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Die Sommerferien stehen vor der Tür, und Mellia möchte sich über einiges klarwerden, ehe sie für sechs Wochen die Würfelwinkel-WG verlässt. Aber Jürgen ist nicht sehr hilfreich bei ihrer Suche nach Wahrheiten, und auch daheim in Erichshof ist es nicht ganz leicht, sich wieder in ihr früheres Dorfleben einzufinden. »Mädesüß« ist die fünfte Folge der Würfelwinkel-WG. Die Serie erzählt in 26 Teilen von der Feenstudentin Mellia Weiselhain, ihrer märchenhaften Wohngemeinschaft und — ganz nebenbei — auch noch die Vorgeschichte zu »Prinzessin Beribetscha«. Märchenreich, 1961. In der Reichsstadt Demiawiburg gibt es drei Hochschulen, jede Menge Studenten, Exilanten aus den benachbarten Königreichen und der Grauen Welt — und ein Haus im Würfelwinkel Nummer 17, dessen zusammengewürfelte Bewohner sich erst zusammenraufen müssen, um die alltäglichen Herausforderungen in einer märchenhaften Reichsstadt zu bestehen: Hexen, Zwerge, verzauberte Frösche, ein verwunschener Fernsehmoderator, drei Prinzen, die um die Thronfolge wetteifern, und das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Toreschluss in die Stadt zurückkommt. Zum Glück hält nicht nur Frau Holle ihre schützende Hand über die bunte Schar. Dennoch erfahren Mellias Ambitionen, eine gute Fee zu werden, manche ungeahnte Kehrtwende. Wird sie nach drei Jahren die Abschlussprüfung bestehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Cassandra Leuenroth
Die Würfelwinkel-WG
Folge 5: Mädesüß
Juli 1961
© CEGL, 2021
Lorichsstraße 28a
22307 Hamburg
Umschlagentwurf: TheaDelphia
Lektorat & Korrektorat: Albert Lossat
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
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Kapitel 1
»Rat mal, wer geschrieben hat!«
Rosie rannte mit flatterndem Briefpapier über den Hof auf die Prinzessin zu.
»Bist du verrückt geworden? Was schreist du denn so über den Platz? Sollen dich alle hören?«
»Ich dachte ja nur, dass es dich interessiert«, sagte die Zofe kleinlaut.
»Ja, mich vielleicht. Das kommt darauf an, was es ist. Aber was auch immer es ist, es interessiert ganz sicherlich nicht jeden anderen hier, und schon gar nicht geht es meine Eltern an. Nun sag schon, hast du einen Brief von Andi?«
»Nein. Von Andi nicht …«
»Ach so.«
»Aber von Mellia, und das ist gerade so interessant wie das.«
»Ach, wirklich?« Beribetscha zupfte gelangweilt an ihrem Ärmelsaum. »Mellia — ist das nicht deine Freundin aus diesem langweiligen Eskellem? Ich hatte die schon beinahe wieder vergessen. Wo wohnten die noch? Solche Sachen merke ich mir nie.«
»Die wohnen in Demiawiburg«, versetzte Rosie kopfschüttelnd. »Wir waren doch neulich da! Wie kannst du denn immer alles vergessen? Aber pass auf, und jetzt kommt’s. Andi ist nämlich auch in Demiawiburg.«
»Nein was, wirklich? Dann sag das doch gleich!« Die Prinzessin entriss ihr den Brief. »Deswegen kommt er nicht mehr her, der treulose Tropf. Und was macht er aber jetzt bei Mellia?«
»Ja, pass auf, eine ulkige Geschichte. Er ist nämlich jetzt ein Frosch, und die beiden — also Mellia und Viola — haben ihn aus dem Zauberwald gefischt.«
»Frösche werden nicht gefischt«, sagte Beribetscha streng und runzelte dann die Stirn. »Aber wieso — warum denn ein Frosch? Was soll denn das für ein dummer Scherz sein?«
»Gar kein Scherz.« Rosie schüttelte wieder den Kopf, diesmal vor Eifer. »Es ist alles so, wie hier steht.«
»Ach ja? Und woher weißt du das? Und was überhaupt steht denn da? Lass doch mal sehen.«
Beribetscha nahm endlich das entfaltete Blatt vor und las mit wachsender Verwunderung die darin stehenden Zeilen.
»Also, was sagt man dazu?« sagte sie bekümmert und ließ den Brief sinken. »Was tun wir nun? Am besten die ganze Sache schnell vergessen, was?«
»Aber nein!« Rosie machte ein entsetztes Gesicht. »Wir müssen sofort da hin!«
»Da hin? Du bist wohl nicht bei Trost. Und warum bitte sollten wir da hin? Meinst du, ich kann es mir leisten, mit solch kruden Geschichten in Verbindung gebracht zu werden? Außerdem, was sollte ich wohl mit einem Frosch anfangen? Nein, nein, wir müssen das ganz rasch vergessen. Wir fahren selbstverständlich nicht nach Demiawiburg, um einen Frosch zu besichtigen, und ich kenne auch keinen Andi mehr. Schade ist’s schon, denn er war hübsch und amüsant, aber nein, was sollen denn die Leute denken?«
»Was für Leute?« fragte Rosie verwundert. »Bisher hast du Andi doch immer geheim gehalten.«
»Ja, und was für ein Glück. Denke nur, es würde jetzt plötzlich jemand nach ihm fragen!«
»Außerdem geht es ja nicht darum, ihn zu besichtigen«, beharrte Rosie. »Du musst ihn natürlich erlösen!«
»Was denn, ich?« Beribetscha machte ein empörtes Gesicht. »Was geht denn mich ein Frosch an? Erlöse du ihn doch, wenn dir soviel an ihm liegt!«
Rosie stand bestürzt.
»Aber es ist doch dein Frosch!«
»Mein Frosch? Ich habe keinen Frosch. Ich hatte nie einen Frosch, und ich wollte auch nie einen Frosch.«
»Das kann ich mir denken. Aber weißt du was? Ich kann auch allein hingehen.«
»Ach ja?« sagte Beribetscha. »Seit wann kannst du gehen, wohin du willst?«
»Seit ich einen freien Nachmittag in der Woche habe. An dem kann ich nämlich machen, was ich will, und ich kann auch gehen, wohin ich will.«
»Du bist ganz schön dreist«, sagte Beribetscha.
Aber es stimmte leider. Rosie hatte, seit sie nicht mehr in der Küche arbeitete, zwar nur noch einen Nachmittag in der Woche frei, aber an dem konnte selbst sie, die Prinzessin Beribetscha von Altamaris, nichts dagegen unternehmen, wenn ihre Zofe Pforten nach sonstwohin machen wollte. Ein Skandal, wenn man es recht bedachte.
»Also«, sagte Rosie fest, »dann ist es ausgemacht. Ich gehe morgen nach unserem Frosch sehen.«
»Ach, jetzt ist es plötzlich unser Frosch!« rief die Prinzessin erbost.
»Na ja gut, dann ist es mein Frosch, denn du wolltest ja keinen Frosch. Ich aber kümmere mich um die Leute.«
»Was soll denn das nun wieder heißen? Denkst du, ich kümmere mich nicht?«
»Ja, das denke ich.«
»Es kümmert mich sehr wohl, was die Leute denken. Wenn nun jemand davon erführe, dass ich mit einem Frosch angebandelt habe? Nicht auszumalen!«
»Keine Sorge, es weiß doch niemand von ihm«, sagte Rosie. »Er war dir ja nie gut genug, um dich mit ihm in der Stadt zu zeigen — oder ihn gar deinen Eltern vorzustellen. Aber du musst ja auch nicht mit, ich sagte es schon. Ich gehe gern allein.«
»Ach ja?« sagte Beribetscha in schneidendem Tone. »Das kann ich dir auch leicht verbieten.«
»Nein, kannst du nicht. Nicht an meinem freien Nachmittag.«
»Aber ja kann ich das. Ich kann hingehen und sagen, du darfst die Stadt nicht verlassen. Auch nicht an deinem freien Nachmittag.«
»Na gut«, sagte Rosie, »aber kontrollieren kannst du es nicht. Ich könnte eine Pforte machen — hopsi, weg bin ich! — und mich ein Jahr lang in Demiawiburg verstecken. Und wollen wir wetten, dass du mich da nicht findest? Und nach Jahr und Tag kann ich überall hingehen, wo ich will.«
»Das wird ja immer besser!« tobte Beribetscha. »Was hättest du denn davon?«
»Eine ganze Menge«, sagte Rosie, »während du nur verlieren kannst.«
Die Prinzessin glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.
»Was kann ich?«
Dummerweise hatte die Zofe auch damit Recht. Nur deswegen ja hatte Beribetscha ihren Eltern so lange in den Ohren gelegen, bis man Rosie gegen ihr vorheriges Kammermädchen ausgetauscht hatte. Pech für Sofie, dass sie jetzt in den Küchendienst musste, aber war auch eigentlich egal. Rosie war eben brauchbarer für ihre Zwecke.
Beribetscha kicherte bei dem Gedanken an die Waldmeisterpforte, die sie auf dem Gignomaiplatz gemacht hatten. Dass Rosie das auch ohne diesen merkwürdigen Beutel gekonnt hätte, dessen war sie sich inzwischen sicher. Aber für sie selbst hatte die kleine Stofftüte ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Oder wie sonst hatte das zugehen können? Sie hatte sich nur gewünscht, es möge einmal etwas ganz Neues und Interessantes passieren, und schon war eine ganz neue Türe aufgesprungen und hatte einen interessanten und hübschen Graufex herangezaubert.
Ja, Andi. So ein Trottel, dass er sich im Zauberwald hatte verhexen lassen. Hatte sie ihm nicht hundertmal gepredigt, dass man nicht zu weit in den Wald gehen durfte? Dass dem alten Hexenmeister, der da drinnen hauste, einfach nicht zu trauen war? Aber nein. Andi, der hübsche Andi, der immer seine Gedanken wer weiß wo hatte, der musste natürlich überall herumtappen, wo er nichts verloren hatte, und sie saß jetzt hier und sollte sich darum kümmern. Als hätte sie neben all ihren Reichspflichten sonst nichts zu tun.
»Tut dir Andi denn gar nicht leid?« fragte nun Rosie betrübt. »Er ist ganz gewiss nur deinetwegen ein Frosch geworden.«
»Dagegen verwahre ich mich! Ich habe ganz bestimmt nichts damit zu tun, dass Andi ein Frosch ist. Das wüsste ich doch wohl. Von mir aus müsste er kein Frosch sein, und ganz ehrlich, ich hätte es auch durchaus lieber, wenn er kein Frosch wäre. Er ist nämlich sicherlich als Frosch nicht so hübsch, wie er als Nichtfrosch war.«
»Das kannst du doch gar nicht beurteilen«, sagte Rosie. »Du müsstest ihn erst einmal sehen.«
»Ich will ihn aber nicht sehen!«
Wütend zerknüllte Beribetscha den Brief und warf ihn ihrer Zofe an den Kopf. Rosie verzog keine Miene. Wortlos hob sie das Blatt auf und strich es wieder glatt.
Ach, wenn sie es doch nur selber könnte, dieses Pfortenmachen! Beribetscha hatte keine Ahnung, warum ein ungebildetes Küchenmädchen ihr darin weit überlegen war. Und sie fand es sehr ungerecht. Sie hätte Rosie auch bei den Eltern anzeigen können, weil sie ganz unerlaubt das Königreich Altamaris verlassen hatte. Immerhin gehörte sie der Königsfamilie. Stattdessen hatte sie ihr noch eine Beförderung verschafft, und was war der Dank? Verschwinden wollte sie und am End gar eine freie Person werden! Und sie, die Prinzessin von Altamaris, hätte dann keinen Freifahrschein mehr in alle erdenklichen Reiche und wäre ebenso eingesperrt wie vordem ihre unfreie Kammerzofe! Wer auch immer die Gesetze dieses Landes gemacht hatte, konnte nicht bei Trost gewesen sein.
Ungeduldig schüttelte Beribetscha ihre kupfergoldenen Locken.
Doch, natürlich zeigte sich Rosie dankbar für jede Gefälligkeit, die ihr zuteil ward. Dass Beribetscha sich sogar die Mühe gemacht hatte, ihr Lesen und Schreiben beizubringen. Das wenigstens sollte eine Zofe können, denn man konnte ja nicht immer selbst zur Stelle sein, um ihr Anweisungen zu geben. Und ja, zugegeben: Ein bisschen hatte sie Rosie mittlerweile doch auch liebgewonnen, mit ihrem sonnigen Mondgesicht und dem stets heiteren Wesen. Wessen Herz würde ihr nicht zufliegen?
Dennoch, was sollte die plötzliche Aufmüpfigkeit? Im Grunde hatten sie doch beide einen Gewinn aus dieser Zusammenarbeit, die Rosie mitunter eine Freundschaft nannte, was Beribetscha ihr aus taktischen Gründen durchgehen ließ. Wenn sie nur nicht unausgesetzt solch einen Wust an Unfug plappern würde! Wirklich, Rosie würde noch eines Tages sich — wenn nicht sie beide! — um Kopf und Kragen reden.
Beribetscha überlegte eine Weile. Im Grunde konnte es ihr ja wirklich ganz gleich sein, was Rosie an ihren freien Nachmittagen tat. Aber Andi war immer noch ihre Sache. Und deswegen musste sie den Schein wahren, was bedeutete: Wenn Rosie nach Demiawiburg reiste, dann nur deswegen, weil Beribetscha es wollte.
Sie nahm ihrer Zofe den Brief aus der Hand.
»Ich sage dir etwas, Rosie. Wenn Andi meint, er könne sich im Zauberwald zum Narren machen und mich in Demiawiburg gleich mit, dann soll er was erleben. Du hast morgen deinen freien Nachmittag? Schön, darüber reden wir noch. Aber heute wirst du mich in diesen Würfelwinkel nach Demiawiburg bringen.«
Kapitel 2
Die Wiesen hinter dem Finsterwalder Tor sahen in der Nachmittagssonne ganz anders aus als neulich im unsteten Mondenschein der Johannisnacht.
Ach, hier waren wir gewesen, dachte ich ein ums andere Mal. Hinter dem zarten Gestrüpp, das ich schon vom Sehen — besser gesagt vom Nichtsehen — kannte, ragten die hohen Wipfel des Zauberwaldes auf.
Ich sah mich in der Landschaft um, fand aber keine Stelle, wo ich unbeobachtet ein paar Übungen hätte machen können. Hinter mir lauerten die Wächter auf der Zinne, die allen Davongehenden argwöhnisch hinterherspähten, und auf dem Weg, der um den Zauberwald herumführte, waren unerwartet viele Leute unterwegs. Etliche Pferdewagen kamen mir entgegen, einige Wagen ohne Pferde, Fußgänger, Radfahrer, Pilger und Leute, die wahrscheinlich in Demiawiburg arbeiteten oder Arbeit suchten, außerdem Touristen und ein paar Leute, bei denen ich im Zweifel war, ob man die durch das Tor lassen würde. Es war da ein Treiben auf dem Finsterwalder Pfad, dass es eine Art hatte.
Ich bekam eine Ahnung davon, warum man Kräuter in dieser Gegend besser nachts pflückte, und auch für andere heimliche Dinge war der helle Nachmittag hier draußen nicht die ideale Stunde. Ich ging ein Stück den Weg entlang, der zuerst in Richtung Zauberwald führte und dann nach einigen hundert Klaftern einen großen Bogen darum machte. Natürlich, denn auch wenn das Tor so hieß: Die Leute, die auf diesem Pfad unterwegs waren, wollten ganz sicherlich nicht durch den Finsterwald geschleust werden.
Also bog ich auf der Suche nach etwas Sichtschutz irgendwann ins nahe Gestrüpp ab, das jetzt bei Tage sehr übersichtlich neben dem Weg angeordnet war. Dort ging ich hinein und suchte nach einer geeigneten Stelle für mein kleines Experiment.
Nachdem ich von Frau Birnenschein erfahren hatte, dass die Stadtmauer eine eingebaute Pfortensicherung hatte und man sich nicht einfach so hinein- und hinauswünschen konnte, hatte ich einige Nachforschungen angestellt, und mir war ein Licht nach dem anderen aufgegangen.
Zuerst hatte ich herausgefunden, dass Ursel, die fraglos ein ganz unerhörtes Talent zum Pfortenmachen hatte, zwar ein Zimmer im Studentenheim bewohnte, dass aber auch ihre Eltern ein Haus in Demiawiburg besaßen. Für Ursel war es deshalb gar keine Tat, per Pforte in die heimische Küche zu reisen, weil sie dafür nicht durch die Stadtmauer musste. Nachdem ich das einmal wusste und mich in den Übungsstunden bei Frau Be endlich auf die Dinge beschränkte, die sie mir aufgab, ging es mit Riesenschritten voran.
Denn ja: Natürlich hatte sie mich jeweils angewiesen, mich an einen Zielort entweder unten in unserer Wohnung oder irgendwo in der Akademie zu denken. Aber ich hatte ja nicht auf sie hören wollen, sondern vielmehr gemeint, ich müsse doch dort am leichtesten hinfinden, wo ich mich am besten auskannte. Denn so gingen ja die Regeln beim Pfortenmachen. In meinem Trotz hatte ich außerdem gedacht, dass Frau Birnenschein es erstens ohnehin nicht merken würde und dass es ihr zweitens egal sein dürfte, wenn ich nur irgendeine Pforte schaffte. Im übrigen erschien es mir ganz und gar witzlos, eine Pforte ins untere Stockwerk zu machen, weil ich ja dafür schließlich auch die Treppe nehmen konnte.
Nachdem ich verstanden hatte, dass ich ausgerechnet meine Lieblingswiese niemals finden würde, wenn ich dafür eine von findigen Zauberern errichtete Schutzmauer durchbrechen musste, war es mit dem Pfortenmachen besser vorangegangen. Ja, ich entwickelte sogar ein ausgeprägtes Talent dafür, wie ich fand. Woher das so plötzlich gekommen war und warum ich mich wochenlang umsonst damit abgequält hatte, behielt ich dennoch für mich, weil ich mich zu sehr genierte, um meiner Mentorin die Wahrheit zu gestehen. Frau Birnenschein musste ja auch nicht alles wissen. Sollte sie doch annehmen, was sie wollte — nur nicht gerade, dass ich wieder mal dumm und eigensinnig gewesen war.
Die Pforten innerhalb des Hauses hatte ich inzwischen ganz gut im Griff, und auch die verschiedenen Ziele auf dem Akademiegelände lernte ich bald zu schätzen, schon weil sich dort der Aufruhr in Grenzen hielt, wenn jemand ganz unvermutet aus dem Nichts erschien. Zwar wurde man immer mit einigem Hallo begrüßt (und im Falle der Cafeteria auch mit einigem Hihi), kam aber wenigstens in keine Verlegenheit. Denn es war ja so: Wo immer ich auftauchte, ich wusste vorher nie, wen ich dort antreffen würde.
Jedenfalls hatte ich mir in den Kopf gesetzt, es jetzt doch noch einmal mit meiner Lieblingswiese in Erichshof zu versuchen, und dafür musste ich natürlich zuerst auf legalem Wege die Mauer überwinden, will sagen durch das Tor nach draußen gehen.
Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass mir hier draußen Heerscharen von Gestalten entgegengerauscht kommen würden, als hätte irgendwer im Zauberwald eine Büchse aufgemacht. Vielleicht hätte ich besser einen anderen Weg gewählt als ausgerechnet das Tor in Richtung Meer zur Ferienzeit.
Endlich fand ich mitten im Gestrüpp eine kleine Lichtung. Ich hoffte dringend, dass dieser Platz nicht schon zum Zauberwald gehörte und gar verwünscht war, denn wer wusste, wo ich dann hingeraten könnte.
Ein bisschen mulmig war mir doch bei dem Gedanken. Aber dann dachte ich an Violas Worte, dass der Zauberer doch eine Art Kollege von uns sei und sicherlich Verständnis dafür hätte, dass ich nicht mitten in der Stadt und auch nicht mitten auf dem Weg, wo lauter Leute waren, meine Pfortenübungen machen konnte. Das jedenfalls wollte ich ihm sagen für den Fall, dass er mich erwischte oder ich etwa in eine Falle geriet, die er hier aufgebaut haben mochte für Leute, die in seinem Walde irgendwelchen Unsinn trieben.
Immerhin war ich hier gut geschützt gegen die Blicke vom nahen Fahrweg. Ich stellte mich auf: Konzentrieren, vorstellen, hindenken … Der Duft der sommerlichen Wiesen, Sonne, Heu und Klee, das alles war wie geschaffen für das Hindenken und Vorstellen, das ich ja immer noch für die einfachsten Pforten brauchte.
Schon seit Beginn des Sommers hatte ich ein diffuses Gefühl von Heimweh, auch wenn ich doch immer behauptete, Demiawiburg sei nun mein Zuhause: der Würfelwinkel, unsere Wohngemeinschaft, die Akademie und inzwischen sogar die gute Stube von Frau Be, wo wir so manchen Nachmittag bei Kuchen und seltsamen Tees verbrachten.
Der Sommer allerdings und zumal der Juli in Erichshof war etwas Besonderes. Wenn die Wiesen nach Mädesüß dufteten und wir uns im Heu balgten oder an den Abenden auf unserer Lieblingswiese lagen … Ja, unsere Wiese. Meine Wiese war jetzt der Akademiecampus, oder so hätte es sein sollen.