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Mellia Weiselhain kommt vom Kuhdorf in die große Reichsstadt, um dort an der Feenakademie zu studieren. Schon ihre erste Mission, nämlich ein bezahlbares Zimmer zu finden, gestaltet sich schwieriger als gedacht … »Schlüsselblume« ist die erste Folge der Würfelwinkel-WG. Die Serie erzählt in 26 Teilen von der Feenstudentin Mellia Weiselhain, ihrer märchenhaften Wohngemeinschaft und — ganz nebenbei — auch noch die Vorgeschichte zu »Prinzessin Beribetscha«. Märchenreich, 1961. In der Reichsstadt Demiawiburg gibt es drei Hochschulen, jede Menge Studenten, Exilanten aus den benachbarten Königreichen und der Grauen Welt — und ein Haus im Würfelwinkel Nummer 17, dessen zusammengewürfelte Bewohner sich erst zusammenraufen müssen, um die alltäglichen Herausforderungen in einer märchenhaften Reichsstadt zu bestehen: Hexen, Zwerge, verzauberte Frösche, ein verwunschener Fernsehmoderator, drei Prinzen, die um die Thronfolge wetteifern, und das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Toreschluss in die Stadt zurückkommt. Zum Glück hält nicht nur Frau Holle ihre schützende Hand über die bunte Schar. Dennoch erfahren Mellias Ambitionen, eine gute Fee zu werden, manche ungeahnte Kehrtwende. Wird sie nach drei Jahren die Abschlussprüfung bestehen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Cassandra Leuenroth
Die Würfelwinkel-WG
Folge 1: Schlüsselblume
März 1961
© CEGL, 2021
Lorichsstraße 28a
22307 Hamburg
Umschlagentwurf: TheaDelphia
Lektorat & Korrektorat: Albert Lossat
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
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Kapitel 1
In der Reichsstadt Demiawiburg gab es drei Hochschulen: die ganz normale Universität, wo die Ministerialen ausgebildet wurden, die Musikhochschule für Gaukler und Spielleute und die Akademie für Feen- und Waldwesen. Wesen wie in Fernmeldewesen, nicht wie in Lebewesen, das hatten sie allen Ernstes in der Aufnahmeprüfung abgefragt. Das und noch manches andere, wovon bei uns zu Hause niemand eine Ahnung hatte. Ich hatte nicht alles gewusst und auch nicht alles gekonnt, aber egal. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich dennoch bestanden und würde ab April hier Fee studieren. Falls ich ein bezahlbares Zimmer fand.
Am Bahnhof hatte ich mir einen kleinen Touristenplan besorgt, auf dem die wichtigsten Dinge der Stadt zu finden waren. Es gab sicher eine Menge Möglichkeiten, an ein Zimmer zu kommen, Zeitungen natürlich oder die öffentliche Schandsäule, die es in jeder größeren Ortschaft geben sollte und an der wichtige Dinge bekanntgegeben wurden. Aber wo die hier war (und wie so ein Ding überhaupt aussah), das hatte ich noch nicht herausgefunden.
Also war die Akademie meine erste Anlaufstelle. Dass hier Wohnungsanzeigen hingen, hatte ich schon am Tag der Aufnahmeprüfungen gesehen. In der letzten Viertelstunde war ich so oft vor dem Brett hin und her geschlichen, dass ich die Texte bald auswendig kannte. Es war einiges da, aber das wenigste davon brauchbar. Helles, großes Zimmer mit Südbalkon, große Gemeinschaftsküche, keine Haustiere. 115 DSg. Demiawiburger Silbergulden also, umgerechnet 95 Reichstaler. Das war weit über meinem Budget, und die meisten Zimmerpreise lagen noch darüber.
Am Ende würde es dies hier werden: Gemütliches, möbliertes Dachstübchen bei alleinstehender Dame, für 70 Silbergulden plus Mithilfe im Haushalt. Ja, warum nicht. Davon würde ich nicht umkommen, ans Arbeiten war ich schließlich gewöhnt. Zwar hätte ich lieber zusammen mit anderen Studenten gewohnt, aber es musste ja nicht für immer sein. Nur erst einmal hier eine Bleibe haben.
Mal sehen, wenn ich Glück hatte … Es fehlte auch erst einer der kleinen Abrisse. Gerade wollte ich die Hand ausstrecken, da schnellte hinter mir ein Arm vor und riss den ganzen Zettel von der Korkwand.
»He, was …?«
Ich wandte mich um und blickte in ein Paar hellblauer Augen unter einer violetten Hochsteckfrisur. Ich erinnerte mich sofort.
»Du warst doch auch bei den Aufnahmeprüfungen«, sagte ich. »Viola, oder?«
»Stimmt. Viola Mangold.«
Klar, das hatte ich mir gemerkt: Lila Haare, lila Name.
»Und du?« fragte sie.
»Was, ich?«
»Ich meine, wie du heißt. Ich kann mich nicht an dich erinnern.«
»Ach so. Mellia Weiselhain, wir waren zusammen in der Rätselgruppe.«
»Tatsächlich?« Sie blies mir einen lavendelfarbenen Kaugummiballon entgegen. »Ja, kann sein.«
Mein Blick fiel auf die abgerissene Anzeige, die sie noch in der Hand hielt.
»Böse Hexen«, sagte sie und grinste. »Die versuchen es doch immer wieder. Als würde man bei solchen Mietpreisen nicht misstrauisch werden.«
Damit knuffte sie das Blatt zusammen und ließ es in ihrer Tasche verschwinden.
Mich durchlief ein Schauder und ich hoffte, das blieb unbemerkt. Das brauchte nun nicht jeder zu wissen, dass ich naives Landei, kaum in der Stadt, fast auf die erstbeste Hexe hereingefallen wäre.
»Ja, wirklich«, sagte ich. »So blöd muss einer sein, sich da zu melden.«
Viola sah mich prüfend und ein wenig amüsiert an.
»Wohl ein Waldpilz, wie?«
»Waldpilz?«
»Kommst nicht aus der Stadt, meine ich. Sieht man gleich.«
»Jedenfalls komme ich nicht aus dem Wald«, gab ich etwas gnulzig zurück.
»Jetzt guck nicht so, das ist doch nur ein Spruch. Ist ja nicht schlimm. Also du bist auch aufgenommen, ja?«
»Ja.«
»Und suchst jetzt hier eine Bleibe?«
Ich nickte.
»Und was gibt es hier so?« Viola ließ ihre Blicke über die Anzeigen schweifen. »Ich hatte ohnehin überlegt, ob ich mir nicht lieber eine eigene Wohnung nehme.«
»Ganz alleine wohnen?« fragte ich. »Aber das ist doch langweilig.«
»Mir gefällt’s, wenn mir keiner dreinredet. Hier, was ist damit?«
Sie zeigte auf ein Blatt, das ich auch schon sehnsüchtig betrachtet hatte.
»Uninähe mit Garten, das klingt doch ganz nett.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Da kostet das Zimmer 150 Silbergulden.«
»Na und? Das sind ja auch sechs Quadratklafter.«
»Vor allem sind das 125 Reichstaler.«
»Ach, du rechnest noch alles in Reichstaler um. Na gut. Ist in jedem Fall nicht viel für sechs Quadrate.«
»Na ja, geht so.«
»Was gedachtest du denn so anzulegen?«
»Für die Unterkunft hatte ich so 50 bis 80 Silbergulden gerechnet.«
»Das ist allerdings wenig«, stellte sie fest.
»Was soll ich machen? 120 im Monat sind ist das absolute Maximum, das meine Eltern für mich aufbringen können.«
Das war leider ein bisschen gelogen. Aber auch wenn das Wort Waldpilz anscheinend quer über meine Stirn geschrieben stand: Dass meine Eltern überhaupt kein Geld übrig hatten, das sie mir geben konnten, würde ich einer ganz Fremden sicher nicht unter die Nase reiben.
»Halten dich ja ziemlich kurz, wie?« Viola schüttelte den Kopf. »Nee, dann werden wir wohl nicht zusammenkommen. Zum Glück gibt mir mein Vater soviel, wie ich brauche. Der arbeitet für den König und hat sowieso mehr Geld, als er ausgeben kann.«
»Dein Vater arbeitet für den König?« fragte ich verwundert. »Hier in Demiawiburg?«
Ich hatte angenommen, anders als bei uns auf den Fronhöfen arbeiteten in einer freien Reichsstadt alle für sich selbst.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Doch nicht hier. In Carcambria, in der Residenzstadt von Eskellem. Er plant und verwaltet die königlichen Schlossgärten.«
»Oh, dann kommst du also aus Eskellem? Wie ich auch!«
Natürlich, die Reichsstadt lag ja sozusagen am Rande unseres Königreiches, wenngleich sie nicht dazugehörte. Demiawiburg gehörte überhaupt niemandem und verwaltete sich selbst.
»Und kennst du etwa auch den König?« wollte ich wissen.
»Klar, die ganze Familie.«
Ich staunte. Die Residenzstadt, das war für mich so weit weg wie das Schlaraffenland. Gerade, dass ich die ungefähre Richtung wusste. Da, wo ich herkam, wusste man vom König nicht viel mehr, als dass es ihn gab.
»Wir wohnen in einem Pavillon in den Schlossgärten«, erklärte Viola. »Und wenn ich Pavillon sage, dann meine ich nicht so ein sechseckiges Parkbüdchen. Eher eine Art Lustschloss, wenn du verstehst, was ich meine. Nur hatte dann die, für die es gebaut war, keine Lust mehr darauf. Oder umgekehrt der König auf sie nicht mehr, ich weiß es nicht. Ist auch ewig her. Vielleicht verstarb sie auch ganz angemessen. Jedenfalls wurde dann der Pavillon anderweitig verwendet, nämlich als standesgemäße Wohnung für den berühmten Schlossgärtner.«
»Ach.«
Ich war wirklich beeindruckt.
»Und noch eins, Waldpilz. Diese Stadt heißt Demiawiburg, mit Betonung auf dem Wi. Wenn du das falsch sagst, hast du hier sofort verloren.«
»Oh, ich verstehe, danke.«
»Also du willst es nicht, sehe ich das richtig?«
»Was denn?«
»Die sechs uninahen Quadrate.«
»Tja, es klingt schon schön. Und wenn wir es uns teilen? Da hätte jeder drei.«
Viola sah entrüstet aus.
»Na, erlaube mal. Ein Zimmer mit drei Quadraten schaue ich mir gar nicht erst an. Eines mit sechs allerdings kommt in die nächste Runde.«
»Oder du bekommst vier und ich zwei, wir können es ja so teilen«, hakte ich zaghaft nach.
»Was hast du denn jetzt plötzlich mit dem Zimmer? Entweder du willst es, dann gehen wir es beide ansehen, oder du willst es nicht. Dann kann ich es mir immer noch ansehen. Wahrscheinlich ist es ohnehin schon weg.«
»Ich dachte ja nur. Weil es auch so schön klingt mit der Terrasse und den Tieren und so.«
»Mit Tieren?«
»Die haben eine Löweneckerchenzucht, steht doch da.«
»Wirklich? Ach ja, na besten Dank. Den ganzen Tag das Geflatter, und dauernd liegen dann Federn im Essen.«
»Also doch nicht?«
»Was soll’s. Ich nehme es erstmal mit«, entschied sie und nahm den Zettel ab.
»Du steckst den ganzen Zettel ein?« rief ich. »Da sind doch extra kleine Abschnitte dran mit der Telefonnummer zum Abreißen.«
»Damit jemand anders schneller ist? Waldpilzchen, du musst noch eine Menge lernen. Also, was weiter?«
»Hier, das ist ganz schön«, sagte ich und deutete auf eine der Anzeigen.
»Im Waldwiesenwohin, soso«, sagte Viola. »Bei einem verwaisten Ehepaar, dessen Tochter in Eskellem studiert. Na, darauf wäre ich auch scharf. Weg von daheim und gleich ins nächste Elternhaus, wie?«
Ich zuckte die Achseln. So wählerisch zu sein, war mir noch gar nicht eingefallen. Ich war schon froh, wenn irgendwo die Zahlen stimmten.
»Soviel Auswahl ist hier ja nun auch nicht. Wenn ich was Besseres finde, kann ich immer noch umziehen.«
»Sicher wahr«, sagte Viola, »und das solltest du auch tun. Man wohnt als Student nicht im Waldwiesenwohin, das ist das piefigste Viertel in der ganzen Gegend.«
»Du kennst dich hier aus, wie?« fragte ich.
»Schon ein wenig. Aber das weiß hier jeder, dass im Waldwiesenwohin nur Spießer wohnen.«
»Ich würde es gern mitnehmen«, sagte ich.
»Wie du meinst.«
Viola riss auch dieses Blatt von der Pinnwand und steckte es ein.
»Hier, was ist damit: Vier Quadratklafter, Südseite, Bad- und Küchenmitbenutzung, bei sauberem Spinnmädchen. Ja, sauber. Mietpreis auf Anfrage. Hm.«
»Ich habe eins mitgenommen«, sagte ich. »Anfragen kann man ja mal.«
Viola schüttelte mitleidig den Kopf.
»Vergiss es. Sieh mal die Adresse: Jupdideideich, das kannst du dir nie leisten. Also jetzt jedenfalls nicht. Später vielleicht, mit einem guten … Aber hier, das klingt doch nett. Vierer-Wohngemeinschaft im Geodreieck.«
»Geodreieck?«
»Ist ein ganz hübsches Viertel, auch gar nicht weit weg von hier. Und wenn man Lust auf drei fremde Trottel in der Bude hat … Moment, es gibt sogar zwei Zimmer. Das heißt, mit Glück kannst du den dritten Trottel noch selbst mit aussuchen. Obwohl, warte. Nein, der Bursche heißt Helge, das geht ja nun gar nicht.«
»Wieso, was ist da nun wieder mit?« Langsam war ich ein bisschen genervt von ihrem ständigen Genörgel.
»Helge? Komm, das klingt wie einer dieser Gammler, die in selbstgesponnenen Schafssocken durch die Wohnung schlurfen, betörende Blumenmusik hören und Alles-wird-gut-Tee aus selbstgetöpferten Tassen trinken. Und in seiner Freizeit engagiert er sich wahrscheinlich im Elfenschutzbiotop.«
»Was für ein Biotop? Gibt es so was?«
»Was weiß ich.«
»Also, ich werde da anrufen. Außerdem kann man Socken nicht spinnen.«
»Na, du musst es ja wissen. Hier haben wir noch was Schönes: Sonniges Zimmer in Dreier-WG mit Terrasse und eigenem Bad. Keine Zweck-WG. Was soll das denn heißen? Eine zwecklose WG ist ja wohl auch nicht das Richtige. He, hörst du mir zu?«
»Warte mal. Wenn der Jupdideideich so eine teure Gegend ist, wie kann ein Spinnmädchen sich da eine Wohnung leisten?«
»Gute Frage. Vielleicht ist es eine Bruchbude? Du solltest da doch mal anrufen.«
Ich sah verunsichert auf Viola. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, ob sie beleidigend sein wollte oder einen Witz machte oder einfach nur achtlos war.
»Ah, ich hab’s«, sagte sie dann. »Wahrscheinlich spinnt sie Stroh zu Gold. Oder nein, noch besser: Schmutz zu Gold, deswegen ist es bei ihr so sauber.«
Jetzt musste ich doch lachen. »Oder vielleicht spinnt sie wirklich und wohnt ganz woanders.«
Viola lachte auch.
»Sehr gut, das wird es sein. Aber interessieren täte es mich doch. Na gut, rufen wir an und anfragen den Preis. Oder wir fahren gleich hin, nur so aus Spaß.«
Ich zögerte. Eigentlich hatte ich nicht die Zeit, aus Spaß irgendwo hinzufahren. Ich suchte schließlich ein Zimmer, und wenn ich bis abends keines fand, würde ich mich in einer billigen Pension einmieten müssen. Die vier Zugstunden nach Hause konnte ich dann nämlich auch nicht mehr schaffen.
»Na komm, das wird lustig«, sagte Viola. »Du musst doch auch mal ein bisschen was von der Stadt sehen. Im übrigen können wir dann noch am Marktplatz die Schandsäule abklappern. Das hier kann ja nicht alles an Zimmern sein, was es in der Stadt gibt, und der Jupdideideich ist da ganz in der Nähe.«
»Tja, ich weiß nicht.«
Ich klappte meinen Stadtplan auf und versuchte mich zurechtzufinden. Wo sollte denn am Marktplatz ein Deich sein? Gut, da gab es den Altstadtwallring, aber der war nur ein kleiner Kanal, der sich durch die Stadt zog.
»Hier«, sagte Viola und tippte mit dem Finger in den Plan hinein. »Es gibt einen äußeren und einen inneren Wallgraben.«
»Soviel sehe ich auch. Und wo ist da ein Deich?«
»Am äußeren. Hier ist die Unendliche Hauptstraße, und da ist der Deich. Vom Marktplatz aus keine zwei Meilen.«
»Na, du bist gut. Zwei Meilen. Und was war jetzt mit der Dreier-WG in dem sonnigen Bad?«
»Ah, warte. Ja, das wäre dann hier. Allerdings vor der Mauer und leider nicht ganz deine Preislage. Ich könnte es mir ansehen, ist mir aber auch zu weit draußen. Wenn ich schon horrende Gegenden bezahle, dann will ich wenigstens nicht noch den halben Tag herumfahren müssen.«
»Na, von mir aus.«
Am Ende blieben drei Zimmer übrig, die ich mir ansehen wollte, und zwei, die Viola interessierten.
Auf dem Platz vor der Akademie hatte ich ein Fernsprechhäuschen ausgemacht. Da klapperten wir nacheinander die Nummern ab. Schafssocken-Helge wohnte im Würfelwinkel und klang am Telefon nicht ganz so nett wie die anderen, aber er machte klar, dass ich bald kommen müsste, weil das Zimmer sozusagen schon fast weg wäre. Also beschloss ich, da zuerst hinzufahren. Ich nahm wieder meinen Plan her und suchte mir den Weg ins Geodreieck zusammen, das wirklich gar nicht weit von der Akademie entfernt lag.
»Weißt du«, überlegte Viola, »ich hätte eigentlich gute Lust, mir mal diesen Helge in seiner Gammlerbude anzusehen. Nur so aus Spaß. Kommt man ja sonst nicht zu.«
Sie grinste.
»Und außerdem sollte ich dich lieber begleiten. Sonst kommst du kleine Ackerpflanze hier noch unter die Räder.«
Kapitel 2
Den Würfelwinkel fanden wir erst nach einigem Herumirren. Das sogenannte Geodreieck bestand aus einem Gewirr von Straßen, die teilweise ins Nichts verliefen und überhaupt auch gar nicht dort waren, wo sie nach dem Plan hingehörten.
»Ziemlich verwickelte Gegend, wie«, sagte Viola.
»Verwinkelt meinst du wohl.«
»Das sehen wir noch, was ich meine. Also, hier sind wir jedenfalls falsch. Gib mal den Plan her. Dreieckige Gasse, Zirkelschluss … Aha. Guck mal, diese Sackgasse hier. Das ist doch der Würfelwinkel.«
»Aber den gibt es ja überhaupt nicht. Da hinten geht keine Straße mehr weg.«
»Wart’s ab«, sagte sie. »Ehe wir das beurteilen können, müssen wir erstmal hin.«
»Ach, und was soll das bringen?«
Viola sah mich an.
»Sag mal, du hast wirklich keine Ahnung, wie eine Stadt funktioniert, oder? Was glaubst du denn, wie viel Platz man hier hat? Da kann doch nicht alles gleichzeitig da sein.«
»Was ist los?«
»Komm, ich zeige es dir.«
Sie zog mich die Straße hinunter bis zu dem Eck, wo auf dem Plan der Würfelwinkel eingezeichnet war, hier aber nur eine zugemauerte Toreinfahrt geboten wurde.
»Siehst du, das ist so wie dein Faltplan. Den kann man ja auch immer so zusammenklappen, dass man nicht die ganze Stadt ansehen muss, wenn man nur einen Abschnitt braucht. Ist doch logisch.«
»Klar ist das logisch. Denkst du, ich kenne keine Stadtpläne oder was?«
»Weiß ich nicht. Aber anscheinend bist du noch nicht dahinter gekommen, dass die Stadt genauso funktioniert wie der Plan. Oder anders gesagt, natürlich umgekehrt.«
»Will sagen?«
»Will sagen, der Plan soll ja die Stadt so genau wie möglich wiedergeben. Na gut«, lenkte sie ein. »Diese Art Wickelung ist tatsächlich eine Besonderheit von Demiawiburg. Kann gut sein, dass das in anderen Städten anders gelöst wird, aber hier wickeln sich eben die Straßen ein und aus, je nachdem, ob sie gebraucht werden.«
»Aha.«
So ganz verstand ich das Prinzip nicht, aber ich nahm die Erklärung erst einmal so hin.
»Das ist genau so was wie im Fünfuhrteeweg. Kennst du nicht?«
»Ich kenne überhaupt nichts hier in der Stadt.«
»Ach so, ich vergaß. Waldpilzchen ist das erste Mal in der weiten Welt unterwegs.«
Ich fand ja, dass Viola sich ihre ständigen Sticheleien auch gut hätte sparen können. Aber ich hielt meinen Mund. Wahrscheinlich meinte sie es ja nicht einmal böse, und mit Beleidigtsein würde ich mir nur selber den Tag versauern.
»Also, im Fünfuhrteeweg gibt es, wie der Name schon sagt, jede Menge netter kleiner Teestübchen«, erklärte sie mir. »Aber eben nur zu bestimmten Zeiten.«
»Nämlich zur Teezeit um fünf Uhr?« riet ich.
»Kluges Mädchen.«
»Ach. Und vorher sind die nicht da?«
»Nicht nur die. Der ganze Weg ist dann nicht da.«
»Ist ja lustig, was es alles gibt. Aber Moment mal«, wandte ich ein. »Soll das heißen, man kommt überhaupt nur um fünf Uhr da hin? Und auch sonst nicht mehr raus? Wo ist der Witz an einer Straße, die nur einmal am Tag da ist? Und wie soll man da wohnen?«
»Da wohnt ja keiner. Ich sage doch, da sind nur Teestuben. Und zwar von fünf bis sechs. Dann ist der Fünfuhrtee weg, haha. Wo dann die Leute bleiben, die drinnen noch aufräumen müssen, weiß ich allerdings nicht. Würde mich ja schon mal interessieren.«
»Na gut, aber was ist jetzt mit dem Würfelwinkel?« fragte ich. »Wenn der auch nur zu bestimmten Zeiten da ist, will ich da bestimmt nicht wohnen. Wie soll das gehen, man sucht sich doch nicht immer aus, wann man nach Hause kommt.«
»Nein, der Würfelwinkel funktioniert wahrscheinlich anders«, überlegte sie. »Nur das Prinzip ist das gleiche. Denke ich.«
»Aha. Du meinst, man muss sich die Straße erwürfeln?«
Violas Augen leuchteten auf.
»Waldpilz, du machst dich«, sagte sie anerkennend. »Das wird es sein. Hast du einen Würfel dabei?«
Das fing ja gut an.
»Komm, lass uns zur nächsten Adresse gehen«, sagte ich mürrisch. »Das ist mir zu blöd.«
»Also weißt du. Jetzt, da wir kurz davor sind. Warte mal.«
Viola kramte in ihrer Tasche und brachte schließlich den Zettel mit der Anzeige zum Vorschein. Dann knickte und riss und faltete sie daran herum.
»Was machst du?« fragte ich.
»Aus einem Quadrat einen Würfel falten, ein Kinderspiel. Wirklich, ich frage mich, wie du durch die Aufnahmeprüfung gekommen bist.«
»Origami kam nicht vor«, gab ich zurück.
»Na, dein Glück. So, fertig. Nur noch Zahlen drauf.«
»Punkte meinst du wohl.«
»Ist doch einerlei. Hauptsache, man kann würfeln. Bin gespannt, ob es funktioniert. Und bei welcher Augenzahl.«
»Wahrscheinlich müssen wir die Hausnummer würfeln, zu der wir wollen.«
Jetzt schaute Viola mich beinahe bewundernd an.
»Waldpilzchen, ich staune! Und beginne zu ahnen, wie du durch die Prüfung kamst. Also los. Oh, warte. Am besten schreiben wir dann gleich auf alle Seiten eine 17, was?«
»Schlau wär’s«, fand ich, nun doch halbwegs interessiert an dieser seltsamen Straßenbauweise.
»So, mal sehen. Und hops … Ach, schau! Da ist er ja, der Würfelwinkel!«
»Tatsache.«
Kaum lag der kleine Papierwürfel auf dem Boden und zeigte — natürlich — die 17, da bog sich die Mauer vor uns wie ein aufgerolltes Maßband auseinander und gab einen kleinen Hof mit hübschen, zweistöckigen Häusern frei.
»Also, wo müssen wir hin? Ah, hier ist schon die 17. Gleich das erste hinter dem Durchgang.«
»Komisch, oder?« fand ich. »Müsste es nicht mit 1 anfangen? Vielleicht zählt es rückwärts.«
»Nee, tut es nicht. Guck mal, es gibt überhaupt nur die 17, die 12, die 50 und die 27.«
»Die sind überhaupt nicht sortiert!«
Viola zuckte die Achseln.
»Wenn du hier wohnst, kannst du ja damit anfangen. Komm, wir klingeln. Wie hieß er noch, unser Helge?«
»Warte, irgendwas mit … Geröllheimer oder so.«
Während sie die Namen an der Tür studierte, schaute ich am Haus hoch. Große, weiße Sprossenfenster, von denen eines sich fast über die gesamte Front zog. Draußen hingen Blumenkästen, alles sehr hübsch und einladend, und die Mittagssonne schien genau drauf.
»Steinmetz vielleicht?«
»Ach ja, genau.«
Viola klingelte und folgte dann meinem Blick.
»Hoffentlich liegt eines der Zimmer nach vorn raus«, sagte sie. »Nordseite geht ja gar nicht.«
Ein automatischer Türsummer ging, und wir schlüpften ins Haus. Im ersten Stock öffnete sich eine Tür, aber niemand war zu sehen.
Ach so, doch. Da unten. Ein recht übellaunig aussehender Zwerg stand da im Flur und maß uns mit abschätzigen Blicken.
»Ich kommt wegen des Zimmers?«
»Der Zimmer«, korrigierte Viola. »Es gibt doch zwei, oder?«
»Noch ja«, brummte er zurück. »Ich kann schließlich nicht ewig alles freihalten.«
»Hat ja keiner verlangt.«
»Und du bist Helge?« warf ich ein. »Ich glaube, wir haben vorhin telefoniert.«
»Kann sein«, sagte er. »Also ja, ich bin Helge, und kann sein, wir haben telefoniert. Hier steht den ganzen Tag das Telefon nicht still, ich kann mich wirklich nicht an jeden erinnern.«
»Macht ja nichts«, sagte ich und versuchte freundlich zu klingen. »War übrigens gar nicht so einfach, hierher zu finden!«
Helge blickte mich finster an. »Soll heißen?«
»Eh, gar nichts weiter.«
»Soll heißen«, fuhr er fort, »ich mieser, fieser Zwerg hätte euch am Telefon erklären sollen, wie man hier in die Straße reinkommt, wie?«
»Also nein, ich habe …«
»Ich sag euch was, meine Lieben: Wer das nicht von sich aus kapiert, der muss auch nicht mein Badezimmer schmutzig machen.«
Viola verdrehte die Augen.
»Wir haben es ja kapiert, siehst du doch. Hast du Geldprobleme, mein Guter, oder warum bietest du Zimmer an? Sieht nämlich aus, als würdest du lieber allein wohnen. Oder passen dir unsere Nasen nicht?«
»Fangen wir an«, knurrte der Zwerg, ohne auf sie einzugehen. »Na los, kommt schon herein, ich beiße nicht.«
»Wie schade«, ließ sich Viola vernehmen.
Ich stieß sie verstohlen an und warf ihr mahnende Blicke zu.
»Was denn?«
»Also passt auf«, sagte Helge. »Das hier rechts ist meine Werkstatt, da darf keiner rein, klar? Ich natürlich schon, ich darf da rein, aber das war es auch. Begriffen? Das hier ist absolute Tabuzone!«
»Schon gut«, sagte ich hastig.
»Gut, weiter. In dem Zimmer da drüben wohnt Peter, der ist jetzt nicht da. Der arbeitet den ganzen Tag. Ob ihr da rein dürft, muss er selber wissen. Ein sehr netter, ruhiger Mann, der Peter«, fügte er mit einem vielsagenden Blick hinzu.
Hoppla, dachte ich. Jemanden, den dieser Helge nett fand, würde ich gern mal treffen. Oder vielleicht doch lieber nicht.
»Hier ist die Küche«, fuhr der Zwerg fort. »Da dürft ihr rein. Halt! Das heißt natürlich, falls ihr das Zimmer kriegt. Dann dürft ihr auch in die Küche.«
»Also, entschuldige mal«, sagte Viola. »Wenn ich mir eine Wohnung anschaue, dann will ich schon auch die Küche sehen, ehe ich mich entscheide.«
»Von mir aus«, brummte der Zwerg. »Nur immer durchtreten. Müsst ihr eh, denn dahinter kommen die freien Zimmer, haha. Nur dass natürlich letzten Endes ich entscheide, wer eines kriegt.«
Die Küche war tatsächlich eher ein Durchgang, an den sich ein gemütlicher Essbereich mit einer breiten Fensterfront anschloss.
»Tja«, antwortete Viola, »oder ich entscheide schon vorher, dass ich es nicht will. Ich glaube, das habe ich auch gerade getan.«
»Ach, das ist ja toll«, sagte ich schnell, als mein Blick auf ein Trockenregal mit Keramiksachen fiel. »Hast du die gemacht?«
»Ja«, sagte Helge. »Ist so ein Hobby.«
»Die sind echt schön. Verkaufst du die auch?«
»Nicht ich selbst. Mein Bruder kommt alle paar Wochen vorbei und holt die Sachen ab.«
»Lass doch mal sehen«, bat ich.
Viola stand abwartend da, während Helge mir bereitwillig seine Töpferarbeiten zeigte. Auch das ganze Geschirr im Schrank hatte er selber hergestellt, originell geformte Teller und Tassen in fröhlichen Farben, die gar nicht zu seiner sonstigen Art passten. Hier war er aber ganz in seinem Element und hatte völlig vergessen, unfreundlich zu sein.
»Na bestens«, sagte Viola, als wir alles Geschirr durch hatten. »Was ist jetzt mit den Zimmern?«
Irgendwo klingelte ein Telefon.
»Ach, verdammich, das hört aber nicht auf!«
Fluchend rannte Helge davon, wahrscheinlich in seine Werkstatt, wo er schon den ganzen Tag von wohnungslosen Anrufern bei seiner Arbeit gestört wurde.
»Was bist du denn so mürrisch?« zischte ich Viola an. »Du wirst noch alles verderben.«
Sie machte große Augen.
»Ich bin mürrisch? Na, es kann ja nicht jeder so ein Sonnenscheinchen sein wie unser Helge hier. Warum bist du so scharf darauf, bei dem einzuziehen?«
Na ja. Scharf war ich jetzt gerade nicht drauf. Aber ich wollte mir auch nicht gleich alles verbauen. Wer wusste denn, was noch alles kam?
»Man muss sich doch erstmal kennenlernen«, wandte ich ein. »Es sind ja auch gar nicht alle da.«
Viola schnaubte.
»Oh ja, daran habe ich unbedingtes Interesse, diesen Ausbund an guter Laune näher kennenzulernen. Und wer erst dieser Peter ist, den wir noch nicht mal gesehen haben. Wenn Helge den nett findet, kann das nichts Gutes bedeuten.«
Drüben hörten wir ihn am Telefon reden.
»Nein, die sind beide noch zu haben. Ja, nein, das kann ich nun nicht versprechen.«
»Ich glaube sowieso, der hat uns schon aussortiert«, sagte ich enttäuscht.
»Quatsch«, widersprach Viola. »Bei seiner Art kann er sich das gar nicht leisten. Der muss froh sein, wenn er überhaupt wen findet.«
Kurz darauf schmiss Helge den Hörer auf, ließ das Telefon im Flur stehen und kehrte in die Küche zurück.
»Also die Zimmer«, brummte er und wies auf zwei Türen, die rechts und links vom Essbereich abgingen.
»Hier das kleine und da drüben das große. Welches zuerst?«
Das kleinere Zimmer ging tatsächlich nach vorn auf den Hof hinaus. Besorgt betrachtete ich die L-förmig verwinkelte Kammer, in der kaum Platz für ein Bett war.
»Das ist aber wirklich klein.«
»Dafür mit Balkon«, sagte Helge.
»Balkon, na sicher.« Viola ging ums Eck und zeigte auf ein zweites, winziges Fenster. »Mit Blick auf den Balkon meinst du wohl.«
Helge blieb unbeeindruckt.
»Man könnte rausklettern.«
»Ach ja?«
Viola und ich wechselten Blicke.
»Man könnte auch einfach in der Küche durch die Tür gehen.«
»Natürlich«, sagte er. »Aber das können hier ja alle.«
Ich seufzte. Letzten Endes wollte ich ja auch nur einen Platz zum Schlafen haben.
»Das war jetzt das für 51 Reichstaler, oder?«
»Reichstaler doch nicht!« blaffte er mich an. »Demiawiburger Silbergulden, damit wird hier bezahlt.«
»Meinte ich doch.«
»Das ist sogar weniger«, flüsterte Viola mir zu.
So schlau war ich auch. 5/6 war die Formel, mit der ich andauernd herumrechnete, seit ich mir in den Kopf gesetzt hatte, in der Reichsstadt zu studieren.
»Nun, aber du kannst mir natürlich auch Reichstaler bezahlen«, sagte Helge jetzt freundlicher. »Da werden wir schon zusammenkommen.«
»Ganz sicher«, sagte ich matt. »Das wären dann …«
»Umgerechnet 42,50«, gab er prompt zurück. »Ein Schnäppchen. Sind immerhin drei Quadratklafter.«
Viola blickte ihn ungläubig an.
»Drei? Nie im Leben. Da hast du wohl den Balkon mit drauf gerechnet.«
Helge zuckte die Achseln. »Der gehört ja dazu.«
»Na, der gehört ja dazu. Also schön, und das andere?«
Das Zimmer auf der anderen Seite war riesig, mit einem großen Fenster in einen weiteren Hof. Ich war begeistert.
»Oh, ist das schön!«
»Leider Nordseite«, bemerkte Viola.
»Nordwest«, versetzte der Zwerg und wies auf das kleine Fenster an der Schmalseite.
»Das ist wirklich schön«, flüsterte ich.
Viola öffnete das Fenster und schaute hinaus.
»Und mit Blick auf die Hintergasse, na zauberhaft.«
»Die Gasse ist nicht immer da. Und im Sommer ist es da herrlich«, behauptete Helge.
»Ja, sicher.« Viola schloss das Fenster. »Nur haben wir März. Wer weiß, wo ich im Sommer bin.«
»Also, nur dass das klar ist«, meldete der Zwerg an. »Ich suche hier schon jemanden für längerfristig. Leute, die in zwei Monaten wieder weg sind, können gleich jetzt verschwinden!«
»Keine Sorge«, gab Viola zurück. »Ich bin schon lange raus aus dieser Geschichte. Ha, aber wenn das da auch so eine verschwindende Gasse ist, da wäre ich allerdings mal gespannt zu sehen, wie die weggehenden Leute sich zusammenrollen.«
»Ja, das ist hübsch anzuschauen«, sagte Helge. »Deswegen schicke ich auch gern Leute weg.«
Viola bedachte ihn mit einem skeptischen Blick.
»Sag mal, das war jetzt nicht zufällig ein Witz oder so? Der war nämlich beinahe lustig.«
Helge gab darauf keine Antwort.
»Also was sollte jetzt das zweite Zimmer kosten?« fragte ich schnell.
»114«, sagte Helge. »Wenn ihr das andere nicht wollt, könntet ihr dieses hier teilen.«
Viola schüttelte energisch den Kopf.
»Ich will ganz bestimmt kein Zimmer teilen.«
»Wieso«, sagte ich zaghaft, »ist doch groß genug.«
»Ja, für Zwerge. Und was ist das hier? Ah, das Bad.«
Helge verzog keine Miene.
»Wir haben hier mal eine Zeitlang zu siebt gewohnt«, sagte er.
»Dachte ich mir. Schau mal, Mellia, Badewanne mit Fenster. Da kann man beim Baden die Aussicht genießen. Wenn man groß genug ist natürlich. Also, ich würde sagen, das war es hier. Oder was meinst du?«
»Komm, jetzt sei doch nicht so mäkelig«, sagte ich leise. »Dieses Zimmer ist wirklich schön. Nur ist es für mich allein viel zu teuer.«
»Ich kann euch entgegenkommen«, erklärte Helge, der offenbar feine Ohren hatte. Ja richtig, Zwerge. Hatte ich vergessen. »Ihr könntet das große Zimmer teilen, das wären dann 65 Silbergulden für jede.«
Viola stand wieder im Zimmer. »Wie, zweimal 65? Das sind ja 130 statt 114!«
»Ja. Ihr wäret dann aber auch zu zweit, das bedeutet doppelte Verwohnung. Ich komme euch da noch entgegen.«
»Ach ja? Und wo ist da bitte das Entgegenkommen?«
»Dass ich euch das überhaupt zugestehe natürlich. Eine Person mehr in der Wohnung, das ist ja auch eine Belastung. Würde ich nicht für jeden machen.«
»Was meinst du?« wandte ich mich zaghaft an Viola.
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Ich sage auf gar keinen Fall. Da zahle ich lieber das Doppelte und habe dann ein Zimmer für mich. Nimm du es doch.«
Blöde Kuh. Sie wusste sehr gut, dass ich es mir nicht leisten konnte.
»Na gut«, sagte ich gedehnt und sah Helge an. »Ich würde, wenn, wohl das kleine nehmen. Ich meine, falls du …«
»Falls ich es nicht will?« fragte Helge zurück. »Nein danke. Ich würde es kaum ausschreiben, oder?«
»Nein, also ich meinte doch …«
»Was ist, wollt ihr Tee? Man hätte noch einiges zu besprechen.«
Viola machte große Augen. Dann grinste sie mir heimlich zu. Na klar, Helge wusste auch, dass er nicht viele Leute finden würde, die diese winzige Kammer haben wollten — und ihn dazu.
»Was ist mit dir?« fragte er dann Viola. »Willst du das andere oder nicht?«
»Eher nicht.«
»Ist mir auch recht«, sagte Helge. »Kriegst trotzdem ’nen Tee.«
Er ging an sein Regal mit den fertigen Stücken, suchte für jede von uns eine Tasse aus und goss uns Tee ein. Viola bekam eine in Violett, passend zu ihrer Haarfarbe, mit weißen und dunkelgrünen Streifen. Meine Tasse war honiggelb und hatte ein hellgrünes Muster. Er hatte genau meine Lieblingsfarben getroffen.
»Und was macht ihr so, wenn man fragen darf?«
»Wir fangen im Herbst an der Akademie an«, erklärte ich.
»Aha, Studentinnen, wie? Ich hoffe, nicht solche mit lauten Parties bis spät in die Nacht. Könnt ihr hier gleich vergessen.«
»Dachte ich mir schon«, sagte Viola.
Dann schien ihm etwas einzufallen.
»Akademie?« fragte er. »Ihr meint diese Wald- und Wiesenakademie?«
»Feen- und Waldwesen«, warf ich ein. »Wir werden mal Feen.«
»Ach was. Beide?«
»Ja, beide«, sagte Viola. »Was dagegen?«
»Hm, nee. Ist mir eigentlich egal.«
»Aha, gut«, sagte Viola. »Wäre auch komisch, deine Anzeige in der Akademie aufzuhängen, wenn du dann keine Feen willst.«
Helge zuckte die Achseln. »Es hätten auch andere kommen können.«
»Wie?«
»Ich meine, es waren auch andere da. Richtige Studenten eben, Tiersprachler und Heilbotaniker.«
»Ach, wir sind also keine richtigen Studenten oder was?« motzte Viola. »Das wird ja immer besser. Na was soll’s, ich bleibe eh nicht hier.«
Sie leerte ihre Teetasse.
»Was ist mit dir, Mellia?«
»Tja, also«, fing ich an, »wie gesagt, ich würde es nehmen. Wir haben jetzt noch zwei andere Termine, aber ich würde dann später wiederkommen — also, außer du sagst jetzt …«
»Ich sage jetzt«, sagte Helge, »was ich schon vorhin sagte: Ich kann diese Zimmer nicht ewig freihalten. Der nächste, der mir zusagt, bekommt das Zimmer. Es sei denn …«
»Es sei denn?« fragte ich vorsichtig nach.
»Nun, du könntest mir ein Pfand da lassen. Eine Art Bürgschaft, irgendeinen persönlichen Gegenstand.«
Ratlos blickte ich zwischen ihm und Viola hin und her. Im Grunde hatte ich nichts Persönliches bei mir außer meiner Bürgerkarte, aber die brauchte ich ja schließlich.
Helge legte den Kopf schräg.
»Bedaure. Ohne den persönlichen Gegenstand, will sagen ein Pfand, kann ich dir hier gar nichts freihalten. Andersherum, wenn du hier was lässt, dann hast du das Zimmer fest und musst dafür bezahlen.
Viola runzelte die Stirn. »Dann könnte man ja gleich als persönlichen Gegenstand eine Monatsmiete da lassen.«
»Zum Beispiel.«
»Ich habe doch keine 50 Silbergulden hier!« raunte ich Viola zu.
»51«, sagte Helge.
»Auch 51 nicht«, sagte ich jetzt fest und etwas lauter und erhob mich. »Ja, tut mir leid. Ich fürchte, dann kommen wir nicht zusammen.«
Helge zuckte die Achseln. »Hat wohl nicht sollen sein. Kannst es aber später trotzdem gern noch mal versuchen.«
Er stand auf und geleitete uns zur Tür. Heimlich beobachtete ich seine Miene und hoffte halb darauf, dass er noch irgendein Zugeständnis im Ärmel hatte. Es kam aber nichts. Zu dumm aber auch, dass ich nicht an ein Pfand gedacht hatte. Dies war wahrscheinlich das preisgünstigste Zimmer, das ich finden würde.
»Also adies«, sagte ich beim Rausgehen, »und vielleicht bis später.«
»Kannst gerne noch mal reinschauen, wie gesagt. Auch wenn’s wahrscheinlich vergebens ist.«
»Ja«, sagte Viola, »da bin ich mir auch ganz sicher, dass sich nach diesen herrlichen Gemächern jeder die Finger lecken wird. Also los jetzt. Komm schon, Mellia, ihr seht euch doch nachher wieder.«
Damit zog sie mich aus der Tür, und ich konnte Helge noch schnell winken, da waren wir schon die Treppe hinunter und draußen im Hof.
»Was sollte das denn?« beschwerte ich mich. »Jetzt ist er bestimmt wieder sauer und gibt das Zimmer jemand anderem.«
»Also komm, das war gar nichts«, sagte Viola. »Warte mal ab. Wenn wir gleich die nächste Wohnung besichtigen, wirst du nicht mal mehr daran denken, dass du bei dieser Gewitterwolke hier in eine klaftergroße Schublade einziehen wolltest.«
Ich musste lachen.
»Mit den Tassen hattest du jedenfalls recht«, bemerkte ich.
»Siehst du.« Viola grinste. »Also hör auf mich, ich bewahre dich hier vor einem grausigen Fehler.«
»Wenn du meinst.«
»Das meine ich. Komm, wir nehmen uns die nächste Adresse vor. Bruder-Gnom-Ring 10d«, las sie vor. »Es kann nur besser werden.«
Sie hatte sicher recht. Eben im Haus hatte ich wirklich noch gedacht, dies wäre die Gelegenheit meines Lebens, an ein Zimmer zu kommen. Hier draußen im hellen Lichte der Frühlingssonne war ich mir schon beinahe sicher, dass wir etwas Besseres als das hier überall finden würden.
Übermütig hakte ich Viola unter und winkte noch einmal in die schwankende Gardine oben hinein, ehe wir frohgemut davontrabten. Bald würde ich über diese Begegnung lachen und den übellaunigen Zwerg hoffentlich nie wiedersehen.
Kapitel 3
Alten Märchen zufolge hat man ja erst beim dritten Mal Glück, also setzte ich nach diesem Reinfall nicht viele Hoffnungen auf die zweite Adresse. Im Bruder-Gnom-Ring also gab es die Löweneckerchen auf sechs Quadraten, die ich mir nicht leisten konnte, aber Viola fand das Angebot interessant, also ging ich ihretwegen mit. Das war ja auch nur fair, wie ich fand, nachdem sie mit mir die Zimmer im Würfelwinkel angeschaut hatte. Immerhin kannte sie sich in der Stadt aus, also würde ich im Endeffekt wahrscheinlich sogar Zeit sparen.
»Guck mal«, sagte sie und studierte den Stadtplan, der auf der Rückseite ein Streckennetz der Stadtbahn hatte. »Wenn wir hier durchgehen, kommen wir zur Finsterwalder Straße, da fährt die Waldlinie. Von da sind es nur zwei Haltestellen zum Bruder-Gnom-Ring.«
»Gut, lass uns das machen. Finsterwalder Straße, klingt ja schaurig.«
Viola grinste. »Nicht halb so schaurig, wie der Finsterwald ist.«
Auf dem Weg zur Haltestelle kamen wir an hübschen Häuschen und Geschäften vorbei. Eine kleine Konditorei war da und ein reichlich bestückter Kaufmannsladen mit einem Schaufenster voller bunter Sachen. Alles sah so sauber und einladend aus, dass ich beinahe doch Lust bekam, hier zu wohnen.
Kaum an der Hauptstraße, sahen wir auch schon die elektrische Straßenbahn einfahren und rannten hinterdrein. Zum Glück galt meine neue Bürgerkarte auch als Billett für die Stadtbahn.
»Und das soll die Finsterwalder Straße sein?« fragte ich verwundert, als wir losfuhren. »Das ist ja die hellste Bellevuegegend hier.«
»Die heißt ja auch nur so, weil sie bis zum Finsterwalder Tor fährt, hinter dem der Finsterwald liegt, da drüben.« Sie zeigte in die Richtung, aus der wir kamen. »Und da ist es wirklich finster, glaube mir.«
»Warst du schon mal da?« wollte ich wissen.
»Im Finsterwald? Hm, nein. Aber man hört so Dinge.«
»Was für Dinge?«
»Finstere Dinge!« raunte sie und fuchtelte geheimnisvoll vor meinem Gesicht herum.
»Schon gut, ich hab’s kapiert. Aber hör mal, du kommst doch aus Carcambria?«
»Ja, das sagte ich doch.«
»Und du kennst wirklich die Königsfamilie? So richtig persönlich meine ich?«
»Na, schon. Ich wohne ja geradezu nebenan. Oder sagen wir in ihrem Garten, haha.«
»Und auch die Prinzen?«
Viola warf mir einen verschwörerischen Blick zu.
»Ach so, darum geht es dir? Ja, auch die Prinzen, natürlich.«
»Und wie sind die so?«
Viola grinste. »Ganz ehrlich? Alles Trottel.«
»Was?«
»Ja, wirklich. Richard, der Älteste, ist zwar ganz hübsch, aber entsetzlich eingebildet. Derzeit macht er irgendwo im Ausland sein Königspraktikum, oder was weiß ich, wie sie das nennen. Der Zweite ist ein fader Stubenhocker, der nur über irgendwelchen Büchern brütet.«
»Henri, stimmt’s?«
»Ja. Den habe ich allerdings kaum je gesehen. Ich glaube, der hat sich seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen. Wahrscheinlich ist er schon vor Jahren in einer Ecke der königlichen Bibliothek verschimmelt, und es ist noch keinem eingefallen, ihn zu suchen.«
»Viola! Wie redest du denn, es geht doch immerhin um unsere Prinzen!«
»Unsere, genau. Kannst sie gerne alle haben. Außerdem befinden wir uns hier in der freien Reichsstadt Demiawiburg, auf neutralem Boden also. Hier darfst du sagen, was du willst, jedenfalls über die Dinge, die in Eskellem ablaufen. Ja, und dann gibt es noch den Jüngsten, Godeffroy.«
»Von dem hört man überhaupt nichts«, warf ich ein.
»Nein, und mit Grund. Den halten sie unter Verschluss, weil er … nun ja, nicht für die Thronfolge taugt.«
»Was bedeutet das?«
»Was ich sage. Und Godeffroy will im Gegensatz zu Henri vielleicht gerne nach draußen, darf aber nicht.«
»Meine Güte, dein Ernst?«
»Aber ja.«
Dachte sie sich das alles aus? In den Zeitschriften hatte ich diese Dinge jedenfalls nicht gelesen — bis auf das Auslandsjahr natürlich, das Prinz Richard demnächst am Hof von VaSieno Sol verbringen würde. Das wusste ja sogar ich.
Im Bruder-Gnom-Ring angekommen, war es noch viel zu früh für den Termin: Helge hatte ja so Eile gezetert mit seinem wichtigen Zimmer, dass wir zwischen ihm und den Löweneckerchen noch gut ein anderes Zimmer hätten besichtigen können. Ich vertraute aber Viola, die bestimmt hatte, dass dies die einzig sinnvolle Reihenfolge war, wenn wir nicht kreuz und quer durch die Stadt segeln wollten.
»Wir könnten noch was trinken gehen«, schlug sie vor, um dann allerdings festzustellen, dass es hier nichts dergleichen gab. Der Bruder-Gnom-Ring war eine vielbefahrene Durchgangsstraße, hatte aber weder Cafés noch Einkaufsläden zu bieten.
»Ach, dumm«, sagte Viola. »Mir wäre wirklich nach einem Milchshake jetzt.«
»Wenn wir jetzt lange hier herumlaufen, um eine Milchbar zu suchen, verpassen wir doch noch den Termin«, wandte ich ein.
»Na gut, dann komm«, gab sie seufzend nach. »Wir können ja schon mal die Hausnummer suchen und die äußeren Umstände prüfen. Dass es hier keine Lokale gibt, ist allerdings für mich schon beinahe ein Ausschlusskriterium, oder was meinst du?«
Ich meinte, dass es mir ganz egal war. Ich würde hier nie zu wohnen kommen. Aber das behielt ich für mich.
»Wer ist eigentlich dieser Bruder Gnom?« wollte ich wissen, weil mich Straßennamen interessierten und weil ich auch von der Geschichte dieser Stadt fast keine Ahnung hatte.
»Keinen blassen«, sagte Viola. »Ist doch auch egal, oder?«
Nun ja. Ich hatte schon vorher geahnt, dass wir nicht unbedingt dieselben Interessen hatten.
Die Häuser der Nummer 10 waren wieder in einem Hinterhof gelegen, in den man aber diesmal ganz unspektakulär hineingehen konnte, ohne Würfeln oder sonstige Tricks. Es war ein sehr großer und auch schmucker Hof mit einer Menge exotischer Pflanzen darinnen. Sogar einen Limonadenbaum konnte ich erspähen. Die Fassaden der einzelnen Häuser waren in verschiedenen fruchtigen Tönen gestrichen und sahen so fröhlich aus, dass ich — wieder einmal — am liebsten hier bleiben wollte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Demiawiburg insgesamt eine sehr schöne Stadt war.
Eine Weile schlenderten wir durch den weitläufigen, fast parkähnlichen Innenhof, und selbst Viola war es zufrieden, hier mit einer selbstgepflückten Limoflasche auf einer Bank die verbleibenden zwanzig Minuten verstreichen zu lassen. Während wir saßen, erschienen noch ein paar andere Leute im Hof, von denen wir vermuteten, dass auch sie wegen des Zimmers gekommen waren.
Schließlich standen wir auf und folgten zwei anderen, die gerade vor Haus D standen und klingelten. Wir huschten mit hinein und liefen ihnen hinterher bis ganz nach oben. Schon im Treppenhaus hörte man das Gezwitscher der Löweneckerchen. Alles war hier hell und luftig und allein die Treppenabsätze größer als jedes Zimmer, das ich mir in dieser Stadt würde leisten können.
Nach uns kamen noch mehrere Leute. In der Wohnung selbst waren außer den Interessenten auch einige der Bewohner zugegen und führten alle herum. Durch die ganze Wohnung tappten an die zehn Personen, einzeln oder zu zweit, redeten und guckten und berieten, und ich vermochte nicht auszumachen, wer hier eigentlich hingehörte und wer erst noch einziehen wollte.
Die insgesamt vier Räume waren alle groß und hell. Oh ja, das war eine wunderschöne Wohnung, keine Frage. Zwei der Zimmer gingen auf die Terrasse hinaus, einen großen Dachgarten zum Innenhof hin. Die anderen beiden allerdings lagen nach vorn zur Hauptstraße, wo es ein bisschen laut zuging, selbst wenn die draußen vorbeifahrenden Autos die tirilierende Geräuschkulisse drinnen nicht übertönen konnten.
Ich ging zuerst mit Viola, dann allein umher und betrachtete irgendwann hauptsächlich die anderen Interessenten: Wer waren die Leute, die sich eine solche Butze hier gönnten? Wer genug Geld für dies hier hatte, der konnte sich doch gewiss eine Wohnung nehmen und musste kein Zimmer zur Untermiete beziehen. Die Leute hier waren ausnahmslos jung, wahrscheinlich also auch Studenten wie wir, oder eben etwas ganz anderes, ich konnte es mir nicht denken.
Einer fiel mir auf, der auch ein Stadtrat hätte sein können. Mit seiner ganzen, etwas gesetzten und distinguierten Attitüde wirkte er aber wahrscheinlich älter, als er in Wirklichkeit war. Er sah eigentlich ganz nett aus, wirkte aber verschlossen und blickte überhaupt am liebsten auf den Fußboden, was auch immer er da zu entdecken hoffte.
Die Besichtigung dauerte an. Während die Zimmeranwärter in der Wohnung umhergeschoben wurden, alles in Augenschein nahmen und Fragen stellten, ging ich auf die Terrasse hinaus, wo die Volière mit den Löweneckerchen stand, und beobachtete die possierlichen Tierchen. Viola hatte ich schon seit einer Weile nicht mehr gesehen. Während die kleinen Lerchen in ihrem Käfig umeinanderhüpften und flatterten, kam mir der Gedanke, dass ich hier doch mehr Zeit vertrödelte, als ich eigentlich aufbringen wollte. Ich hatte ja schon vorher gewusst, dass ich das Zimmer nicht würde haben wollen, und mir fiel ein, dass Viola eigentlich keinen Grund hatte, jetzt mit mir alle meine Adressen abklappern zu gehen. Und warum sollte sie auch? Wir kannten uns keine zwei Stunden, die Aufnahmeprüfung nicht mitgerechnet, aber im Grunde schätzte ich sie doch so ein, dass sie, hatte sie nur erst etwas für sich gefunden, mich ohne Umsehen würde stehen lassen.
Noch halb in diese Überlegungen versunken, sah ich den seltsamen Stadtrat von vorhin auf den Dachgarten herauskommen. Der musste auch denken: Hatte ich nichts Besseres zu tun, als bei einer Wohnungsbesichtigung in den Vogelkäfig zu gucken?
»Ist die Besichtigung vorbei? Ich bin hier nur mit einer Kommilitonin mitgegangen«, beeilte ich mich zu erklären. »Ich heiße Mellia«, fügte ich dann hinzu.
»Jürgen«, stellte er sich vor, nahm meine ausgestreckte Hand und warf mit einer galanten Verbeugung einen leichten Kuss darüber hin.
Meine Güte. So etwas gab es natürlich bei uns auf dem Acker nicht.
»Hat dir eines der Zimmer gefallen?« fragte ich dann, um höflich zu sein.
Jürgen wiegte unschlüssig den Kopf.
»Schon, ja. Aber ich bin noch nicht sicher. Ich habe mich vormerken lassen, aber es ist nicht so ganz das, was mir vorschwebt. Und du wartest hier auf deine Freundin?«
»Ja, das sagte ich doch.«
Einen Moment lang schien er etwas verunsichert, aber ich verstand nicht, warum.
»Du suchst also keine Bleibe?«
Sollte ich es ihm sagen? Ach, besser nicht. Was sollte ich einem wildfremden, wohlerzogenen und wahrscheinlich steinreichen Jüngling hier von meinem armseligen Feenstipendium erzählen, das ich ohnehin nur meinen beiden hochtrabenden Tanten zu verdanken hatte. Ich selber, wenn ich ganz ehrlich sein wollte, war noch gar nicht so sicher, ob ich hier wirklich am richtigen Platze war: hier in der Stadt und hier an der Akademie.
»Nicht diese Bleibe«, antwortete ich deshalb unbestimmt.
Dann erzählte ich ihm von unserer Begegnung mit Helge im Würfelwinkel.
»Ein Zwerg, sagst du?« Er wirkte plötzlich interessiert. »Seit wann vermieten Zwerge Zimmer?«
»Tja, der tut es. Oder sagen wir, er versucht es. Kaum anzunehmen, dass da wirklich jemand Lust hat einzuziehen.«
Jürgen schien ernsthaft zu überlegen.
»Ich könnte es mir immerhin einmal ansehen. Und wo, sprachst du, sei das?«
Wie gewählt er sich ausdrückte! Aber doch irgendwie staubig, dachte ich dann. Ein seltsamer Gedanke, aber ja: Staubig traf es auf eine ganz frappante Weise. War das etwa ein Grauer? Von denen hatte ich gehört, aber getroffen hatte ich noch keinen.
Ich nannte die Adresse und beschrieb ihm das Geodreieck, das in der Nähe des Finsterwalder Tores gelegen war. »Gleich bei der Stadtmauer«, erklärte ich und kam mir vor, als hätte ich tatsächlich eine Ahnung, wovon ich hier redete.
Immerhin: Was auch immer bei dieser Zimmersuche herauskam, ich würde am Ende dieses Tages eine Menge mehr von der Stadt kennen.
»Bist du Student?« fragte ich ihn dann. »Ich meine, weil du ein Zimmer suchst und nicht etwa eine Wohnung. Entschuldige, dass ich so dumm frage, aber du wirkst eigentlich älter.«
Jürgen sah ein wenig verlegen aus und erklärte mir dann, dass er ein Aufbaustudium an der Ministerialenuni anfing. Irgendwas mit Wirtschaft. Ja, das passte doch. Als er mich zurück fragte, gab ich zu, dass ich an der Akademie Fee lernen würde. Aber seltsam, dass mir das jetzt hier und vor ihm doch irgendwie peinlich war.
Ich fragte mich erneut, was Jürgen wohl über mich denken musste. Natürlich sagte er es nicht, dafür war er ganz offensichtlich zu gut erzogen, aber ich konnte mir denken, dass ihn Feenstaub und solche Dinge nicht unbedingt vor Begeisterung vom Hocker warfen.
Er nickte nur ernst und wirkte dabei wieder beinahe finster, hatte aber gleichzeitig eine, ja: so eine seltsame Ausstrahlung von Wahrhaftigkeit.
»Ach, hier steckst du!«
Viola trat auf die Terrasse heraus.
»Natürlich, das hätte ich mir denken können. Die Löweneckerchen hatten es dir ja angetan, was?«
Sie hatte sich alles besehen und befand nun, dass selbst ihr dieses verkehrsumrauschte Zimmer um ein gutes Maß zu teuer war.
»Von dem nervigen Gepiepe gar nicht zu reden. Obwohl es wirklich sehr schön ist, auch das ganze Ensemble irgendwie, gar keine Frage. Aber nee.«
Jürgen hatte unterdessen wieder den Blick gesenkt und sah ganz so aus, als wollte er jetzt gern verschwinden, aber Viola stand in der Terrassentür und versperrte ihm den Rückzug.
»Das ist Jürgen«, stellte ich vor. »Meine Freundin Viola.«
Hatte ich Freundin gesagt? Nun ja, er hatte es gesagt. War auch egal.
Erst jetzt schien Viola auf ihn aufmerksam zu werden und musterte ihn interessiert. Jürgen blickte ihr fest ins Gesicht, sie gab ihm die Hand, erhielt wie ich einen flüchtigen Kuss darauf und nickte nachdenklich.
»Jürgen, aha.«
Eine Weile passierte gar nichts, und wir alle drei standen stumm auf der Terrasse herum, umträllert von singenden und springenden Löweneckerchen.
»Also dann, Waldpilzchen«, sagte sie endlich. »Nächste Station?«
Ich nickte und wurde auch schon fortgezogen.
»Adies, Jürgen!« warf ich noch zurück auf die Terrasse.
»Adies, Mellia.«
Er winkte mir galant einen Abschied zu und schaffte ein Lächeln. Und damit sah er dann sogar ganz hübsch aus.
Kapitel 4
»Zeiten einhalten ist nicht eure Stärke, wie?«
Das Mädchen auf der Schwelle der Spinnstube, eine sommersprossige Bohnenstange mit sehr langen, erdbraunen Zöpfen, hatte zwar auf unser Klingeln die Tür geöffnet, wollte uns aber nicht einlassen. Zugegeben, wir waren ein bisschen spät dran, hatten aber von einem Fernsprechhäuschen aus eigens noch einmal angerufen und gesagt bekommen, dass das Zimmer noch da sei.
»Ja, aber jetzt ist es weg«, sagte sie bestimmt und warf die Türe zu.
»Spinnerte Spinne, sagte Viola. »Egal. Lass mal irgendwo ein Schlaraffeneis nehmen, ich brauche eine Pause.«
»Schlaraffeneis, du bist gut. Als hätten wir keine anderen Probleme.«
»Ich dachte es als Trostpflaster. Sieh mal, für mich ist das jetzt nicht ganz so schlimm, aber bei dir wird es langsam eng.«
»Wenn du im Bruder-Gnom-Ring nicht so getrödelt hättest —«
»Habe ich gar nicht. Die Wohnung war eben sehr groß. Und muss ich dich daran erinnern, wie lange du vorhin mit deinem Helge palavert hast?«
»Das ist nicht mein Helge.«
»Wie auch immer«, sagte sie und pustete eine neue zartlilafarbene Kaugummiblase auf. »Die Spinnstube taugte nix, also hast du nichts verloren.«
»Wie willst du das wissen, wenn wir gar nicht drinnen waren?«
»Kann ja nicht, bei dem Preis.«
»Für dich war es vielleicht nichts«, sagte ich. »Du bist ja anscheinend Besseres gewöhnt.«
»Viel Besseres«, sagte Viola unbekümmert und pflückte sich das geplatzte Kaugummi aus dem Gesicht.
Ich begann mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es möglicherweise gleich wieder nach Hause ginge. Nun ja, ich könnte pendeln. Ich könnte am Waldrand übernachten — oder mich heimlich nachts in der Akademie einschließen lassen. Mit Schlafsack und einer Thermoskanne mit flüssigem Sonnenlicht.
Ich könnte lernen, Pforten zu machen. Oder eine, ich brauchte doch nur eine einzige Pforte in diese vermaledeite Stadt hinein!
Oder ich konnte es ganz einfach bleiben lassen. Ich konnte wieder nach Hause fahren, Kühe melken und Käselake rühren. Vielleicht würde ich zwei Bienenstöcke von meinen Tanten bekommen, und irgendwann könnte ich eine kleine Milchbar aufmachen und Honigmilch verkaufen.
So ein blöder Müll aber auch. Ich war an der Akademie angenommen worden, ich war hier, ich hatte es fast geschafft. Und jetzt alles aufgeben, weil ich keine Unterkunft fand?
»Weißt du was, Waldpilz?« fing Viola wieder an. »Mir war im Grunde schon am Telefon klar, dass diese kleine Spinnerin spinnt und gar kein freies Zimmer hat. Da ist nie was zu vermieten gewesen.«
»Ach, wirklich. Und trotzdem schleppst du mich hierher?«
»Ich schleppe dich nicht, das fehlte noch. Du tappst hinter mir drein wie ein Entenküken.«
»Ja, meine Dummheit. Sag mal, hast du den anderen Zettel noch?«
»Welchen Zettel möchtest du? Ich habe die ganze Tasche voller Zettel.«
»Den mit dem Waldwiesenwohin.«
»Ah, nun doch zu den Spießern? Nicht dein Ernst, meine Gute.«
»Ja, zum Giftpilz«, blaffte ich. »Kann ich es mir vielleicht aussuchen?«
»Ganz offensichtlich nicht.« Viola seufzte und kramte nach der zerknüllten Anzeige. »Hier hast du den Wisch. Von mir aus geh hin.«
Ich riss ihr den Zettel aus der Hand.
»He, mal nicht so grob!« motzte sie mich an. »Ich bin überhaupt nur hier, weil du sonst gar nicht klarkämst. Ich brauche nämlich keine Billigbleibe.«
»Danke für die Erinnerung.«
Ich war drauf und dran, sie direkt hier an der Ecke stehen zu lassen.
»Tja, nun«, gab sie achselzuckend zurück. »War doch nicht meine blöde Idee, ohne Geld ins Studium zu starten.«
»Wirklich, du bist eine derart arrogante Kuh!«
Viola lachte. »Und mit Kühen kennst du dich aus, stimmt’s?«
»Allerdings«, gab ich zurück. »Und es gibt da einige bei uns, die es an Blasiertheit allemal mit dir aufnehmen können.«
»Tja, nur dass wir uns wahrscheinlich kaum je treffen werden zu diesem hochinteressanten Wettstreit. Weißt du was? Schau doch einfach zu, wie du allein klarkommst.«
Damit ließ sie nun mich stehen und schlenderte davon in Richtung Haltestelle. Wahrscheinlich ging sie sich die teuren Sachen ansehen, zu denen ich keine Lust und schon gar kein Geld hatte. Na, sollte sie. Ich würde ihr bestimmt nicht hinterherlaufen. Entenküken, ha.
Lieber würde ich zu dem verwaisten Ehepaar fahren. Da hatten wir vorhin erst gar nicht angerufen, weil Viola sie sofort aussortiert hatte — natürlich nicht ohne auch deren Zettel mitgehen zu lassen.
Ich besah mir noch einmal die Anzeige: Kleines Dachgeschosszimmer mit Vollpension und Familienanschluss im Waldwiesenwohin (VDM).
Was bedeutete VDM? Das musste ich noch erfragen.
Ich fand eine Telefonzelle, und als ich die angegebene Nummer angewählt hatte und durchgestellt worden war, hörte ich am anderen Ende eine nette Frauenstimme, die eher wie ein Großmütterchen klang als die Mutter einer jungen Studentin. Aber was tat’s. Sie nannte mir die genaue Adresse, und nachdem ich ihr meinen Standort mitgeteilt hatte, erklärte sie mir, wie ich hinkäme: mit der Waldlinie in Richtung Waldwiesentor, durch das Tor und einfach dem Weg ins Waldwiesenwohin folgen bis zum Gutshof Wacholder. Dann fügte sie noch hinzu, dass sie sich sehr auf meinen Besuch freue.
Ich hängte auf und hatte vergessen, nach dem VDM zu fragen. Was konnte es heißen? Nach einigem Überlegen kam ich darauf, dass es wahrscheinlich einfach vor der Mauer bedeutete. Dort mochte ja, wie ich inzwischen wusste, nicht jeder gerne wohnen.
Auf meinem Stadtplan — der eben nur die Stadt Demiawiburg in ihren Mauern verzeichnete — fand ich das Waldwiesentor mit einem Pfeil, der aus dem Plan herausführte nach da, wo ich hinmusste. Ich hatte also keine Ahnung, wie lange ich würde laufen müssen — und ob ich diesen Weg zweimal am Tag machen wollte.
Aber vielleicht gab es ja eine Pforte, die sie nur nicht gleich jedem Besucher anvertrauten. Im besten Fall würde ich das Pfortenmachen bald selber lernen. Immerhin war dies ein solides Ehepaar, ja, ein Elternpaar. Das war auf jeden Fall schicklicher und würde auch bei meinen eigenen Eltern einen besseren Eindruck machen, als wenn ich mit wildfremden Herren plus Zwerg in einer Wohngemeinschaft hauste.
Aber das Zimmer bei Helge Steinmetz stand ja ohnehin nicht mehr zur Debatte: Er hatte klar gemacht, dass ich bald wiederkommen müsste, um noch eine Chance auf das Riesenglück zu haben, bei ihm wohnen zu dürfen, und wenn ich nicht im Waldwiesenwohin bleiben konnte, dann würde ich weder im Würfelwinkel noch irgendwo anders noch unterkommen.
Wie machte Viola das? Die fuhr doch auch nicht jeden Tag von Carcambria her? Sicher, das waren von hier nur zwei bis drei Zugstunden, aber immer noch genug. Nein, Viola wohnte sicherlich im teuersten Hotel der Stadt und konnte sich jede Menge Zeit lassen mit der Zimmersuche. Das bezahlte ja alles ihr königlich entlohnter Vater.
Ich ging zur Haltestelle, wo schon ein paar Leute auf die Bahn warteten. Zum Glück war Viola nicht darunter und hatte anscheinend eine frühere Bahn genommen — oder war ganz woanders hingegangen, was ging es mich an.
Bald fuhr die Bahn ein, und ich fuhr wie angewiesen bis zur Endhaltestelle. Dort wandte ich mich zum Stadttor, wo ich bei der Torwache meinen Tagesausweis vorzeigen musste.
Dies war das erste Mal, dass ich überhaupt an so ein Stadttor kam. Die Eisenbahn, mit der ich bis jetzt zweimal angereist war, fuhr direkt in die Stadt ein, und man wurde in der Ankunftshalle kontrolliert — und zwar nicht nur bei der Ankunft, sondern auch bei der Abfahrt.
Auch hier am Tor kontrollierten sie nicht nur die Leute, die hereinkamen, sondern auch all jene, die ihre kostbare Stadt verlassen wollten.
»Sie waren nur fünf Stunden hier?« fragte mich der Torwächter.
»Ja, also …«, begann ich und wollte ihm erklären, dass ich nur kurz zu einer Besichtigung nach draußen müsste.
»Dann guten Heimweg«, sagte er knapp und gab mir meine Karte zurück.
»Ja, danke.«
War ja auch egal. Wenn ich später zurückkehrte, würde er sich wahrscheinlich nicht mal an mich erinnern.
Ich schritt aus der Stadt hinaus und bekam gleich einen ordentlichen Schrecken: Hier draußen vor dem Waldwiesentor standen die Galgen. Immerhin hing jetzt gerade niemand daran. Ich hatte keine Ahnung, ob hier oft Leute hingerichtet wurden. In so einer freien Reichsstadt stellte ich mir vor, dass nicht viele Dinge schwer bestraft wurden. Mord natürlich schon, aber gab es etwas wie Hochverrat, so wie bei uns? Ich wusste es nicht, und eigentlich wollte ich auch nicht darüber nachdenken.
Allerdings hatte ich mich schon gefragt, was die in dieser Stadt so streng zu kontrollieren hatten. War dies eine Fluchtburg für Verbrecher aus den umliegenden Königreichen? Wollten die Demiawiburger einfach bestimmte Leute nicht in ihren Mauern haben? Ich wusste es nicht. Umgekehrt wollten sie aber anscheinend auch nicht, dass irgendwer aus der Stadt entwich, der dort vielleicht gesucht wurde wegen was auch immer. Ich würde mich bald einmal näher mit diesen Dingen beschäftigen müssen.
Immerhin hatte ich mir schon so eine kleine Einbürgerungsbroschüre besorgt. In meinem Fall galt also der Studentenausweis als eingeschränkte Bürgerkarte. Für die vollen Bürgerrechte brauchte ich allerdings eine gültige Meldeadresse, und zwar wahrscheinlich innerhalb der Stadtmauern. Vielleicht konnten die Leute, die ich gleich besuchte, mir mehr darüber sagen.
Einmal die Galgen passiert, sah ich selbst in weiter Ferne rein gar nichts, was auf irgendeine Ansiedlung hätte schließen lassen, und ich begann zu ahnen, dass dieses Waldwiesenwohin und der benannte Gutshof nicht nur außerhalb der Stadtmauern, sondern sogar ein ziemliches Stück weit draußen lagen.
Etwas ernüchtert betrachtete ich den vor mir liegenden, endlosen und auch etwas langweiligen Weg. Die Landschaft ringsum war gleichförmig, für März schon ziemlich grün und im Ganzen recht malerisch, aber sicherlich nicht ausreichend, um mich bis zu meinem Ziel zu unterhalten. Zu dumm aber auch, dass Viola eine solche Schnepfe war!
Oder dumm von mir. Ich hatte eben gemeint, es wäre einfacher, wenn man nicht allein etwas finden müsste. Offensichtlich war das Gegenteil richtig. Aber Viola hatte sich doch angeboten, geradezu aufgedrängt, und ich fragte mich, warum. Diesen langen, stillen Weg jedenfalls hätte man eingehakt und plaudernd herrlich zurücklegen können.
Ja, Viola. In der Akademie würde ich sie wohl häufiger treffen. Ob sie mich überhaupt noch grüßen würde? Vielleicht hatte sie mich auch längst abgehakt — oder sogar komplett vergessen, wie schon nach der Aufnahmeprüfung.
Ich dachte an den Tag im Herbst, als ich zum ersten Mal nach Demiawiburg gekommen war. Beim Aussteigen aus dem Zug war ich direkt in einen Warteraum geschleust worden, wo es verschiedene Schalter gab, je nachdem, mit welchen Anliegen, Ausweisen und Bürgerrechten man eingereist war. Von der Akademie hatte ich zusammen mit der Prüfungseinladung einen Tagesausweis mitgeschickt bekommen, mit dem ich leicht durch die Sicherheitskontrollen kam.
Wenn man nicht auf der Eisenbahn anreiste, konnte man sich auch an den Stadttoren einen Passierschein ausstellen lassen, eine Tageskarte oder was man sonst brauchte. Allerdings — das hatte ich von Mitreisenden erfahren — waren auch hier die Kontrollen streng. Man musste ein Formular ausfüllen und den Grund und die Dauer des Aufenthaltes eintragen, und dann mussten genau dieser Grund und diese Dauer auch eingehalten werden. Das bedeutete, die zu besuchenden Leute oder Gaststätten (wenn man nur als Tagestourist kam) mussten quittieren, wo man gewesen war. Zudem musste man sich zur vorher vereinbarten Zeit wieder an einem der Stadttore melden, sonst — ja, was sonst? Verfiel der Schein, und man hielt sich plötzlich illegal in der Stadt auf? Ich hatte keine rechte Vorstellung. Wahrscheinlich, so stellte ich mir angesichts der überbordenden Bürokratie in dieser Stadt vor, konnte man sich auch noch den Grund für die Verspätung durch gut beleumundete Bürger quittieren lassen und durfte sich dann unbehelligt wieder aus der Stadt entfernen.
Aber das musste ich zum Glück ja alles gar nicht beachten. Mit meinem vorläufigen Studentenausweis kam ich bislang überall gut durch und konnte die Stadt betreten und verlassen, ohne lange in irgendwelchen Warteschlangen zu stehen. So gesehen fühlte ich mich hier schon beinahe als Vollbürgerin.
Kapitel 5
Wo in aller Welt wohnten diese Leute? So fragte ich mich ein ums andere Mal und beäugte misstrauisch die Sonne, die sich schon mahnend dem Horizont zuneigte.
Erneut kam mir der Gedanke, dass ein Quartier hier draußen auf dem Felde eine recht dumme Idee war. Aber ich war einmal auf dem Weg und hatte es ja auch verabredet, also musste ich hingehen. Leider konnte ich es mir außerdem nicht leisten, wählerisch zu sein. Und welche Wahl hatte ich denn auch? Indes, mit jeder weiteren Biegung hinein ins Nirgendwo wuchsen meine Zweifel — wie überhaupt der Weg anzuwachsen schien und überhaupt kein Ende mehr nehmen wollte. Vielleicht war es ein verzauberter Weg? Aber dann hätte man besser den Zauber umgekehrt und den Weg kürzer erscheinen lassen, als er tatsächlich war. So jedenfalls hätte ich es gemacht.
Wenn ich hier zu wohnen käme, würde ich mir als erstes ein Fahrrad besorgen, soviel stand einmal fest. Dann kam ich auf ein neues Problem: Die Stadttore wurden ja abends geschlossen, soviel wusste ich. Wie aber, wenn ich später nach Hause kam? Brauchte man dann eine Sondergenehmigung, musste man den Tor-Notdienst aus dem Bett klingeln oder war es schlicht nicht möglich, nach Toreschluss ein- und auszugehen? Ich hatte ja gesehen, wie hier schon während der Öffnungszeiten kontrolliert wurde. Wahrscheinlich war doch, dass man zur Nacht überhaupt nicht die Tore passieren konnte. Und wenn ich ganz ehrlich war, wollte ich auch ganz bestimmt nicht nach 22 Uhr an den Galgen vorbeigehen.
Nach etwa einer Stunde Wiesen, Feldern, Waldrand und der immer wieder auftauchenden Frage, wohin ich denn hier eigentlich unterwegs war, bekam ich eine Ahnung, woher die Gegend ihren Namen hatte. Endlich sah ich in der Ferne erste Häuser auftauchen, auch den roten Backstein eines Gutshauses meinte ich zwischen den Bäumen auszumachen.
Zügig und mit neuem Elan schritt ich weiter drauflos und hatte nach einer weiteren Viertelstunde die ersten Häuser erreicht. Die Landstraße führte durch eine Art Ansiedlung, aber die Häuser zu beiden Seiten der Straße schienen verlassen. Das rote Haus, das ich für den Gutshof gehalten hatte, war ein Antiquitätengeschäft mit staubigen und fast blinden Fenstern. Aus dem einen sah ich ein ebenso staubiges Gesicht schauen. Oder vielleicht doch nicht? Nein, es war wohl ein Reflex auf der Scheibe gewesen.
Die Straße machte eine Biegung, dann war ich schon an den Häusern vorbei und auf einem Waldweg. Hatte ich den Gutshof verpasst? Das hier war doch sicher falsch. Ich blickte mich um. Aber es gab nur diese Straße. Zögernd kehrte ich um und besah mir ein weiteres Mal die paar Häuser, die hier am Wege aufgereiht standen.
Dann hörte ich ein Auto hinter mir. Ich trat zur Seite, aber der Weg war so schmal, dass ich mich halb in den Feldrain drücken musste, damit es vorbeifahren konnte. Drinnen saß ein Mann. Als er an mir vorbeikam, fuhr er langsamer, hielt dann an und beugte sich zum Seitenfenster heraus.
»Kann ich helfen?«
Seltsam, das Gesicht. War das nicht dasselbe wie vorhin in dem Antiquitätengeschäft? Aber das war doch gar kein Gesicht gewesen. Und falls doch, dann saß es bestimmt jetzt nicht plötzlich hier im Auto.
»Eh … ja, vielleicht. Ich suche den Wacholder-Gutshof, aber ich habe mich wohl verlaufen.«
Der Mann schaute eine Weile ins Leere, dann nickte er nachdenklich. Oder traurig?
»Nee, ist schon richtig hier. Immer weiter geradeaus, da kommt es dann schon.«
Plötzlich gab er Gas und rauschte davon. Das Motorengeräusch verhallte in der Ferne. Ich lief noch etwa 200 Klafter weiter in den Wald hinein, der sich wirklich bald lichtete, und siehe, da stand auf einem großen freien Platz der Gutshof.
Ich ging auf das flache, langgestreckte Gebäude zu, und auch hier war hinter den Scheibengardinen alles still und dunkel. Oder nein — da war doch wieder ein Gesicht! Ein Kindergesicht allerdings, das sah ich jetzt. Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich nicht doch umkehren sollte. Dann wieder fand ich es albern, so zu denken. Schließlich hatte ich ja noch nicht mal mit dem Ehepaar gesprochen. Dieser arme Mann da im Auto war ja sicher auch nicht immer so.
Ich ging auf die Türe zu und klopfte zaghaft an. Schließlich, weil sich drinnen nichts rührte, zog ich an der kleinen Glocke neben dem Eingang.
Das Läuten hallte in dem stillen Haus wider, dann hörte ich ein Bellen. Immerhin, ein Hund war da. Sonst passierte nichts. Das Bellen verstummte wieder, niemand kam an die Tür. Etwas unschlüssig stand ich auf der Schwelle. Dann trat ich zurück und lief einmal um das ganze Gebäude herum. Vielleicht war der richtige Eingang doch woanders?
Es war aber kein anderer Eingang da. Weder an den Seiten noch auf der Rückseite des Hauses gab es überhaupt Fenster, erst recht keine Tür. Es sah so aus, als sei überhaupt nur die Fassade eines Bauernhauses vorne an einen gemauerten Block geklebt worden.
Ich umrundete einmal das ganze Gebäude und kam zurück auf den Hof, wo jetzt ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren neben einer Pfütze stand.
»Hallo, du«, sprach ich sie freundlich an. »Wohnst du hier?«
Sie wiegte unschlüssig den Kopf, dann hellten sich ihre Gesichtszüge auf.