Vergissmeinnicht - Cassandra Leuenroth - E-Book

Vergissmeinnicht E-Book

Cassandra Leuenroth

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Beschreibung

Dinge ändern sich, das muss auch Helge feststellen. Und wenn selbst ein Zwerg das zugibt, dann sind es große Veränderungen, die ihre Zeichen in den Würfelwinkel vorausschicken. Auch auf Mellia und Viola wartet eine Überraschung, als sie von einem Ausflug nach Altamaris zurückkehren. Ein Orakelspiel soll ihnen den Blick in die Zukunft eröffnen — auch wenn sie letztlich selbst entscheiden müssen, wohin ihr Weg führen soll: in die verwunschene Ruine der Demeraragrafen oder gar direkt in den Himmel … »Vergissmeinnicht« ist die neunte Folge der Würfelwinkel-WG. Die Serie erzählt in 26 Teilen von der Feenstudentin Mellia Weiselhain, ihrer märchenhaften Wohngemeinschaft und — ganz nebenbei — auch noch die Vorgeschichte zu »Prinzessin Beribetscha«. Märchenreich, 1961. In der Reichsstadt Demiawiburg gibt es drei Hochschulen, jede Menge Studenten, Exilanten aus den benachbarten Königreichen und der Grauen Welt — und ein Haus im Würfelwinkel Nummer 17, dessen zusammengewürfelte Bewohner sich erst zusammenraufen müssen, um die alltäglichen Herausforderungen in einer märchenhaften Reichsstadt zu bestehen: Hexen, Zwerge, verzauberte Frösche, ein verwunschener Fernsehmoderator, drei Prinzen, die um die Thronfolge wetteifern, und das Problem, wenn man nicht rechtzeitig vor Toreschluss in die Stadt zurückkommt. Zum Glück hält nicht nur Frau Holle ihre schützende Hand über die bunte Schar. Dennoch erfahren Mellias Ambitionen, eine gute Fee zu werden, manche ungeahnte Kehrtwende. Wird sie nach drei Jahren die Abschlussprüfung bestehen?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cassandra Leuenroth

Die Würfelwinkel-WG

Folge 9: Vergissmeinnicht

November 1961

© CEGL, 2022

Lorichsstraße 28a

22307 Hamburg

 

Umschlagentwurf: TheaDelphia

Lektorat & Korrektorat: Albert Lossat

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung der Rechteinhaber.

Kapitel 1

»Irrigen Angaben aufzusitzen«, überlegte ich, »das ist aber eigentlich nicht die Art der Akademie, oder was denkst du?«

»Ich denke, du redest ein bisschen sehr gestelzt, meine Liebe«, sagte Viola, während wir eine weitere Ansammlung verwitterter, ausgetretener Stufen hinaufstiegen. »Hast wohl wieder zu lange in Jürgens kleinem Bücherbüro herumgelungert?«

»Ganz sicherlich nicht«, gab ich zurück. »Zumal ich dort keine Überstunden angerechnet bekomme.«

»Ach nein?« Viola betrachtete mich prüfend. »Das glaube ich aber doch. Ich sehe zwei Extrasternchen in deinen Honigaugen funkeln, wenn wir über Jürgen reden.«

»Rede keinen Quatsch, sonst werde ich hier gleich an der Rezeption deine Hochzeitssuite für den nächsten Sommer buchen. Bis dahin werdet du und Timon es ja wohl schaffen, eure kleinen Unstimmigkeiten auszuräumen. Sag mal, ist das noch weit?«

»Nur eine oder drei Biegungen, dann sind wir da.«

Viola, die mit ihren Eltern schon öfter Urlaub in Altamaris gemacht hatte und sich ganz gut auskannte, hatte mich vom Bahnhof bis zum Hafen gelotst und von dort durch lauter ansteigende Winkelgassen mit winzigen, steilen Treppen bis hinauf in die Oberstadt.

»Haben Sie meinen Smaragd gesehen?« rief uns plötzlich eine Frau an, die aus einer Nebengasse gestürmt kam. »Hans, ich habe meinen Smaragd verloren!«

Der angeredete Hans neben ihr ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Unfug, da liegt er doch. Siehst du?«

»Nein wirklich, der ist mir in die Blumen gefallen! Das passiert mir andauernd. Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit.«

»Aber nicht doch«, sagte Viola freundlich.

Wir tauschten vergnügte Blicke, während Hans und Grete — oder wie die Dame heißen mochte — eilig in Richtung Unterstadt davontrabten.

»Da wir gerade von Irren reden«, sagte ich. »Die sind schon lustig, die Leute hier, was?«

»Niemand redet hier von Irren«, korrigierte Viola. »Ich rede von Gaunern und Falschspielern und von der Vorspiegelung falscher Umstände und Vertuschung wahrer Umstände in betrügerischer Absicht. Und um auf deine gestelzte Frage zurückzukommen: In meinem Fall hat die Akademie entweder schlimm geschludert, oder … ja, oder er hat einfach dafür gesorgt, dass sie nicht darauf achten.«

»Dafür gesorgt?«

»Ja, was denkst denn du, mit wem wir es hier zu tun haben? Der ist doch kein Anfänger. Ach guck, hier ist es. Nein, ist das hübsch, da hat sich der Aufstieg wirklich gelohnt.«

Viola hatte recht. Die Pension Sternenschweif, wo Andi arbeitete, war wirklich ganz allerliebst. Malerisch und schmuck lag sie am Hang hinter einer Blumenhecke und bot einen herrlichen Blick hinunter auf den Hafen und die Stadt Altamaris. Zwar gingen wohl nicht alle Zimmer nach vorn raus, aber dieses ganze Haus war derart idyllisch gelegen, dass man wahrscheinlich aus allen Fenstern nur Schönes sah.

»Jetzt wird mir erst klar, warum wir die ganze Zeit treppauf klettern mussten.«

Viola nickte. »Damit wir hier diese wunderschöne Aussicht haben.«

Unten, dem kleinen Hafen gegenüber gelegen, konnte man die alte Festungsanlage sehen. Die stand schon so lange hier, erklärte Viola mir, dass nicht einmal mehr die ältesten Altamarenser wussten, wer die eigentlich gebaut hatte und wozu. Hier schien keiner eine Festungsanlage zu brauchen gegen Angriffe von wem auch immer.

Ein Stück weiter zum Meer hin konnte man die Türmchen des Königsschlosses sehen, das von einem weitläufigen Park fast verborgen auf halber Höhe zwischen der Unterstadt und den Bergen lag, die Altamaris nach drei Seiten hin begrenzten.

»Komm, Waldpilz«, sagte Viola schließlich. »Du kannst dir hier noch zwei Tage lang die Augen aus dem Kopf staunen, aber ich muss einmal meinen Kram abladen.«

Durch einen mit Wein bewachsenen Laubengang betraten wir die kleine Pension und fanden am Tresen auch schon Andi vor, sehr schick und offiziell in seiner grün-weiß-roten Hoteluniform, der uns fröhlich zuwinkte.

»Viola, Mellia! Wie schön, dass ihr da seid. Was ist das denn, hast du eine Blume mitgebracht?«

»Das ist Mona«, erklärte Viola, »meine Feldmalvenfee.«

Ja, ohne Mona konnte sie dieser Tage nirgends hin. Selbst die Aussicht, bei Frau Birnenschein auf der Terrasse eine Menge neuer Bekanntschaften zu machen, hatte die kleine Florfee nicht von der Idee abbringen können, sie müsste unbedingt mitkommen nach Altamaris.

»Was nicht gar.« Andi staunte. »So etwas habe ich noch nie gesehen! Eine winzige … Und die lebt richtig?«

»Was, natürlich lebe ich richtig«, motzte Mona empört. »Denkst denn du.«

Andi lachte. »Es tut mir leid, ich kenne doch so was nicht.«

Beeindruckt sahen wir uns in dem kleinen Empfangsraum um und ließen die Atmosphäre auf uns wirken. Links neben der Rezeption führte eine Treppe nach oben, auf der rechten Seite gingen große Fenstertüren zur Terrasse und in den schon dämmervollen Garten hinaus.

Hinter uns, neben der Eingangstür, lag der Speisesaal, wo eifrige, ebenso farbenfroh gekleidete Kellner gerade für das Abendessen eindeckten.

»Hübsch hast du es hier«, stellte Viola fest.

Über dem Empfangstresen hing ein Porträt des Königspaares: Polonius und Anastasia von Altamaris, bekannt aus den einschlägigen Galablättern.

»Und lustig, dass du immer noch hier arbeitest«, sagte Viola mit Blick auf das Bild hinter ihm. »So als designierter König von Altamaris.«

»Aber, liebe Mädchen!« Andi sah ganz erschrocken aus. »Sagt doch so was nicht laut! Sonst verliere ich noch meine Anstellung, wenn hier solcher Unfug geredet wird.«

»Hier wird Unfug geredet?« rief ein vorbeikommender Kellner. »Das habe ich aber nicht gehört.«

»Wie gut«, sagte Andi, »dass du das nicht gehört hast.«

Da lachte der Kellner und ging weiter.

Andi bot uns an, dass wir zusammen essen könnten. Natürlich nicht in der Pension, denn als Angestellter saß man ja nicht bei den Gästen im Speisesaal. Stattdessen schlug er vor, dass wir zusammen in die Unterstadt gingen.

»Zum Henker«, entfuhr es mir. »Jetzt sind wir gerade hier heraufgekraxelt und ich soll schon wieder hinunter?«

»Keine Eile«, sagte Andi. »Es sind noch drei Stunden, bis meine Schicht zu Ende ist. Um 19 Uhr habe ich hier Feierabend, dann könnten wir zusammen losgehen. Unten am Hafen gibt es sehr hübsche Restaurants.«

»Ja, ich weiß«, sagte Viola. »Kommt Betty auch?«

»Wohl nicht«, sagte Andi bedauernd. »Als Prin— also, als … prinzipielle Gegnerin von Fischgerichten wird sie sich nicht des Abends in Hafenkneipen tummeln.«

»Ach so. Ja, das versteht sich natürlich.«

»Gut, gehen wir doch erstmal auspacken«, sagte Viola. »Dann treffen wir uns entweder nachher hier, oder wir beschließen gleich noch, dass wir schon mal vorgehen zu einem Stadtbummel, und dann können wir einen Treffpunkt irgendwo unten ausmachen.«

»So machen wir es«, nickte Andi. »Ist das alles, was ihr an Gepäck habt?«

»Wieso, reicht das nicht?« fragte Viola. »Wir haben ja nicht vor, drei Wochen zu bleiben. Wir wollen nur wissen, ob es dir gut geht, und dann zischen wir gleich wieder ab.«

Als ob! Wenn es nach Viola gegangen wäre, hätte sie sich am liebsten für ein ganzes Jahr von Demiawiburg ferngehalten.

»Außerdem hätte ich einen größeren Koffer auch nicht den Berg hochtragen wollen«, fügte ich an.

»Sehr weise gesprochen. Hier ist euer Schlüssel, Zimmer 14.«

Jemand trat an den Tresen.

»Haben Sie auch Postkarten?«

»Natürlich«, sagte Andi freundlich, »wir sind ja ein Hotel. Sicherlich haben wir Postkarten.«

»Aber wo denn?«

»Da, auf dem Boden liegen welche.«

»Ach so, Tatsache. Ja, die nehme ich.«

»Alle?«

»Gerne.«

»Gut, können Sie sich dann einsammeln. Sonst noch was?«

»Danke, das war es schon. Was bekommen Sie?«

»Für den sauberen Teppich? Erstmal gar nichts. Sie können ja später wieder was hinwerfen.«

Wir lachten. Dieser freundliche Graufex da an der Rezeption wirkte nicht einmal wie etwas Fremdes hier. Nach allem, was ich bislang von der Grauen Welt gesehen hatte, konnte ich mir Andi dort eigentlich überhaupt nicht vorstellen.

Ein Page nahm sich unseres Gepäcks an, und wir folgen ihm die Treppe hinauf. Viola behielt nur den Feldmalventopf in der Hand.

»Viel mehr als vierzehn Zimmer scheinen die hier auch gar nicht zu haben«, stellte ich fest, als wir im ersten Stock anlangten.

»Wenn es überhaupt so viele sind. Oder gibt es da oben auch noch Zimmer?« fragte Viola und wies auf die Treppe zum zweiten Stock.

»Ja, natürlich« sagte der Page, »jede Menge sogar. Da wohnen aber keine Gäste, nur die Gastgeber.«

»Ah, verstehe. Meine Zeit, ist das hübsch hier.«

Unser Zimmer lag zur Seite hinaus, direkt über dem hübschen Laubengang, der um das Haus herum in den weitläufigen Garten führte. Hier richteten wir uns nun also übers Wochenende ein.

Ich ließ mich als erstes auf das weiche Bett fallen, während Viola das Fenster öffnete und den Malventopf mit Mona auf das Bord stellte.

»Leider habe ich so kurzfristig kein anderes Zimmer mehr bekommen, ich meine eines mit Hafenblick. Du musst schon mit diesem hier vorlieb nehmen.«

»Schon recht«, sagte ich träge. »Oder anders gesagt: Machst du Witze? Das hier ist das schönste Zimmer, das ich je betreten habe. Und da sind alle weiteren Zimmer, die ich in meinem Leben noch sehen werde, schon mit eingerechnet.«

Viola lachte.

»Beschrei es nicht. Was ist, wollen wir auf einen kleinen Stadtbummel?«

»Jetzt? Ich möchte gern ausruhen, wenn es recht ist. Wir gehen doch später mit Andi runter. Außerdem wird es bald dunkel, es gibt ohnehin nichts zu sehen.«

»Hast du eine Ahnung, Waldpilz. Du hast überhaupt keine Ahnung. All die Lichter unten im Hafen, so was hast du noch nicht gesehen.«

»Ich werde es nachher sehen«, sagte ich gähnend.

»Wie du meinst«, sagte Viola und lehnte sich zum Fenster hinaus. »Es ist noch so schön hier abends. Beinahe noch Spätsommer.«

Sie hatte recht. Hier in Altamaris herrschte ein vollkommen anderes Klima als in Demiawiburg. Kaum zu glauben, dass schon Mitte November war.

»Andi jedenfalls hat sich ja ganz gut eingelebt«, stellte ich fest.

»Tja. Wer weiß, wie verrückt die Leute in seiner eigenen Welt sind. Vielleicht musste er sich gar nicht groß umstellen.«

»Ich weiß das«, sagte ich mit Überzeugung. »In der Grauen Welt ist niemand verrückt, nur arm dran sind sie da draußen. Jürgen kann froh sein, dass es ihm erspart bleibt, sich das anzusehen. Auch wenn er das anders sieht.«

»Ach was«, winkte Viola ab. »Jürgen hat doch hier alles, was er braucht. Viel grauer als sein staubiges Rathaus mitsamt dem staubigen Gummibaum kann selbst die Graue Welt nicht sein. Und wehe, er lässt es sich einfallen und ruft uns hier an wegen nix und wieder nix.«

»Hattest du ihm ja gesagt, dass er das nicht soll. Und dass er vor allem nicht Timon erzählen soll—«

»Sag den Namen nicht!« fuhr Viola auf.

»Schon gut. Ich habe nichts gesagt und noch weniger gemeint.«

Viola hatte sich also in den letzten Wochen einige Male mit Timon Fichturak getroffen, immer ganz harmlos zum Mittagessen oder auf ein Stück Kuchen am Nachmittag. Von einem romantischen Abendessen bei Kerzenschein war keine Rede, aber vielleicht hätte sie das auch überfordert. Warum sollten sie es nicht geruhsam angehen lassen? Aber was bei ihrem letzten Treffen am Donnerstag vorgefallen war, hatte Viola so in Rage gebracht, dass sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte.

Dabei waren die beiden am Nachmittag noch ganz friedlich in die Kondite gegangen. Bei ihrer Heimkehr allerdings hatte Viola dann wutentbrannt ihren Koffer gepackt — und meinen gleich mit — und verkündet, wir würden nach Altamaris fahren.

»Nach Altamaris? Was ist denn überhaupt los?«

»Es ist unfassbar«, hatte sie ausgerufen. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Lass bloß mal die erste Wut verrauchen. Wenn ich mich ein bisschen beruhigt habe und dir die Geschichte erzählen kann, ohne die Möbel zu Klump zu hauen, ist schon ganz viel gewonnen.«

Dann hatte sie in der Pension Sternenschweif angerufen und ein Zimmer für uns gebucht, während ich staunend dabeistand und die Welt nicht begriff.

»So, das Wochenende wäre geritzt. Andi freut sich sehr, dass wir ihn endlich besuchen kommen, und morgen Mittag geht es los. Keine Sorge, die Fahrt geht aufs Haus.«

»Was, die laden uns ein? Andi und Betty?«

»Nein, Waldpilz, auf mein Haus. Ich lade dich ein. Ich brauche Luft zum Atmen, aber ich will nicht alleine fahren, also lasse ich ein verlängertes Wochenende springen. Wir wollten die beiden doch längst mal besuchen. Außerdem haben wir schon November, und so langsam wird es doch zu spät, um noch nach Altamaris zu fahren.«

Das stimmte natürlich, wir hatten das schon seit einer Weile geplant. Aber so mitten im Trimester? Egal, es war ihr ernst damit.

»Aber was war denn da nun los? Hat euch der Kuchen nicht geschmeckt?«

»Was los war? Es ist so ungeheuerlich!« hatte sie ein ums andere Mal geknurrt.

An eine klare Wiedergabe der Ereignisse war nicht zu denken gewesen, also hatte ich beschlossen, Viola in Ruhe zu lassen und sie erst wieder in einer Gegend ohne Möbel und Geschirr danach zu fragen.

Erst im Zug hatte sie mir dann die ganze Geschichte erzählt.

»Er hat mein Leben ruiniert!«

»Was hat er? Wie denn das?«

»Ja, wie denn das? Ich sage es dir, wie das. Dieser Mensch ist schuld daran, dass ich die dämliche Plessers bekommen habe.«

»Was sagst du?«

»Ja, das hat er mir vorhin mitgeteilt. Ich dachte, ich werd nicht mehr.«

»Was, aber wie soll er denn das gemacht haben? Hat er dich für sie empfohlen oder was?«

»Nein. Der hat nicht etwa mich empfohlen, sondern sich selber. Er hat dafür gesorgt, dass ich keine Mentorin bekomme, indem er sich als Mentor für mich beworben hat. Wohl wissend, dass das gar nicht erlaubt ist.«

»Ich wollte eben sagen, da war doch was mit Schicklichkeit.«

»Ganz genau«, sagte Viola. »Aber Herr Timon Fichturak hat es offenbar nicht notwendig, sich an Akademieregeln zu halten. Sondern er ließ es sich angelegen sein, mich für alle echten Mentorinnen, die ich hätte bekommen können, zu blockieren. Und als man dahinter kam, dass er gar keine Frau ist, da war es zu spät. Da gab es nur noch Frau Doktor Plessers, die man übrig hatte, weil nämlich alle richtigen Mentorinnen schon anderweitig verteilt worden waren.«

»Aber das ist—«

»Ja, das ist eine Katastrophe. Dieser Mann soll mir nie wieder unter die Augen kommen!«

»Nein, aber Moment«, sagte ich. »Das ist doch irgendwie süß von ihm. Ja, zugegeben, vielleicht war es auch ein bisschen doof.«

Viola zog wieder in ihrer unnachahmlichen Weise die Augenbrauen hoch.

»Ach ja? Und wenn einer so doof ist, mir mein Leben zu ruinieren, das findest du süß?«

»Nein. Aber er war, also er hat es doch … ja, ich will jetzt nicht sagen gut gemeint. Aber immerhin hat Frau Doktor Plessers dir doch zu Mona verholfen, und Mona wiederum hat dir zu Timon Fichturak verholfen.«

»Ja«, sagte sie. »Zu Timon Fichturak, der mein Leben ruiniert hat. Dieses ganze Ding ist ein Teufelskreis. Ohne ihn hätte ich nämlich nicht Frau Doktor Plessers bekommen, und ohne Frau Doktor Plessers hätte ich auch nicht Mona und dann ihn bekommen. Ergo: Hätte der sich einfach rausgehalten, wäre alles schön.«

»Nein, nicht ganz. Hätte er sich einfach rausgehalten, wärest du jetzt gar nicht böse auf ihn und würdest ihm stattdessen nachjammern.«

»Ja! Ja, ganz genau! Ich sage dir doch, es ist ein Teufelskreis, aus dem ich nie wieder herausfinde.«

»Na, so würde ich es jetzt auch nicht sagen.«

»Natürlich würdest du das nicht sagen. Du musst ja auch nicht mit der Frau Doktor im Blumenbeet spielen. Ich sage dir, Waldpilz: Dank Timon Fichturak werde ich in meinem Leben nichts lernen an dieser Akademie. Vielleicht sollte man das mal im Fernsehen verkünden, mal sehen, wer dann noch alles lacht.«

Viola brauchte also dringend frische Luft und Abstand, soviel war klar. Also hatten wir die Ochsentour mit dem Zug gemacht, der auf einem riesigen Umweg vom Bahnhof am Osttor einmal um die halbe Stadt und dann noch um den Zauberwald herum fuhr. Natürlich wäre es praktischer gewesen, mit dem Auto direkt durch das Altamaristor hinauszufahren, aber eben: Die einzigen Leute mit Auto, die wir kannten, waren Erna und Timon Fichturak, und gerade Timons wegen war sie ja überhaupt erst aus Demiawiburg geflüchtet. Wieder so ein Teufelskreis, dem wir aber immerhin auf der Eisenbahn entkommen konnten.

Dennoch fragte ich mich, warum der Zug nicht einfach eine Pforte nehmen konnte. Einige Linien der Demiawiburger Stadtbahn taten das doch auch, wie zum Beispiel jene, die an der Spukruine vorbeimusste: Die kam da gar nicht hin.

Aber Viola erklärte mir, dass die Stadtbahn eben etwas ganz anderes war als die Züge, die hier abfuhren.

»Die gehören nämlich der Königin von Eskellem, und, glaube es oder nicht, Waldpilz: Die bekommt hier in der Gegend nicht dieselben Privilegien wie die Straßenbahn, die der Stadt Demiawiburg gehört.«

»Was, wirklich?«

»Aber ja. Keine Ahnung hast du und willst Frau Stadträtin sein.«

»Wie, was will ich? Bei dir piept’s wohl! Noch eher wirst du Frau Fernsehzauberin.«

»Haha, ehe das passiert, werde ich noch lieber selber Frau Stadträtin.«

»Das kannst du mal machen.«

»Das kannst du nicht«, ließ sich jetzt Mona vernehmen.

»Was?«

Die kleine Florfee war von ihrem Blumentopfrand gesprungen.

»Ich hatte dich gewarnt. Wen du dir mit dem Malvenzauber zurückwünschst, der geht nicht mehr weg.«

»Ja, aber …«

»Nie mehr geht der weg!« rief Mona wieder und wedelte dramatisch mit ihren winzigen Armen.

Viola schlug die Hände vors Gesicht.

»Um Himmels willen, das hatte ich auch vergessen.«

»Nein, Moment«, warf ich ein. »Das stimmt so nicht.«

»Das stimmt nicht?« empörte sich Mona. »Aber ja stimmt das, ihr werdet es sehen, und ich hatte euch vorher gewarnt.«

»Das hast du«, bestätigte Viola.

»Nie mehr geht der weg!« rief die Florfee wieder.

»Nein, hört doch zu! Viola: Wenn Timon schon vor einem Jahr bei deiner Aufnahmeprüfung war und dich — wir wollen es einmal ganz drastisch sagen — ganz ausdrücklich für sich wollte …«

»Ja?«

»Dann war es nicht der Malvenzauber, der ihn zurückgeholt hat«, vollendete ich meine These. »Dann war er die ganze Zeit hier und hinter dir her, und es hat den Zauber gar nicht gebraucht.«

»He!« Viola blickte auf. »Das ist ja mal wahr! Mona, wir hätten dich überhaupt nicht gebraucht!«

»Also, so würde ich es jetzt auch nicht …«

»Ha! Dieser ganze Malvenzauber war eine reine Farce!«

»Aha, aha«, rief die kleine Malvenfee schmollend. »Und nun willst du mich gleich zusammen mit deinem Zauberzauberer loswerden, wie? Aber ich gehe nicht weg! Nie mehr gehe ich weg!«

»Ach nein? Was willst du machen, dich an mir festketten?«

»Nie mehr gehe ich weg!«

»Bitte, Leute.«

Das war ja nicht zum Aushalten. Da saßen wir nun in diesem wunderhübschen Hotelzimmer, und ich hätte eigentlich gute Lust gehabt, den Rest des Nachmittags hier zu verdösen, später nur kurz in den Speisesaal hinunterzugehen und die Stadt bis morgen Vormittag sich selbst zu überlassen. Aber hier war ja an Ausspannen nicht zu denken.

»Wisst ihr, was wir jetzt machen?« sagte ich und sprang auf. »Wir werden jetzt, wie du es vorhattest, ein Stück nach draußen gehen. Na los, ihr zwei. Wir brauchen jetzt alle ein bisschen extrafrische Luft.«

Kapitel 2

»Schritt für Schritt, Mona. Nicht so schnell.«

Ein sonniger Samstagnachmittag leuchtete über Altamaris. Unten auf dem Wasser glitzerte die Sonne wie eine ganze Schatztruhe voller Silbergulden, und ich musste Viola zustimmen: Hier hätte ich alles Dumme vergessen können, was es drüben in Demiawiburg oder auch weiter hinten in Eskellem für mich gab. Nur, in meinem Falle gab es ja gar nichts Dummes, weder hier noch anderswo, und umso mehr konnte ich es genießen. Wieder einmal musste ich feststellen, dass Knut eine ganze Menge verpasste da auf unserem Milchhof im Eskellemer Hinterland.

Auch mit dem Wetter hatte Viola recht behalten: Es herrschte hier beinahe ein zweiter September, so warmgolden und bunt war Altamaris im Spätherbst. Zwar wehte ein recht anständiger Wind, aber wenn man nicht gerade direkt am Meer oder in lichten Höhen auf der Festungsanlage stand, konnte man selbst das Schaltuch getrost in der Tasche lassen. Mona hielt tapfer durch.

Die Malvenfee wollte auch heute wieder dabei sein, und Viola hatte ihr das nur unter der Bedingung zugestanden, dass der Topf in der Pension blieb. Mona hatte sich also vorgenommen, die ganzen Treppen bis in die Unterstadt allein hinunterzuhüpfen, und Viola und ich hatten heimlich Wetten abgeschlossen, wie lange sie durchhalten und an welcher Biegung sie quengelnd aufgeben würde.

»Aber könnte sie nicht einfach fliegen?« fragte ich verwundert. »Bei uns fliegt sie doch auch in der Wohnung herum.«

»Ja, kurze Strecken. Und solange ihre Malve in der Nähe ist. Eine Florfee kann ohne ihre Blume ebenso wenig überleben wie die Blume ohne sie.«

»Ach. Hast du das bei Frau Doktor Plessers gelernt?«

»Nein, das habe ich von Mona gelernt. Wenn wir eine Weile ohne Topf unterwegs sind, geht ihr ziemlich schnell die Puste aus. Aber sie ist einmal so eigensinnig.«

Ich lachte. »Ihr passt eigentlich gut zusammen. Und wenn sie nicht mehr laufen mag, kann sie sich doch immer noch auf deine Schulter setzen.«

Viola nickte. »Könnte sie. Wenn sie es rechtzeitig zugibt.«

Inzwischen wusste sogar ich die Wege und Gassen zwischen Hotel und Hafen beinahe auswendig. Bald hatten wir die steilen Treppchen bewältigt und ließen uns in das bunte Treiben der Unterstadt hineingleiten.

»Sollen wir vorher noch was essen?« überlegte Viola. »Wer weiß, was es bei Königs gibt.«

»Ich dachte, du weißt, was es für gewöhnlich bei Königs gibt«, zog ich sie auf.

»Ich weiß, was es im königlichen Garten gibt. Aber bei den hohen Herrschaften? Ich stelle mir vor, unsere gestrenge Königin Holda verteilt allenfalls Bilder von kleinen Kuchen.«

Ich musste lachen.

»Was, wie kommst du auf das?«

»Hm, ich weiß auch nicht. Aber sie ist keine sehr … Also, sie ist keine nette Person, würde ich sagen.«

»Ja, das sagst du öfter. Aber begründen kannst du es eigentlich nie. Im übrigen sind wir nicht bei Königs eingeladen, sondern nur in Bettys Privatgemächer. Da wird es doch wohl anständigen Tee und ein Stückchen Kuchen geben. Was ist?«

Viola grinste plötzlich.

»Ich überlege gerade, was Helge der Prinzessin wohl für eine Tasse zueignen würde.«

»Interessante Idee. Wir werden es nicht erfahren, fürchte ich. Betty hat sich ja schon kaum dazu herablassen können, bei Frau Birnenschein Tee zu trinken. Du, wir müssen nachher noch in die Läden«, fiel mir dann ein. »Ich brauche dringend ein Geburtstagsgeschenk.«

»Stimmt ja. Wie alt wird sie denn, die Frau Be?«

»Keine Ahnung, irgendwas zwischen 70 und 90. Ich glaube, in dem Alter ist das egal.«

Viola grinste.

»Na, schon möglich. Du, wenn ich so recht nachdenke: Ich weiß nicht mal, wann meine Mentorin Geburtstag hat.«

»Du erkennst sie ja nicht mal als deine Mentorin an.«

»Das ist allerdings wahr.«

»Du, aber sag mal … Könnte nicht Timon—«

»Mellia!«

»Nein, hör mal. Er könnte doch dein Mentor sein. Ganz heimlich natürlich und nicht offiziell. Aber so könntest du immerhin etwas lernen. Er jedenfalls ist ja anscheinend der Ansicht, dass er dir etwas beibringen könnte, also warum solltest du die Gelegenheit nicht wahrnehmen?«

Viola starrte eine Weile stumm vor sich hin, während wir die Hafenpromenade umrundeten.

»Ich betrachte deine letzten Sätze als nicht gesagt«, erklärte sie dann.

---ENDE DER LESEPROBE---