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Ein mysteriöser Anruf lockt Violet nach Irland, wo ein Familienfluch, Moorgeheimnisse und der Todesgesang einer Banshee auf sie warten.
Eigentlich wollte Violet Grave ihren Sommerurlaub bei ihrem Freund David in Schottland verbringen. Doch der mysteriöse Anruf eines irischen Mädchens bringt sie dazu, ihre Pläne in letzter Sekunde zu ändern. Trotz Davids Vorwürfen, dass Violet lieber die Geschichten anderer erforscht, statt sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen, kann sie dem Hilferuf der Fremden nicht widerstehen.
Die Reise nach Irland führt Violet zu dem Cottage eines verschwundenen Mädchens, auf den unheimlichen Dachboden eines alten Herrenhauses und schließlich zu etwas Verborgenem im Moor.
Um einen Familienfluch aufzuheben, der sich durch die Totenklagen einer Banshee ankündigt, muss Violet das Rätsel um den Tod einer Ahnin lösen.
Doch das Geheimnis dieser irischen Familie ist wie die sumpfige Landschaft um ihr kleines Heimatdorf in Galway: Violet gerät in einen gefährlichen Sog, der sie unweigerlich unter die trügerische Oberfläche und in den darunterliegenden Morast zieht. Kann sie sich rechtzeitig befreien – bevor auch sie dem Todesgesang der Banshee zum Opfer fällt?
GRABGESANG: Der zweite schaurig-spannende Mystery-Thriller mit Grabkünstlerin Violet Grave. Jetzt lesen!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Felicity Green
Grabgesang
Ein Violet-Grave-Mystery-Thriller
© Felicity Green, 1. Auflage 2021
www.felicitygreen.com
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: CirceCorp design - Carolina Fiandri
(www.circecorpdesign.com)
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen, Orte und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert.
www.felicitygreen.com
Taschenbuch ISBN: 978-3-96966-818-4
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Epilog
Grabsüchtig: Ein Violet-Grave-Mystery-Thriller 3
Danksagung
Eigentlich wollte Violet Grave ihren Sommerurlaub bei ihrem Freund David in Schottland verbringen. Doch der mysteriöse Anruf eines irischen Mädchens bringt sie dazu, ihre Pläne in letzter Sekunde zu ändern. Trotz Davids Vorwürfen, dass Violet lieber die Geschichten anderer erforscht, statt sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen, kann sie dem Hilferuf der Fremden nicht widerstehen.
Die Reise nach Irland führt Violet zu dem Cottage eines verschwundenen Mädchens, auf den unheimlichen Dachboden eines alten Herrenhauses und schließlich zu etwas Verborgenem im Moor.
Um einen Familienfluch aufzuheben, der sich durch die Totenklagen einer Banshee ankündigt, muss Violet das Rätsel um den Tod einer Ahnin lösen.
Doch das Geheimnis dieser irischen Familie ist wie die sumpfige Landschaft um ihr kleines Heimatdorf in Galway: Violet gerät in einen gefährlichen Sog, der sie unweigerlich unter die trügerische Oberfläche und in den darunterliegenden Morast zieht. Kann sie sich rechtzeitig befreien – bevor auch sie dem Todesgesang der Banshee zum Opfer fällt?
Violet wischte sich die staubigen Hände an einem Tuch ab, noch während sie die drei Treppenstufen aus ihrer Werkstatt im Eilschritt nahm. Sie schmiss die Tür hinter sich zu, die ihren Arbeitsplatz und ihre Wohnung trennte, und streckte die Hand aus, um nach dem Telefon auf dem Küchentresen zu greifen.
Doch als sie sich den Hörer ans Ohr hielt, war nur ein Tut-Tut-Tut zu vernehmen: Sie war ein paar Sekunden zu spät gekommen und der Anrufer hatte gerade aufgegeben.
Wahrscheinlich hätte sie sich gar nicht vom Telefonklingeln unterbrechen lassen sollen, aber es bestand immer die Möglichkeit, dass es sich um einen Kundenanruf handelte – und Violet konnte momentan alle Aufträge gebrauchen, die sie bekam.
Sie hatte zwar ein finanzielles Polster angespart, damit sie die bevorstehenden zwei Wochen Urlaub in Schottland sorgenfrei genießen konnte, aber für danach hatte sie noch nichts Neues aufgegleist.
Es gab immer noch die Chance, dass jemand etwas aus ihrem Bestand im Online-Shop bestellte, aber mehr Geld machte sie mit Spezialaufträgen, wie dem, an dem sie gerade arbeitete. Auch der Webshop hatte seine Hochzeiten, aber normalerweise häuften sich die Anfragen, wenn neue Episoden ihres Podcasts Grave Secrets eine große Reichweite erzielten. Doch in letzter Zeit war der Podcast etwas eingeschlafen.
Schließlich ließ sich Violet durch Gräber auf Friedhöfen zu Recherchen für ihren Audio-Blog inspirieren. Sie war regelmäßig auf Begräbnisstätten in und um ihre Heimatstadt Brighton unterwegs – ihnen fernbleiben konnte Violet sowieso nicht –, aber in den vergangenen Wochen war einfach nichts passiert, was Anreiz zu Nachforschungen gegeben hätte.
Die paar Gräber, die unlängst zu ihr gesprochen hatten, waren Violet zwar genauso wichtig gewesen wie andere. Und ihr persönlich hatte es wie immer große Befriedigung gebracht, die Geschichten der dort Begrabenen zu Ende zu erzählen. Doch diese Geschichten waren nicht so sensationell, dass sie auch nur annähernd an ihren letzten großen Coup herankamen: die Mini-Serie über die ehemalige viktorianische Nervenheilanstalt Laggandhu House im Cairngorms-Nationalpark und über deren Gründer und Oberarzt William George Bellamy. Die Aufklärung der mysteriösen Todesfälle am Loch Laggandhu hatte ihrem Podcast viele neue Fans und sogar ein paar Sponsoren beschert.
Wenn Violet nicht schleunigst mit einer neuen Episode aufwartete, die ebenso viel Furore machen würde, war sie bestimmt bald wieder dort, wo sie angefangen hatte. Sie konnte nur hilflos dabei zuschauen, wie die Downloads und die Besucherzahlen auf ihrem Blog täglich weniger wurden.
Um sich finanziell über Wasser zu halten, arbeitete sie mehr denn je in ihrer Werkstatt an den Grabstein-Reproduktionen – ihr zweites Standbein als Friedhofskünstlerin. Das wiederum ließ ihr weniger Zeit für inspirierende Friedhofsbesuche außerhalb ihrer bekannten Umgebung und für Podcast-Recherchen.
Vielleicht, so dachte sich Violet, als sie mit dem Telefon in der Hand wieder zurück in ihre Werkstatt ging, würde sich bei dem Besuch in Schottland etwas ergeben. Gemischte Gefühle kamen dabei in ihr hoch, denn bisherige Erkundungen schottischer Friedhöfe hatten sie nicht nur zu erfolgreichen Podcast-Episoden inspiriert, sondern waren auch in schmerzhaften Erkenntnissen und regelrechten Lebenskrisen geendet. Ja, bei den Ermittlungen zu den Leichen im Loch Laggandhu hatte sie nicht nur ihre geistige Gesundheit, sondern am Ende sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Auch wenn dann letztlich alles gut ausgegangen war und sie dadurch David Bennett kennengelernt hatte, war Violet nicht sonderlich scharf darauf, sich gleich wieder in solche Abenteuer zu stürzen. Sie musste sich sogar eingestehen, dass sie sich nur mäßig auf den Besuch in Dundee, wo David an der Universität lehrte, freute.
Doch David war, seit sie zusammengekommen waren, dreimal in Brighton gewesen, um sie zu besuchen, und als er ihr einen Sommerurlaub bei ihm in Schottland vorgeschlagen hatte, konnte sie schlecht Nein sagen. Violet hatte schon einmal eine Fernbeziehung in die Brüche gehen lassen, weil sie damals noch nicht in der Lage gewesen war, sich einem Mann zu öffnen. Sie wollte gerne glauben, dass sie sich weiterentwickelt hatte, und bereit war, an der Beziehung mit David zu arbeiten. Dass es für sie nicht leicht war, wussten sie beide, und David war gut darin, überhaupt keinen Druck aufzubauen. Fast zu gut, weil sie sich damit selber Druck machte und nichts auf David abschieben konnte, überlegte Violet seufzend.
Sie drückte ein paar Tasten auf dem Telefon, um herauszufinden, welche Nummer sie angerufen hatte – vielleicht war es gar David gewesen, der sie hatte erreichen wollen.
Doch Violet sah sofort an der langen Nummer mit Vorwahl 00353, dass es bloß wieder dieser Anrufer aus Irland war, der sie seit Kurzem belästigte. Verärgert legte sie das Telefon weg und wandte sich wieder dem großen Grabstein zu, dem sie gerade den letzten Feinschliff verliehen hatte.
Etwas zu heftig rieb sie mit dem feinkörnigen Sandpapier über die Oberfläche und hielt inne, um kurz durchzuatmen. Es brachte nichts, sich über die Telefonate zu ärgern. Wenigstens hatte sie nichts Wichtiges verpasst, nachdem sie eben zu spät abgenommen hatte. Die mysteriöse Person am anderen Ende der Leitung hätte nur wieder ein paar Sekunden lang leise geatmet und nicht auf Violets »Hallo, wer ist da« reagiert, bevor sie auflegte.
Violet hatte die Nummer schon gegoogelt und wusste, dass die Anrufe aus einem Kaff in der Nähe von Galway kamen. Sie war noch nie in der Gegend gewesen und kannte dort auch niemanden. Wenn es so weiterging, würde sie die Nummer einfach blockieren, dachte sie resolut, verbannte weitere Gedanken an die Anrufe und an David und versuchte, sich ganz auf ihre Arbeit zu konzentrieren.
Nach einer Weile trat sie einen Schritt zurück und betrachtete zufrieden ihr Werk. Es war ein keltisches Kreuz, für das sie bei ihrer einzigen Irland-Reise vor ein paar Jahren auf einem stimmungsvollen Friedhof in der Grafschaft Wicklow einen Abklatsch genommen hatte. Sie hatte seitdem Dutzende Replikate dieses Kreuzes verkauft und bekam immer wieder Spezialaufträge wie diesen, bei denen der Grabstein mit spezifischen Änderungen gewünscht wurde. Violet fand die neue Inschrift und die zusätzlichen keltischen Muster sehr gelungen und war sich ziemlich sicher, dass die Kundin damit zufrieden sein würde.
Nicht immer wusste Violet, was ihre Kunden mit den Grabsteinen vorhatten, die sie für sie anfertigte. Doch dank eines längeren Telefongesprächs mit der exzentrischen älteren Dame, die das Kreuz bestellt hatte, war Violet in diesem Fall darüber informiert. Die Frau hatte einen großen Garten angelegt, in dem Kunstwerke mit keltischen Motiven ausgestellt wurden. Es war deutlich herauszuhören gewesen, dass Ästhetik bei ihr vor Authentizität stand.
Einige andere von Violets Kunden hingegen waren Puristen, die Wert darauf legten, dass die Nachbildungen so echt wie möglich aussahen. Unter ihnen befanden sich moderne Druiden und Wicca-Anhänger, die ihre Religion sehr ernst nahmen. Violet war stolz darauf, bestimmte Verfahren entwickelt zu haben, die die Oberflächen ihrer neuen Steine tatsächlich wie alte, verwitterte Grabmale wirken ließen.
Sie bevorzugte weder den einen noch den anderen Kundentyp. Die Idee war aus ihrer Vorliebe für Friedhöfe geboren, und es hatte ihr von Anfang an Spaß gemacht, sich die nötigen Fähigkeiten für die Herstellung von Grabstein-Reproduktionen anzueignen. Die Arbeit mit den Händen tat ihr gut und sie glaubte mehr und mehr, dass diese schöpferischen, körperlich anstrengenden Tätigkeiten, in denen sie sich verlieren konnte, auch für ihre geistige Gesundheit ein nötiger Ausgleich waren.
Vielleicht hatte sie auch deshalb in den vergangenen Monaten viel Zeit in ihrem Workshop verbracht, nachdem sie sich aufgrund der Ermittlungen um Laggandhu House mit ihrer geistigen Verfassung und den verdrängten Erinnerungen an die psychische Krankheit ihrer Mutter hatte auseinandersetzen müssen.
Während Violet das Kreuz vorsichtig in einer großen Kiste verpackte, kehrten ihre Gedanken wieder zur irischen Telefonnummer zurück. Es würde ihrem Geschäft guttun, neue Abklatsche von Grabsteinen irischer Friedhöfe anzufertigen, dachte sie. Es hatte eine angenehme Übereinstimmung mit der exzentrischen Kundin bestanden, und wenn sie Neues anzubieten hätte, würde die vielleicht wieder etwas bei ihr bestellen.
Sie seufzte, als ihr gleich darauf einfiel, dass es jetzt erst einmal nach Schottland ging, und danach würde sie kein Geld mehr für eine Irland-Reise haben. Oder für sonst eine Reise zu inspirierenden Friedhöfen an ferneren Orten. Violet versuchte, daran festzuhalten, dass sie sich darauf freute, David zu sehen.
Sie nahm das Telefon und ging wieder in ihre Wohnung.
In der Küche stellte sie den Teekessel auf den Herd und schaltete ihren Laptop ein.
Mit einer frisch aufgebrühten Tasse Tee setzte sie sich an den Küchentisch, schrieb die Rechnung für das Kreuz und druckte Lieferschein und Adressetikett aus. Sie hörte den über WLAN verbundenen Drucker im Wohnzimmer rattern und rief schon einmal die Webseite des Paketservices auf. Nachdem Violet die Abholung der Kiste arrangiert hatte, holte sie die Ausdrucke aus dem Wohnzimmer, ging wieder in ihre Werkstatt und machte das Paket versandfertig.
Wieder zurück in der Wohnung nahm sie ihre halb volle Tasse Tee mit ins Wohnzimmer und ließ sich zufrieden auf das Sofa plumpsen. Jetzt musste sie nur noch auf den Paketdienst heute Nachmittag warten und hatte sonst nichts mehr zu tun.
Ach doch, packen sollte sie noch, wenn sie morgen so früh wie geplant losfahren wollte.
Aber erst, so fand sie, hatte sie sich eine Pause verdient.
Violet verzog das Gesicht, als sie einen Schluck ihres mittlerweile fast kalten Tees nahm, und rang mit sich, ob sie wieder aufstehen und sich einen neuen machen sollte. Sie fühlte sich zu faul dazu, und Luna, ihre Katze, nahm ihr schließlich die Entscheidung ab, indem sie auf ihren Schoß kletterte und Streicheleinheiten forderte.
Luna hatte sehr genaue Vorstellungen, was ihr Bedürfnis nach Zuneigung anging, und sie entzog sich Violets Schmuseversuchen ebenso oft, wie sie Zuwendung verlangte. Obwohl Violet die Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit ihrer Katze manchmal verfluchte, war sie doch insgeheim beeindruckt davon. Sie wünschte sich keine andere Mitbewohnerin. Und wenn Luna in Streichelstimmung war, dann nahm sich Violet Zeit für sie.
Luna hatte gerade in höchsten Tönen zu schnurren angefangen, als das Telefon erneut klingelte.
Ächzend reckte Violet den Hals. Natürlich hatte sie es wieder auf den Küchentresen gelegt. Sie konnte es von der Couch aus aufleuchten sehen. Fluchend schob sie die empört dreinblickende Luna von ihrem Schoß und gab sich einen Ruck, um aufzustehen.
Offensichtlich beleidigt zog ihre Katze ins Schlafzimmer ab, während Violet das Telefon aufnahm und auf den grünen Knopf drückte.
»Violet Grave, hallo?«, sagte sie, während sie Luna bedauernd nachsah.
Keine Antwort.
»Hallo?«, sagte sie wieder, diesmal energischer.
Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Wieder dieser blöde irische Scherzanrufer.
Verärgert stellte Violet ihn zur Rede: »Warum rufen Sie mich dauernd an und sagen nichts?«
Wieder keine Antwort, nur ein leises Atmen war zu hören.
»Hören Sie, ich habe genug davon. Das ist Ihre letzte Chance, mir zu sagen, was Sie von mir wollen. Ich werde diese Nummer blockieren.«
Als nach ein paar Sekunden wieder nichts kam, sagte Violet: »Gut, ich lege jetzt …«
»Warten Sie, nein!«, wurde sie von einer atemlosen Mädchenstimme unterbrochen.
Die Anruferin war offensichtlich noch jung und klang panisch. Violet wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber nicht das.
»Was willst du denn von mir?«, fragte sie in etwas weniger scharfem Ton.
»Ich … ich …« Das Mädchen schien total durcheinander.
»Jetzt atme erst einmal tief durch und dann sag mir, warum du versuchst, mich zu erreichen.« Violet hatte langsam den Verdacht, dass das Mädchen sie mit den Anrufen nicht ärgern wollte, sondern sich einfach nicht getraut hatte, zu sprechen.
»Stimmt es, dass Sie Flüche von begrabenen Toten aufheben können?«
»Flüche?«, meinte Violet überrascht. »So habe ich das noch nie ausgedrückt, aber …«
Jetzt, wo es einmal angefangen hatte, war das Mädchen offensichtlich bestrebt, sein Anliegen loszuwerden, denn es ließ Violet nicht ausreden und redete so schnell weiter, dass Violet Mühe hatte, den irischen Westküsten-Dialekt überhaupt zu verstehen: »Ich habe gehört, dass Sie Begrabenen helfen, die ungerecht behandelt wurden oder so … also, ich meine … Sie erzählen ihre Geschichte, finden die Wahrheit über sie heraus, und dann haben die Toten endlich Ruhe … haben ihren ewigen Frieden …«
»Na ja, so ähnlich stimmt das schon.« Wahrscheinlich hatte das Mädchen den Grave Secrets-Podcast gehört. Violet fragte sich, wie jung das Mädchen war und ob die Themen, die Violet behandelte, schon etwas für es waren. Der Stimme nach zu urteilen, war die Kleine bestimmt ein Teenager, aber ob sie eher zwölf oder schon siebzehn war, vermochte Violet nicht zu sagen.
Aber unüberhörbar war das Mädchen aufgelöst und machte sich um eine begrabene Person Sorgen. Vielleicht war jemand im näheren Umfeld gestorben, womöglich ein geliebter Mensch wie ein Eltern- oder Großelternteil. Violet wusste aus eigener Erfahrung, wie traumatisch das sein konnte und hatte sofort Mitgefühl mit der Kleinen.
Sie wollte das Mädchen, das nach so vielen Versuchen endlich den Mut aufgebracht hatte, mit ihr zu sprechen, nicht mit zu persönlichen Fragen in die Flucht schlagen, sondern zum Weiterreden ermutigen. So versuchte sie, ihre Worte mit Bedacht zu wählen: »Geht es um ein bestimmtes Grab, das ich besuchen soll, oder hattest du dir gedacht, ich könnte etwas zu einer bestatteten Person recherchieren?«
Das Mädchen zögerte: »Ich kann Ihnen kein Geld dafür geben oder so …«
»Keine Sorge, ich wurde noch nie direkt dafür bezahlt. Darum geht es mir nicht.« Violet tastete sich vorsichtig weiter: »Aber ich kann natürlich auch kein Versprechen abgeben, dass ich der Person helfen kann, die … verflucht ist. So hast du es genannt, nicht wahr? Ich kann mein Bestes geben, mehr über die Person herauszufinden.« Als das Mädchen nicht antwortete, sprach sie weiter. »Ich bekomme normalerweise keine Aufträge, das zu tun, verstehst du? Das ergibt sich einfach.«
Violet zögerte. Sie würde dem Mädchen gerne erklären, wie es sich ergab. Aber sie war sich recht unsicher, ob das angebracht war. Sie erzählte natürlich nicht jedem von ihrer Affinität zu Gräbern. Auch in ihrem Podcast und auf ihrem Blog verschwieg Violet, dass sie so etwas wie Schwingungen von Grabsteinen empfing, die sie dazu inspirierten, mehr über die darunter Bestatteten herauszufinden. Mal ganz zu schweigen von den weiteren, noch viel übernatürlicheren Phänomenen, für die sie manchmal empfänglich war – wie unlängst auf dem Gelände der Nervenheilanstalt in Schottland.
Das Mädchen schien hochsensibel zu sein, beschäftigte sich mit dem Tod, und, wenn es ihren Podcast hörte, vielleicht sogar mit Themen, für das es nicht reif genug war.
Die Kleine glaubte anscheinend an Flüche, aber sie wollte sie in ihrem Aberglauben nicht noch bestärken.
Violet zögerte zu lange und das Mädchen verstand ihre Denkpause falsch. »Ist schon gut, ich verstehe. Ich wollte nicht … Ich dachte einfach … Danke, dass Sie mit mir geredet haben. Es ist eben bloß … Ich habe Angst. Niemand glaubt mir. Ich kenne hier keinen, der mir helfen kann.«
Bevor Violet etwas entgegnen konnte, legte das Mädchen auf.
Den Hörer weiter ans Ohr gepresst, schloss Violet die Augen, lauschte dem leisen Rauschen in der Leitung und seufzte frustriert. Das Mädchen hatte so verzweifelt geklungen und brauchte eindeutig Hilfe. Doch hatte Violet es nicht geschafft, ihm zu vermitteln, dass sie eine passende Vertrauensperson war.
Vielleicht war sie das ja auch gar nicht. Das Mädchen hatte wohl irgendwelche Vorstellungen, die Violet mit Sicherheit nicht erfüllen konnte. Sie war ja keine Hexe, die Flüche aufheben konnte. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie daran glaubte. Und sie war auch kein Medium, das auf Bestellung Verbindung mit Toten aufnehmen konnte.
Violet fühlte sich lediglich zu Grabsteinen hingezogen und manchmal sprachen diese mit ihr – im übertragenen Sinne. Es waren schließlich für gewöhnlich nicht die Begrabenen, die ihr ihre Geschichten direkt erzählten, sondern Violet recherchierte sie wie eine Historikerin.
Sie hätte das dem Mädchen gerne näher erklärt, aber ob es sie in diesem aufgewühlten Zustand verstanden hätte?
Davon abgesehen war sie eine Fremde in einem anderen Land. Auch wenn es ihr wehtat, dass sie das Mädchen hatte enttäuschen müssen, vielleicht nahm es das als Anlass, eine andere, geeignetere Person zu suchen, der es sich anvertrauen konnte.
Um sich abzulenken, ging Violet in ihr Schlafzimmer, um für ihre Reise zu packen.
Dort wurde sie von Luna, die eingerollt auf der Fensterbank lag, konsequent missachtet, während sie einige Klamotten in den Koffer warf. Mit schlechtem Gewissen dachte Violet daran, dass Luna in den nächsten zwei Wochen von der Nachbarin versorgt werden würde, während sie in Schottland war.
Doch sie bekam noch die Chance, sich mit ihrer Katze vor der Abreise zu vertragen, als sie am Abend mit einer aufgebackenen Tiefkühlpizza und einer Dose Cola Zero vor dem Fernseher saß.
Luna kam mit majestätischen Schritten aus dem Schlafzimmer und gesellte sich zu ihr auf die Couch. Zwar hielt die Katze erst noch Abstand, aber nachdem Violet ihre Pizza aufgegessen hatte, kletterte sie auf ihren Schoß.
Zufrieden strich Violet über das schwarze Fell, bis sie den Fernseher lauter stellen musste, um Lunas Schnurren zu übertönen.
Später schliefen sie beide auf der Couch ein.
Mitten in der Nacht schreckte Violet hoch. Verschlafen schaute sie sich um. Der Fernseher war noch an, aber was sie geweckt hatte, war etwas anderes. Das Klingeln des Telefons.
Violet raffte sich auf und griff nach dem Hörer. »Hallo?«, sagte sie und unterdrückte ein Gähnen.
»Ich habe es wieder gehört. Es wird wieder passieren. Oh Gott, ich habe solche Angst …«
Das irische Mädchen.
Violet war mit einem Schlag hellwach. »Was, was wird passieren? Was ist los?«
Sie schnappte sich die Fernbedienung und stellte den Fernseher aus, während nur die schnellen, hektischen Atemzüge des Mädchens aus der Leitung drangen. Entweder war die Kleine gerade gerannt oder sie hatte eine Panikattacke.
»Hör zu, ich will dir helfen.« Violet versuchte, so sanft wie möglich zu klingen. »Aber du musst mir sagen, was …«
»Sie wollen helfen? Sie würden kommen? Bitte, bitte beeilen Sie sich.«
Das Mädchen klang so hoffnungsvoll, dass Violet es nicht übers Herz brachte, es zu enttäuschen. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu schluchzen.
»Ähm, ja, ich würde kommen, aber ich muss mehr wissen.« Ungern gab Violet ein Versprechen, das sie nicht halten könnte, doch es schien ihr die einzige Möglichkeit, das Mädchen dazu zu bringen, ihr Informationen zu geben, mit denen sie auch etwas anfangen konnte. Wenn sie sich einfach ein Bild von der Situation machen könnte, dann gelang es ihr vielleicht auch aus der Ferne, der Kleinen zu helfen.
»Gott sei Dank.« Die Erleichterung war förmlich durch die Leitung zu spüren.
»Bitte verrate mir doch mehr über dein Problem.« Violet hatte Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen.
»Ich … ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …«
»Der Name? Ein Name wäre schon mal gut.«
Das Mädchen zögerte. Violet fuhr sich durch ihre langen schwarzen, nach dem Schlaf zerzausten Haare.
»Cecily Broderick«, kam endlich die Antwort.
»Und du bist in …« Sie versuchte sich den Namen des Ortes ins Gedächtnis zu rufen, dessen Vorwahl sie nachgeschaut hatte. »Killindaly?«
»Ja.«
»Und …«
Bevor Violet ihre nächste Frage aussprechen konnte, erklang ein schriller Schrei im Hintergrund.
»Oh Gott!« Das Mädchen wurde sofort wieder panisch. »Ich muss auflegen. Ich muss hier weg.«
»Warte, was war das?«
»Sie kommen doch, oder? Wie Sie versprochen haben? Sie kommen, so schnell Sie können?«
»Ja, aber sag mir doch, wovor du solche Angst …«
Tut-Tut-Tut.
Das Mädchen hatte aufgelegt.
Perplex schaute Violet den Telefonhörer an.
Aufgewühlt ging sie zwischen Wohnzimmer und Küche hin und her.
Das Mädchen hatte offensichtlich große Angst vor etwas … und womöglich hatte es mit dem Geräusch zu tun, das Violet gehört hatte. War es ein Schrei gewesen? Es hatte nicht menschlich geklungen, jetzt, da sie versuchte, sich daran zurückzuerinnern. Vielleicht ein Tier?
Jedenfalls hatte es das Mädchen in Panik versetzt, nachdem Violet es fast dazu gebracht hatte, sich zu beruhigen und ihr alles zu erzählen.
Schwebte das Mädchen womöglich sogar in Gefahr?
Violet fühlte sich so hilflos.
Sie rief die Nummer auf dem Display auf und drückte auf die Rückruftaste. »Nimm ab, nimm ab, nimm ab«, murmelte Violet vor sich hin.
Doch nichts geschah.
Das Telefon klingelte einfach immer weiter.
Nachdem Violet noch ein paar Mal erfolglos versucht hatte, das Mädchen unter der Nummer zu erreichen, war sie ins Bett gegangen.
Doch geschlafen hatte sie nicht richtig. Bei jedem kleinsten Geräusch war sie aufgeschreckt und hatte angestrengt gelauscht, ob vielleicht doch das Telefon klingelte. Ein paarmal war sie sogar aufgestanden und hatte nachgesehen, ob sie eventuell einen Anruf verpasst hatte.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste sie doch in einen tieferen Schlaf gefallen sein, denn als um halb sechs der Wecker klingelte, brachte sie die Augen kaum auf.
Violet taumelte in die Küche und machte sich einen starken Kaffee. Dann stellte sie sich unter die fast kalte Dusche – so früh am Morgen war das Wasser im altmodischen Boiler noch nicht aufgeheizt. Wenigstens war sie halbwegs wach, als sie kurze Zeit später wieder in der Küche stand, um sich ein Frühstück zuzubereiten. Sie schob zwei Scheiben Brot in den Toaster und holte Butter und Orangenmarmelade aus dem Kühlschrank.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, Proviant für die Fahrt nach Schottland einzupacken, denn Tankstellensnacks waren teuer. Doch stattdessen griff sie nach dem Telefon. Sie rief wieder die irische Nummer auf und starrte auf die Anzeige des Displays.
Jetzt, bei Tageslicht schien ihr der Anruf wie ein schlechter Traum. Aber er war passiert. Das Mädchen hatte Angst gehabt, hatte geklungen, als sei es in Gefahr …
Schnell drückte Violet die Rückruftaste und hielt gespannt den Hörer ans Ohr. Es klingelte einige Male und Violet stellte sich darauf ein, dass wieder niemand abnahm, so wie letzte Nacht. Gerade wollte sie den Anruf beenden, als ein leises Klicken und dann eine Stimme ertönten.
»Hallo?«
Violet war auf einmal wie elektrisiert. »Hallo? Cecily? Bist du das?«
»Nein, hier spricht Mrs Boyle.« Derselbe irische Akzent wie das Mädchen, aber die Frau klang viel älter.
»Oh, ähm, gestern hat mich ein Mädchen von dieser Nummer aus angerufen. Cecily. Wir wurden unterbrochen, sie hat abrupt aufgelegt und jetzt versuche ich, sie zu erreichen.«
»Das hier ist eine Telefonzelle.«
»Oh. Ach so.« Violet hatte gehofft, dass Mrs Boyle vielleicht die Mutter oder Großmutter des Mädchens war. Dass die Kleine nicht von ihrem Haus aus angerufen hatte, sondern von einem öffentlichen Telefon, daran hatte sie gar nicht gedacht.
»Sie kennen nicht zufällig eine Cecily, die mich gestern Abend von dieser Telefonzelle aus angerufen haben könnte?« Killindaly hatte auf der Landkarte wie ein winziges Örtchen ausgesehen. Die Art Kaff, in der sich die Leute kannten. Und Cecily war kein sehr gebräuchlicher Name …
»Nee«, unterbrach Mrs Boyle Violets hoffnungsvolle Gedanken etwas schroff.
»Okay … ähm, danke.« Violet verabschiedete sich und legte auf.
Während sie Butter und Marmelade auf ihren Toast strich, versuchte sie sich einzureden, dass der jungen Anruferin nichts Schlimmes passiert sein konnte. Mrs Boyle hätte so etwas doch bestimmt erwähnt, wenn im Zusammenhang mit einem jungen Mädchen etwas Ungewöhnliches vorgefallen wäre.
Es sei denn, die Kleine war weggelaufen und das, vor was auch immer sie Angst hatte, war ihr hinterhergekommen und hatte sie irgendwo anders erwischt. Womöglich wusste Mrs Boyle dann von nichts – vielleicht wusste dann noch keiner etwas davon.
Vor Violets geistigem Auge erschien ein Horrorszenario nach dem nächsten. Sie stellte sich vor, dass das Mädchen irgendwo auf einer Wiese lag, blutig und zerfetzt, gerissen von einem wilden Tier.
»Hör auf damit«, schimpfte sie mit sich selbst. »Du weißt doch gar nicht, vor was oder wem sie solche Panik gehabt hat.« Vielleicht hatte der Schrei gar nichts damit zu tun gehabt. Violet versuchte sich daran zu erinnern, was das Mädchen genau gesagt hatte. Es wird wieder passieren …
Sie schaltete den Laptop ein und googelte Killindaly. Gespannt überflog sie die Ergebnisse, während sie ihren Toast aß, ohne ihn richtig zu schmecken.
Wenn in Killindaly in letzter Zeit etwas Schlimmes geschehen war, dann musste das doch im Internet Erwähnung gefunden haben. Doch Violet fand nur die Gemeindewebsite, einen sehr kurzen Wikipedia-Eintrag und die Facebook-Profile eines Ladens und des örtlichen Pubs. Die meisten Suchmaschinen-Einträge gab es zum örtlichen Hurling-Verein.
Etwas verzweifelt rief Violet die Webseiten der Lokalzeitungen auf, die vielleicht über diesen kleinen Ort berichten könnten – aber auch dort führten alle Links fast ausschließlich zum Sportteil, wo Hurling-Ergebnisse veröffentlicht wurden.
Violet lehnte sich auf ihrem Küchenstuhl zurück. Was auch immer in Killindaly passiert war, vor dem das Mädchen Angst gehabt hatte, dass es wieder geschehen könnte: Es war nichts, das es in die Medien geschafft hatte.
Luna machte sich mit lautem Miauen bemerkbar, und Violet füllte gedankenverloren ihre Schüssel mit Katzenfutter auf.
Während die Katze sich glücklich schmatzend über ihr Frühstück hermachte, googelte Violet den Namen »Broderick« in Killindaly. Das Mädchen war definitiv zu jung, um im Telefonbuch gelistet zu sein, aber wenn sie Eltern und Großeltern ausfindig machen konnte …
Leider gab es mehrere Brodericks in dem Ort. Frustriert schaute sie sich die Liste an. Sie konnte unmöglich alle anrufen und nach dem Mädchen fragen.
Violet stand auf, um die Katze rauszulassen und das Frühstücksgeschirr abzuwaschen. Nachdenklich starrte sie aus dem schmalen Fenster über der Spüle auf die Mauer ihres kleinen Hinterhofs. Luna beobachtete mit zuckendem Schwanz einen Vogel in den hohen, ausladenden Ästen eines Baums im Nachbargarten, bevor sie mit einem eleganten Sprung auf der Mauer landete.
Der Vogel flog davon und Luna hüpfte auf der anderen Seite wieder herunter. Durch das gekippte Fenster konnte Violet ein Miauen hören und dann die Stimme ihrer Nachbarin. Das schlaue Katzenvieh holte sich drüben wahrscheinlich jetzt ein zweites Frühstück.
Offensichtlich hatte Luna schon verstanden, dass Violet heute abreisen würde. Sich ohne Verabschiedung davonzustehlen und die Gutmütigkeit ihrer Ersatz-Dosenöffnerin auszunutzen war ihre Art, Frauchen zu zeigen, was sie davon hielt, verlassen zu werden.
Seufzend schaute Violet auf den Teller in ihrer Hand. Sie hatte keine Ahnung, wie oft sie den jetzt schon mit dem Schwamm abgewischt hatte.
Sie stellte den Teller in das Abtropfgestell und fischte Messer und Tasse aus dem Spülwasser.
Als sie sich die Hände am Geschirrtuch abwischte, fiel ihr Blick auf die Backofenuhr. Es war schon später, als sie als Abfahrtszeit eingeplant hatte. Eigentlich hatte sie sich doch noch Sandwiches für die Fahrt machen wollen – und jetzt war ihre Küche sauber und aufgeräumt.
Violet machte den Kühlschrank auf, schnappte sich den einzigen Apfel, der darin lag, sowie ein Päckchen Käse.
Im Schrank über dem Herd fand sie noch eine angebrochene Packung Kekse und eine Tafel Schokolade. Sie stopfte alles in ihre übergroße Handtasche.
Dann ging sie zum Laptop, den sie auch einstecken wollte, doch statt ihn zuzuklappen, setzte sie sich wieder vor den Bildschirm.
Violet gab die Route von Brighton nach Killindaly ein. Zehneinhalb Stunden würde die Fahrt dauern … das war ja auch nicht viel länger als nach Dundee. Und drei Stunden davon verbrachte man auf einem Boot. Sie suchte den Fahrplan für die Fähre von Holyhead nach Dublin heraus und druckte den Routenplan aus.
Sie schaltete den Laptop aus, packte ihn ein, schnappte sich den Ausdruck und steckte ihn in die Handtasche.
Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf über sich. Was tat sie da? Natürlich würde sie nach Dundee fahren, wie geplant. David wartete auf sie.
Und so spät, wie es schon war, beeilte sie sich besser.
Schnell nahm Violet das Gepäck und eine leichte Jacke, schloss die Wohnungstür hinter sich ab und lud alles in ihren alten Corsa. Dann klingelte sie noch bei der Nachbarin, um sich zu verabschieden und sich im Voraus für das Katzensitting zu bedanken.
Endlich fuhr sie los.
Und sie hatte auch wirklich gute Vorsätze. Ein spannendes Hörbuch sorgte für Ablenkung. Hinter Oxford machte sie eine kurze Pause, um sich die Beine zu vertreten, ein paar Kekse zu essen und David eine Nachricht zu schicken, dass sie unterwegs sei.
Erst als sie Birmingham passiert hatte, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Mädchen und dem Anruf zurück.
Bei ihrer zweiten Pause vor Manchester – jetzt doch mit teurem Kaffee und Sandwich von der Tankstelle – widerstand sie dem Drang nicht, auf ihren Routenausdruck nach Killindaly zu schauen.
Sie müsste nur die vor ihr liegende Abfahrt Richtung Chester nehmen. Und ihren Berechnungen zufolge würde sie es sogar noch auf die nächste Fähre schaffen. Violet warf das halb aufgegessene Sandwich auf den Beifahrersitz, nahm einen letzten Schluck Kaffee und düste los.
Obwohl ihr Navigationsgerät beharrlich protestierte und sie immer wieder zum Wenden aufforderte, folgte sie der Route auf der ausgedruckten Landkarte. Kurz bevor sie auf die A55 abbog, gab sie nach, hielt kurz links an und programmierte das Navi neu.
Dann musste sie sich sputen und aufs Gaspedal drücken. Sie schaffte es gerade noch, die Fähre zu erwischen.
Nachdem sie ihr Auto abgestellt und die Treppen hinauf in den Aufenthaltsbereich gegangen war, ließ sie sich auf einen Sitz plumpsen.
Ihr Herz klopfte laut. Sie kramte in ihrer Handtasche nach der Tafel Schokolade und verputzte drei Viertel davon, um ihre Nerven zu beruhigen.
Dann holte sie tief Luft und holte ihr Handy hervor.
Sie starrte Davids Nummer eine Weile an, aber es half alles nichts. Sie musste ihn anrufen.
»Hallo David!«, sagte sie mit zitternder Stimme, als er abnahm.
»Hallo! Na, alles klar? Wo bist du?«, entgegnete er fröhlich.
Violet schloss die Augen. »Ich bin auf einer Fähre nach Irland.«
Kurze Stille, dann ein falsches Lachen. »Soll das ein Scherz sein?«
»Ich befürchte nicht.«
»Ich verstehe nicht …«
Violet erzählte David von den Telefonaten mit dem Mädchen aus Killindaly. »Ich mache mir einfach große Sorgen. Das Mädchen braucht mich und ich habe versprochen zu kommen, also …«, beendete Violet ihre Erklärung etwas lahm.
»Ich komme immer noch nicht ganz mit, Violet. Wer ist dieses Mädchen? Woher kennst du sie?«
»Ähm, ich kenne sie gar nicht. Nur … von dem Telefongespräch eben.«
»Sie hat dich aus heiterem Himmel angerufen? Und nicht mal wirklich erklärt, was sie von dir will? Wie du ihr helfen kannst? Und du hast nur einen Namen und einen Ort? Und dafür wirfst du unsere seit Langem geschmiedeten Pläne einfach über den Haufen und reist stattdessen spontan nach Irland?« War es David anfangs noch gelungen, Fassung zu bewahren und einen nüchternen Ton anzuschlagen, so konnte er am Ende kaum mehr verbergen, was er davon hielt. »Das ist doch … das ist doch …«
»Verrückt?«, beendete Violet seinen Satz mit etwas spitzer Stimme.
Das Wort war vorbelastet, aber sie wusste, dass David es hatte benutzen wollen.
Nach den Vorkommnissen am Loch Laggandhu vor ein paar Monaten hätte der sachliche Wissenschaftler David Bennett Violet am liebsten in einer psychiatrischen Klinik gesehen. Er hatte seine Weltanschauung um einige Grad drehen müssen, um Violet so zu akzeptieren, wie sie war. Gesegnet oder verflucht mit einer übernatürlichen Gabe und vielleicht oder vielleicht auch nicht eben ein bisschen verrückt.
»Ja, um ehrlich zu sein, Violet, es ist ziemlich verrückt.« David klang jetzt sanft und leicht verzweifelt. »Ich kann einfach nicht nachvollziehen, wie du auf diese Idee gekommen bist.«
»Du hast das Mädchen nicht gehört«, verteidigte Violet ihre Entscheidung. »Sie hatte solche Panik. Und dann war da dieser Schrei und … Ach, es ist sehr schwer zu erklären. Ich spüre einfach, das Mädchen braucht mich.«
David sagte einen Moment lang nichts. Gerade als Violet die Stille durchbrechen wollte, sprach er doch: »Ich habe mich einfach wirklich darauf gefreut, dich zu sehen.«
»Ich doch auch, David.«
»Wirklich?« Die bittere Note war deutlich herauszuhören und Violets Herz krampfte sich zusammen. »Denn es sieht für mich momentan so aus, als hättest du die erstbeste Gelegenheit ergriffen, irgendwo anders hinzufahren …«
»Nein, so ist es nicht«, unterbrach sie ihn schnell. »Das musst du mir glauben.«
»Hmm.«
»Vielleicht ist die Sache in Killindaly ja schnell geregelt. Und dann komme ich natürlich direkt von Irland aus zu dir, David. Unser Urlaub ist bloß aufgeschoben.«
»Na gut«, meinte er etwas versöhnlicher.
Violet versprach, sich noch am Abend nach ihrer Ankunft in Killindaly zu melden. Dann verabschiedeten sie sich.
Sie sank etwas tiefer in ihren Sitz. Der Rest der Schokolade verschwand wie von Zauberhand in Violets Magen und danach war ihr ein bisschen schlecht.
* * *
Gute fünf Stunden später kam Violet in Killindaly an.
Sie war froh, dass es Sommer war und daher abends länger hell, denn diese schmalen, sich windenden Landstraßen, die sie seit der Abfahrt von der M6 Richtung Galway hatte bewältigen müssen, waren ein einziger Albtraum.
Kurze Zeit später passierte sie überraschenderweise das Ortsausgangsschild, und ein Werbeplakat wies auf einen Viehmarkt zum Lúnasa-Fest im nächsten Dorf hin. Dabei hatte sie nichts gesehen, was einem Ortskern geähnelt hätte. Es gab bloß einzelne Häuser und Höfe, die von Wiesen und Weiden umgeben waren. Aufgrund ihrer kurzen Recherche im Internet heute Morgen wusste Violet aber, dass es zumindest einen Pub und einen Laden gab. Sie hatte eigentlich erwartet, dass die zusammen mit anderen Geschäften eine Art Zentrum bildeten.
Bei der nächsten Gelegenheit bog sie auf einen Feldweg ab und versuchte, auf ihrem Handy eine Landkarte aufzurufen, doch es dauerte ewig, bis die Seite geladen war. Frustriert steckte sie es wieder weg. Der Empfang hier war miserabel.
Stattdessen vergrößerte sie das Bild auf ihrem Navigationsgerät und starrte mit gekräuselter Nase darauf. Auf der Karte waren ein paar Seitenstraßen eingezeichnet. Violet hatte sie bei ihrer Durchfahrt für Hofeinfahrten gehalten. Straßenschilder hatte sie zumindest keine gesehen.
Dann würde sie diese kleinen Straßen mal erkunden. Der Laden musste irgendwo zu finden sein – und die Telefonzelle. Außerdem sollte sie nach B&B-Schildern Ausschau halten.
Violet fuhr wieder zurück und kurvte ein wenig im Dorf herum. Sie fand weder ein B&B noch den Laden, den Pub oder die Telefonzelle, aber etwas anderes erweckte ihre Aufmerksamkeit.
Eine Kirche.
Und dahinter gab es einen Friedhof.
Violet brauchte nicht lange mit sich selbst zu diskutieren, dass sie hier genauso gut wie anderswo anhalten, sich die Beine vertreten und sich umsehen könnte.
Obwohl sie wirklich vorgehabt hatte, erst in der Kirche nach einem Pfarrer oder einer anderen ortskundigen Person zu suchen, fand sie sich auf einmal auf dem Friedhof wieder.
Er war ein absoluter Traum. Vor dem Hintergrund der umliegenden grünen Hügel ragten keltische Kreuze in die Höhe. Es war genau die Art von Grabsteinen, nach denen sich Violet in ihrer Werkstatt erst gestern noch gesehnt hatte.
Sie eilte zu ihrem Auto zurück und holte die Kamera aus dem Kofferraum. Dort bewahrte sie auch andere Werkzeuge auf, mit denen sie Abklatsche von Gräbern machen konnte, aber die beachtete sie in dem Moment nicht. Bestimmt würde sich die Gelegenheit ergeben, hierher zurückzukommen.
Jetzt wollte sie erst einmal das wundervolle Abendlicht ausnutzen und fotografieren.
Violet knipste enthusiastisch ein Foto nach dem anderen, bis sich der Himmel rosa färbte. Als sie merkte, wie lange sie sich schon auf dem Friedhof aufgehalten haben musste, hielt sie inne.
Es war wirklich an der Zeit, endlich eine Unterkunft zu finden …
Ein Prickeln im Nacken ließ sie herumfahren.
Weit und breit war niemand zu sehen, aber Violet hätte schwören können, dass sie beobachtet wurde.
Unsicher ging sie ein paar Schritte in Richtung Auto, doch dann fiel ihr Blick auf eine Reihe alter, verwitterter Grabsteine, die sie noch nicht fotografiert hatte.
Wieder ließ sie den Blick umherschweifen. Es war tatsächlich keine Menschenseele zu sehen. Und auf die paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an.
Wie die untergehende Sonne mit ihrem rötlichen Licht die mit Flechten bewachsenen Steine beleuchtete, war einfach zu schön. Violet trat näher und schoss ein paar Fotos.
Als der Zoom ihrer Kamera die Inschrift eines rechteckigen Steins mit einem kleinen Kreuz erfasste, sog Violet scharf die Luft ein.
Beinahe ließ sie den Fotoapparat fallen – gut, dass er an einem Band um ihren Hals hing.
Sie trat näher und beugte sich tiefer über den Stein.
Die orangefarbene Sonnenscheibe war gerade hinter der Kirche verschwunden und ein Schatten hatte sich über den Grabstein gelegt.
Violet kniff die Augen zusammen, um die Inschrift besser entziffern zu können.
Täuschte sie sich, oder …?
Sie hob die Kamera wieder an und machte ein Foto mit Blitzlicht.
Die Inschrift war auf dem Display gut zu erkennen.
Das hier war das Grab von Cecily Broderick.
Violet blieb einen Moment lang wie erstarrt stehen. Dann ging sie vor dem Grabstein auf die Knie und beugte sich vor, bis ihr Gesicht nur Zentimeter von der Inschrift entfernt war.
Es gab keine rationale Erklärung dafür, dass ihre Kamera etwas fotografiert hätte, das nicht da war. Aber Violet hatte schon genug unerklärliche Phänomene erlebt, um so etwas nicht auszuschließen.
Sie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über die Furchen und Kanten der eingemeißelten Buchstaben und Zahlen. Violet konnte das ertasten, was sie auf dem Foto gesehen und im Halbdunkel jetzt auch mit eigenen Augen ausmachte. Hier lag tatsächlich eine Cecily Broderick begraben.
Die junge Frau war 1850 geboren und im Alter von zwanzig Jahren gestorben.
Es war keine Überraschung für Violet, dass Cecilys Grabstein sanfte Vibrationen durch ihre Fingerspitzen schickte. Sie füllten Violets Körper mit einem leisen Summen. Gebannt ließ sie sich darauf ein und lauschte dem, was Cecilys letzte Ruhestätte ihr mitzuteilen hatte.
Kein Zweifel, hier gab es eine Geschichte, die erzählt werden wollte. Wenn eine Frau so jung aus dem Leben gerissen worden war, traf das häufig zu. Violet konnte spüren, dass sie es hier mit einem plötzlichen Tod zu tun hatte, ein Bruch, der immer eine solche Energie zurückließ. Sie hätte darauf wetten können, dass die Todesursache keine Krankheit gewesen war, die der jungen Frau erlaubt hätte, sich langsam vom Leben zu verabschieden.
Sie fühlte sich noch tiefer in die Schwingungen des Grabsteins hinein. Ja, der Tod war unerwartet gewesen, dramatisch, vielleicht sogar gewaltsam.
Allein das Verbliebene dieser Gewalt war intensiv genug, dass Violet instinktiv die Hand vom Stein nahm, um sich davor zu schützen. Sie stand langsam auf und atmete ein paar Mal tief durch, um den Tumult in ihrem Inneren zu mildern.
Für einen kurzen Moment schien Violet ihre Aufgabe klar, so wie es sich oft mit ihrer Berufung verhielt, wenn sie den Kopf ausschaltete und sich ganz auf ihr Bauchgefühl verließ. Cecily hatte sie gerufen, damit sie ihr half, und sie musste mehr über die junge irische Frau herausfinden, um ihre Geschichte zu Ende zu erzählen und sie so von dem zu erlösen, was hundertfünfzig Jahre nach ihrem Tod immer noch an ihr haftete.
Doch dann kam Violet wieder völlig zur Besinnung und ihr wurde bewusst, dass es so einfach nicht war.
Cecily Broderick hatte sie nicht angerufen.
Auch wenn Violet schon Erfahrung mit geisterhaften Phänomenen gemacht hatte, konnte sie nicht daran glauben, dass eine Tote aus dem 19. Jahrhundert ein öffentliches Telefon bedienen konnte. Bestimmt hatte Violet nicht mit einem Geist gesprochen.
Irgendwie musste das Mädchen am anderen Ende der Leitung von Violet erfahren und ihre Kontaktdaten herausgefunden haben. Hatten etwa aus dem Leben Geschiedene in der Nachwelt Zugang zum Internet, lasen Blogs und hörten Podcasts? Wohl kaum.
Davon abgesehen hatte Violet die Anruferin auf jünger als zwanzig Jahre geschätzt.
Nein, Violet war sich ziemlich sicher, dass sie mit einer lebendigen Person telefoniert hatte.
In Killindaly gab es offensichtlich einen ganzen Haufen Brodericks. Es war gut vorstellbar, dass eine Broderick der jüngeren Generation nach ihrer Vorfahrin benannt worden war.
Diese Mrs Boyle, die das Telefon abgenommen und ihr von der Telefonzelle berichtet hatte, schien Cecily zwar nicht zu kennen. Das hieß aber nicht, dass es keine gab.
Der Gedanke erinnerte Violet daran, dass sie besagte Telefonzelle so schnell wie möglich ausfindig machen sollte. Vielleicht fand sie dort in der Nähe einen Hinweis auf die mysteriöse Anruferin.
Sie wandte sich vom Grab ab und machte sich auf, den Friedhof zu verlassen.
Vor dem Tor rannte Violet beinahe in eine Frau hinein, so in Gedanken versunken wie sie war.
»Oh, Entschuldigung«, murmelte sie und wollte an der korpulenten Dame vorbeigehen.
»Violet Grave?«
Violet blieb stehen und blinzelte die Frau verdutzt an.
Eine Straßenlampe vor dem Friedhof hatte sich mittlerweile angeschaltet, und in deren Lichtschein konnte Violet die Frau gut erkennen. Das runde Gesicht, eine spitze, kleine Nase, die kurzen, buschigen, grau melierten Haare, aber vor allem die riesigen Augen hinter altmodisch dicken Brillengläsern verliehen ihr ein eulenartiges Aussehen.
»Ja?«, sagte Violet vorsichtig.
»Mein Name ist Orla Noonan. Ich soll Sie abholen. Ich habe eine Unterkunft für Sie.«
Der irische Westküsten-Akzent der Frau war so stark, dass Violet Mühe hatte, sie zu verstehen. Deshalb brauchte sie ein paar Sekunden, bis die Bedeutung der Worte bei ihr angekommen war.
»Ähh«, stammelte sie. »Aber … Sie haben mich nicht angerufen, oder? Ihre Tochter womöglich?«
»Nee, nee«, winkte die Frau ab und wandte sich zum Gehen. Violet blieb nichts anderes übrig, als hinterherzutrotten.
»Okay … treffe ich das Mädchen in dieser Unterkunft, oder …«
Sie waren mittlerweile bei dem Auto angekommen, das Mrs Noonan neben Violets Corsa geparkt hatte.
»Die Kleine ist noch nicht so weit. Schüchtern ist sie«, glaubte Violet zu verstehen, als Orla die Tür aufmachte und im Wagen verschwand.
Violet hätte gerne noch mehr gefragt, aber Orla rief: »Fahren Sie mir einfach nach«, und warf die Autotür zu.
Mit gemischten Gefühlen stieg Violet in ihr eigenes Auto ein, startete den Motor und folgte dem weißen Geländewagen der Frau.
Genauso mysteriös wie die Anrufe war auch dieser Empfang in Killindaly. Etwas unheimlich sogar. Woher hatte Orla Noonan gewusst, wann und wo sie Violet abholen sollte?
Zwar hatte Violet dem Mädchen versprochen, dass sie kommen würde, aber damit hatte es doch keine Garantie gehabt, dass sie am nächsten Tag schon in Killindaly auftauchen würde.
Wenn die Kleine mit Violets Podcast und Blog vertraut war, dann hatte sie zwar Grund zur Annahme gehabt, dass die taphophile Grabkünstlerin sich früher oder später zum Friedhof hingezogen fühlte. Aber trotzdem …
Violet konnte es sich nur so erklären, dass ihr Auto mit dem englischen Kennzeichen im Ort aufgefallen sein musste, als sie dort herumgekurvt war. Vielleicht hatte sich ihre Ankunft so herumgesprochen … Dann war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass Orla sie fand …
Bald musste Violet die Spekulationen aufgeben, denn ihre ganze Konzentration wurde benötigt, um dem weißen Geländewagen zu folgen. Orla durchfuhr die schmalen, unübersichtlichen Straßen und Feldwege schnell und geschickt. Violet hatte Mühe, die roten Rücklichter nicht aus den Augen zu verlieren. Sie wäre gerne vorsichtiger gefahren.
Als Orla endlich anhielt, klopfte Violets Herz bis zum Hals. Sie war überrascht, die Strecke heil überstanden zu haben.
Beim Fahren hatte sie ihrer Umgebung kaum Beachtung schenken können. Ihr war lediglich aufgefallen, dass sie sich noch weiter ab vom Schuss befanden, als der Ort sowieso schon war. Die Häuser in Killindaly standen nicht dicht beieinander, aber als sie jetzt aus dem Auto ausstieg, konnte sie gar keine weiteren Behausungen außer dem Cottage vor ihr erkennen. Andererseits war es schon halbdunkel und die sanften Hügel der Moorlandschaft auf der einen und die Bäume auf der anderen Seite versperrten ihr vielleicht die Sicht.
Ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, ging Orla voraus und schloss die Tür des winzigen Cottages auf.
Violet folgte ihr und spähte skeptisch ins Innere des Häuschens, nachdem Orla das Licht angemacht hatte.
»Das soll meine Unterkunft sein?«, fragte sie ungläubig.
»Ja, genau.«
Violet machte einen Schritt hinein. Sie befand sich in einem Raum, der gleichzeitig Küche und Wohnzimmer war. Hinter der einzigen Tür vermutete sie ein Bad. Die schmale, steile Treppe führte in den Dachstock – und Violet konnte von ihrem Standort aus erkennen, dass dort nicht viel mehr als ein Bett unter niedrigen Dachschrägen stand.
Das Häuschen war urig und charmant, so wie man sich ein einfaches irisches Feriencottage vorstellte. Auch wenn Violet irgendwie erwartet hatte, dass Orla sie zu einem B&B führen würde, gab es natürlich nichts dagegen einzuwenden, stattdessen in einer Ferienhütte untergebracht zu werden.
Doch Violet konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie in einen Privatbereich eingedrungen war, und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, warum sie es so empfand.
Nippes und Dekogegenstände, wie sie hier auf Fensterbänken, dem Couchtisch und den Beistelltischen zu sehen waren, fand man zwar auch in Urlaubsunterkünften, aber was es dort meist nicht gab, waren Fotos von Personen. Landschaftsaufnahmen, Kunstdrucke, Fotos von örtlichen Sehenswürdigkeiten, das schon.
Aber Schnappschüsse von Menschen?
Violet nahm einen Bilderrahmen vom Beistelltisch und betrachtete das Foto. Darauf zu sehen war ein junges, hübsches Mädchen mit großen braunen Augen und blonden Haaren. Sie hatte den Arm um die Schulter einer Frau gelegt, die zwar eher ein dunkler Typ war, ansonsten dem Mädchen aber genug ähnelte, dass man eine Verwandtschaftsbeziehung vermuten konnte. Vielleicht waren es sogar Mutter und Tochter.
Violet stellte das Bild wieder hin.
Orla war unterdessen in die Küche gegangen und hatte ein paar Schränke aufgemacht.
»Die kleine Broderick hat gemeint, es wären ausreichend Lebensmittel da. Ach, ja, sehen Sie.« Orla zeigte auf die Schrankinhalte und machte den Kühlschrank auf. Zufrieden nickte sie. »Sie sind bestens versorgt.«
»Ähm, ich weiß nicht, Mrs Noonan«, Violet schaute sich unbehaglich um. »Ich habe das Gefühl, dass hier schon jemand wohnt und ich verstehe nicht ganz …«
»Die Bewohnerin ist auf unbestimmte Zeit verreist«, unterbrach Orla sie. »Das ist schon okay.«
»Aber es fühlt sich für mich nicht so ganz richtig an, so als ob ich hier störe.« Ihr Blick ging zu dem Foto auf dem Beistelltisch und dann zu weiteren Bildern mit dem blonden jungen Mädchen, die an den Wänden hingen.
»Die Familie hat die Sachen einfach noch nicht abgeholt, das ist alles. Keine Sorge, ich habe natürlich das Bett neu bezogen und frische Handtücher hingelegt. Das ist alles in Ordnung so und das Broderick-Mädchen wird über kurz oder lang sicher Verbindung mit Ihnen aufnehmen.«
Violet gefiel nicht, dass alles so ominös blieb. Sie wünschte sich, dass sie endlich erfuhr, warum sie hier war. Und nach ihren Erfahrungen in Schottland hatte sie keine Lust, in einem abgelegenen Cottage zu übernachten, in dem sie sich nicht wohlfühlte.
Sie war hergekommen, wie sie es versprochen hatte, um dem Mädchen zu helfen. Es schien wenigstens nicht in unmittelbarer Gefahr zu schweben, so wie die völlig unaufgeregte Orla Noonan von »der kleinen Broderick« sprach.
Das Gefühl drängte sich Violet auf, dass sie an der Nase herumgeführt wurde. Sie drückte den Rücken durch und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie war bereit, für das Mädchen, das sie brauchte, da zu sein, aber das würde zu ihren eigenen Bedingungen geschehen. Zumindest so lange, bis sie endlich klipp und klar erfuhr, was Sache war.
»Nichts für ungut, Mrs Noonan, aber ich glaube, ich würde mich in einem B&B wohler fühlen. Es ist lieb von dem Mädchen, dass es mir eine Unterkunft besorgen wollte, aber ich habe kein Problem, für ein eigenes Zimmer zu zahlen – das würde ich bevorzugen. Wenn Sie mich also in die Richtung einer Pension oder so weisen könnten …«
»Das gibt es hier nicht, Schätzchen.« Orla lachte heiser.
»Was?« Violet hielt Galway für eine typische Touristenregion, in der es doch von B&Bs nur so wimmeln sollte.
»Nein, nach Killindaly kommen keine Urlauber. Hier gibt es ja nichts außer dem Moor und Kuhwiesen. Sie müssten mindestens bis nach Athenry fahren, um eine Pension zu finden.«
»Ach so.« Unsicher schaute Violet aus dem Fenster. Es war schon dunkel, und obwohl Athenry nicht so weit entfernt lag, war sie schließlich extra hergekommen, um in Killindaly das Mädchen zu treffen. Violet hatte das ungute Gefühl, dass sich die Klärung dieser Situation noch weiter verzögern würde, wenn sie den Ort jetzt wieder verließ. Orla schien nicht geneigt, ihr die Kontaktdaten des Broderick-Mädchens zu geben, so vage, wie sie sich ausdrückte. Violet überlegte, ob sie einfach diese Nacht hierbleiben und dem Mädchen damit noch bis morgen Zeit geben sollte, um sich zu erklären.
Für Orla Noonan schien die Angelegenheit entschieden zu sein und sie war schon aus der Tür.
»Also, machen Sie es gut …«
»Moment«, rief Violet ihr hinterher. »Wo finde ich Sie denn? Falls etwas wäre?«
»Ach so. Na, ich bin die Haushälterin von Raford House«, antwortete Orla, so als müsste sie sonst nie vorbringen, wer sie war. »Das ist das große Gebäude am Ende des Weges, der am Cottage entlangführt. Sie können es nicht verfehlen. Mein Mann und ich, wir wohnen im Nebengebäude rechts vom Haus. Kommen Sie ruhig vorbei, wenn Sie etwas brauchen.«
»Okay, dann …«
»Schönen Abend noch.«
Orla hatte die Tür schon hinter sich zugemacht, als Violet ihr dasselbe wünschte.
Unschlüssig schaute Violet ihr nach, ging dann die zwei Schritte, die in den Küchenbereich führten, und machte den Kühlschrank auf. Ihr Magen fing an zu knurren, als sie die Lebensmittel darin sah.
Nachdem sie sich den ganzen langen Tag nur von Snacks ernährt hatte, könnte sie eine richtige Mahlzeit vertragen.
Sie nahm den Schlüssel, den Orla auf den Tresen gelegt hatte, holte ihre Sachen aus dem Auto und schloss die Cottagetür hinter sich ab.