Milchstern - Cassandra Leuenroth - E-Book

Milchstern E-Book

Cassandra Leuenroth

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Beschreibung

Nach den unvorhergesehenen Wendungen in der Silvesternacht sind Mellia und Jürgen nurmehr zu zweit in Zuckerbronn. Ein nächtlicher Ausflug und ein Besuch in den Wolken sollen Aufklärung bringen, wie es nun weitergeht. Viola kehrt völlig verändert in den Würfelwinkel zurück, und während sie noch versucht, in ihre neue Bestimmung hineinzufinden, bringen ihr treuer Rabe sowie ein seltsames Paket aus der Heimat neue Aufregungen. Auch um Knut muss Mellia sich Gedanken machen: Wird es den beiden gelingen, ihre Welten wieder in Einklang zu bringen? Unterdessen macht sich im benachbarten Finsterwald der alte Zauberer zu einer ganz persönlichen Mission auf. »Milchstern« ist die elfte Folge der Würfelwinkel-WG. Die Serie erzählt in 26 Teilen von der Feenstudentin Mellia Weiselhain, ihrer märchenhaften Wohngemeinschaft und — ganz nebenbei — auch noch die Vorgeschichte zu »Prinzessin Beribetscha«. Märchenreich, 1961. In der Reichsstadt Demiawiburg gibt es drei Hochschulen, jede Menge Studenten, Exilanten aus den benachbarten Königreichen und der Grauen Welt — und ein Haus im Würfelwinkel Nummer 17, dessen zusammengewürfelte Bewohner sich erst zusammenraufen müssen, um die alltäglichen Herausforderungen in einer märchenhaften Reichsstadt zu bestehen: Hexen, Zwerge, verzauberte Frösche, ein verwunschener Fernsehmoderator, drei Prinzen, die um die Thronfolge wetteifern, und das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Toreschluss in die Stadt zurückkommt. Zum Glück hält nicht nur Frau Holle ihre schützende Hand über die bunte Schar. Dennoch erfahren Mellias Ambitionen, eine gute Fee zu werden, manche ungeahnte Kehrtwende. Wird sie nach drei Jahren die Abschlussprüfung bestehen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cassandra Leuenroth

Die Würfelwinkel-WG

Folge 11: Milchstern

Januar 1962

© CEGL, 2024

Lorichsstraße 28a

22307 Hamburg

 

Umschlagentwurf: TheaDelphia

Lektorat & Korrektorat: Albert Lossat

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Rechteinhaber.

Kapitel 1

War da jemand am Fenster?

Ein Flappen und Wischen wie von Vogelflügeln draußen an der Scheibe hatte mich geweckt. Von Rabenflügeln?

»Viola, mach mal auf, das ist für dich.«

Nichts rührte sich, nur der Lärm draußen am Fenster nahm zu. Träge drehte ich mich um und fand die andere Bettseite leer, Viola noch nicht zurück. Wie spät war es denn? Das Zimmer lag noch in Finsternis, nur die Laternen auf dem Platz vor dem Hotel taten brav ihren Dienst.

Das Gewische und Gescharre nahm indes kein Ende, und dann fing auch noch ein klirrendes Tockern an. Wirklich erkannte ich einen schwarzen Vogel, der mit dem Schnabel gegen das Außenfenster klopfte. Offenbar fand er nicht genügend Halt auf dem schmalen Sims, was noch zusätzlich gruselige, krallenkratzende Geräusche verursachte.

»Viola ist nicht da«, motzte ich in Richtung Fenster und wollte mich wieder umdrehen.

Der Rabe gab aber keine Ruhe und klopfte weiter mit Flügeln und Schnabel an die Scheibe, ein endloses Geflappe und Getocke und Gekratze, das war ja nicht zum Aushalten. Was zum Henker wollte denn der um diese Zeit?

Seufzend wickelte ich mich aus der Decke und tappte zum Fenster. War das überhaupt Violas Rabe? Und was wusste der davon, dass wir in Zuckerbronn waren?

Nicht, dass ich einen Raben vom anderen unterscheiden konnte. Aber der da draußen schien jedenfalls mich als ein vertrautes Gesicht zu erkennen, und er benahm sich so, als begeisterte ihn mein Erscheinen am Fenster restlos.

Ich spähte zur Uhr gegenüber, aber viel mehr als Sonne und Mond war da nicht zu erkennen: der Mond als schmale Sichel, die Sonne dümpelte irgendwo im weitläufigen Bereich ihrer Nachtruhe herum.

Die echte Mondsichel war irgendwo anders und wurde hier anscheinend nicht gebraucht. Es war sehr hell draußen, wegen der Laternen sowieso und auch wegen des Schnees. Der kleine Wecker neben meinem Bett zeigte halb vier.

»Zum Henker, was willst du denn?« murmelte ich verärgert.

Verstand der Vogel, was ich sagte? Und hörte er mich überhaupt, durch die doppelten Fenster? Ich öffnete den inneren Flügel, dann den nach draußen, der Rabe flatterte kurz auf und landete dann vor mir auf dem Fensterbrett.

Ich trat einen Schritt zurück und wies mit einer einladenden Geste auf das leere Zimmer hinter mir.

»Viola ist nicht da«, erklärte ich ein zweites Mal für den Fall, dass er mich von draußen nicht gehört hatte.

Er kam aber sofort hereingeflattert und setzte sich auf dem Bettpfosten ab. Seine Flügel versprühten Schnee, den er von den Scheiben gewischt hatte.

Na gut, warum nicht. Wenn Viola heimkam, würde er hier auf sie warten, das war doch eine hübsche Überraschung.

Ich schloss das Fenster und wollte wieder zurück unter die Decke. Der Rabe aber flog plötzlich auf und fuchtelte wild mit den Flügeln, dass es eine Art hatte. Gerade dass er mir nicht seine Klauen in die Schulter schlug, um mich davon abzuhalten, wieder ins Bett zu klettern.

Bald war auch meinem schläfrigen Gehirn klar, dass dieser Vogel irgendetwas Wichtiges zu melden hatte. Sandten nicht Hexen manchmal Raben als Boten? Davon hatte ich jedenfalls gehört. Aber Frau Birnenschein schickte doch keine Raben herum, das wäre mir wohl aufgefallen. Frau Holda vielleicht? Oder irgendein Zauberer, den ich nicht kannte? Davon gab es sicher Hunderte, aber was sollten die mir denn für Boten schicken, mitten in der Silvesternacht in einer ganz fremden Stadt? Einen Augenblick dachte ich sogar daran, es hätte jemand einen Todesvogel geschickt, um mich für einen neuerlichen Auftrag abzuholen — oder mich gleich selbst mitzunehmen.

Aber nein, es war dies wirklich nur ein Rabe, und sehr wahrscheinlich sogar Violas Rabe. Und warum denn nicht? Wenn Viola Pforten hin zu bestimmten Leuten machen konnte, dann konnte er das vielleicht auch, wenn er zu ihr wollte.

Mir fielen die Gänse ein, die in Erichshof immer Alarm schlugen, wenn es irgendwo brannte. Na schön. Mal sehen, ob es irgendwo brannte.

»Also?« fragte ich seufzend.

Der Rabe ließ sich auch nicht lange bitten. Ganz im Gegenteil war er es selbst, der hier um etwas bat, oder das war mein Eindruck. Aber zum Henker, ich verstand keine Silbe davon, was er mir sagte. Soviel dazu, dass man mit Taube überall durchkommt.

»Nein, das geht so nicht«, sagte ich endlich. »Wir müssen warten, bis Viola zurück ist.«

Aber wann sollte das denn sein? Und wo war die überhaupt hingelaufen? Sie hatte doch nur Timon Fichturak ihre Meinung sagen wollen, was konnte denn da so lange dauern?

Ich betrachtete mir den Raben, der immer noch aufgeregt vor mir auf und ab flatterte. Wusste er vielleicht etwas über sie, das er mir dringend mitteilen wollte? Das war mal eine Idee. Was, wenn ihre Pforte ganz woanders herausgeführt hatte als gedacht? Im Grunde hatten wir ja keine Ahnung, ob sie überhaupt bei Timon angekommen war.

Und während ich das Wort wir dachte, fiel mir Jürgen ein. War das nicht überhaupt sein Rabe? Aber warum hatte der dann mich geweckt und nicht ihn? Einerlei, ich kam hier nicht weiter, also musste Jürgen her.

Wahlweise musste ich zu ihm.

Mit einem neuerlichen Seufzer schlüpfte ich in meine Hauspuschen und verließ leise das Zimmer. Der Rabe folgte mir ohne Zögern durch den spärlich notbeleuchteten Hotelflur in Richtung Treppe. Von ferne hörte ich noch gedämpften Feierjubel, aber der Gang hier oben lag in ebenso feierlicher Stille.

Schon stand ich vor Jürgens Zimmer. Was der jetzt denken musste, dass ich hier nachts an seine Tür klopfte, keine zwei Stunden, nachdem er mich — ganz wie versprochen — an der meinen abgeliefert hatte.

Bis gestern hatte ja auch noch Knut hier gewohnt. Ihn um diese Zeit aus dem Bett zu klopfen, hätte mir nicht so viel ausgemacht. Aber ich würde mir von einem allein logierenden Jürgen nicht meine Nachtruhe verderben lassen. Ja, ich konnte dieses Problem auch einfach auf ihn abwälzen. Sollte doch er zusehen, wie er mit dem aufgeregten Federvieh zurechtkam. Was hatte ich mit seinem Raben zu schaffen?

Falls das überhaupt der richtige Rabe war, da meldeten sich schon wieder Zweifel. Egal. Noch ein Grund, Verstärkung zu holen.

Energisch pochte ich an die Türe. Ich hatte die Hand in meinen Ärmel gewickelt, um nicht das ganze Hotel aufzuwecken, aber doch musste ja Jürgen wach werden.

Es dauerte denn auch eine Weile, bis ich auf mein Klopfen überhaupt ein Geräusch hörte. Einen Moment lang war ich sogar versucht, einfach die Tür aufzustoßen und mitsamt dem Raben das Zimmer zu stürmen. Dann aber hörte ich Jürgen von drinnen.

»Ja, bitte?«

»Jürgen, ich bin es, Mellia.«

»Mellia? Ist was passiert?«

»Das weiß ich nicht«, gab ich gedämpft zur Antwort. »Der Rabe ist hier.«

»Was?«

Ich hörte ein dumpfes Poltern, dann öffnete sich die Tür und ein einigermaßen verschlafener Jürgen steckte seinen Kopf heraus.

Nur ganz nebenbei nahm ich seinen dunkelgrauen Pyjama in Augenschein und ertappte mich bei dem Wunsch, den seidig glänzenden Stoff anzufassen.

»Gute Güte, Mellia. Was ist denn los?«

»Das wüsste ich auch gern«, gab ich halblaut zurück. »Also ja, der Rabe will was, glaube ich. Jedenfalls klebt der mir eben wie wild am Fenster und macht einen Saulärm, und ich kann mir keinen Reim darauf machen.«

»Nicht?« Jürgen gähnte verhalten. »Tja, was reimt sich auf Fenster? Gespenster zum Beispiel. Fragen wir doch Herrn Schubert, was hier los ist. Oder willst du lieber auf Saulärm reimen?«

»Jürgen, nun sei doch mal ernst.«

Er kicherte.

»Entschuldige. Ich bin noch nicht ganz wach. Komm doch herein, wir wollen ja nicht den Hotelflur zusammenblöken. Was ist mit Viola?« fragte er dann.

»Die ist nicht da.«

»Was?«

Diese Mitteilung schien ihn endgültig zu ernüchtern. Seine Miene zeigte einen Anflug von Besorgnis.

»Aber sie wollte doch … Ja, gut, aber — hm.«

Dann fiel sein Blick auf den Vogel, der an mir vorbei ins Zimmer hüpfte.

»Und das ist doch wohl ihr, also unser Rabe?« fragte ich.

»Ja, muss schon.« Jürgen betrachtete den Vogel aufmerksam und schloss dann leise wieder die Zimmertür. »Doch, das ist er. Wie spät ist es?«

»Halb vier durch. Wir hätten sie nicht einfach so gehen lassen sollen«, sagte ich unbehaglich.

Jürgen sah mich verwundert an.

»Viola kann doch eigentlich auf sich selber aufpassen.«

»Ja, das dachten wir.«

»Außerdem, so schnell, wie die weg war, hätten wir sie auch kaum hindern können.«

»Sehr wahr. Nun, wenn Viola nicht da ist und auch vielleicht nicht zurückkommen kann aus irgendwelchen Gründen — dann will der Rabe uns ja vielleicht genau das mitteilen.«

»Ja, aber?«

Jürgen schien doch immer noch zu schlafen.

»Ja, aber ich kann kein Rabisch, zum Henker, und Viola, die ihn verstehen würde, ist nicht da. Könnte der nicht vielleicht Ente sprechen oder Taube?«

»Kann er nicht. Also, was ist denn nun los?«

Diese Frage war zur Abwechslung nicht an mich gerichtet, sondern an den Raben, der sich auch hier wieder auf den Bettpfosten gesetzt hatte und nun uns beide alarmiert aus seinen Vogelaugen beglotzte. Jürgen schaute ebenso aufmerksam, aber sehr ruhig zurück.

Und wieder fing der Rabe mit seinen Erklärungen an, er krähte und keckerte und gestikulierte mit den Schwingen: was so ein Vogel eben tut, wenn er hofft, verstanden zu werden. Ein bisschen klang es wirklich, als hätte er etwas zu erzählen, nur waren eben keine Laute darunter, die für mich irgendeine nur denkbare Bedeutung gehabt hätten.

Auch Jürgen hörte sich das alles an, und seine Miene ließ in mir die Frage aufklingen, ob er vielleicht mehr verstand als ich. Endlich ging er zum Fenster und öffnete es, woraufhin der Rabe sofort auf den Sims flatterte und sich nach draußen in die Nacht absetzte.

Jürgen blickte mich ernst an.

»Und jetzt sollten wir schleunigst hinterher.«

»Was denn?« Ich starrte einigermaßen verblüfft zurück. »Sollen wir aus dem Fenster springen?«

»Unsinn, wir nehmen natürlich die Treppe. Zieh dir was über, Mellia, wir müssen in den Wald.«

»In den Wald?« Ich wünschte mir dringend mehr Zeit zum Staunen.

»Wahrscheinlich, ja.«

»Aber welchen Wald denn?«

»Was weiß denn ich, keine Ahnung. Folgen wir einfach dem Raben.«

»Oh, na gut. Also ist Viola im Wald? Aber woher weiß der Rabe das? Und drittens: Warum müssen wir sie abholen, wenn sie doch offenbar auch allein hinkam?«

»Lange Geschichte.«

Jürgen fuhr in seine Kleidung, und weil keine Zeit für lange Geschichten war und ich keine Lust hatte, nachts im Hemdchen durch den Winterwald zu stapfen, lief ich rasch zurück ins Zimmer und warf mir alles an warmen Sachen um, was ich auf die Schnelle fand.

Jürgen stand schon an der Treppe parat, und leise rannten wir hinunter und durch das Foyer. Der Nachtportier an der Rezeption warf uns einen besorgten Blick zu, sagte aber nichts und fragte nichts: So diskret waren die hier und ließen ihre Gäste in Ruhe, wenn die nicht ausdrücklich nach Hilfe fragten.

Jürgen fragte nicht nach Hilfe, und wir huschten hinaus auf den Platz, wo auch ganz richtig der Rabe — reichlich ungeduldig von einem Vogelfuß auf den anderen hüpfend — auf uns wartete.

Kaum sah er uns aus der Tür treten, hob er auch schon ab und flog uns voran über den Marktplatz, der inzwischen verwaist war bis auf ein paar späte Feuervögel, Glühwürmchen und vereinzelte Nachtschwärmer, die an uns vorüberflogen.

Mir ging ein Lied im Kopf herum, das gerade überall in den Radios lief und in dem jemand verfolgt werden musste, wohin er auch ging. Sehr lästig, weil ich nebenher mitsummte, während ich schnaufend und keuchend hinter Jürgen und dem Raben herstolperte. Dabei hätte ich meinen Atem gern für andere Dinge genutzt, beispielsweise um Jürgen die eine Frage zu stellen, die mir seit neuestem auf der Seele brannte: ob er allen Ernstes Rabensprache verstand und warum das niemand von uns wusste.

Dabei, so verwunderlich war es nun nicht. Was wussten wir überhaupt von Jürgen? Jedenfalls soviel, dass dieser Rabe, lange bevor Viola eine Neigung zu dem Vogel gefasst hatte, zumeist bei ihm gewesen war. Warum sollten die beiden sich nicht in seinem Zimmer unterhalten haben? Es kam mir nur so eigentümlich vor, weil ich nie darüber nachgedacht hatte, aber im Grunde war es wie mit Knut und mir: Es gab so vieles, was man voneinander nicht wusste.

Je länger ich über diesen Punkt nachgrübelte, umso sinniger erschien es mir, ein solches Gespräch auf eine andere Gelegenheit zu verschieben. Jetzt war Viola wichtig, die wir anscheinend von irgendwo abholen sollten, und Jürgen wusste immerhin das eine, dass es eilte.

»Und wo bitteschön ist hier der nächste Wald?« fragte ich atemlos.

Jürgen bedachte mich mit einem beinahe mitleidigen Blick, und ich winkte ab.

»Schon gut.«

Ja, ich war selber noch nicht ganz wach, sonst hätte ich gewiss nicht eine solche Anfängerfrage gestellt. Natürlich, es musste irgendwo eine Pforte geben.

Kurz darauf war der Vogel auch schon in einem Torbogen verschwunden, und Jürgen und ich, ihm nachjagend, standen im nächsten Moment mitten im finsteren Wald. Soviel zu meiner Frage.

Verwirrt blickte ich um mich. Wo waren wir denn hier? Hatte Viola nicht nach Kachni-Ribbeniek wollen? Gut, sie hatte zu Timon wollen, und wer konnte schon wissen, wo der sich herumtrieb. Anscheinend in einem finsteren Walde, und das mochte ja sein. So Zauberer hatten sicher ihre eigenen Bräuche und Traditionen, um den Jahreswechsel zu begehen, was wusste denn ich davon? Es war allerdings auch möglich, dass sie nie bei ihm angekommen war — ansonsten es doch wohl an ihm gewesen wäre, sie wohlbehalten zu uns zurückzubringen.

Immer noch dem Raben folgend, erreichten wir eine kleine Lichtung, wo Schnee das spärliche Mondlicht reflektierte und man besser sehen konnte als zwischen den Bäumen im finsteren Tann.

Was ich sah, war der Rabe, der über einem lavendelfarben schimmernden Lumpenhaufen auf und ab flatterte, endlich aber auf einem Ast landete und uns die Szene überließ.

Ein seltsam zartfarbiges Leuchten ging von dem stillen Haufen aus, und ich musste an blausilbernes Mondlicht denken, aus dem man gewisse Tränke bereiten konnte. Ganz unpassenderweise begann ich zu überlegen, ob diese geheimnisvolle Zutat wohl in Winternächten auf verschneiten Waldlichtungen abgeerntet wurde. Denn so sah das hier aus: als könnte man ganze Körbe von Mondlicht in dieser Farbe hier wegtragen.

Aber dies war kein Mondlicht-Erntefeld. Der farbige Glanz kam von dem luftigen Feierkleid, darinnen Viola vor Stunden so überstürzt davongelaufen war, und von ihrem hellblauen Haar, das beinahe weiß schimmerte. Wie schlafend lag sie hier mitten im Schnee auf der Waldlichtung, und sie war es, die ganz dringend von hier weggetragen werden musste.

Kapitel 2

Die Zeit war stehengeblieben, oder so kam es mir vor. Vielleicht lag es an der Waldesstille und dem unwirklichen Licht. Oder ich selber war in der Zeit festgefroren, wenngleich nur für einen Augenblick.

Im Gegensatz zu mir war Jürgen recht schnell wieder in Bewegung gekommen. Schon kniete er neben Viola im Schnee und machte sich an ihr zu schaffen: Er berührte sie sacht und prüfte anscheinend ihre Lebensfunktionen, was man eben so tut, wenn man jemand Vertrauten in unvertrauter Haltung findet und nicht weiß, wie es dem geht.

Der Rabe saß zur Abwechslung jetzt ganz still auf seinem Zweig über den beiden. Er hatte uns hierher geführt, sein Auftrag war erledigt — von wem auch immer dieser Auftrag gekommen war.

Mich erfasste ein solch kalter Grusel, als ich Viola da liegen sah, so hellblau und schlafend, dass ich mich gar nicht an sie herantraute. Es war Jürgen, der handelte und das wahrscheinlich Richtige tat, während ich hauptsächlich mit meiner Verwirrung beschäftigt und keine große Hilfe war.

Viola sah aus wie in einem Eiswürfel eingeschlossen. Ihre hellblauen Haare, das seltsame Schulterfellchen und das Kleid wie auch ihr gesamter Körper waren von einer kristallinen Eisschicht eingehüllt. Das sah hübsch und nach einem interessanten Märchen aus, war aber ganz bestimmt nicht gesundheitsfördernd.

Endlich wagte ich die Frage, die ich mich kaum zu stellen traute.

»Was … ist mit ihr?«

»Sie schläft«, sagte Jürgen.

»Die schläft? Hier mitten im Wald?« fragte ich etwas dümmlich. »Ist sie etwa verzaubert oder so was?«

»Das zu beurteilen liegt jenseits meiner Kompetenzen.«

»Aha.«

»Klar ist indessen, sie muss hier weg und an irgendeinen Ort, wo jemand ihre Metamorphose überwachen kann.«

»Ihre was?«

Verblüfft starrte ich ihn an. Wer von uns ging denn hier auf die Feenakademie? Hatte ich etwas verpasst? Waren die Gehirne von Jürgen und Viola durch irgendeinen seltsamen Uhrenspuk vertauscht worden? Und dann fiel mir seine Bemerkung von der Hokuspokus-Akademie ein, die mich damals so verwirrt hatte. Ja, ich hatte anscheinend eine ganze Menge verpasst, oder nicht aufgepasst, oder es war schlicht an mir vorbeigegangen, dass es zumindest im Falle von Jürgen weit mehr zwischen Berg und Tal gab, als meine unterentwickelte Feenweisheit sich bislang ausgemalt hatte. Jedoch, auch über dies alles nachzugrübeln fehlte im Augenblick die Muße. Hier beschränkte ich mich darauf zu hoffen, dass Jürgen nicht nur die Fäden in der Hand hielt, sondern auch an den richtigen Enden zog.

Während ich dies noch dachte, war er auch schon bei der Tat und versuchte Viola aus dem Schnee zu klauben, um sie mitzunehmen — wohin auch immer, aber auch das schien er ja genau zu wissen. Er hatte sogar eine Extrajacke für sie dabei, und ich wunderte mich ein weiteres Mal, wie gut informiert er in diese Mission gegangen war. Der würde mir nachher eine ganze Menge Fragen beantworten müssen.

Er wickelte die Jacke um sie herum und machte dann Anstalten, sich die scheinbar leblose, auf jeden Fall aber bewusstlose Viola auf die Schultern zu hieven. Nun war Jürgen nicht so gestaltet, dass er Viola allein hätte tragen können. Das Unterfangen war nachgerade aussichtslos, das sah ich gleich.

»Vielleicht hättest du die Güte, mir zur Hand zu gehen?« fragte er höflich in meine Richtung. »Wenn du weiter da herumstehst, wirst du am Ende auch noch blau, und zwei von euch kann ich nicht tragen. Ehrlich gesprochen kann ich nicht einmal Viola tragen, es wäre also hübsch von dir, wenn du mit anfasstest.«

Ich erwachte aus meiner Erstarrung.

»Ja, ach ja. Natürlich.« Zögernd näherte ich mich dem seltsamen Bilde. »Ist sie denn überhaupt transportfähig?«

»Hier liegenlassen können wir sie jedenfalls nicht.«

»Also mitnehmen, ja gut. Nur wie und wohin? Zu Frau Holda vielleicht. Aber wie soll das gehen?«

Die Wahrheit war, ich sah mich gar nicht in der Lage, mich derart zu konzentrieren, dass ich von mitten aus dem Weißnichtwo eine Pforte ins Irgendwoanders herstellen konnte.

»Die Pforte ist nicht unsere Sorge.«

»Ist sie nicht?«

»Nein. Der Rabe hat uns hierher geführt, also wird er uns auch zurückbringen.«

»Also geht es nur um den Transport? Aber bitte, du hast doch auch sonst an alles gedacht. Warum hast du nicht gleich noch eine Sänfte mitgenommen, in der wir Viola davontragen können?«

Jürgen grinste, erst zum zweiten Mal, seit ich ihn geweckt hatte, und das tat mir gut. Es hatte plötzlich einen Anflug von Normalität, wie wir hier nachts in einem fremden Walde standen, vor uns eine schlafende blaue Viola, die wir irgendwie davonschaffen mussten, auch wenn ich immer noch nicht wusste, was sie da tat und warum gerade hier. Schon deswegen mussten wir sie dringend und vor allem lebend nach Hause bekommen, um ihr das alles entfragen zu können.

Der Rabe hatte die ganze Zeit mit einiger Seelenruhe dagesessen und uns genau beobachtet. So langsam wurde er aber ungeduldig und fing wieder an, auf dem Ast hin und her zu trippeln und zu hüpfen.

So viel war sicher, die blaue Fee konnten wir ihm nicht noch aufladen, also packte ich mit an. Aber es ging mehr schlecht als recht. Ja, wäre Peter hier gewesen. Der hatte ja auch schon Jürgen durch die Stadt getragen, als der nach seinem Ausflug in die Graue Welt etwas unpässlich gewesen. Aber eben, Peter war nicht hier, und wir mussten uns zu zweit mit Viola abmühen.

Ihr Körper war eiskalt, ganz egal, wo ich sie anzufassen versuchte. Und wo war noch mal die Pforte gewesen, durch die wir hierhergelangt waren? Von dort müsste man sie dann ins Hotel schaffen, auch wenn das einiges Aufsehen erregen würde, selbst bei unserem notorisch diskreten Nachtportier.

Mir froren schon jetzt die Finger, und wenn ich sie länger als ein paar Minuten lang tragen müsste — und wohin denn überhaupt? Außerdem hing sie durch, das war doch alles nicht machbar.

»Du hast recht«, sagte Jürgen. »Wir hätten besser eine Decke mitgenommen, darin könnten wir sie einwickeln und wie einen Teppich schleppen.«

Noch einmal setzten wir Viola ab und versuchten es auf eine andere Weise. Als wir sie endlich halbwegs sicher tragen konnten, ohne ihr die Gelenke auszuhebeln, flatterte der Rabe auf, bereit, uns mit unserer kostbaren Last zu eskortieren. Schon hatte er eine neue Richtung im Blick, vielleicht eine neue Pforte? Jürgen hatte recht, dies war nicht unser Problem. Wir würden einfach dem Raben nachlaufen.

Wir verließen die Lichtung und kämpften uns eine Weile durch Gestrüpp und Unterholz. Immerhin waren wir jetzt im Tritt und kamen auch gut voran, als wieder etwas Neues und gänzlich Unvorhergesehenes passierte.

Direkt vor uns trat plötzlich Frau Birnenschein zwischen den kahlen Bäumen hervor.

»Ah, das ist schön, dass ich euch hier treffe.«

»Wie bitte?«

Verdattert hielten wir an.

Ich verstand immer weniger von dem, was hier vorging. Ich träumte doch wohl. Und meine Mentorin hatte die Stirn, mir in meinem Traum einen Besuch abzustatten.

»Frau Birnenschein«, sagte ich, »was tun Sie denn hier? Sintemal um diese Zeit, will sagen so mitten in der Neujahrsnacht auch, und wenn wir schon dabei sind: Wo genau ist eigentlich hier?«

Meine Mentorin lächelte nachsichtig.

»Das sind sehr viele Fragen«, stellte sie fest.

»Finde ich nicht«, gab ich zurück. »Ich finde—«

»Schluss jetzt«, kommandierte sie dann ungewohnt harsch. »Jürgen, gib mir Viola.«

»Ja, natürlich. Gerne.«

Anders als ich schien er durchaus geneigt, seinen Part in diesem Schelmenstück — oder war es ein Schauerstück? — ohne Einwände an sie abzutreten. Er lud ihr die schlafende Viola auf, und Frau Birnenschein schickte sich an, mit ihr auf dem Arm in die Finsternis des Waldes davonzustapfen.

»Kommt mit«, rief sie noch über die Schulter, dann war sie verschwunden.

Ach so, wieder eine Pforte. Von dort also war sie so unvermittelt erschienen.

Jürgen und ich tauschten Blicke und folgten ihr wortlos. Wir staunten nicht schlecht, als wir uns plötzlich auf einer nächtlichen Wattewiese befanden. Aber das kannte ich doch hier! Zwar nicht bei Nacht, aber doch an einem ungewöhnlich kalten Novembernachmittag war ich schon einmal hier gewesen, und das dort drüben war ganz unverkennbar Frau Holdas Wolkenschloss. Hier hatte ja Viola, wenn es nach Frau Holda gegangen wäre, von Anfang an hinsollen. Nun kam sie ganz unfreiwillig her und ohne etwas davon zu bemerken.

Wir wurden schon erwartet. Keine Liesel war da, um uns zu öffnen, natürlich, und auch kein neues Mädchen schien sich bislang hier oben eingefunden zu haben. Frau Holda selbst stand am Wolkenvorhang und nahm uns alle in Empfang, als habe sie nichts anderes erwartet, als uns heute Nacht hier zu Gaste zu haben. Vielleicht stand sie auch schon seit dem Abend der Wintersonnenwende auf der Schwelle parat, wer konnte es wissen.

Frau Birnenschein trug Viola, die immer noch ganz blau und leblos aussah, hinein und ging mit ihr gleich bis nach hinten durch. Man brachte sie in der kleinen Kammer unter, wo bis vor kurzem noch Liesel gewohnt hatte und die nun leer stand, zum Glück für alle beide: für Viola, die hier ein Plätzchen fand, und auch Liesel, die man spätestens jetzt hätte ausquartieren müssen.

Aus der Küche pfiff ein Teekessel. Während Frau Holda sich um Viola kümmerte, lotste Frau Birnenschein uns durch die gute Stube, wo sich seit meinem letzten Besuch nicht viel verändert hatte: der große, runde Tisch mit der Spitzendecke, helle Tüllgardinen — oder war das Wolkenstoff?

---ENDE DER LESEPROBE---