaut. Ich musste an die Goldregenshow denken, wo ja auch für manche Spiele solche Szenen aufgebaut wurden. Aber selbst die Kulissen im Fernsehen waren wirkungsvoller als dies hier.

»Was für ein grenzenlos alberner Quark.«

Das war natürlich Safran. Im Grunde aber hatte er ja recht. Ich glaube, wir dachten alle ganz ähnlich. Was wollten die mit all dem hier?

»Aber die Kinder sind ganz begeistert«, staunte Carlin, der neben mir ging. »Herr Paxfax, warum stellen Sie uns so was vor?«

»Nicht zuletzt deshalb«, gab der Dozent zur Antwort, »damit Sie hier am eigenen Leibe erleben, warum Graue Kinder Feen brauchen.«

»Weil sie nicht mal richtige Märchen haben?«

»Noch nicht einmal eine richtige Vorstellung von richtigen Märchen.«

»Aber was soll denn das hier vorstellen?«

»Das soll Ihnen vorstellen, wie die Leute draußen sich unsere Welt vorstellen.«

»Nicht Ihr Ernst«, sagte Ursel erschüttert.

»Aber doch ist das mein Ernst. Die Kinder hier draußen«, begann Herr Paxfax zu erklären, »die wollen halt wissen, wie es in den Märchen zugeht. Sie kennen ja unsere Welt nur aus den Büchern, die andere Leute hierher nach draußen gebracht haben, und hier in so einem Park ist es für sie, als wären sie wirklich in der Märchenwelt.«

»Nicht Ihr Ernst«, sagte nun auch ich. »Das hier ist das Bild, das Graue Kinder von unserer Welt haben? Sogar ganz absichtlich vorgestellt bekommen?«

Herr Paxfax nickte.

»Ich hatte Ihnen gesagt, dass wir hier seltsame Dinge sehen würden.«

»Ja, schon«, sagte ich unschlüssig. »Aber das hier ist nicht einmal seltsam. Das ist nur …«

»Abstoßend«, befand Safran.

Tja, Herr Paxfax hatte nicht übertrieben. Auch wenn ich bislang nicht viel herumgekommen war und eigentlich kaum etwas kannte als Erichshof und Demiawiburg und ein paar Sachen dazwischen: Dies war auf jeden Fall ein recht seltsamer Ort.

»Da vorne haben sie einen Turm ohne Türe, seht ihr?«

»Und wozu soll das nun gut sein?« fragte Carlin.

Ursel lachte. »Sicher wollen die uns mitteilen, dass Rapunzel dort oben wohnt.«

»Ja, wer’s glaubt«, murrte Safran. »Ein Salatblatt wohnt da vielleicht.«

Fenella lachte.

Eigentlich fand ich es auch komisch, nur hatte ich keine Lust, irgendwas komisch zu finden, das Safran sagte. Er fand ja auch nie etwas komisch, das jemand anderes sagte. Vielmehr gab er einem immer das Gefühl, dass man ihn grenzenlos belästigte. Deswegen redete ich ihn kaum je an, wenn es sich vermeiden ließ.

»In Eskellem haben wir so was«, fiel mir dann ein. »Den Hungerturm. Da kommen die Hochverräter und andere schwere Verbrecher rein.«

»Stimmt«, sagte Carlin, »den kenne ich.«

»Aber wie kommen denn die Verbrecher da rein«, fragte Ursel, »wenn unten keine Türe ist?«

»Na, rate mal«, sagte Safran.

»Pforte?«

»Sehr gut.«

»Das macht die Hofzauberin persönlich«, erklärte ich ihr. »Oben ist so eine Dachterrasse, musst du dir vorstellen, mit recht niedrigen Zinnen, und dann geht eine Wendeltreppe hinunter bis in den Keller. Anders gesagt, im Turm selber kannst du dich frei bewegen, rauf und runter, aber einmal drinnen, ist der vollkommen pfortensicher.«

»Aha. Und die verhungern dann da drinnen?« fragte Ursel etwas unbehaglich.

»Nun ja, das ist die Idee eines Hungerturms«, erklärte Safran. »Im übrigen steht es aber jedem verurteilten Verbrecher frei, da oben über die Zinnen zu springen und den Freitod zu wählen, wenn ihm seine Haftstrafe zu lang wird. Manche Leute werden überhaupt, so habe ich gehört, eben gerade dazu verurteilt. Im Grunde ist dieser Hungerturm also ein praktisches Konzept, staatsdenkerisch gesehen.«

»Staatsdenkerisch, aha«, sagte Fenella beeindruckt. »Ich dachte, du studierst Heilbotanik?«

»Muss ich deswegen ein Fachidiot sein?«

»Natürlich nicht.«

Im Stillen gab ich ihr Recht. Es genügte vollauf, dass er überhaupt ein Idiot war.

»Jedenfalls«, fasste er für Ursel zusammen, »kann man Verbrecher einfach oben in den Turm stecken und muss sich nie mehr um die kümmern.«

»Es sei denn, die können fliegen«, wandte Fenella ein.

Safran bedachte sie mit einem mitleidigen Blick.

»Solche Leute kommen doch dort nicht hinein, du Genie.«

»Ach so. Wie dumm von mir«, sagte sie, grinste aber übers ganze Gesicht.

»Und wo ist nun dieser Turm?« wollte Ursel dann noch wissen. »In Carcambria?«

»Nein, Carcambria ist doch eine Residenzstadt«, erklärte ich. »Da wollen sie repräsentieren und nicht mit dem Staatsgefängnis angeben. Der Hungerturm ist weiter draußen in einem Wald, ein ganzes Stück außerhalb der Stadt.«

»Genau«, warf Safran ein. »Das Geheule, das da nächtens und sogar am Tage heraustönt, will man ja nicht in der Stadt haben. Und schon gar nicht in einer Musterstadt.«

»Stimmt auch wieder. Sagt mal, ist euch übrigens aufgefallen, dass hier sogar die Bäume traurig aussehen?«

»Das sind ja auch Graue Bäume«, sagte Fenella. »Wisst ihr, dass die Bäume und Blumen hier draußen nicht einmal Florfeen haben?«

»Haben sie nicht?« fragte ich verwundert und fügte dann mit Monas Feenstimmchen hinzu: »Wie wollen sie zurechtkommen?«

Fenella lachte. »Keine Ahnung, ganz ehrlich.«

»Ach, Florfeen«, sagte Carlin verächtlich. »Vollkommen unnütze Dinger, wie sie da in ihren Blumen sitzen und herumschaukeln und kryptischen Unfug reden.«

»Kryptischen Unfug?« Fenella lachte. »Was redest du denn mit schaukelnden Feen?«

»Ach, nichts Bestimmtes. Aber einmal habe ich eine nach dem Weg gefrag. Wirklich, ich war so verlorengegangen mitten in der Wildnis VDM, dass ich die erstbeste Florfee angesprochen habe. Eine Goldregenfee.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Gesagt? Na, du bist gut. Angefangen hat sie, mir Lieder zu singen. Über Schönheit, die mit Gift einhergeht, lauter solches Zeug. Und ich solle mich bewahren, sie zu probieren, meine Güte. Das war nicht das, was ich vorhatte. Ich wollte doch nur nach Hause.«

Alles lachte, und ich stimmte fröhlich mit ein. Wie gut, dass ich nicht von dem Angebot meiner Mentorin Gebrauch gemacht hatte, mir von der Akademie freizunehmen. Zum einen wollte ich natürlich nicht gleich den ersten Ausflug mit der Grauen Gruppe verpassen. Außerdem hatte ich wenig Neigung, meine Zeit mit Grübeleien im Würfelwinkel zu verbringen, wo mich die anderen immer noch mit einer unguten Mischung aus Ehrfurcht und scheuem Bedauern behandelten.

Zum Glück wusste hier niemand von Brigittchen. Unter diesen ganz neuen und im Grunde fremden Leuten konnte ich einmal wieder ganz normal über belangloses Zeug reden.

Als nächstes gelangten wir an ein Hexenhaus, wo Hänsel und Gretel zugange waren. Sie fuhren hinein, sie fuhren wieder heraus, eine Hexe kam dazugefahren und fuhr Hänsel in einen Käfig.

»Unglaublich«, sagte Ursel. »Wie die Stadtbahn in Demiawiburg.«

Sogar Safran lachte, und ein bisschen freute ich mich sogar mit, dass er mal etwas lustig fand.

Hier lag auch der Ententeich, den man vom Eingang aus hatte erahnen können und der also zu Hänsel und Gretel gehörte. Eine Art Entenboot fuhr auf dem Wasser hin und her, das die beiden Kinderfiguren trug, immer vom Hexenhaus zum Waldrand und wieder zurück. Daran schienen sich einige wirkliche Enten nicht zu stören, die hier mit auf dem Teich herumschwammen und schnatterten, was das Zeug hielt.

Ich stieß Fenella an, und sie grinste. Wir blieben eine Weile stehen und versuchten den Tieren wenigstens ein paar bekannte Floskeln abzulauschen, aber leider vergebens. Es war beinahe so, als würden wir in unserem Kurs eine vollkommen andere Sprache lernen als die hier.

»Doch, Moment!« rief sie plötzlich. »Kam nicht eben was von Brot vor?«

»Das hast du da reingehört«, winkte ich ab. »Enten denken doch permanent über Brot nach, und ja, wahrscheinlich reden sie auch darüber. Aber ob das jetzt gerade um Brot ging, möchte ich doch bezweifeln. Ich habe es jedenfalls nicht rausgehört.«

»Wer verzweifelt über Brot?«

Schon wieder der unleidliche Safran. Fenella aber grinste übers ganze Gesicht.

»Wir versuchen die Enten zu belauschen«, erklärte sie.

Die Wirkung ihrer Worte hatte ich nicht vorausgesehen. Safran schaute uns einen Moment lang ungläubig an, dann brach er in ein Gelächter aus, dass es durch den ganzen Wald schallte.

Kapitel 2

»Enten belauschen«, sagte er dann in gespieltem Ernst. »Ja, warum nicht. Wenn man sonst nichts zu tun hat.«

Zugegeben, ich war selber nicht sonderlich begeistert von dem Kurs, aber Safran Öllerich war nun nicht der Mensch, von dem ich mir das noch extra madig machen lassen wollte.

»Du kommst wohl nicht aus Eskellem«, sagte ich. »Dann wüsstest du nämlich, dass Enten sehr wichtige und sogar heilige Tiere sind.«

»Beim großen Konditor, wie konnte ich das vergessen. Die heiligen Enten!« Safran schnitt eine Grimasse. »Da muss ich wohl gleich eine Bußkerze auf dem Teich anzünden.«

»Ich hätte nicht gedacht«, sagte Fenella nun etwas gekränkt, »dass du so überheblich bist.«

»Ich hätte von dir nicht gedacht, dass du einen so bescheuerten Kurs wählst.«

»Was hast du belegt?« fragte sie ihn dann.

»Schlange«, sagte er mit einer Miene, als wäre alles andere überhaupt unter seiner Würde. »Und was sagen die Enten nun?«

Fenella hob bedauernd die Schultern.

»Wir sind wohl noch nicht weit genug, um das zu verstehen.«

»Vergiss es lieber. Diese Enten hier haben einen so Grauen Akzent, dass man die sowieso nicht verstehen kann.«

»Sagt einer, der nicht mal Ente belegt hat.«

»Ja, seht ihr. Dafür muss ich nicht mal Ente belegen, um Enten nicht zu verstehen.«

Er lachte und trollte sich in andere Gefilde.

»So ein arroganter Sack«, murmelte ich ihm nach.

»Er hat ja leider recht«, sagte Fenella. »Ich hätte auch lieber einen anderen Kurs gemacht. Denkst du, ich will im Ententeich versauern?«

»Keine Ahnung, wo du versauern willst. Warum hast du den Kurs belegt?«

»Meine Eltern sind aus Gandossum, die halten auf Tradition. Irgendwann muss man an Ente ran, haben sie mir immer gesagt. Nur im ersten Jahr hatte ich leider, leider keine Zeit für den Entenkurs — besser gesagt keine Lust darauf. Deswegen war ich so froh, dass ich Katze bekommen habe.«

»Du hattest den Katzenkurs?« rief ich aus. »Ist ja phantastisch. Weißt du, dass der inzwischen gar nicht mehr angeboten wird?«

Sie nickte. »Und das hat all meine Pläne über den Haufen geworfen. Ich wollte damit später in Richtung Löwendrachen gehen.«

»Konntest du das nicht trotzdem machen?«

Fenella schüttelte traurig den Kopf.

»Nicht nach zwei Trimestern. Ich habe den qualifizierenden Abschluss für weiterführende Sprachen nicht bekommen. Natürlich kann ich mich mit Katzen unterhalten, aber für mehr reicht es auch nicht.«

»Für mehr reicht es nicht, na du bist gut.«

»Meine Eltern haben es heimlich begrüßt, dass der Katzenkurs abgeblasen wurde. Und dann fing meine Mentorin auch noch davon an, diese Enten seien wichtig für Eskellem, und ich sollte doch da weitermachen. Und jetzt hocke ich Woche für Woche in diesem Schnatterzirkel und kann noch nicht einmal die Enten hier im Park verstehen.«

Ja, gut. So schlimm war jetzt der Schnatterzirkel auch wieder nicht. Ich begann zu ahnen, dass Fenella mindestens soviel Ehrgeiz hatte wie Safran, und so gesehen passten sie ja ganz gut zusammen: Sie vielleicht könnte seinen hohen Standards genügen.

An der nächsten Biegung fanden wir ein kleines Häuschen, wo Frau Holda ihre Kissen vom Balkon herunter ausschüttelte, dass die Pappflocken flogen. Dort stand auch ein Brunnen vor dem Tore, wo — wieder auf Schienen — eine Goldmarie und eine Pechmarie hindurchfuhren und wechselweise bekippt wurden. Man durfte wohl getrost bezweifeln, dass der Brunnen eine Pforte beherbergte. Wahrscheinlich war es ohnehin kein echter Brunnen, sondern nur der obere Teil davon, der hier auf dem Waldboden herumstand.

»Und das hier soll … tja, was sein?«

Carlin war schon weitergegangen und beäugte ratlos ein Rosengesträuch.

»Eine verwunschene Dornenhecke soll das hier sein«, las Ursel von dem Schild ab, das daneben im Boden stak.

»Ach nee.«

»Und was genau ist daran verwunschen?«

»Geh lieber nicht so nah hin«, mahnte Fenella. »Vielleicht ist ja wirklich was dran.«

»Das glaubst du doch selbst nicht. Dazu sind die hier mit ihren begrenzten Mitteln doch gar nicht in der Lage. Außerdem ist es vollkommener Blödsinn, das da so hinzustellen.«

Das war wieder Safran. Allerdings musste ich ihm insoweit recht geben, als ja eine frei in der Gegend herumstehende Dornenhecke wenig Effekt machte, und hätte man nun, wenn schon kein verwunschenes Schloss vorhanden war, immerhin ein Tor oder eine Tür dahinter verbergen können. Denn wer sollte ein Interesse daran haben, hinter eine Dornenhecke zu dringen, wo gar nichts war?

»Wisst ihr was?« sagte Carlin plötzlich. »Das ist hier fast so eine Art Übungsgelände, so wie bei uns der Gignomaiplatz. Wie man da Pforten üben kann, so kann man hier mal probeweise sich durch eine Dornenhecke zwängen.«

»Ja, sehr gescheit«, versetzte Safran. »Aber doch auch wieder recht dumm, so im Ganzen. Man kann doch nicht an unechten Dornenhecken üben! Die Sachen funktionieren doch jedes Mal anders.«

»Stimmt«, gab ich zu. »Außerdem kannst du dich an allen möglichen Aufbauten abarbeiten, aber dann kommen in deinem Märchen unter Garantie gänzlich andere Sachen vor.«

»Sehr richtig.«

»Sieh an«, rief Carlin feixend aus. »Safran und Mellia sind mal einer Ansicht!«

»Das ist wohl kaum Ansichtssache«, versetzte Safran, »sondern eine Frage der Allgemeinbildung.«

Ich schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr und ging einfach weiter.

Was Safran als Heilbotaniker machen wollte, blieb mir ein Rätsel. Ich wollte ihn aber nicht danach fragen. Weder hatte ich Lust auf seine gelangweilte Art zu antworten noch auf das, was dann inhaltlich kommen würde. Ja, im Grunde war Safran mir überhaupt einerlei, und deswegen interessierte es mich auch nicht, warum er hier an der Akademie war.

Schweigend ging ich weiter und betrachtete eine Reihe weiterer Märchenaufbauten. Am besten gefiel mir noch der Gärtner, der einen Trupp aufmüpfiger Blumen dressierte. Ich lachte, als ich an Viola und ihre eigensinnige kleine Florfee dachte.

Ursel schloss zu mir auf.

»Hast du gesehen?« fragte sie kichernd. »Fenella und Safran gehen schon seit zehn Minuten einträchtig plaudernd nebeneinander her.«

»Ja, sollen sie doch.«

»Ich wette, er lädt sie ins Kino ein.«

»Meinst du? Ich wette dagegen. Safran interessiert sich doch nur für seine Karriere, aber sicher nicht fürs Kino.«

»Stimmt nicht«, widersprach sie. »Zufällig weiß ich, dass er ganz enorm für Erna Fundevogel schwärmt.«

Ich machte große Augen. »Den Filmstar? Na, das wundert mich allerdings nicht. Warum sollte der sich auch mit normalen Leuten abgeben.«

»Was, aber das ist doch etwas anderes. Findest du die Fundevogel etwa nicht toll?«

Ursel sah mich geradezu bestürzt an.

»Doch, ja«, murmelte ich wenig überzeugend.

»Erst am Donnerstag habe ich ihren neuen Film gesehen«, erklärte sie, »Das weiße Herz. Warst du schon drin?«

»Nein. Worum geht es da?«

»Also, da ist dieses Mädchen, eine Prinzessin natürlich, die ganz allein im Schnee zurückgelassen wird, weil sie nämlich ein weißes Herz hat … Oder nein, anders. Das kam nämlich, die haben sie vergessen beim Wegfahren, oder nicht gesehen, weil wenn ihr Herz weiß ist, dann ist alles an ihr weiß, und dann wird sie im Schnee nicht mehr gesehen.«

»Aha.«

»Ja. Sie bleibt also versehentlich zurück, und dann läuft sie die ganze Strecke zu Fuß nach Hause. Vielmehr, eben nicht, sondern kurz vor dem Schloss kommt ihr die Idee, dass die Stiefmutter hinter allem steckt und sie absichtlich zurückgelassen hat. Also biegt sie kurz vorher ab und läuft in den Wald und kommt da in einer Höhle unter, ja, bei einem Bären, also in einer Bärenhöhle. Und da wohnt sie dann bis zum Frühling, wenn ihr Herz wieder sichtbar wird. Oder nein, Moment. Sie will auf den Frühling warten, aber dann kommt eines Nachts, da kommt so ein Jäger vorbei, oder ein Prinz, der auf der Jagd ist … mit einer Kamera, wir verstehen uns.«

»Mit einer Kamera auf der Jagd?«

»Ja, er macht Jagd auf Fotos … also auf Leute mit Fotos, nein. Ich meinte, er schießt also Fotos.«

»Von Leuten? Im Wald?«

»Ja, nun. Oder von Tieren, was weiß ich, und verkauft die dann.«

»Die Tiere?«

»Die Fotos doch!

---ENDE DER LESEPROBE---