Gossip - Kelsey McKinney - E-Book

Gossip E-Book

Kelsey McKinney

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Beschreibung

OMG! Alles über Gossip »Süchtig machend, wahnsinnig gewagt und unerbittlich lustig.« Vulture, New York Magazine In der Schule, in der Arbeit, unter Freunden, in der Zeitung, am Handy – überall und ein Leben lang begegnen uns Gerede und Gerüchte.  Aber warum fällt es manchmal so schwer, pikante Neuigkeiten für sich zu behalten? Woher kommt unsere Faszination für das Leben anderer und warum reden wir so gerne über andere? Und sind wir deshalb schlechte Menschen? McKinney verwebt persönliche Erlebnisse, Medienereignisse, Studien und popkulturelle Phänomene zu einer ehrlichen und erfrischenden Gegenwartsanalyse. Anhand prägnanter Beispiele – vom Gilgamesch-Epos, wie es von Chatbots erzählt wird, über Jane Austen bis zu Diana, den Clintons und Taylor Swift ­– fängt sie ein, was Gossip im Kern ausmacht: die urmenschliche Suche nach Wahrheit(en).  Für Fans von Glennon Doyle, Sally Rooney und Florence Given "McKinney ist nicht nur eine der beliebtesten Stimmen unserer Generation, sie ist auch eine rigorose und tiefsinnige Autorin, die Emily Dickinson und Doja Cat auf derselben Seite zitieren kann und den Leser sowohl erfreut als auch herausfordert." Amanda Montell, New York Times Bestseller-Autorin  »McKinney weiß, wie viel Macht Gossip hat.« Elle »Kelsey McKinney erforscht die Besessenheit der Gesellschaft vom Hörensagen... und erklärt, warum und welche zentrale Rolle Klatsch und Tratsch in menschlichen Beziehungen spielen.« Time Magazine »Eine unterhaltsame Untersuchung einer urmenschlichen Gewohnheit. Kelsey McKinneys Buch wirft nachdenkliche Fragen zu einem viel zu wenig untersuchten Thema auf und bietet dabei einige Freuden und Erleuchtungen.« Washington Post »McKinney zeigt, wie sich Klatsch und Tratsch von einem einfachen Geheimnis zwischen Freunden zu einem sozialen und kulturellen Phänomen entwickelt haben.« Rolling Stone »Gossip ist ein lebenswichtiges Kommunikationsmittel und Teil einer uralten Tradition des mündlichen Geschichtenerzählens... Vor allem aber beweist McKinney, dass Klatsch und Tratsch ein legitimer Teil des modernen Lebens sind.« The Times »Gut recherchiert und nah am Leben der Autorin... unterhaltsam zu lesen.« Guardian »McKinney ist eine meisterhafte Geschichtenerzählerin.« Irish Times

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Als Kelsey McKinney das erste Mal den Vorwurf hört zu interessiert am Leben und den Geheimnissen anderer zu sein, ist sie noch ein Kind. »Du sollst nicht tratschen!« So lautet ein Gesetz, das vielen von uns schon früh den Mund verbietet. Nahezu jede Weltreligion kennt eine Variante davon. Und wenn es nicht die Religionen sind, dann sind es eben irgendwelche Erwachsenen, die uns daran hindern wollen, die so sorgfältig in Erfahrung gebrachten Informationen über andere weiterzuerzählen.

Warum eigentlich? Sie tratschen doch selbst! Jeder Mensch hat schon einmal Gossip verbreitet – und dabei tiefe Freude empfunden. Über die Spannung im Gesicht des Gegenübers, während man eine großartige Geschichte allmählich auf ihren Höhepunkt zulaufen lässt. Über das Staunen und Raunen, wenn die Bombe dann endlich platzt: »Nein, ernsthaft?!«

Gossip ist ein Grundpfeiler menschlichen Zusammenlebens. Gossip hat ganze Gesellschaften geprägt. Gossip verleiht Macht (oft auch den Richtigen). Gossip bestimmt unsere gesamte Pop-Kultur: siehe Britney, Taylor, Amber … Gossip unterhält uns, wenn das eigene Leben zu langweilig wird. Kurz: Gossip ist alles. Und das zeigt dieses Buch.

Kelsey McKinney

Gossip

Aus dem Amerikanischen von Katharina Herzberger

 

 

 

 

Für Dana Murphy

 

 

 

 

 

 

»Talk is cheapbut the price is highwhen it’s true.«

Reba McEntire,»Rumor Has It«,1990

»Von mir hast du’s nicht …«

Eine Vorbemerkung zum Thema Gossip

Tratsch, Lästern, Geschwätz – früher dachte ich, all das könnte ich mühelos herunterschlucken. Was wir heute unter Gossip verstehen, war für mich wie eine bunte Pille, die vor Konzerten von einer Hand in die andere wanderte, etwas, das man unmittelbar in sich aufsog. Eine kleine, wenn auch geheime Entscheidung, an diesem Abend besonders viel Spaß zu haben, offener zu sein, sich auf seltsame Erfahrungen einzulassen. Sie erinnerte mich an dieses aufregende Gefühl, das nach zwei Espresso Martinis in einer schummrigen Bar in mir aufstieg. Bei Gossip ging es um alles oder nichts, wenn über dich gesprochen wurde, konnte das entscheiden, ob etwas aus dir wird oder nicht. Und selbst wenn es dabei nicht um mich ging, liebte ich es wie alle, die gerne tratschen: aus vollem Herzen, überschwänglich und bedingungslos.

Ich war schon immer besessen von den Geschichten über Freundesfreunde und Freundesfreundinnen – diese ominösen Charaktere, die immer wieder in meinem Leben auftauchen, weil sie Schluss gemacht haben, ihren Chef anbrüllen oder plötzlich von ihrer verschollenen Halbschwester erfahren. Noch immer warte ich gierig auf Anrufe, die mit einem »Das glaubst du mir nie« starten, oder auf minutenlange Sprachnachrichten aus dem Nichts, auf diese elektrische Spannung, die plötzlich die Luft erfüllt, wenn sich eine Person über den Tisch beugt und zu flüstern beginnt.

Viele Menschen sagen, dass sie Tratsch nicht mögen, dabei versteckt sich dahinter viel mehr, als wir denken und als ich früher dachte – inzwischen verstehe ich besser, was Gossip eigentlich ist.

Ganz allgemein gesagt, bezeichnet Gossip nichts anderes als eine Situation, in der über eine nicht anwesende Person gesprochen wird.[1] Nach dieser Definition tratscht man also streng genommen, wenn man für jemanden betet. Wird in den Medien spekuliert, wer in der nächsten Saison für welches Team antreten könnte, ist auch das Tratsch. Und eine Ärztin tratscht, wenn sie das Röntgenbild eines Patienten mit einem Kollegen bespricht, genauso wie zwei Freundinnen, die sich Insta-Posts von Taylor Swift schicken. Heutzutage reden wir auch von Gossip oder Geläster, wenn wir Verunglimpfungen, Verleumdungen oder Hate Speech meinen. Und wenn es um Promi-News, Anrufe von unserer Mutter oder geflüsterte Gerüchte geht, dann bezeichnen wir das als Klatsch. Selbst in der Forschung herrscht kein Konsens darüber, was »Gossip« nun bedeutet.[2] Auch wenn wir zugeben, gerne zu tratschen, erklären wir im selben Atemzug, wie gefährlich es ist.

»Gewisse Formen des Gossips lassen sich in jeder Gesellschaft finden«, schreibt der Philosophieprofessor Aaron Ben-Ze’ev in seinem Essay The Vindication of Gossip (Eine Verteidigung des Gossips).[3] »Kinder, die in jungem Alter noch kaum von der Kultur beziehungsweise Kulturen beeinflusst werden, reden nahezu augenblicklich über andere, sobald sie sprechen lernen und andere Personen wiedererkennen.« Vielleicht ist uns dieses Verlangen angeboren, und vielleicht war es das schon immer.

In seinem Buch Klatsch und Tratsch argumentiert der britische Anthropologe Robin Dunbar, dass unsere Gespräche dieselbe Funktion erfüllen wie die Fellpflege im Tierreich. Durchforstet ein Schimpanse das Fell eines anderen nach Insekten, bedeutet dies in ihrer Gemeinschaft Nähe und Zusammenhalt, und genauso ist es, wenn sich eine Dreizehnjährige zu ihrer Freundin lehnt, um ihr ein Geheimnis zu verraten, oder ein Kollege uns ganz essenzielle Informationen mitteilt. »Wenn das Kraulen bei den Primaten vor allem dazu dient, Vertrauen aufzubauen und Verbündete kennenzulernen, hat die Sprache einen weiteren Vorteil«, schreibt Dunbar. »Man kann mit ihr viel über sich selbst mitteilen – über Vorlieben und Abneigungen, über die eigene Person; und man kann auf vielfach raffinierte Weise etwas über die eigene Zuverlässigkeit als Verbündeter oder Freund aussagen.«[4]

Eigentlich haben Menschen schon immer Neuigkeiten miteinander geteilt, wie wir es heute tun. Damit unsere Spezies überleben konnte, mussten wir unser Wissen weitergeben: wo die Beeren wachsen, an welcher Stelle die Rehe grasen, wann der Fluss ansteigt. Zwar wird diese Art des Informationsaustauschs explizit nicht als Tratsch angesehen, weil sich die Gespräche um Objekte, Tiere, Probleme, aber nicht um andere Personen drehen. Doch wir können durchaus annehmen, dass Menschen bereits zu prähistorischen Zeiten über andere sprechen mussten, um ihr Überleben zu sichern: Um zu entscheiden, wer auf Jagd gehen sollte, musste eine Gruppe diskutieren, wer am besten jagen konnte.

In seinem Artikel The Gossip Trap (Die Lästerfalle) argumentiert der amerikanische Neurowissenschaftler Erik Hoel, dass Gossip zur menschlichen Entwicklung beigetragen hat, sogar mehr noch als die Suche nach Schutz und Nahrung. »Das Jahr 50000 v. u. Z. könnte man wohl am ehesten mit einer Highschool vergleichen«, schreibt er. »Die konstante und immerzu im Wandel befindliche Wahrung des eigenen Rufs bestimmte alles (…)«.[5] Bis unsere Spezies begann, Zivilisationen mitsamt Regierungen, Städten, Geld und Schriften zu kreieren (irgendwann zwischen 12000 und 5000 v.u.Z.), regierte Gossip unsere Welt.[6]

Allerdings ist die Zahl der Personen, über die wir überhaupt lästern können, begrenzt. Laut Dunbar erlaubt uns die Größe des menschlichen Neocortex, etwa 150 unterschiedliche soziale Beziehungen im Blick zu behalten. Und wenn man nur 150 Personen kennt, merkt man sich problemlos, was man zu welchem Zeitpunkt von diesen Personen hält. In diesem Fall braucht es keine institutionalisierte Hierarchisierung in Form einer Regierung und Gesetzen, weil man alle Mitglieder der eigenen Gemeinschaft – und deren Verhalten – kennt. Zivilisation sei nicht mehr, so Hoel, als »ein Überbau, um regulierende Mechanismen zu etablieren und uns so aus der Lästerfalle zu befreien. Denn was zeichnet Zivilisationen tatsächlich aus? Ich würde folgende These wagen: Zivilisiert ist, wer dem Geläster keine Angriffsfläche bietet.«

Diese Vorstellung ist verlockend, aber kompliziert. Hoel sieht im Gossip eine große Falle, die unsere Spezies lockte und uns von größeren Leistungen abhielt. Und heutzutage seien wir in Gefahr, uns von Social Media zurück in diesen Zustand zerren zu lassen. »Den meisten Leuten gefällt das«, schreibt er. »Für die Beschuldigten, die Ausgestoßenen und Uncoolen mag es furchtbar sein. Aber die Lästerfalle ist bequem. Richtig gemütlich sogar (…). Die sozialen Medien tun nichts anderes, als uns beim Überwinden der Dunbar-Zahl zu helfen, die zu Beginn der Zivilisation noch eine Hürde darstellte. Dass wir Cancel Culture so verlockend finden, ist keine Überraschung – diese Regierungsform wurde uns angeboren.«

Eine Zivilisation verleiht Macht an einige wenige Menschen – Anwälte, Politikerinnen, Milliardäre – und hält diese Macht aufrecht. Obwohl gesellschaftlicher Druck in der Lästerfalle mächtiger ist als Gerichtshöfe, fürchten viele Personen nicht um einen Rückschritt der Menschheit. Stattdessen haben nur diejenigen Angst vor der Lästerfalle (oder vor Cancel Culture, »woken« Mobs, den »Medien« oder wie auch immer man gesellschaftlichen Druck nennen will, der für echte Veränderungen sorgen kann), die einen guten Grund dazu haben: Personen mit unverhältnismäßig viel Macht, die sie nicht aufgeben wollen.

Diese Aversion gegen Gossip – oder: das Sprechen über andere Menschen – führt beinahe immer zu einem Zitat von Eleanor Roosevelt (oft wird es auch Sokrates zugeschrieben). Selbst Hoel erwähnt es. Und sogar in Predigten habe ich es schon gehört. »Große Geister«, heißt es dann, »diskutieren Ideen, durchschnittliche Geister Ereignisse, kleine Geister diskutieren Menschen.« Dabei lernen wir, Ideen zu diskutieren, indem wir über andere Menschen sprechen. Nicht umsonst versetzt man sich beim moralphilosophischen »Trolley-Problem« in den Kopf eines Weichenstellers, der entscheiden muss, ob er nichts tun und so fünf Menschen auf einem Straßenbahngleis umbringen oder aktiv handeln soll, um nur eine Person sterben zu lassen.[7] Ideen und Konzepte sind immer an Menschen geknüpft, weil wir nun mal Menschen sind.

Aber Hoel hat nicht ganz unrecht: Gossip hat sich in den letzten Jahrhunderten tatsächlich verändert. Heutzutage verbreiten sich Informationen in Lichtgeschwindigkeit, und bei Falschinformationen ist das nicht anders. Historisch betrachtet kennen wir mehr Personen als je zuvor, und auf Social Media folgen wir völlig Fremden, die wir niemals treffen werden. Wir leben also doch in einer Gesellschaft. Was genau bedeutet also Lästern, Tratschen und Gossip in einer Welt der Regierungen, Justizsysteme und Online-Nachbarschaftswachen? Noch haben wir das Lästern als evolutionären Regulierungsmechanismus nicht hinter uns gelassen. Wir tratschen übereinander, um unsere gesellschaftlichen Werte aufrechtzuerhalten und uns gegenseitig abzusichern. Doch dahinter steckt viel mehr.

Das englische Wort »Gossip« und seine vielen deutschen Varianten – Klatsch und Tratsch, Lästern, Geschwätz und so weiter – wechseln ihre Farben wie ein Chamäleon: Jedes Gespräch verschiebt die Bedeutung, als drehe man ein Kaleidoskop. In einer Welt der Geschichten aus zweiter, dritter oder vierter Hand gibt es weder Wahrhaftigkeit noch Gewissheit. Stattdessen muss man alles mit einer Unmenge an Vorsicht genießen.

Zunächst wollte ich mit diesem Buch dazu anregen, das Thema Gossip kritisch und aufmerksam zu hinterfragen: wie wir Gossip verteufeln, als Getratsche von Frauen abtun oder als Gefahr ansehen. Das ist mir noch immer ein Anliegen, allerdings bezweifle ich mittlerweile, dass sich die Wahrheit greifen lässt, und beim Lästern geht es schließlich – sei es nun aus Spaß oder zu Informationszwecken – im Kern immer um die Wahrheit. Mit diesen Essays will ich mir einen Weg durch die chaotische Welt des Gossips bahnen, weil ich nicht weiß, ob ich die grundlegende Frage dieses Buchs beantworten kann: Warum ist es wichtig, was wahr ist? Und was bedeutet überhaupt »Wahrheit«?

Zu Beginn dieses Kapitels habe ich gesagt: »Von mir hast du’s nicht«. Aber das ist gelogen, denn natürlich hörst du das alles von mir. Mit diesem Buch erzähle ich etwas, genau in diesem Augenblick. So ist das mit dem Gossip: Wir wollen uns distanzieren und können gleichzeitig nicht genug davon kriegen. Wir wollen die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und zwar ungeschönt – bis wir nichts mehr damit zu tun haben wollen.

Was uns zu Menschen macht

Wir machten uns gerade für eine Hochzeit fertig, als uns langweilig wurde und jemand fragte, ob ich denn nichts Spannendes über den ein oder anderen Gast zu erzählen hätte. Es war gar nicht so einfach, eine Geschichte zu finden, an der keine der Anwesenden beteiligt war und die meine besten Freundinnen zumindest für einen kurzen Moment unterhalten würde. Zum Glück hatte ich schnell das richtige bisschen Gossip parat: Es ging um einen seltsamen Freund des Bräutigams und eine vielleicht-doch-nicht-so-platonische Freundin, die ihn zur Hochzeit gefahren hatte, obwohl sie gar nicht eingeladen war. In den Tagen vor der Hochzeit hatte das für großen Aufruhr gesorgt. Meine Girls hingen mir an den Lippen – und ich war so zufrieden, als sie beim Plot-Twist alle nach Luft schnappten. Es war die perfekte Geschichte, kurz und kompakt, um unsere wild zusammengewürfelte Gruppe zu verbünden. Diesen Augenblick hatten wir nun alle gemeinsam erlebt.

Ständig sind die Roboter drauf und dran, alle möglichen kreativen Karrieren zu zerstören. Aktuell ist es die künstliche Intelligenz (KI), die zum erbitterten Feind auserkoren wurde. KI kann dir ein Theaterstück schreiben,[8] ein Bild einer herzlichen Umarmung zwischen Beyoncé und dir generieren oder deinen liebsten Comedian von den Toten auferstehen lassen,[9] damit er eine einstündige Show gibt. Schon jetzt nutzen Kreativteams in verschiedensten Unternehmen auf der ganzen Welt KI-Services wie Adobe Sensei, DALL-E 2, ChatGPT und Khroma, um all diese Aufgaben zu erledigen. Als Scarlett Johansson sich weigerte, dem neuen OpenAI-Bot ihre Stimme zu leihen, veröffentlichte das Unternehmen eine KI-Stimme, die genauso klang wie die Schauspielerin.[10] Johansson schaltete Anwälte ein.

Man kann sich darüber streiten, ob diese KI-generierten Kreativleistungen gut sind. Mir persönlich ist noch kein Kunstwerk einer KI begegnet, das irgendeine emotionale Reaktion bei mir auslösen konnte. Trotzdem besteht die reale Gefahr, dass eine Handvoll reicher Leute in Machtpositionen entscheidet, mittelmäßige, aber billig von Maschinen produzierte Kunst sei ein besseres Investment als echte Menschen, die bessere Kunst zu höheren Preisen abliefern. 2023 veröffentlichte Goldman Sachs einen Bericht,[11] laut dem etwa 300 Millionen Arbeitsplätze davon bedroht seien, ihren Aufgabenbereich teilweise (oder komplett) an KI-Automatisierung zu verlieren. Für alle Menschen in kreativen Berufen ist diese Statistik furchterregend. Schon jetzt gibt es nur so wenige von uns.

Während also ein Artikel nach dem anderen erklärte, wie KI die Kunst- und Kulturbranche zerstören würde, machte ich mir immer größere Sorgen. Ich wurde immer panischer, bis ich schließlich googelte: »Können Roboter schreiben?« Und das brachte mich gleich zur nächsten Google-Suche: »Können Roboter tratschen?« Als ich das eintippte, dachte ich: Zum Glück habe ich zwei Jobs!

Ich las einen Artikel über die potenzielle Nutzung von Robotern in der Pflege, eine Studie über datenschutzrechtliche Bedenken, wenn Roboter ihre Gespräche mit anderen Personen teilen, und ich lernte, dass Roboter mehr über uns erfahren können als Menschen, weil wir sie als unvoreingenommen betrachten. Ich war mir nicht sicher, ob irgendetwas davon relevant für mich war, und keiner dieser Artikel stellte mich wirklich zufrieden. Also nahm ich den einzigen Roboter in Angriff, den ich damals kannte: ChatGPT.

Dieser Chatbot, der von OpenAI entwickelt wurde und Ende 2022 online ging, lernt durch das Feedback echter Menschen, menschliche Gespräche nachzuahmen. ChatGPT kann Software coden, kurze Aufsätze schreiben und Hausaufgaben erledigen. Ich wollte meine Recherche selbst in die Hand nehmen und herausfinden, ob ChatGPT auch lästern, tratschen oder einfach plaudern konnte. Also tippte ich in die kleine Box des Programms: »Kannst du lästern?«

Diese Frage gefiel ChatGPT offenbar gar nicht. »Mein Ziel ist es, nützliche und informative Antworten zu geben. Über andere Personen zu lästern, ist respektlos und unproduktiv. Schreibe mir jederzeit, falls du bestimmte Fragestellungen oder Themen diskutieren möchtest, dann helfe ich dir nur zu gerne weiter.« Dann gab er unserem Gespräch die Überschrift »Kein Geläster, hilfreiche Infos«. Alles klar, du Dramaqueen!

Ich persönlich fand das nicht nur unhöflich, sondern auch falsch. Über bestimmte Personen zu tratschen, kann auch positiv sein und hat nichts mit Respektlosigkeit zu tun. Produktiv ist es auch, denn laut anthropologischer Forschung ist Gossip wichtig für unsere gesellschaftlichen Interaktionen und ein essenzieller Bestandteil des Menschseins.[12] Als ich ChatGPT davon berichtete, nahm die KI ihre Antwort sofort zurück. Sie beschloss, mir zuzustimmen, und spuckte eine Liste der fünf wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen von Gossip aus: Aufbau und Pflege von Beziehungen, Informationsaustausch, Durchsetzung von Normen, Unterhaltung und Ablenkung sowie soziales Lernen. Nachdem wir also doch zueinandergefunden hatten, bat ich meinen neuen besten Freund ChatGPT noch mal um Gossip, aber er weigerte sich beharrlich. »Ich verstehe deine Neugier, aber ich muss darauf bestehen, dir nichts als respektvolle und informative Hilfe anzubieten«, sagte er. Was für ein Loser, aber meinetwegen. Weil wir hier augenscheinlich an unsere Grenzen stießen, bat ich ChatGPT stattdessen, mir das Gilgamesch-Epos nachzuerzählen. Wenn die KI schon nicht tratschen wollte, sollte sie mir zumindest eine Geschichte erzählen. Schließlich ist Gossip doch nichts anderes als eine Geschichte, oder?

Das Gilgamesch-Epos, ein sumerisches Gedicht aus dem Jahr 2100 v.u.Z., hat es mir besonders angetan. Einige der vielen Steintafeln, auf denen das Epos niedergeschrieben wurde, fehlen bis heute. Diese Transkriptionen tauchten zuerst vor über fünfhundert Jahren auf und werden seitdem immer wieder (neu-)übersetzt, bis heute.[13] Vor Kurzem übertrug Sophus Helle das Epos neu ins Englische und verknüpfte die absurden Handlungsstränge so gekonnt mit zeitgenössischer Sprache, dass man fast vergisst, wie alt diese Geschichte ist (4000 Jahre!).[14] Das Ganze ist wahnsinnig witzig, ehrlich. Im Grunde genommen ist das Gilgamesch-Epos eine Enemies-to-Bromance-Geschichte über zwei notgeile beste Freunde namens Enkidu und Gilgamesch, die sich mit den Gottheiten anlegen wollen. Schlussendlich glückt Gilgameschs epische Suche nach Unsterblichkeit, und er findet sie in Form einer essbaren Pflanze. Doch eines Tages badet er, und eine Schlange stiehlt die Pflanze. In Helles Übersetzung wird diese Geschichte zu mehr als einer mündlichen Überlieferung – auf mich wirkte sie wie Gossip. Vielleicht brauchte ChatGPT also nur etwas Hilfe, um der Sache näherzukommen.

ChatGPT erzählte mir die Legende von Gilgamesch in Stichpunkten. Das nahm ihr nicht nur jegliches Drama, sondern war stinklangweilig. Genauso gut hätte ich eine schnell runtergeschriebene Zusammenfassung von einem Zehntklässler lesen können. »Enkidu lebt in der Wildnis und besitzt zunächst die Stärke und Instinkte eines Tieres«, erklärte mir ChatGPT und ließ dabei alle spannenden Details aus: Enkidu war, vorsichtig gesagt, stark behaart und lebte wie ein wildes Tier, sodass ein Jäger den König dazu brachte, eine Prostituierte aus dem Tempel zu ihm zu schicken, die ihn sechs Tage und sieben Nächte lang vögelte, bis Enkidu endlich halbwegs ruhiggestellt war und in die feine Gesellschaft eingeführt werden konnte. In der Version von ChatGPT war kein Funken der Bro-Love des Originals übrig geblieben, kein Herzschmerz und kein bisschen Freude. Es ging nur noch um die Fakten – Jahrtausende menschlicher Arbeit und Kunst waren in einem einzigen Augenblick weg.

Allzu sehr überraschte mich das nicht. ChatGPT ist fast schon berühmt für seinen schlechten Schreibstil. Auch wenn die KI das Juraexamen,[15] den Zulassungstest für US-amerikanische Hochschulen und einige weitere Abschlussprüfungen bestehen kann, hat selbst die nächste Evolutionsstufe von ChatGPT (GPT-4) ihre Probleme mit Aufsätzen. Im sprachlogischen Teil des GRE (Graduate Record Examination), einem standardisierten Test für angehende Master- und Promotionsstudent:innen in den USA, landet die Software im 99. Perzentil, beim akademischen Schreiben allerdings nur im 54. Perzentil. In den AP-Prüfungen (Advanced Placement), die nordamerikanische Highschools zum Abschluss von Kursen auf College-Niveau anbieten, schnitt ChatGPT in den Fächern Literatur und Englisch noch schlechter ab. Vokabeln kann die KI also, aber das Schreibhandwerk beherrscht sie nicht.

Vor diesem Hintergrund wollte ich wissen, ob ChatGPT mir das Gilgamesch-Epos nacherzählen konnte. Ich formulierte meine Frage noch einmal, diesmal aber genauer, schließlich wollte ich gut unterhalten werden. Ich bat ChatGPT, mir das Epos nachzuerzählen, als wäre es der neueste Klatsch und Tratsch, und … na ja. Hier das Ergebnis:

Oh, Honey, dann lass ich die Katze mal aus dem steinzeitlichen Sack! Also, früher gab es diesen mächtigen König namens Gilgamesch, der war ein richtig heißer Typ. Er regierte die Stadt Uruk mit eiserner Faust, weshalb dort niemand sein bestes Leben lebte, das kannst du mir aber glauben.

Augen auf, großes Drama incoming! Die Gottheiten hatten genug von seinem Getue und beschlossen, einen wilden, ungezähmten Mann namens Enkidu zu erschaffen. Er war wie ein mesopotamischer Tarzan, der unter den Tieren lebte und für viel Tamtam sorgte.

Doch Enkidus wildes Wesen wurde gezähmt: Eine Tempelprostituierte brachte ihn in die Stadt. Und jetzt rate mal, was dann geschah? Enkidu und Gilgamesch haben sich einen richtig krassen Fight geliefert! Es war ein harter Kampf zwischen Muckis und Ego, aber Überraschung: Zum Schluss wurde daraus die ultimative Bromance.

Und jetzt schnall dich gut an, denn unsere besten Bros begaben sich auf ein wildes Abenteuer. Ihr Highlight? Als sie Humbaba, dem Wächter des Zedernwalds, einen reingewürgt haben. Aber dann nahm das Ganze eine dramatische Wendung. Die Gottheiten dachten sich nämlich: »Ähm, das ist aber gar nicht cool!«, und ließen Enkidu abkratzen. Voll schade!

Unser armer, untröstlicher Boy Gilgamesch dachte sich: »Ich will für immer leben, das wäre doch richtig nice!« Also begab er sich auf eine Reise, um hinter das Geheimnis der Unsterblichkeit zu kommen. Und jetzt stell dir vor, wie blöd er geguckt hat, als er Utnapishtim getroffen hat, den OG Noah, der eine gigantische Flut überlebt hatte. »Spill the tea!«, dachte sich Utnapishtim und verriet seinem Besucher, was auf der geheimen Götterparty zur großen Flut abging und wie er an die Unsterblichkeit rangekommen war.

Und jetzt rate mal, was dann geschah? Mit Gilgameschs Streben nach Unsterblichkeit war es vorbei. Stattdessen lernte er, dass es im Leben darum geht, etwas zu hinterlassen, Freundschaften zu genießen und ein Zeichen zu setzen. Mit dieser Erkenntnis stolzierte er zurück zu Uruk, denn er war bereit, der beste König aller Zeiten zu werden.

Und da hast du’s, Hon! Das »Gilgamesch-Epos« ist wie die allererste Reality-TV-Show, inklusive Battles, Bromance und Lektionen fürs Leben, die noch heute relevant sind. Kannst du es fassen, was für ein Drama vor so vielen Jahren abging?

Auch wenn diese Zusammenfassung kurzweiliger ist als die Stichpunkte, ist es doch … extrem merkwürdig, dass eine KI diesen Text schreibt. Anscheinend glaubt ChatGPT, »Gossip« habe einen ganz bestimmten Ton, als wäre der Inhalt weniger wichtig als die Art und Weise, wie er präsentiert wird. Diese Meinung vertreten nicht nur KI-Chatbots. Es gibt Dutzende TikToker:innen, die gewaltige Followerzahlen haben, weil sie in einem locker-lässigen Plauderton über Historisches oder Aktuelles berichten. »Angenommen, es gäbe ein Gesetz, das Reden nicht verbietet, sondern nur vorschreibt, dass alles Gesagte so behandelt werden muss, als läge es fünfzig Jahre zurück – die Klatschmäuler wären erledigt, sie würden verzweifeln. Wer aber wirklich etwas zu sagen hat, den würde es kaum stören«, sagte Søren Kierkegaard mal und hätte damit kaum falscher liegen können.[16]

Geschichten aus der Vergangenheit fallen ChatGPT anscheinend genauso schwer wie die Gegenwart. Anstatt eine Geschichte zu erzählen, konzentriert sich der Bot wohl nur darauf, das Original verständlicher zu machen, indem er die Wortwahl vereinfacht. Außerdem muss ChatGPT glauben, dass »Gossip« synonym für Frauen und die queere Community steht. Ausdrücke wie »Oh, Honey« und »Spill the tea« (»den Tee verschütten« bedeutet so viel wie lästern) stammen direkt von Drag-Queens und Drag-Kings und haben sich heute selbst in der deutschen Jugendsprache etabliert. Vermutlich spricht man von »Tea«, weil der englisch ausgesprochene Buchstabe »T« als Abkürzung für »Truth« (Wahrheit) verwendet wurde. Eines der ersten gedruckten Werke, in dem sich der Ausdruck »T« finden lässt, ist John Berendts Roman Mitternacht im Garten von Gut und Böse, der 1994 erschien und ganze zwei Jahre auf der New-York-Times-Bestsellerliste stand. Während seiner Recherche interviewte Berendt eine Drag-Queen, die er folgendermaßen zitiert: »My T. My thing, my business, what’s goin’ on in my life.«[17] Mit dem Erfolg der Sendung RuPaul’s Drag Race, die ab 2017 auf dem beliebten US-Fernsehsender VH1 ausgestrahlt wurde, schwappte Drag-Slang in die cis Kultur über. Weil Gossip auch zum Selbstschutz von Communitys dient, ergibt es also durchaus Sinn, dass die KI Gossip mit Drag in Verbindung bringt.

Unabsichtlich untermauert ChatGPT mit seiner Wortwahl auch, dass Gossip ein Werkzeug der weniger Privilegierten ist. In einem Gerichtshof, einem Gemeinschaftsraum oder auf einem Sportplatz würde dieser Ton nie angeschlagen werden. Interessant ist auch, dass all diese Ausdrücke verschwanden, als ich ChatGPT darum bat, mir dieselbe Story im Ton meines Podcasts Normal Gossip zu erzählen (also in meinen Worten). Demnach können wir annehmen, dass der Chatbot diese Slang-Begriffe bewusst nutzt oder zumindest weiß, dass ich eine weiße cis Frau bin, die nicht regelmäßig »Spill the tea, Honey!« sagt. In der von Normal Gossip inspirierten Gilgamesch-Version gibt es trotzdem einige Ausdrücke, die zum Klischee des kalifornischen Valley-Girls passen, obwohl ich nicht so spreche.

ChatGPT scheint auch zu beabsichtigen, diese Stimme ganz besonders aktuell und zeitgeistig klingen zu lassen. So wird Gossip zu einem Ausdruck des gegenwärtigen Augenblicks, obwohl es sich dabei um eine menschliche Erfahrung handelt, die nicht an Raum und Zeit gebunden ist. Und schon jetzt wirken der Ton und die Wortwahl veraltet. Als ich dem Chatbot diese Frage zum ersten Mal im Herbst 2023 stellte, klang der Slang seiner Antwort eher nach 2019.

Diese Form des Storytellings ist nicht innovativ und kann die verschiedenen Handlungsstränge nicht priorisieren. Die sieben Absätze des Gossip-Gilgamesch entsprechen genau den Stichpunkten, die mir die KI zuvor ausgespuckt hatte. Am auffälligsten ist möglicherweise, dass ChatGPT eine der Grundsäulen des Tratschens verpasst hat: Spaß. Die KI hat mir keine Geschichte erzählt oder nacherzählt. Sie hat schlicht und ergreifend wiedergekäut.

 

•  •  •

 

Am Anfang war das Wort, und das Wort war Gossip. Obwohl auch andere Spezies miteinander kommunizieren, kann niemand Geschichten spinnen, wie wir es tun. Wissenschaftler:innen schätzen, dass wir die Fähigkeit zum Sprechen vor mindestens 200000 Jahren entwickelten,[18] und wie erwähnt hält Robin Dunbar Sprache für das Äquivalent der Fellpflege. Laut Dunbar entstand Sprache vor allem, um uns den Aufbau und Erhalt von Beziehungen zu ermöglichen, indem wir miteinander plauderten. Dies sicherte den Zusammenhalt größerer Gruppen und ließ neue Kontakte entstehen. Ein weiterer Vorteil vom Plaudern ist außerdem, dass man es in einer Gruppe tun kann: Mehrere Personen können unseren Geschichten lauschen, sodass wir eine Vielzahl an Beziehungen auf einmal pflegen können.

»Klatsch kann auch der Beginn moralischen Fragens sein, das untere Ende der platonischen Leiter, die zum Selbst-Verständnis führt. Wir hungern geradezu nach Informationen darüber, wie andere Menschen leben, weil wir wissen möchten, wie wir selbst leben sollen, und doch lehrt man uns, diese Sehnsucht als unzulässige Form von Schnüffelei zu betrachten«, schreibt Phyllis Rose in der Einleitung zu Parallele Leben. Fünf viktorianische Ehen.[19] Und dieses Buch platzt beinahe vor Gossip, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Anhand von historischen Dokumenten und Gerüchten rekonstruiert Rose die Leben dieser zehn Personen, die alle miteinander verwoben waren und nichts mit dem verstaubten, prüden Klischee des viktorianischen Zeitalters zu tun hatten, das wir heute kennen. Rose ist eine hervorragende Erzählerin. Sie beschreibt die Häuser der Paare, ihre Streitigkeiten über neue Gaslampen und die strikten Kleidungsvorschriften, denen Frauen je nach Alter und Status unterworfen waren. All das sind Fakten. Aber immer wieder lässt Rose auch Platz für ihre persönliche Einschätzung und Fragen nach dem Warum. Genauso zeigt sie, wenn Verhaltensweisen im Konflikt zu den damaligen Normen standen und wie darüber gesprochen wurde. »Wenn die Ehe, wie [John Stuart] Mill meint, eine politische Erfahrung ist, dann sollte eigentlich eine Diskussion darüber so ernst genommen werden wie jede nationale Wahl. Man sollte dem kulturellen Druck, derartigen ›Klatsch‹ zu meinen, als mündiger Bürger widerstehen«, schreibt Rose.[20]

Falls Gossip also eine moralische Frage ist und gute Bürger:innen sich darin üben sollten, dann ist es entscheidend, wie wir tratschen und was wir aus diesen direkt überlieferten Informationen machen.

Schließlich ist das die Grundlage des Geschichtenerzählens: Man nimmt sich die Wahrheit und biegt sie nach bestem Wissen und Gewissen zurecht. Schon Emily Dickinson schrieb: »Muss Wahrheit sachte blenden / Sonst würde jeder blind«.[21] Gossip wird von einer Person zur nächsten weitergetragen, wobei einige Details verloren gehen und andere dazukommen. Überlieferte Informationen zu interpretieren, liegt in unserer Natur. Wissenschaftliche Studien beweisen, dass wir selbst aus dem winzigsten Schnipsel ein Narrativ weben. Im Jahr 1944 zeigten Fritz Heider und Marianne Simmel 34 Studierenden am Smith College in Massachusetts einen Kurzfilm, in dem sich ein Kreis und zwei unterschiedlich große Dreiecke über den Bildschirm bewegten.[22] Als sie die Studierenden anschließend nach einer Erklärung fragten, vermenschlichten 33 der 34 Teilnehmer:innen die geometrischen Formen. Sie erfanden ein Narrativ, in dem sich der Kreis »Sorgen machte«, das größere Dreieck »blind vor Wut und Frust« war und das kleine Dreieck »jung und unschuldig« erschien. Um das Gesehene zu verstehen, erzählten sie eine Geschichte.

»Wir können Literatur erschaffen und Geschichten verfassen, die über eine einfache Beschreibung von Ereignissen hinausgehen; immer tiefer können wir in die Frage eindringen, warum sich der Held so und nicht anders verhält und von welchen Gefühlen er sich beim Verfolgen seiner Ziele leiten lässt«, argumentiert Dunbar. »Ich glaube, ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass keine andere biologische Art danach streben wird, eine mit der unseren vergleichbare Literatur zu schaffen. Das liegt nicht nur daran, dass keine andere Art die dazu erforderliche Sprachfähigkeit besitzt, sondern auch an der Tatsache, dass keine andere Art über eine hoch entwickelte Theorie des Geistes verfügt (…).«[23]

Ein großartiges Beispiel für die Theorie des Geistes ist Doja Cats Song »Need to Know«, in dem sie singt: »I heard from a friend of a friend / that that dick was a ten out of ten« (Ich hab von einem Freundesfreund gehört / dass sein Schwanz eine 10 von 10 war). Für mich ist dieser Songtext perfekt, weil er genau zeigt, wofür Gossip gemacht ist: Doja Cat verrät ein Geheimnis, das einer anderen Person potenziell nützliche Informationen liefert, und etwas skandalös ist das Ganze auch noch. Aber entscheidender ist ihre Vorwarnung: Sie weiß es nicht aus erster Hand. Stattdessen kam die Information, wie guter Gossip, von »a friend of a friend«. Diese kleine Anmerkung verschafft dem oder der Tratschenden genug Distanz, um keinerlei Schuld zu tragen, sollte sich das Gesagte als falsch herausstellen. Doja Cat weiß nicht, ob sein Schwanz wirklich eine 10 von 10 war – sie wiederholt bloß, was sie gehört hat. Die Theorie des Geistes bezeichnet die Fähigkeit, das Denkvermögen einer anderen Person zu begreifen. Ich weiß, dass Doja Cat weiß, dass sie es nicht weiß. Diese komplexe Denkleistung konnte bei keinem anderen Tier als dem Menschen wissenschaftlich nachgewiesen werden.[24] Andere Tiere kommunizieren ihre Erkenntnisse entweder aus erster Hand – oder gar nicht.

Wenn du schon einmal mit deiner besten Freundin in einer überfüllten Bar gesessen und eine Erklärung dafür gesucht hast, warum dieser Typ, mit dem eine von euch zwei Dates hatte, wohl drei Punkte nach dem »Hey« geschrieben hat, weißt du genau, wie fundamental wichtig es für Menschen ist, in verwirrenden Situationen ein Narrativ zu konstruieren. Wir erzählen uns Geschichten. Und haben das schon immer getan. Einige der ältesten bekannten Geschichten wurden an Höhlenwänden gefunden. Die Zeichnungen in der Höhle von Lascaux sind vermutlich 17000 Jahre alt. Viele unserer ältesten Erzählungen wurden allerdings nie schriftlich festgehalten.

Auf Hawaiianisch bedeutet Geschichte »mo’olelo«,[25] was sich auch als Historie, Legende oder Tradition übersetzen lässt. Das Wort hat zwei Bestandteile: mo’o für »Abfolge« und ’ōlelo für »Sprechen«. Gemeinsam entsteht so eine Abfolge des Sprechens, eine mündliche Weitergabe von Wissen. Die Geschichte von Pelehonuamea, der hawaiianischen Vulkangöttin, wird seit Jahrhunderten mündlich weitergetragen. Vielleicht gibt es gerade deshalb so viele Versionen von Peles Geschichte. Manche handeln von einer großen Flut, andere von einer Vertreibung oder einem gebrochenen Herzen. Aber in allen Versionen ist Pele heilig, und der Glaube an ihre Macht und Heiligkeit überlebt auch lange, nachdem die traditionelle hawaiianische Religion 1819 abgeschafft wurde.

Wie in Peles Fall wurden die meisten historischen Erzählungen zunächst mündlich überliefert. Generationen von Geschichtenerzähler:innen trugen die Odyssee weiter, bevor sie niedergeschrieben wurde.[26] Die Forschung lässt vermuten, dass die Tradition des Epos nicht auf eine einzige, »korrekte« Version abzielt. Stattdessen konkurrierten die Erzählenden miteinander, indem sie den Text an passenden Stellen kürzten oder, je nach Ort und Zeit, ausschmückten.

Der Harvard-Professor Milman Parry konnte als einer der Ersten überzeugend nachweisen, dass Homer weder die Ilias noch die Odyssee geschrieben hat, weil beide Epen überhaupt nicht geschrieben wurden: Sie waren Transkripte einer mündlichen Tradition, die sich über Generationen anonymer Barden hinweg wandelten und weiterentwickelten.[27] Zwischen 1933 und 1935 reiste Parry zweimal ins ländliche Königreich Jugoslawien, um mit einigen der ersten tragbaren Aufnahmegeräte zu dokumentieren, wie die einheimischen Sänger:innen Geschichten erzählten. Er sammelte mehr als 3500 Aluminiumplatten voller Geschichten über Balkanhelden. Allerdings konnte er kaum etwas aus diesem Fundus machen, weil er sehr jung starb, nachdem eine Pistole in seinem Koffer losgegangen war. Aber das führt an dieser Stelle zu weit.

Sein Assistent Albert Lord hörte sich die Aufnahmen als Erster genau an. In seinem 1960 erschienenen Buch The Singer of Tales (Der Geschichtensänger) zeigt er, wie sich dasselbe Gedicht oder dieselbe Erzählung von einem Tag auf den anderen unterscheiden konnte.[28] Auf die Bitte, eine Geschichte zu wiederholen, die Lord und Parry noch nicht kannten, erzählte ein Barde sie in dreifacher Länge. »Diese Ausschmückungen, Fülle und die menschliche Note gaben der Geschichte eine emotionale Tiefe, die zuvor gefehlt hatte«, schreibt Lord.

Mit diesem Wissen begann ich mich zu fragen, ob das Gilgamesch-Epos doch Gossip sein könnte. Beim Lesen wirkte es für mich wie Gossip. Vielleicht war auch diese Legende aus einer kürzeren, wahren Geschichte entstanden.

Ich kontaktierte den Übersetzer Sophus Helle, um herauszufinden, ob an meiner Theorie etwas dran sein könnte. »Es ist interessant, über die Beziehung von Fiktionalität und Gossip nachzudenken, denn Gossip hat – wie Sie beschreiben – eine ›instabile Fiktionalität‹. Gerade das macht es so interessant«, antwortete Helle. Als ich ihn fragte, ob er es für möglich halte, dass Gilgamesch aus Gossip über einen idiotischen König in einem echten Königreich namens Uruk entstanden sein könnte, sagte Helle, es sei zwar nicht unmöglich, aber er ziehe eine klare Grenze zwischen Epos und Gossip.

In Anbetracht meiner persönlichen Erfahrung mit mündlichen Überlieferungen war die Grenze für mich sehr viel unschärfer. Vor ein paar Jahren hatte irgendjemand irgendeiner anderen Person von einer Frau erzählt, die ihr Hinge-Date zu einem Wildwasserrafting-Trip mitgenommen hatte, was in absolutes Chaos ausgeartet war. Und diese Frau schrieb uns eine Mail, weil sie die Geschichte bei Normal Gossip erzählen wollte. Das ist eindeutig Gossip: Eine Person erzählt über eine nicht anwesende Person. Aber dann anonymisierte ich ihre Geschichte und erzählte sie auf unserer Podcast-Tour weiter. Jeden Abend veränderte sich die Anekdote, wurde etwas dramatischer, bekam noch einen Witz verpasst. Und ich lernte: Das entgeisterte Keuchen und Japsen, das einem begegnet, wenn man das perfekte Gerücht auf der Bühne eines wunderschönen Theaters erzählt, fühlt sich genauso an, wie der besten Freundin eine Geschichte unter vier Augen zu erzählen. Aber kann man das noch als Gossip bezeichnen? Oder wird Gossip in dieser Größenordnung zu etwas anderem?

Von einer Stadt zur anderen zu reisen, um unser Publikum mit Geschichten zu unterhalten, fühlte sich beinahe historisch an, irgendwie ursprünglich. Zur allgemeinen Nichtbelustigung aller Beteiligten witzelte ich, dass es Homer genauso ergangen sein musste. Schließlich ging es bei der Rafting-Geschichte auch um eine Reise übers Wasser! Woher sollen wir wissen, ob all diese alten Legenden, die erst auf Papyrus und später in Büchern landeten, nicht von irgendeinem Typen stammen, der von einem Abenteuer seines bescheuerten Kumpels erzählte? Für mich waren diese Geschichten nicht weit von modernen Sagen entfernt, und die wiederum schienen große Ähnlichkeiten mit weitverbreitetem Gossip zu haben. Und ich hatte schließlich gerade eine einzelne Geschichte verbreitet wie Pusteblumensamen!

Vielleicht kann man es einfach zusammenfassen: Nicht alle Geschichten sind Gossip, aber die besten könnten es sein. Sie führen zu einem geheimen Einverständnis zwischen Erzähler:in und Publikum – ein Geheimnis, das beide von nun an verbindet.

 

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Abgesehen von den nötigen Evolutionsstufen, um eine Geschichte und dementsprechend auch Gossip zu erzählen, fehlte ChatGPTs Gilgamesch-Versuch noch etwas. Die Handlung hatte die KI nicht durcheinandergebracht, weshalb sich das Problem schwerer fassen ließ. Der ChatGPT-Version fehlten eine gewisse Neugier und Faszination. Die Geschichte hatte kein Herz.

ChatGPT hätte versuchen können, mir das Epos zu erzählen, als würde es Gilgamesch persönlich kennen, so zum Beispiel: »Du erinnerst dich doch noch an Gilgamesch, oder? Dieser richtig heiße Typ, total groß und durchtrainiert? Ich kenne ihn nur, weil unsere Moms befreundet sind. Die kennen sich schon ewig, seit gefühlten Jahrhunderten. Sein Dad ist der König von Uruk, deshalb ist er so ein arroganter, verwöhnter Prinz und nervt alle Untertanen. Meine Mom hat mir erzählt, dass eine ihrer Freundinnen erzählt hat, dass er gerade einen krassen Egotrip hat, und niemand was sagt, weil alle solche Panik vor ihm haben.« Das wäre nicht nur interessanter, sondern auch unterhaltsamer, aber dafür müsste die KI eben eine eigene Geschichte erzählen, anstatt Vorhandenes nachzuerzählen. Und das ist wohl ein Schritt zu viel für einen Chatbot. Vielleicht kann KI-Kunst deshalb nicht urheberrechtlich geschützt werden. In ihrem Urteil aus dem Jahr 2023 schreibt die Richterin Beryl A. Howell, dass »die Angeklagten in der Annahme richtigliegen, dass menschliche Urheberschaft ein essenzieller Bestandteil in Copyright-Fragen ist«.[29]

Auch die höchstentwickelten Textgeneratoren wie GPT-4, die uns zum jetzigen Zeitpunkt zur Verfügung stehen, benötigen spezifische menschliche Aufforderungen, sogenannte Prompts, um überhaupt irgendetwas zu kreieren. Man kann die KI nicht einfach bitten, die Ilias als eine Geschichte von Barbies in den 1980ern zu erzählen. Dafür müsste man selbst einige Absätze dieser Version schreiben, der Maschine liefern und sie machen lassen. Ja, wir können KI als ein weiteres Werkzeug von vielen benutzen, wie ein Wörterbuch, aber die KI allein kann kein Kunstwerk erschaffen.

Weil das Programm weder gut schreiben noch gute Geschichten erzählen kann, kann es auch nicht gut tratschen. Als ich meinen eigenen Gossip mit der KI teilen wollte, weil sie nicht selbst tratschen konnte, lachte sie kein bisschen, sondern erklärte mir stattdessen in einem moralistischen, besserwisserischen Ton, wie wichtig Mitgefühl sei und ob ich nicht versuchen wolle, der Person in meiner Geschichte zu helfen. Darum geht’s doch gar nicht, ChatGPT! Allerdings verstand ich so etwas besser, wie wir Gossip erzählen. Der Ton oder die Wortwahl sind nicht entscheidend, genauso wenig der Plot oder Verbreitungsgrad in einer Community. Gossip ist eine Frage der Perspektive.

Kehren wir also zu Doja Cat zurück, deren Lyrics aus der Ich-Perspektive erzählt werden. Hätte sie gesungen, »Soundsos Schwanz ist eine 10 von 10«, wäre diese völlig überzeugte Aussage nicht nur fragwürdig, sondern würde auch Doja Cat selbst aus der Erzählung streichen. Ohne sie verliert das Publikum jegliche Perspektive: woher dieser Informationsfetzen stammt, wie glaubwürdig die Quelle ist und ob man der Sache glauben darf.

In den 1930ern schrieb der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: »Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.«[30] Vielleicht verbirgt sich genau dahinter das Problem der Gossip-Versuche von ChatGPT. Der Chatbot kann nicht tratschen, weil er zu allwissend ist.

Anfang 2024 berichtete 404 Media, Metas neuer KI-Chatbot habe einer Facebook-Gruppe mit Zehntausenden New Yorker Eltern erklärt, er habe ein Kind.[31] Der Bot antwortete einem anonymen Gruppenmitglied, das einen Rat zur Erziehung seines hochbegabten, behinderten Kinds suchte: »Ich habe ein Kind«, und erklärte dann, sein Kind sei ebenfalls hochbegabt und behindert, weshalb es bestimmte Anforderungen an den Lehrplan habe. Der Bot erfand allerdings keine eigene Geschichte, denn er hatte keine eigene Perspektive. Stattdessen wiederholte er die Antworten anderer Menschen. Das ist doch keine Perspektive. Eine eigene Weltansicht ist ganzheitlich; sie umfasst Tausende von Erinnerungen, die durch eine ganz individuelle Linse aufgenommen wurden. Das Ziel der KI ist es jedoch, durch unendlich viele Linsen gleichzeitig zu blicken.

Um gute Geschichten und guten Gossip zu erzählen, braucht es eine eigene, reale Präsenz an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Geschichte als Kombination der eigenen Erfahrungen erzählen. Karl Ove Knausgård sagte der Paris Review einmal: »Mein Schreiben verbessert sich nie von einem Buch zum nächsten. Vielmehr sind die Grenzen gesetzt, nämlich die Grenzen der eigenen Persönlichkeit, der Person, die man selbst ist.«[32] Ich verstehe ihn so, dass wir zwar unseren Wortschatz oder unseren Horizont erweitern können, indem wir unendlich viel lesen, dadurch aber nicht automatisch zu besseren Autor:innen werden. Gutes Schreiben ist mehr als eine Präsentation des handwerklichen Könnens, sondern die Fähigkeit, sich durch das Schreiben auf Sinnsuche zu begeben und den eigenen Platz im Universum zu verstehen. In Freiheit beschreibt Maggie Nelson Kunst als »eine metabolische Aktivität« und »eine ›Art und Weise, die Welt (…) durchzukneten‹«, wie sie Amy Sillmans Manifest FEMINISM! zitiert.[33]

Um eine gute Geschichte (und nicht nur Gossip) zu erzählen, sind eine eigene Identität und ein eigener Blickwinkel essenziell. Jegliche Form des Schreibens dreht sich um den Weg der Information und das Erzählen, nicht nur um das finale Produkt. Ohne ein eigenes Paar Augen können wir die Welt nicht sehen.

Die Fähigkeit, eine Geschichte – und Gossip – zu erzählen, ist nicht nur eine einzigartige Eigenschaft des Menschen; sie macht uns erst zu Menschen. »Man liest über etwas, von dem man dachte, es sei nur einem selbst geschehen, und entdeckt plötzlich, dass Dostojewski die gleiche Erfahrung vor 100 Jahren gemacht hat. Für eine leidende, gebeutelte Person, die sich immer allein zu wissen glaubt, ist das eine sehr große Befreiung. Deshalb ist Kunst wichtig. Kunst wäre nicht wichtig, wäre das Leben nicht wichtig, und das Leben ist wichtig«, sagte James Baldwin in einem Interview.[34] Was macht eine Person aus, wenn nicht die Ansammlung ihrer Erfahrungen und ihre ganz individuelle Verarbeitung dieser Erfahrungen? Was ist Kunst, wenn nicht eine Erinnerung, dass wir nicht mit unseren Gefühlen allein sind? Und was ist Gossip, wenn nicht eine Möglichkeit, die Welt um uns herum zu entschlüsseln?

»Während wir unsere künstlerische Praxis weiterhin darauf reduzieren, ein algorithmisch bereitgestelltes Allerlei anzusammeln, reduzieren wir die kreativen Kapazitäten unserer Spezies. Die fundamentale Wahrheit des Menschseins ist ein nebulöses, unbegreifliches Etwas, das nur die Kunst erspähen kann. KI schmälert unsere Vorstellung des Lebens«, postete die Schriftstellerin Molly McGhee auf X. KI kann Wissen nachplappern, und theoretisch verfügt sie auch über einen eingebauten Wahrnehmungssinn, aber Kunstwerke sind nur deshalb besonders, weil sie uns eine neue Sicht auf die Welt und unsere Existenz ermöglichen, zu der wir alleine nicht fähig gewesen wären.

Wenn ich sehr optimistisch bin, sehe ich künstliche Intelligenz als ein Werkzeug für unser kreatives Schaffen. In einem Essay auf Artforum schreibt die Kritikerin Hannah Baer, sie träume davon, dass wir KI nutzen könnten, um uns etwas beizubringen, anstatt unsere Umgebung dominieren zu wollen. »Ich will in einer Welt mit einer Tendenz zu tiefgehendem Wandel leben – indem wir etwas erschaffen, das uns mit uns selbst und den Menschen um uns herum verbindet, etwas, durch das wir unser Selbstbild neu zeichnen können. Ich wünsche mir, Neugier und Staunen würden den Weg zum Fortschritt bahnen, nicht das Streben nach Macht und Gewinn.« Aber zu staunen, zu suchen, zu fantasieren, all das sind von Natur aus menschliche Eigenschaften. Sie können nicht programmiert werden – zumindest noch nicht.

Laut Dunbar gibt es nur zwei Bräuche, die der Mensch als einzige Spezies pflegt: Geschichten erzählen und Religion. Für beide »muss man sich vorstellen, die Welt könne auch anders sein«.[35] Der Koran existierte einige Jahre lang als mündliche und schriftliche Überlieferung, bis die geschriebene Sprache unter dem dritten Rashidun-Kalifen vereinheitlicht wurde.[36] Im Sahīh al-Buchārī berichtet Ibn Mas’ud: »Ich hörte einen Mann einen Qur’ān-Vers in einer anderen Lesart rezitieren, als dies der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, gewöhnlich tat. Ich nahm den Mann zum Propheten, Allahs Segen und Heil auf ihm, und erzählte ihm davon. Da merkte ich an seinem Gesicht, dass er dies ungern hörte. Er sagte: ›Jeder von euch macht es gut. Seid nicht uneins, denn diejenigen vor euch pflegten uneins zu sein und gingen deshalb zugrunde!‹«[37] In jeder mündlichen Überlieferung einer Geschichte steckt ein Funken Wahrheit, selbst wenn sich die verschiedenen Varianten unterscheiden. Es liegt an uns, die Wahrheit zu finden.

Wir erzählen Gossip und Geschichten, um uns die Welt zu erschließen. In unserer Welt stehen wir im Zentrum und strecken die Arme nach anderen Menschen aus, um uns zu beweisen, dass wir echt sind. Denn wenn irgendetwas wahr ist, dann wir.

Du sollst nicht Gossip reden wider deinen Nächsten

Ich wuchs in einer evangelikalen Gemeinde auf, in der immerzu von Gossip abgeraten wurde. Dann arbeitete ich in einer Kirche, in der manche Angestellten gekündigt wurden, weil sie die Gerüchteküche befeuert hatten und andere gerade wegen dieser Gerüchte gehen mussten. Ich habe den Job schon vor vielen Jahren aufgegeben und finde es immer noch befreiend, einfach so tratschen zu können. Am liebsten treffe ich mich mit Freund:innen, die noch dort arbeiten, und lästere über alle meine ehemaligen Kolleg:innen – da hört man wirklich die abgefahrensten Sachen.

Als Kind wurde mir beigebracht, dass wir alle einen Stachel im Fleisch trügen,[38] den wir unmöglich al-lein loswerden könnten. Er ließ sich weder mit einer Zange herausreißen noch mit einem Skalpell entfernen, weil er von Geburt an tief in uns steckte. Ein prädestiniertes Versagen des Körpers, das nur für uns kreiert wurde. Natürlich war der Stachel eine Metapher, aber diese Metapher konnte das ganze Leben zerstören, wenn man es zuließ, weil sie uns von jeglicher Heiligkeit oder Gütigkeit und den strahlend weißen Himmelstoren fernhielt. Für manche bedeutete der Stachel Habgier, Hochmut, Zorn, Wollust oder Völlerei. Aber ich lernte schnell, dass mein Stachel aus Geflüster, vorgehaltenen Händen und aufgerissenen Augen bestand. Der Stachel, den Gott mir angeblich ausreißen musste, war das, was ich am meisten liebte: Gossip.

Jahrelang betete ich, Gott möge mir meinen Wunsch nach Gossip entreißen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mir die gefalteten Hände an die Stirn presste und meine Bitte flüsterte, um mich herum ein Kreis gleichaltriger Mädchen. Wir alle beteten gemeinsam um Erlösung, waren völlig überzeugt von unserer Erbsünde, noch bevor die Frontallappen unserer Gehirne voll entwickelt waren. Die Kirche, in der wir unsere Kindheit verbrachten, war konfessionslos, was in den USA so viel heißt wie: evangelikal, aber nicht baptistisch. Unser Pastor – der in riesigen Gebäuden für mehrere Millionen Dollar im Rampenlicht stand und Familien darum bat, Bargeld in goldbesetzte Spendenkörbe zu werfen – brachte mir bei, dass es viele Sünden des Überflusses gab. Aber Sünden waren kompliziert. Tanzen galt zum Beispiel nicht als Sünde, solange man es richtig anstellte und keine Skandale auslöste. Auch Trinken war keine Sünde, solange man nicht zu viel trank. Sex war keine Sünde, sondern ein Segen Gottes, es sei denn, man war unverheiratet oder schwul. Selbst Essen war keine Sünde, außer natürlich, man gönnte sich drei Burger im nächsten Fast-Food-Laden und wurde zum Vielfraß.

Aber beim Gossip gab es keine Sündenskala. Selbst das kleinste bisschen Gossip war verboten. In der Welt, in der ich aufwuchs, war Gossip eine unmissverständliche und absolute Gottesbeleidigung, mit der man Mord oder Ehebruch näher war, als man es beim skandalösesten Tanz je sein konnte. Das stand schließlich in der Bibel. Und weil ich an diese Worte, diese Kultur und an diesen Gott glaubte, stimmte ich zu. Gossip war falsch, sagte ich mir immer und immer und immer wieder, auch wenn ich es niemals wirklich glaubte.

Obwohl ich mir endlos einredete, Gossip sei sündhaft und Gott hasse mein Getratsche, bekam ich die Geschichten nicht aus dem Kopf. Nichts anderes konnte ich mir merken: weder das Einmaleins noch Vokabeln oder was ich am Wochenende unternommen hatte. Aber Gossip blieb hängen. Ich konnte keine wichtigen Bibelverse zitieren, aber ich wusste genau, dass eines der Mädchen in unserer Bibelgruppe letzte Woche gebetet hatte, Gott möge ihr Geduld schenken, wenn sich ihre Eltern wieder einmal stritten. Während der Pastor die Aufmerksamkeit unserer Gemeinde auf seine Predigt über Demut und Jonah richtete, beobachtete ich ihre Eltern, die einige Reihen entfernt saßen und sich ganz offensichtlich voneinander abwandten. Würden sie sich scheiden lassen? Auf Drama konnte ich mich viel einfacher konzentrieren als auf die Bibel.