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Ein verschollenes Manuskript, ein betrügerisches Medium – und eine Gabe, die zur Besessenheit wird …
Als Violet Grave auf den Roman des viktorianischen Spiritisten William Delaney Byrne stößt, ahnt sie nicht, dass jede Seite ein Teil ihrer eigenen Familiengeschichte ist. Um die Wahrheit über ihre Ahnin Cora zu finden, reist Violet zum Landsitz der Byrne-Erben – und gerät zwischen staubige Archive, geheime Séancen und ein Komplott, das seit mehr als 100 Jahren rumort.
Ein selbsternanntes Medium bietet Hilfe an, während David Bennett sie vor einem raffinierten Schwindel warnt. Doch je tiefer Violet gräbt, desto lauter flüstert Cora aus dem Dunkel –
• Viktorianischer Spiritismus, verschwundene Medien & geheimnisvolle Romane
• Paranormaler Mystery-Thriller mit Female-Sleuth-Spannung
• Ahnengeheimnis, gefährliche Séancen und eine Heldin am Rand des Wahnsinns
Ist Violets Gabe Geschenk oder Fluch – und welchen Preis ist sie bereit zu zahlen, um es herauszufinden?
GRABSÜCHTIG – der dritte Violet-Grave-Mystery-Thriller. Jetzt lesen!
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Felicity Green
Grabsüchtig
Ein Violet-Grave-Mystery-Thriller
© Felicity Green, 2. Auflage 2025
www.felicitygreen.com
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: CirceCorp, circecorpdesign.com
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Taschenbuch ISBN: 978-3-76935-707-3
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Kapitel sechs
Kapitel sieben
Kapitel acht
Kapitel neun
Kapitel zehn
Kapitel elf
Kapitel zwölf
Kapitel dreizehn
Kapitel vierzehn
Kapitel fünfzehn
Kapitel sechzehn
Kapitel siebzehn
Kapitel achtzehn
Kapitel neunzehn
Kapitel zwanzig
Kapitel einundzwanzig
Kapitel zweiundzwanzig
Kapitel dreiundzwanzig
Kapitel vierundzwanzig
Kapitel fünfundzwanzig
Kapitel sechsundzwanzig
Kapitel siebenundzwanzig
Kapitel achtundzwanzig
Kapitel neunundzwanzig
Kapitel dreißig
Kapitel einunddreißig
Kapitel zweiunddreißig
Kapitel dreiunddreißig
Kapitel vierunddreißig
Kapitel fünfunddreißig
Weihnachtsgrab Leseprobe
Nachwort
Violet konnte sich nicht daran erinnern, wie sie vom Friedhof zurück zu ihrer Wohnung gekommen war.
Zitternd stand sie vor der Wohnungstür, unfähig, den Schlüssel aus der Tasche zu kramen, um die Tür aufzuschließen, als ein lautes Miauen sie aus ihrem Zustand riss.
»Luna«, flüsterte sie leise und ging in die Hocke, um ihre Katze zu streicheln. Lunas samtweiches schwarzes Fell und ihr Schnurren schienen eine beruhigende Wirkung zu haben.
Violet machte aufs Lunas Drängen hin endlich die Haustür auf und wurde sofort zum Napf in der Küche geleitet.
Während die Katze sich über ihr Frühstück hermachte, ging Violet auf leisen Sohlen zur Schlafzimmertür und öffnete sie vorsichtig einen Spaltbreit.
David lag friedlich schlafend im Bett, die Decke um seine Beine geschlungen. Es sah ganz danach aus, als hätte er ihre Abwesenheit nicht bemerkt.
Violet wünschte sich, sie könnte ihn einfach aufwecken und ihm alles erzählen. Doch etwas in ihr hielt sie davon ab.
Traurig zog sie sich wieder in den Wohn-Essbereich ihrer kleinen Wohnung zurück.
Sie bereitete sich einen Kaffee zu und setzte sich damit auf das Sofa, um das nahe Morgengrauen abzuwarten.
Statt sich mit dem auseinanderzusetzen, was auf dem Friedhof passiert war, dachte sie über ihre Beziehung mit David nach.
Es war von Anfang an schwierig gewesen, weil David seinen Lebensmittelpunkt in Dundee hatte, wo er an der Universität forschte. Violet, die in Brighton zu Hause war, hatte ganz sicher nicht vor, nach Schottland zu ziehen.
Dann waren sie auch noch so unterschiedlich. David war ein Wissenschaftler durch und durch. Und Violet mit ihrer übernatürlichen Gabe stellte einen Widerspruch zu seiner Weltanschauung dar.
Irgendwie hatten sie trotzdem nicht aufgegeben, obwohl Violet ihr Bestes gegeben hatte, David abzuschrecken, und er sie regelrecht provoziert hatte, sich mit ihren inneren Dämonen zu befassen.
Erst gestern, nach dem Skype-Telefonat mit ihrer Familie, zu dem David sie gedrängt hatte, hatten sie ein richtig gutes, Nähe schaffendes Gespräch gehabt.
Doch was Violet gerade am Grab ihrer Mutter erfahren musste, war zu frisch und zu persönlich, um mit David darüber zu sprechen. Sie wollte erst für sich selbst herausfinden, was es bedeutete.
In wenigen Stunden wollte David wieder abreisen, und Violets Geheimnis würde über ihrer Beziehung hängen wie ein Damoklesschwert.
»Hey, bist du schon wach?«
Violet zuckte zusammen und schaute in Richtung Schlafzimmertür. David stand dort in Unterhose und mit zerzausten Haaren.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich konnte nicht mehr schlafen und hab mir schon einen Kaffee gemacht. Möchtest du auch einen?«
»Unbedingt«, sagte David gähnend und machte sich auf den Weg ins Bad. »Immer diese frühen Flüge der Billig-Airlines. Doch ich will sie nicht verfluchen, denn dank ihnen kann ich es mir leisten, so oft für Kurztrips nach Brighton zu kommen.«
David verschwand im Badezimmer und Violet ging mit ihrer Tasse in die Küche. Sie kippte den mittlerweile kalten Kaffee in die Spüle und schenkte sich neuen ein. Sie holte eine zweite Tasse aus dem Schrank und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster.
Nachdem sie die mit Butter und Orangenmarmelade bestrichen hatte, kam David gerade in die Küche. Er hatte seine braunen, lockigen Haare mit Gel gezähmt.
Violet reichte ihm die Tasse Kaffee. Seine blauen Augen funkelten, als er sie dankbar anlächelte. David hatte die Tendenz, grüblerisch und grimmig dreinzuschauen, besonders wenn er im Arbeitsmodus war. Bei ihren ersten Begegnungen hatte Violet ihn deshalb für arrogant gehalten. Doch mittlerweile verstand sie, dass es ein Schutzmechanismus war. David wollte auf der Arbeit von Kollegen ernst genommen und von Studentinnen nicht angehimmelt werden.
Mittlerweile hatte David für Violet überwiegend sein zauberhaftes Lächeln übrig.
Violet wünschte sich jetzt fast den anmaßenden, wertenden David zurück, den sie vor einigen Monaten am Loch Laggandhu kennengelernt hatte. Das würde es um einiges einfacher machen.
David nahm einen Bissen von seinem Toast und verzog das Gesicht.
»An deine geliebte Orangenmarmelade kann ich mich nicht so richtig gewöhnen«, sagte er, als er aufgekaut hatte. »Sie ist mir einfach eine Spur zu bitter. Das nächste Mal, wenn ich hier bin, kaufe ich Erdbeer oder Himbeer.«
»Das lohnt sich doch nicht. Die wird nur schlecht, wenn sie hier monatelang unbenutzt herumsteht«, sagte Violet, ohne nachzudenken.
David reagierte eher amüsiert als beleidigt. »Das heißt, du hast vor, öfter mal nach Schottland zu kommen, statt dass ich immer nach Brighton fliege? Das freut mich. Na ja, wie du weißt, steht in meinem Kühlschrank schon länger ein unangebrochenes Glas feinster Orangenmarmelade.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Violet wurde rot und beschäftigte sich damit, ihren Teller in die Spüle zu stellen, obwohl sie kaum etwas gegessen hatte. »Wir sollten fahren.«
David war einen Moment lang still. Weil Violet ihm den Rücken zukehrte, wusste sie nicht, ob er mit Kaffeetrinken oder Essen beschäftigt war oder ob er gemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte.
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich hole meine Reisetasche.«
Bis zu ihrer Ankunft am Flughafen Gatwick war David auf jeden Fall darauf gekommen, dass mit Violet etwas los war.
»Ist alles okay? Beschäftigt dich das Telefonat noch?«
»Äh, schon …« Violet fand eine Lücke zwischen zwei Autos auf dem Parkdeck und konzentrierte sich auf das Einparken.
Sie war im Begriff, sich abzuschnallen und auszusteigen, als David ihre Hand nahm.
»Violet«, sagte er sanft. »Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt. Nach unserem Gespräch gestern Abend hatte ich das Gefühl, du kommst gut mit dem klar, was dein kranker Großvater gesagt hat. Aber wenn du noch mal darüber sprechen möchtest …«
Violet musste schlucken, als sie sich lebhaft daran erinnerte, wie der alte Mann sich vorgebeugt, mit den intensiven dunklen Augen in die Kamera gestarrt und sie vor dem Unsegen gewarnt hatte. Streng genommen hatte er Maribel, ihre Mutter, für die er Violet hielt, angesprochen. Und ob es eine Warnung gewesen war, wusste sie auch nicht, weil er spanisch gesprochen hatte, doch es hatte sich so angehört. Und nach dem, was sie am Grab ihrer Mutter gesehen hatte …
»Violet«, riss David sie aus den Gedanken. »Bitte, so rede doch mit mir. Verschließ dich nicht schon wieder. Wenn da etwas ist …«
Sie gab sich große Mühe, gelassen zu klingen. »Es ist überhaupt nichts. Ich bin einfach müde. Außerdem können wir jetzt nicht reden, denn du musst los, um deinen Flieger zu erwischen.«
Davids Blick ging zu der Digitalanzeige am Armaturenbrett. Er ließ Violets Hand los, lehnte sich in seinen Sitz zurück und rieb sich frustriert das Gesicht. »Du hast recht, ich muss zum Gate.«
Er stieg aus und Violet atmete einmal tief durch, bevor sie ebenfalls das Auto verließ.
Sie sprachen kein Wort miteinander, bis sie die Schranke erreicht hatten, die man nur mit Flugticket passieren durfte.
Violet setzte ein Lächeln auf. »Danke noch mal, dass du extra hergekommen bist, um mir bei dem Telefonat zur Seite zu stehen.«
David zog die Brauen zusammen. »Dafür musst du mir nicht danken. Für einen Partner ist das selbstverständlich.«
Violet nickte nur unsicher. Das Schweigen zog sich zu lange hin.
David schüttelte kaum merklich den Kopf. »Okay, also, ich muss.«
»Ja, ähm … bis bald. Wir … telefonieren?«
David sah sie einen Moment lang mit einem merkwürdigen Ausdruck in den tiefblauen Augen an. »Ja. Wenn du bereit bist, mit mir zu reden … Ich warte auf deinen Anruf.«
Violet musste wegschauen, sodass Davids Abschiedskuss lediglich ihre Wange streifte.
»Tschüss, hab einen guten Flug«, sagte sie und eilte hinaus, bevor er die Tränen in ihren Augen sehen konnte.
Als sie wieder im Auto saß, schlug sie wütend mit beiden Händen auf das Lenkrad.
Mit quietschenden Reifen fuhr sie vom Parkdeck und musste sich arg auf den starken Verkehr um den Flughafen konzentrieren.
David war ein toller Mann, der schon viel zu viel Geduld mit ihr gehabt hatte. Sie könnte es ihm nicht verdenken, wenn er ihr jetzt endgültig den Laufpass gab. Das ständige Auf und Ab, das bislang ihre »Beziehung« gewesen war, war eigentlich niemandem zuzumuten.
Trotzdem bereute sie nicht, ihm ihren nächtlichen Ausflug auf den Friedhof verschwiegen zu haben.
Es war einfach nichts, über das sie jetzt sprechen konnte – weder mit David noch mit sonst wem.
Dafür war es zu … frisch.
Es wäre schön gewesen, wenn sie das David irgendwie hätte erklären können. Er hätte sicher verstanden, dass sie es erst mit sich selber ausmachen musste. Doch er wusste über die Bedeutung eines Grabbesuchs Bescheid. Sie hatte ihm erzählt, dass sie seit der Beerdigung ihrer Eltern vor achtzehn Jahren nicht mehr dort gewesen war. Einerseits aus Angst, was sie dort erleben würde, was ihre Mutter und ihr Vater ihr durch den Grabstein mitteilen könnten … sie fühlte sich immer noch zu verwundbar dafür. Sie hatte es auch vermieden, weil sie keine Ahnung hatte, was durch ihre besondere Gabe wiederum der begrabenen Person vermittelt wurde. Konnten ihre Eltern spüren, wie traumatisiert ihre Tochter auch Jahre nach dem Unfall noch war? Bekamen sie womöglich auf irgendeine Art und Weise mit, dass Violet aufgrund ihrer Verletzungen nie Kinder bekommen und mit ihr die Familie aussterben würde? Wenn der Grabstein für Violet eine Verbindung zur Vergangenheit war, konnte er für Verstorbene durch sie als Verknüpfung zur Zukunft dienen.
Violet wollte ihre Eltern davor beschützen, zu erfahren, dass es mit Violet keine Zukunft gab.
Selbstverständlich hatte sie immer noch keine Ahnung, ob oder was sie den Begrabenen vermittelte.
Aber was die erste Annahme anging, hatte sie recht behalten.
Die Bilder und Gefühle, die sie am Grabstein ihrer Mutter überrollt hatten, erschütterten sie bis in ihr tiefstes Innerstes.
Wieder zu Hause begab sich Violet direkt in ihre Werkstatt.
Das Nebengebäude war der Grund, warum sie die winzig kleine Wohnung überhaupt gemietet hatte.
Durch eine Tür in der Küche konnte sie direkt den geräumigen alten Schuppen, den sie als Arbeitsplatz hergerichtet hatte, betreten.
Hier stellte sie die Grabsteinreproduktionen her, mit denen sie hauptsächlich ihren Lebensunterhalt verdiente.
In letzter Zeit hatte sie jedoch ausschließlich an ihrem Podcast Grave Secrets gearbeitet. Ein Aufenthalt in Irland vor ein paar Wochen hatte ihr Material für eine neue Podcast-Staffel geliefert. Die ersten drei Episoden waren schon veröffentlicht und ein enormer Erfolg.
Violets Erleichterung war ebenso groß, denn seit ihrer beliebten Reihe über die Ereignisse in der ehemaligen Nervenheilanstalt am Loch Laggandhu war ihre Zuhörerschaft von Episode zu Episode geschwunden. Sie hatte schon Angst gehabt, dass die tollen Sponsoren, die sie mit der Laggandhu-Staffel gewinnen konnte, wieder abspringen würden.
Doch die Irland-Serie über ein Mooropfer, dessen Geschichte Violet erforscht hatte, schien noch beliebter zu werden.
Beinahe alle Folgen waren bereits produziert. Gerade gestern hatte sie neue Informationen bekommen, einen alten Brief, der das letzte Rätsel löste. Damit würde sie einen krönenden Abschluss zu der Serie liefern.
Aber es machte nichts, wenn sie sich damit etwas Zeit ließ – die letzte Episode würde nicht vor Mitte Oktober, also in gut sechs Wochen erscheinen.
Violet war nicht nur Historikerin, Expertin in viktorianischer Grabikonografie und Bloggerin und Podcasterin. Sie nannte sich auch Grabkünstlerin, und ihre Reproduktionen von interessanten Grabsteinen boten für sie einen nötigen Ausgleich zu der Kopfarbeit, die sie sonst leistete. So sehr sie ihre Recherchen liebte, so sehr war es ihr auch ein Bedürfnis, etwas mit den Händen zu erschaffen.
Nach der intensiven Arbeit an den Podcast-Folgen und der ganzen Grübelei zu den Eindrücken am Grabstein ihrer Mutter fühlte Violet jetzt den Sog ihrer Werkzeuge und Arbeitsmaterialien.
Sie hatte in Irland Abklatsche von keltischen Grabkreuzen genommen, die sich großer Beliebtheit erfreuten. Sie beschloss, aus diesen Formen endlich Reproduktionen zu erstellen, von denen sie wusste, dass sie sich sehr gut über ihren Webshop verkaufen würden. Besonders, da sie Irland in ihrer aktuellen Podcast-Reihe thematisierte, würde die Zahl der Aufträge in die Höhe schießen.
Violet stürzte sich in die Arbeit und war so darin vertieft, dass sie erst merkte, wie viel Zeit vergangen war, als ihr leerer Magen irgendwann demonstrativ knurrte.
In der Küche wusch sie sich die Hände im Spülbecken und aß im Stehen einen Apfel und eine halbe Packung Kekse.
Wenn sie sich jetzt hinsetzte, dann hätte sie auch genug Zeit und Muße, das Telefon in die Hand zu nehmen und Davids Nummer zu wählen. Der war mittlerweile zu Hause angekommen und wartete sicher auf ihren Anruf.
Stattdessen machte Violet mit der Arbeit in der Werkstatt weiter, bis sie völlig erschöpft Feierabend machte. Zu spät am Abend, fand sie, um noch jemanden anzurufen.
Sie schaffte es gerade noch, Fertig-Baguettes in den Ofen zu schieben, Luna zu füttern und sich unter die heiße Dusche zu stellen. Beim Essen der Baguettes vor dem Fernseher schlief sie trotz Hunger fast ein und ließ die Hälfte auf ihrem Teller liegen. Sie schob Luna von ihrem Schoß und torkelte ins Schlafzimmer.
Das Kopfkissen duftete noch nach David. Missmutig drehte sie es um.
Obwohl sie gerade eben noch hundemüde gewesen war, schlief sie nicht sofort ein. Sie warf sich ein paar Mal hin und her, bevor sie sich wieder hochrappelte.
In ihrer Handtasche, die sie auf der Fahrt zum Flughafen mitgenommen hatte, fand sie ihr Handy. Am Mittag hatte David eine SMS geschrieben, dass er gut angekommen war.
Violet kaute auf ihrer Unterlippe herum, schrieb etwas, löschte es wieder und sendete dann endlich die Mitteilung: »Schön, danke für die Nachricht. Sorry, hab den ganzen Tag in der Werkstatt gearbeitet und die Zeit vergessen. Bis bald.«
Sie schloss das Handy ans Ladekabel an und ging wieder ins Schlafzimmer. Auf ihrem E-Reader entdeckte sie einen amüsanten und seichten Cosy-Krimi. Nach ein paar Seiten war Violet eingeschlafen.
Im Traum fand sie sich auf dem Friedhof wieder, den sie in der vorherigen Nacht besucht hatte.
Die Grabsteine erkannte sie nicht sofort wieder, aber es herrschte die gleiche Atmosphäre. Der volle Mond tauchte Gräber, Gras und Pflanzen in ein silbernes Licht. Die meisten anderen nächtlichen Friedhofsbesucher hätten den Anblick wohl unheimlich gefunden. Doch Violet waren diese Schattierungen und die in dem Licht veränderte Tiefenwahrnehmung vertraut. Sie fühlte sich sicher und aufgehoben – auf bekanntem Terrain.
Sie wanderte zwischen den Kreuzen, Platten und Skulpturen umher, bis ihr Blick auf die Inschrift fiel, die sie gesucht hatte.
Maribel Thorne
1956 – 2001
Simon Thorne
1954 – 2001
Der Stein war schlicht und es gab weder einen Grabspruch noch ein Symbol, was dem Stein eine persönliche Note verliehen hätte. Violet hatte damals nichts mit den Entscheidungen über die Beisetzung oder das Grabmal zu tun gehabt. Nach dem Unfall, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren, hatte sie noch im Krankenhaus gelegen.
Sie wusste nicht mehr, wer ihr das sagte, doch sie erinnerte sich vage, dass ihre Eltern Anweisungen und Geld für eine Bestattung hinterlassen hatten. Es war Maribel offensichtlich wichtig gewesen, im Falle ihres Todes auf keinen Fall nach Spanien zu ihrer Familie überführt zu werden, sondern in einem Gemeinschaftsgrab mit ihrem Mann in England die ewige Ruhe zu finden.
Jemand aus der Familie Thorne, dem Violet noch nie zuvor und auch danach nicht wieder begegnet war, hatte die Wünsche des verstorbenen Paars in die Tat umgesetzt. Er verkaufte auch das Haus und die Besitztümer ihrer Eltern. Das war Violet erst richtig aufgegangen, als sie volljährig geworden war und von einem Anwalt kontaktiert wurde. Es hatte ein Konto auf ihren Namen gegeben, und das Geld sollte sie für ihre Ausbildung verwenden. Damit hatte Violet ihr Studium finanzieren können.
Damals, direkt nach dem Unfall, waren ihr diese rationellen und profanen Dinge gar nicht in den Sinn gekommen.
Sie hatte nicht klar denken können. Alles war so unwirklich gewesen.
Sie war nachts im Auto ihrer Eltern auf der Rückbank am Einschlafen, nachdem sie bei einem Konzert ihrer Mutter hatte dabei sein dürfen. Das Gespräch ihrer Eltern drang kaum zu ihr durch – ihr Vater warnte Maribel, dass sie vorsichtig sein sollten, weil »er« im Begriff war, sie zu finden. Ihre Mutter insistierte, dass nichts passieren würde und dass sie frei war. Dann wurde darüber gesprochen, dass sie verfolgt wurden und …
Violet wachte im Krankenhaus unter Schmerzen auf. Sie war allein und Fremde berichteten ihr, dass ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Hässliche Wunden verunzierten ihren Bauch und fühlten sich an, als würden sie nie wieder heilen.
Bekannte ihrer Eltern holten Violet aus dem Krankenhaus ab und ließen sie sich in ihrem Haus für die Beerdigung umziehen. Dort standen auch zwei Koffer und eine große Kiste mit dem, was aus Violets vorherigem Leben übrig geblieben war. Dinge, die von Kinderheim zu Pflegefamilie zu Pflegefamilie immer weniger wurden.
Während der Beerdigung ihrer Eltern schien Violet aus Stein zu bestehen, wie die Gräber um sie herum. Sie fühlte sich diesen harten Gesteinsblöcken, in die mit Hammer und Meißel Wörter und Symbole gehauen worden waren, um einiges näher als den Menschen aus Fleisch und Blut, die um sie herum Tränen vergossen.
Violet konnte nicht weinen. Sie konnte gar nichts fühlen, denn es war ihr unbegreiflich, dass ihre Eltern tot unter der Erde liegen sollten.
Vielleicht deshalb begann sie später andere Friedhöfe und andere Gräber zu besuchen, weil sie sich an den Gedanken gewöhnen wollte. Dort entdeckte sie ihre ungewöhnliche Gabe.
Doch auf diesen Friedhof, zu den Gräbern ihrer Eltern, war sie nie zurückgekehrt – bis zur vergangenen Nacht.
Jetzt, im Traum, erlebte sie erneut die Welle der Trauer, die sie umhaute, als sie den quadratischen Stein aus schwarzem Marmor mit der schlichten Inschrift sah.
Die Namen waren so vertraut und gleichzeitig doch irgendwie fremd. Schließlich hatte sie beide nur als Mama und Papa gekannt. Ihre Mutter war als Pianistin Belle Thornton aufgetreten, der Papa nannte sie stets Mari. Erst gestern hatte Violet bewusst den Namen Maribel wahrgenommen, als der demente Großvater sie so angesprochen hatte, im Glauben, sie sei seine Tochter.
Die Distanz fühlte sich vielleicht noch größer an, weil Violet ihren Namen geändert hatte. Noch zu Uni-Zeiten gab sie sich den Künstlernamen Grave, weil sie fand, dass ihr gebürtiger Name Violet Belle Thorne besser zu einer Südstaaten-Debütantin passte als zu ihr. Nach vier Jahren als Fremde in diversen Pflegefamilien hatte sie selber bestimmen wollen, wer sie war. Sie fühlte sich nirgends zugehörig, aber auch längst nicht mehr als die Violet Thorne, die sie einmal gewesen war.
Nachdem die Trauer durch Violet hindurchgeflutet war und sie zitternd all ihren Mut zusammennahm, um ihre Hand auf den Stein zu legen, herrschte ein Durcheinander an Emotionen in ihr. Sie befürchtete, vielleicht nicht ertragen zu können, etwas von ihren Eltern direkt vermittelt zu bekommen. Sie hatte die irrationale Angst, der Kontakt könnte die Wunden wieder aufreißen, innen wie außen, und sie würde an diesen Verletzungen sterben, blutend, hier auf dem Grab ihrer Eltern – so wie sie vielleicht am Unfallort mit ihnen hätte sterben sollen.
Gleichzeitig wollte sie auch nichts von sich preisgeben. Sie wollte ihren Eltern die Enttäuschung ersparen, wenn sie sahen, was aus Violet geworden war.
Was sie dennoch davon abhielt, wieder wegzulaufen, war ein gewisses Maß an Neugier. Ihre Eltern waren ein Teil von ihr, den sie verloren hatte, doch gleichzeitig kannte sie sie gar nicht. Wer seid ihr, Maribel und Simon Thorne?
Im Traum berührte sie den kühlen, glatten Stein, wie sie ihn in der vorigen Nacht berührt hatte.
Sie spürte es wieder, genauso stark, nein, vielleicht noch intensiver in dieser Traumversion: auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, auf unerträgliche Schmerzen oder eine Erleuchtung, die sie umbringen könnte. Ja, sie war bereit, tausend Tode zu sterben für diesen Kontakt, den sie so lange vermieden hatte und den sie jetzt, endlich, wagte.
Und da war sie, sie spürte sie. Violet wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.
Ihre Mutter, Mama, Belle, Mari, Maribel …
Sie zeigte sich ihr mit ihren großen braunen, leuchtenden Augen, mit den tiefen Grübchen und den kurzen, blond gefärbten Haaren. Wie sie am Klavier saß und ihr Publikum mit Musik verzauberte, die aus ihren langen, eleganten Fingern zu strömen schien. Es war ihre Mutter an einem sehr guten Tag und Violet war so froh, dieses Bild zu sehen, und nicht eines, auf dem Mari apathisch am Fenster saß und hinausstarrte, weil sie laut dem Vater Pause von der Musik in ihrem Kopf brauchte.
Dann wechselte das Bild zu einer jüngeren Version von Maribel – die Haare ganz natürlich braun und lang – und Violet machte sich gefasst darauf, etwas zu erfahren, das sie noch nicht wusste. Sie war gespannt, was ihre Mutter ihr zeigen wollte und fürchtete sich auch ein bisschen davor, ihren Großvater in dieser Vision zu sehen. Der hatte seine Tochter schließlich kontrollieren wollen und sie »zu ihrem eigenen Besten« bis nach England, ja, bis in ihren Tod verfolgen lassen.
Grabsteine vermittelten Violet gemeinhin die Geschichte der darunter Begrabenen, weil die noch nicht zu Ende erzählt worden war. Maribel war vor ihrem eigenen Vater weggelaufen und war gestorben, weil er sie um jeden Preis wieder in eine Anstalt stecken wollte – die Vermutung lag nahe, dass ihre Mutter Violet etwas über ihren Vater erzählen würde.
Doch der Großvater – oder eine jüngere Version von ihm – zeigte sich nicht, nur die junge Maribel. War sie es überhaupt? Je länger Violet das Bild der braunhaarigen Frau betrachtete, desto unsicherer wurde sie. Irgendwie sah sie doch nicht ganz so aus wie ihre Mutter. Die Augen waren gleich und auch die Gesichtsform … Aber sie hatte keine Grübchen.
Gerade als Violet das erkannt hatte, wechselte das Bild wieder … zu einer anderen Frau.
Verwirrung machte sich in Violet breit. Warum zeigte ihr ihre Mutter diese fremden Personen?
Bevor sie das enttäuschende Ende ihres Erlebnisses am Grab ihrer Eltern im Traum wieder erleben konnte, wurde Violet aus dem Schlaf gerissen.
Sie schreckte hoch, als sie ein plötzliches Gewicht auf ihrer Brust spürte.
Es war bloß Luna, die auf ihr Bett gesprungen war, und jetzt ein irritiertes Miauen von sich gab.
Violet setzte sich richtig auf, schob sich die langen Haare aus dem Gesicht und kraulte die Katze am Nacken. Als die zufrieden schnurrte, hatte sich auch Violets rasendes Herz wieder beruhigt.
Sie war eigentlich dankbar, dass Luna sie so abrupt aufgeweckt hatte.
Schließlich hatte sie den ganzen gestrigen Tag erfolgreich vermieden, über den Grabbesuch nachzudenken. Ihr Unterbewusstsein musste sich wohl im Schlaf dagegen gewehrt haben, die unangenehme Erfahrung zu unterdrücken. Aber Violet war froh, sie nicht noch mal ganz bis zum Ende erneut erleben zu müssen.
Ein Blick auf die Digitalanzeige des Weckers sagte ihr, dass es gerade fünf Uhr morgens war. Sie beschloss aufzustehen und machte sich eine große Thermoskanne Kaffee. Damit ging sie in die Werkstatt und arbeitete an ihren Grabsteinreproduktionen weiter.
Gegen zehn Uhr machte sie eine Pause und bereitete sich eine riesige Portion Rührei mit Speck zu.
Gerade, als sie die verputzt hatte und den Teller in die Spüle stellte, ertönte das Eingangssignal einer Nachricht auf ihrem Handy.
Violet zögerte, weil sie dachte, David hätte ihr geschrieben, und sie hatte keine große Lust, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Doch das Handy hing immer noch am Ladekabel und sie sollte es sowieso abkoppeln. Als sie es einmal in der Hand hielt, war die Versuchung, kurz ihre Nachrichten zu checken, zu groß.
Es war nicht David, der sich gemeldet hatte, sondern ihre Cousine Verónica. Überrascht las Violet, was sie geschrieben hatte: Etwas ist passiert. Können wir kurz skypen?
Violets Herz klopfte laut, als sie Ja klar. Jetzt? zurückschrieb und ihren Laptop aufklappte.
Ihr Mund war auf einmal ganz trocken und sie ließ sich die haarsträubendsten Szenarien durch den Kopf gehen. Was konnte bloß geschehen sein?
Kaum ertönte der Klingelton, klickte Violet auch schon auf »Anruf annehmen«.
Das Gesicht ihrer Cousine erschien auf dem Bildschirm. Verónicas Augen waren rot umrändert, so als ob sie geweint hatte. Violet fiel auch auf, dass der bunte Modeschmuck, den die junge, lebhafte Marketing-Managerin üblicherweise trug, fehlte.
»Violet«, sagte Verónica. »Ich muss dir etwas Schreckliches berichten. Großvater ist gestorben.«
Violet glaubte, sich verhört zu haben.
Noch vor wenigen Tagen hatte Violet den Großvater gleich einem schrecklichen Dämon gefürchtet.
Kein Wunder, denn ihre erste und einzige Begegnung hatte am Tag der Beerdigung stattgefunden, an dem Violet es ohnehin so vorgekommen war, als wäre sie in einem surrealen Horrorfilm aufgewacht. Diese furchterregende Kreatur wie aus einem Albtraum hatte dazu gepasst.
Mit seiner großen, hageren Gestalt, den tief in den Höhlen liegenden, gefährlich glitzernden, dunklen Augen und dieser schrecklich dominanten Präsenz hatte er etwas Vampirisches an sich gehabt.
Und die Worte, die er nach der Bestattung ihrer Eltern an sie richtete, fühlten sich wie heißes Gift in ihren steinernen Adern an. Der Großvater gab Violets Vater die Schuld an dem Tod ihrer Mutter. In erstaunlich gutem Englisch, aber mit starkem Akzent sagte er kalt und barsch: »Simon Thorne hat Maribel entführt, aus einer Institution, in der man sich richtig um sie hätte kümmern können. Er hat seine Augen davor verschlossen, wie krank Maribel war. Eine psychische Krankheit, die bei ihr in der Familie liegt.«
Mit seinen stechenden Augen musterte er Violet, als würde er abschätzen, ob sie ebenfalls schon vom Irrsinn heimgesucht worden war.
»Meinen Vater trifft keine Schuld …«, stotterte Violet. Das Gespräch ihrer Eltern, das sie im Halbschlaf auf der Rückbank des Unfallwagens mitbekommen hatte, kam ihr wieder in den Sinn. »Du hast einen Privatdetektiv engagiert, um Mama zu finden«, beschuldigte sie ihren Großvater, plötzlich sicher, wie sich der Unfall zugetragen hatte. »Der hat uns verfolgt. Deshalb ist mein Vater zu schnell gefahren und von der nassen Küstenstraße abgekommen.«
Der Großvater zuckte mit den Schultern. »Dein Vater hat fahrlässig gehandelt. Ich hab sie suchen lassen, um sie zu retten, doch er war bereit, jeden Preis zu zahlen, um sie für sich zu behalten. Sogar ihren Tod.«
»Nein. Nein, das stimmt nicht«, protestierte Violet, doch der Großvater hatte sich schon abgewendet und hörte nicht mehr zu.
Nichts hatte sie an dem Tag mehr gefreut, als dass der grauenvolle Mann es ablehnte, sich um sie zu kümmern und mit nach Spanien zu nehmen.
Selbst während ihrer Zeit in der schlimmsten Pflegefamilie, in der dem Vater öfter die Hand ausrutschte, hatte sie nie lieber bei ihrer spanischen Familie sein wollen.
Über die Jahre war der Großvater in ihrer Erinnerung zu einem schrecklichen Monster mutiert, vor dem auch Violet sich besser verstecken sollte.
Als David sie quasi dazu zwang, sich mit der Familiengeschichte ihrer Mutter auseinanderzusetzen, und hinter ihrem Rücken ihre Cousine kontaktiert hatte, war Violet sehr wütend auf ihn gewesen. Und sie hatte eine wahnsinnige Angst gehabt.
So irrational es war, sie war davon überzeugt gewesen, der Großvater würde sie irgendwie finden, sie für verrückt erklären, einsperren lassen und entmündigen, wie er es mit ihrer Mutter gemacht hatte.
Erst ihre Erlebnisse in Irland hatten sie ihre Meinung ändern lassen. Die Familie Broderick aus Killindaly war in ihrer fiktiven Familiengeschichte gefangen gewesen, die eine Generation an die nächste weitergegeben hatte. Sie hatte sich damit das tragische Schicksal einiger ihrer weiblichen Familienmitglieder selber vorausgesagt.
Violet wollte nicht, dass ihr so etwas passierte. Sie war sich bewusst, dass das vierzehnjährige Mädchen, das sie damals gewesen war, aufgrund von Schock, Trauer und Einsamkeit eine Geschichte erfunden hatte, die vielleicht gar nicht stimmte. Sie wollte nicht ihr Leben lang vor etwas weglaufen, das vermutlich überhaupt nicht der Wahrheit entsprach. Am Ende hatte sie David recht gegeben: Es war besser, sich ihrer Vergangenheit – und ihrer spanischen Familie – zu stellen.
Dabei half, dass ihre Cousine Verónica wirklich sehr sympathisch war und sie sich mit ihr angefreundet hatte.
Dem Vorschlag, ein Skype-Telefonat mit ihrem Onkel, dem Großvater und seiner zweiten Frau zu führen, hatte Violet hauptsächlich auch deshalb zugestimmt, weil Verónica die Rolle der Vermittlerin einnehmen wollte.
Während des Videotelefonats offenbarte sich der Großvater als das Gegenteil der imposanten, gefährlichen Figur, an die sich Violet von der Beerdigung her erinnerte.
Er war sehr gealtert und wirkte klein und mager. Außerdem war er mittlerweile dement. Er sprach Violet erst gar nicht an und konnte sich anscheinend nicht mehr daran erinnern, der englischen Sprache mächtig zu sein.
Violet war zunächst sehr froh, dem Telefonat zugestimmt zu haben. Sie schämte sich sogar ein wenig, als der vermeintliche Dämon sich als harmloser alter Mann herausstellte.
Doch dann nannte der Großvater sie auf einmal Maribel und sagte etwas auf Spanisch, das Violet nicht verstand. Nur ein Wort, das mehrmals fiel, stach für sie heraus: maldición.
Verónica übersetzte es mit »Unsegen«. Anscheinend glaubte der Großvater tatsächlich, dass auf den weiblichen Mitgliedern der Familie eine Art Fluch lastete: eine psychische Krankheit, die von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde.
Violet wurde sehr unwohl, als sie das hörte, doch Verónica versicherte ihr, dass es sich lediglich um das Gerede eines senilen, abergläubischen Katholiken handelte. Sie wüsste von keinen weiteren psychisch kranken Frauen in der Familie. Und laut dem Onkel, einem jüngeren Bruder von Violets Mutter, war es auch gar nicht so schlimm um Maribel bestellt, wie der Großvater Violet hatte weismachen wollen. Sie war freiwillig in der Klinik gewesen, in der Simon Thorne als Gärtner gearbeitet hatte. Simon hatte sie garantiert nicht entführt – Maribel hatte sich selbst entlassen. Maribels Brüder wussten nicht, warum sich ihre Schwester nach dem Abschiedsbrief nie wieder meldete und sie hatten auch keine Ahnung gehabt, dass ihr Vater in England nach Maribel gesucht hatte oder gar bei ihrer Beerdigung gewesen war.
Laut Verónica war der Großvater der Einzige, der »einen Vogel« hatte.
Es war also alles wirklich gar nicht so dramatisch gewesen, wie Violet es sich all die Jahre ausgemalt hatte.
Von ihrem Großvater ging keine Gefahr aus. Es gab keine schreckliche psychische Krankheit, die auch Violets Schicksal bestimmen würde. Und an einen Fluch, einen Unsegen, weigerte sich Violet nach den Erfahrungen in Irland ebenfalls zu glauben.
Dennoch: Als Verónica Violet jetzt bestätigte, dass der Großvater tatsächlich gestorben war – »Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen, er scheint friedlich eingeschlafen zu sein« –, überwog ein einziges Gefühl in Violets Innerem: Erleichterung.
Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen, denn für Verónica war Alejandro Ruiz Lopez ein ganz anderer Großvater gewesen. Ihre Cousine trauerte um ihn, deshalb fiel es Violet auch nicht schwer, von ganzem Herzen ihr Beileid auszusprechen.
Violet hoffte bloß, dass man nicht von ihr erwarten würde, zur Beerdigung zu kommen. Als sie das vorsichtig ansprach, winkte Verónica ab. »Großvater wurde schon bestattet.«
»Wie kann das sein?« Violet war verwirrt. »Wir haben doch vor nicht mal achtundvierzig Stunden noch miteinander telefoniert …«
»Und in der folgenden Nacht ist er gestorben. Hier in Spanien warten wir mit der Bestattung nicht so lange wie zum Beispiel bei euch in England. Meist findet sie innerhalb eines Tages statt.«
»Oh.«
»Ja, und früh heute Morgen ist er beigesetzt worden. Ich konnte nicht schlafen, obwohl ich eigentlich todmüde bin.« Verónica rieb sich das Gesicht. »Meiner Oma scheint es genauso zu gehen … ich war die ganze Zeit über im tanatorio, der Trauerhalle, in dem Großvater aufgebahrt war, an ihrer Seite. Als wir vorhin nach Hause zurückkamen, hätten wir uns hinlegen und Schlaf nachholen sollen. Mein Vater hat es uns befohlen. Aber wir konnten es wohl beide nicht. Ich habe meine Arbeits-E-Mails gecheckt und Oma hat die Schränke in Opas Büro ausgemistet. Da hat sie eine Kiste gefunden, mit der Aufschrift Ana Maria.«
Verónica hielt einen alten Schuhkarton in die Höhe und stellte ihn dann wieder vor sich auf den Tisch.
»Ana Maria«, erklärte sie, »war Großvaters erste Frau, also unsere leibliche Großmutter, Violet. Sie starb noch vor meiner Geburt und ich sehe die Frau, die Großvater danach heiratete, als meine Abuela an. Ehrlich gesagt habe ich schon länger nicht mehr an Ana Maria gedacht, bis gestern. Während Großvaters Totenwache kam wieder oft die Rede auf sie. Und dann gibt mir Oma diese Kiste …«
Verónicas Augen füllten sich mit Tränen. Offensichtlich war sie noch von den vielen Gefühlen überwältigt, die sie in den letzten anderthalb Tagen übermannt hatten.
Violet war sich nicht ganz sicher, warum Verónica sie angerufen hatte; bestimmt hatte ihre Cousine Freundinnen, mit denen sie über so etwas sprechen könnte. Violet wusste auch nicht wirklich, was sie sagen sollte.
»Es tut mir leid«, versuchte sie es. »Das muss alles sehr schwer für dich sein. Und es ist bestimmt keine leichte Aufgabe, Verwandte und Bekannte zu informieren. Ich hätte es absolut verstanden, wenn du noch gewartet hättest, es mir mitzuteilen. Ein bisschen die Augen zuzumachen täte dir wahrscheinlich wirklich gut und …«
»Ich rufe nicht nur an, weil ich dir von Großvaters Tod berichten wollte«, unterbrach Verónica sie. »Natürlich auch, aber …« Sie machte die Kiste auf und kramte etwas heraus. »Ich habe etwas in Abuela Ana Marias Sachen gefunden, das ich dir unbedingt zeigen muss. Hier, ein Foto.« Sie hielt es in die Kamera. »Vielleicht liegt es am Schlafmangel, aber die Frau auf dem Foto, die sieht doch genauso aus wie du, oder?«
Violet beugte sich vor, um die Aufnahme besser erkennen zu können, und Verónica hielt sie noch näher heran, sodass sie den ganzen Bildschirm ausfüllte.
Es war ein altes Foto. Violet, die schon viele Bilder dieser Art begutachtet hatte, erkannte es als ein typisch viktorianisches Studio-Porträt, wahrscheinlich vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Ein Mann und eine Frau waren darauf abgebildet. Verónica hatte recht. Die Frau sah ihr selbst täuschend ähnlich. Sie hatte die gleichen vollen Lippen und großen dunklen Augen, eine eher ausgeprägte Nase und scharfe Wangenknochen in einem länglichen Gesicht.
Sie blickte melancholisch drein und wirkte recht starr, aber das war nichts Ungewöhnliches für ein Foto aus dieser Zeit. Es war damals für den fotografischen Prozess nötig gewesen, für eine ganze Weile absolut still zu halten. Vielleicht trug dieser Ausdruck dazu bei, dass die Frau eine große Übereinstimmung mit Violets Gesicht aufwies. Schließlich war sie auch nicht gerade das, was man gemeinhin als »Sonnenschein« bezeichnet.
»Erstaunlich, was?«, sagte Verónica, die Violets Reaktion falsch deutete.
Violet starrte nicht völlig entgeistert auf das Foto, weil es für sie wie der Blick in einen Spiegel war.
Sie erkannte, dass eine große Ähnlichkeit bestand, aber sie bemerkte auch gleich die Unterschiede. Die Frau war kleiner und zierlicher und ihre Gesichtszüge schienen eine Spur weicher als die Violets.
Vor allen Dingen wusste Violet, dass es nicht sie selber war. Sie hatte diese Unterschiede schon einmal bemerkt.
Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Frau sah.
»Ich glaube, das Bild ist ein Hochzeitsporträt und die Frau muss natürlich eine Vorfahrin von uns sein«, erklärte Verónica weiter, als Violet immer noch nichts sagte. »Hinten stehen die Namen darauf, Cora und Eduardo Gallardo Díaz, sowie die Jahreszahl 1898. Und auf dem Papprahmen hier unten«, sie zeigte mit dem Finger darauf, »ist etwas eingeprägt, nämlich der Name des Fotostudios. Und jetzt halte dich fest, Violet, du wirst es nicht glauben, denn der Zufall ist einfach zu erstaunlich. Da steht H. W. Tubb, Portland Road, Hove. Violet, das Bild wurde ganz in deiner Nähe aufgenommen. Nicht nur, dass die Frau so aussieht wie du, sie muss sich auch dort aufgehalten haben, wo du bist … ist das nicht … wie sagt man bei euch … spooky?«
Violet lehnte sich zurück. Sie fand immer noch keine Worte, sonst hätte sie Verónica recht gegeben. Es war spooky. Es war mehr als mysteriös. Was hatte eine spanische Vorfahrin von ihr Ende des 19. Jahrhunderts in Brighton zu suchen gehabt?
Doch es gab jemanden, der eine Antwort auf diese Frage kannte.
Ihre Mutter Maribel.
Selbstverständlich erzählte Violet ihrer Cousine nicht, dass sie vor zwei Nächten, wahrscheinlich ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der Großvater im Sterben lag, am Grab ihrer Eltern eine Vision gehabt hatte.
Schon gar nicht berichtete sie, dass sie glaubte, ihre Mutter habe diese Bilder von jungen Frauen irgendwie über den Grabstein an Violet übermittelt.
Demnach konnte sie auch nicht verraten, dass sie Cora dort schon gesehen hatte, ohne ihren Namen zu kennen. Dass sie dort, am Grab, bereits den Schock erlitten hatte, weil diese junge Frau aus einem anderen Jahrhundert ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war. Und dass sie verstanden hatte, was ihre Mutter ihr hatte zeigen wollen: ihre Ahninnen.
Somit blieb es Violet auch erspart, Verónica zu erklären, warum genau diese Vision sie so verstört hatte.
Abgesehen davon, dass sie enttäuscht gewesen war, nichts von ihrer Mutter gezeigt bekommen zu haben, das mit ihnen beiden und vielleicht mit Violets Kindheit zu tun hatte, bestärkte die Vision ihre größte Angst.
Offensichtlich war ihrer Mutter diese Vorfahrinnen-Linie wichtig, doch mit Violet würde die Familiengeschichte aufhören. Als jemand, dessen Job es war, Lebensgeschichten verstorbener Personen zu rekonstruieren und sich damit zu beschäftigen, wie sich Hinterbliebene an sie erinnerten, war Violet einfach besonders gewahr, was das bedeutete.
Die Vision überzeugte sie noch viel mehr davon, dass sich ihre Eltern eine Zukunft gewünscht hätten, für ihre Familie, für Violet.
Was für eine herbe Enttäuschung Violet für ihre Mutter sein musste!
Weil sie ihrer Cousine all das nicht sagen konnte, musste Violet so tun, als sähe sie das Bild zum ersten Mal.
»Weißt du was, ich werde ein bisschen Ahnenforschung betreiben«, erklärte sie schnell, um Verónica von den Emotionen abzulenken, die sich wahrscheinlich auf ihrem Gesicht abzeichneten. »Das mache ich für meine Arbeit andauernd, ist also keine große Sache. Vielleicht finden wir so heraus, was unsere Vorfahrin in Brighton gemacht hat.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kannst du mir das Foto einscannen und schicken – und auch noch andere Dokumente zu unseren Vorfahrinnen, die informativ wären?«
Verónica versprach, dass sie das machen würde.
»Aber erst einmal befolgst du den Rat deines Vaters und legst dich hin, Verónica«, befahl Violet streng. »Das hier kann warten. Ich verstehe, dass du aufgewühlt bist und es schwierig ist, sich nach so einer Erfahrung zu entspannen. Doch du brauchst deinen Schlaf.«
Verónica unterdrückte ein Gähnen und gab Violet recht. »Ich melde mich wieder.«
»Okay. Und drücke bitte deinem Onkel, deinem Vater, deiner Oma und allen anderen Verwandten, die ich noch nicht kennengelernt habe, mein herzliches Beileid aus.«
»Mache ich. Bis bald.«
Violet verabschiedete sich ebenfalls.
Sie saß eine Weile da und dachte nach, bevor sie sich wieder an die Arbeit machte.
Erst ging sie zurück in die Werkstatt. Sie hatte schon Gussformen für die Steine und Modelle aus Formgips hergestellt. Jetzt mussten noch deren Oberflächen behandelt werden, bevor Violet Fotos von ihnen machte. Diese einfachen Modelle waren einerseits dafür gedacht, die Steine auf ihrer Website zu verkaufen. Zusätzlich dienten sie als Vorlage für die eigentlichen Steine, die Violet produzieren würde, wenn sie Aufträge dafür bekam. Die waren nämlich nicht aus einfachem Gips, sondern aus einem eigens von ihr entwickelten Materialmix, der das Endprodukt viel beständiger machte. Violets Kunden bestellten die Steine aus unterschiedlichen Gründen, aber oft war es der Fall, dass die Reproduktionen im Freien aufgestellt werden sollten. Ein Gips-Replikat wäre nicht dauerhaft wetterfest. Der Guss aus Violets haltbarerem und härterem Material gab aber die Inschriften und Bilder nicht immer so gut wieder, und oft musste Violet besonders feine Details mit der Hand nacharbeiten. Dafür waren 3-D-Modelle unverzichtbar.
Violet mischte jetzt die Farben an und befüllte ihre Sprühflaschen. Für die nächste Stunde musste sie sich darauf konzentrieren, den Grabsteinreproduktionen den richtigen halb verwitterten Anstrich zu geben. Sie war froh darüber. Sie brauchte mentalen Abstand, bevor sie sich mit Verónicas Neuigkeiten auseinandersetzte.
Als sie fertig war, räumte sie die Werkstatt auf. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es erst einmal eine Weile dauern würde, bis sie wieder zu ihrem Handwerk zurückkehrte.
Wieder in der Wohnung duschte sie und steckte eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine.
Dann setzte sie sich mit einer Tasse Tee und Keksen an den Küchentisch. Sie klappte den Laptop auf und sah, dass Verónica ihr direkt nach dem Telefonat ein paar Dokumente eingescannt und geschickt hatte; darunter war auch das Foto.
Violet vermied es, zu lange darauf zu starren.
Stattdessen machte sie eine Stammbaum-Vorlage auf. Die benutzte sie für fast all ihre Projekte, die historische Recherchen beinhalteten, also immer, wenn sie einen Friedhof besuchte und ein Grabstein »zu ihr sprach«. Ihr erster Arbeitsschritt war gewöhnlich, ein Foto vom Grabstein zu machen und zu Hause dann alle Daten in den Stammbaum einzutragen. Manchmal waren das nur der Name des Bestatteten und seine Geburts- und Todesdaten. Doch oft genug lag er in einem Gemeinschaftsgrab oder zumindest in der Nähe der schon verstorbenen Verwandten und Vorfahren.
So begann Violet dann, der Geschichte der Person nachzuforschen, bis sie auf etwas Interessantes stieß. Manchmal war diese Information im Einklang mit dem, was Violet auf dem Friedhof gesehen oder gespürt hatte. Ab und zu fand sie auch nichts. Es passierte also nicht immer, dass sie eine Geschichte rekonstruieren oder gar eine ganze Podcast-Episode daraus machen konnte.
Aber diese Stammbäume blieben in ihren Akten.
David hatte sich schon dazu geäußert, dass er es komisch fand, weil sie Ordner voller Stammbäume fremder Leute besaß, aber keinen für ihre eigene Familie.
Obwohl sie sich mittlerweile nicht mehr ganz so davor fürchtete, sich mit ihrer Familie zu befassen, hatte sie auch in den letzten Wochen keinen Anlass dazu gesehen. Und mit der Arbeit an der Podcast-Reihe über die Brodericks eigentlich auch keine Zeit gehabt.
Als sie sich jetzt daran machte, fand sie es gar nicht so schlimm. Das Ausfüllen der Vorlage und die Suche nach Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden war so sehr Routine für sie, dass sie sich ausreichend von ihren eigenen emotionalen Verstrickungen in das Projekt distanzieren konnte.
Allerdings war es mit den spanischen Personenstandsurkunden nicht ganz so einfach, wie sie es sonst gewohnt war. Es war das erste Mal, dass sie in diesem Land nach genealogischen Daten suchte. Sie hatte nicht so viel Glück wie damals bei der Laggandhu-Sache in Schottland. Das gab es ein Archiv mit allen seit Mitte des 19. Jahrhunderts registrierten Geburten, Ehen und Todesfällen, in dem ein jeder einfach online suchen konnte.
Wie es auch in England der Fall war, hatte Spanien lediglich ein Archiv, das man anschreiben und formell um Kopien von spezifischen Urkunden bitten konnte. Das tat Violet auch. Sie erwartete jedoch, dass es eine Weile dauern könnte, bis sie Antworten erhielt. Sie hatte die Hoffnung, dass es sich lohnen würde, denn sie las, dass in Spanien seit 1871 Geburten, Todesfälle und Ehen standesamtlich registriert waren und dass dabei viele Informationen erfasst wurden – mehr als in anderen Ländern üblich –, beispielsweise Berufe der Eltern oder Geburtsorte der Großeltern.
In der Zwischenzeit loggte sie sich in die vielen internationalen genealogischen Datenbanken ein, wo sie Mitglied war, und fand auch eine spanische. Mithilfe des Google-Übersetzers kam sie weiter.
Als sie am Abend ein schnelles Gericht aus Pasta, Pesto und Oliven zubereitete, hatte sie den Stammbaum mit den Vorfahren mütterlicherseits komplett ausgefüllt.
Ihre Großmutter Ana Maria Álvarez Gallardo wurde 1936 geboren. Sie war das einzige Kind von Rosalina Gallardo Díaz, die im Jahr 1900 zur Welt gekommen war. Deren Eltern waren Cora und Eduardo Gallardo Díaz, die offensichtlich 1898 in Brighton geheiratet hatten, wenn man dem Hochzeitsporträt Glauben schenken wollte.
Violet fiel sofort etwas auf. In Spanien war es üblich, dass Kinder zwei Nachnamen erhielten: den ihres Vaters und den ihrer Mutter. Frauen nahmen nach der Heirat nicht den Nachnamen ihres Mannes an, sondern behielten ihren eigenen.
Cora hatte allerdings den Namen ihres Mannes angenommen und so hießen auch die Kinder – es gab neben Rosalina noch einen Sohn Eduardo Juan, geboren 1902 – Gallardo Díaz mit Nachnamen. Diese Tatsache machte es wahrscheinlich, dass Cora und Eduardo in England geheiratet hatten.
In Brighton und Hove waren alle historischen Dokumente in einem Archivzentrum gespeichert, das den Namen The Keep hatte. Unter anderem waren dort auch die Daten des East Sussex Record Office online einsehbar.
Nachdem Violet zu Abend gegessen hatte, setzte sie sich mit einem Glas Rotwein auf die Couch und suchte nach der Heiratsurkunde von Cora und Eduardo Gallardo Díaz. Sie landete schon bald einen Volltreffer. Die beiden waren tatsächlich 1898 in Brighton vermählt worden, genauer gesagt in der zu diesem Zeitpunkt ziemlich neuen Sacred-Heart-Kirche in Hove. Auf der Urkunde war Coras Mädchenname genannt: Riffit.
Es war definitiv ein ungewöhnlicher Nachname und Violet hatte ihn noch nie gehört. Allein vom Klang her konnte sie nicht ausschließen, dass er englisch war.
Hoffnungsvoll gab sie »Riffit« in die Suchmaske ein, wurde aber enttäuscht. Weder Cora noch sonst noch eine Person »Riffit« war in East Sussex zwischen 1868 und 1884 geboren worden. Violet schätzte die junge Frau in dem Foto auf noch keine zwanzig Jahre alt ein, wollte ihre Suche aber nicht zu sehr eingrenzen. Nach ihrem Misserfolg weitete sie die Suchparameter noch aus, schloss das gesamte 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts mit ein. Auch das blieb ergebnislos.
Das konnte bedeuten, dass Cora aus einer anderen Gegend zugezogen war.
Etwas frustriert gab Violet den Namen Riffit in die größten Online-Communities für Ahnenforschung ein, und obwohl es weltweit tatsächlich Personen mit diesem Namen gab, konnte sie sich nicht vorstellen, dass jemand eine Verbindung zu ihrer Vorfahrin hatte.
Violet trank ihr Glas Wein aus und beschloss, am nächsten Tag ins The Keep zu gehen. Dort gab es auch die Sussex Family History Group, die bei den Recherchen zur Familiengeschichte half. Vielleicht gab es doch etwas, das sie herausfinden konnte. Cora Riffit musste schließlich von irgendwoher gekommen sein.
Sie hatte ihre Zähne geputzt und wollte gerade ins Bett gehen, als der Klingelton der Skype-App auf ihrem Laptop ertönte.
Es war Verónica.
»Hola! Ich habe wirklich ein paar Stunden geschlafen, versprochen. Aber dann habe ich mich wieder über den Inhalt der Kiste hergemacht, weil es mir hilft, etwas zu tun zu haben, weißt du?«
»Na klar, das verstehe ich. Ich habe auch gearbeitet … warte, ich schicke dir den Stammbaum, den ich erstellt habe, vielleicht fällt dir dazu noch etwas ein … So, du hast gerade eine E-Mail von mir bekommen.«
»Danke. Ich habe noch etwas gefunden, von dem ich dir unbedingt erzählen wollte. Es ist ein Brief an Ana Maria, von ihrer Mutter. Ah, genau, du hast sie schon eingetragen, Rosalina.«
»Ach ja, unsere Urgroßmutter Rosalina.«
»Genau. Wie gesagt, es gibt diesen Brief, der kurz nach der Geburt deiner Mutter Maribel geschrieben worden ist. Aber der Brief ist nicht voller Freude und guter Wünsche, so wie man es sich bei der Ankunft eines Enkelkinds vorstellt. Stattdessen schreibt Rosalina: Ich habe dich davor gewarnt, Kinder zu bekommen. Es ist keine gute Idee, du wirst es bereuen. Wie konntest du?«
»Das ist fies.«
»Ja, und ich habe mich daran erinnert, dass meine Großeltern keinen Kontakt mit Ana Marias Mutter gehabt hatten. Mein Vater hat mal gesagt, dass er seine Großmutter nicht kannte. Ich habe noch mal nachgefragt. Es stimmt, Rosalina war nie hier zu Besuch in El Pedroso, wo meine Großeltern leben. Es war aber nur sie, mit dem Rest der Familie gab es wohl keine Probleme. Mein Vater erinnert sich sogar noch gut an seinen Urgroßvater, Eduardo.«
»Ach, an die Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht. Er ist ja sehr alt geworden. Von Cora weiß dein Vater aber nichts, nehme ich an?«
»Davon hat er nichts gesagt, aber nein, ich denke nicht. Cora ist ja so jung gestorben, wie du selber herausgefunden hast. Eduardo hat noch mal geheiratet, es gab also auch für Ana Maria eine Stiefoma, die für alle dann die Großmutter beziehungsweise Urgroßmutter war.«
»Ja, Cora starb 1918.« Ein Schauer lief über Violets Rücken, als sie daran dachte, wie kurz das Leben jener Frau gewesen war, die ihr so ähnlich sah. »Ich habe noch nicht herausgefunden, wann und wo sie geboren ist. Auf der Heiratsurkunde ist der Mädchenname Riffit angegeben, und ich glaube, Cora könnte Engländerin gewesen sein. Hat jemand mal eine englische Vorfahrin erwähnt?«
Verónica zuckte mit den Schultern. »Nicht mir gegenüber. Ich wollte dir aber noch etwas anderes erzählen, etwas, das ich in Rosalinas Brief gelesen habe. Deshalb rufe ich auch so spät noch an, ich konnte nicht bis morgen warten, denn es hat mich nicht mehr losgelassen.«
Verónica hob den Brief hoch und schaute darauf. Ihre Augen bewegten sich schnell hin und her, so als würde sie etwas Bestimmtes suchen.
Violets Magen zog sich auf einmal in böser Vorahnung zusammen.
»Sie hat dasselbe Wort benutzt wie Großvater bei unserem Telefonat, kurz bevor er gestorben ist. Sie gibt es als Grund an, warum Ana Maria keine Kinder hätte bekommen sollen. Und weil Maribel noch dazu ein Mädchen war, würde sie es jetzt weitergeben … den Fluch, den Unsegen.« Verónica, die den Blick bis dahin auf den Brief gerichtet hatte, schaute jetzt hoch, direkt in die Kamera.
»Maldición.«
Verónicas Offenbarung machte es für Violet völlig unmöglich, sich schlafen zu legen.
Stattdessen bereitete sie sich einen Kräutertee zu, der sie beruhigen sollte, seine Wirkung aber verfehlte.
Nervös ging sie in ihrer kleinen Wohnung auf und ab.
Schließlich gab sie sich einen Ruck und wählte Davids Nummer.
»Hey, Violet«, antwortete er verschlafen, nachdem es lange geklingelt hatte. »Alles okay?«
»Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe und dich aufwecke. Ich … Mein Großvater ist gestorben.«
»Was?« David hörte sich sofort hellwach an. »Der aus Spanien?«
»Ja.«
»Aber … wir haben ihn doch gerade erst noch gesehen und mit ihm gesprochen. Wann ist das passiert?«
»In der Nacht nach dem Telefonat.«
»Oh Mann … warte, du gibst dir doch hoffentlich nicht irgendwie die Schuld daran und denkst, dass das Telefonat etwas damit zu tun hat?«
»Nein. Nein, wahrscheinlich nicht. Er war über achtzig und starb an Herzversagen. Er ist wohl friedlich eingeschlafen, hat sicher gar nichts gemerkt. Verónica meint, dass es ein Segen für ihn gewesen sein könnte. Er wurde immer dementer.«
»Das ist beruhigend zu hören. Es tut mir leid. Ich weiß, du kanntest ihn nicht richtig und hattest dich sogar vor ihm gefürchtet, aber er war immerhin dein Großvater. Du bist jetzt sicher doppelt froh, dass das Telefonat stattgefunden hat und du die Chance bekamst, ihn noch mal zu sehen.«
Darüber hatte Violet nicht nachgedacht. Trotzdem sagte sie: »Ja.«
Einen Moment lang schwiegen sie. Dann räusperte sich Violet.
»Hör mal, da ist etwas aufgetaucht.« Sie erzählte von der Kiste mit den persönlichen Erinnerungen ihrer Großmutter Ana Maria, ohne Coras Foto oder gar die Vision am Grab ihrer Eltern zu erwähnen. »In einem Brief schreibt unsere Urgroßmutter Rosalina, dass Ana Maria keine Kinder hätte bekommen sollen. Sie war gewarnt worden, wie es den weiblichen Mitgliedern der Familie erging, und es wäre ihre Verantwortung gewesen, dem ein Ende zu setzen. Rosalina schreibt sogar, dass sie selbst alles dafür getan habe, um kinderlos zu bleiben, bis sie dann trotz ihrer Bemühungen mit Ana Maria schwanger wurde.«
»Ganz schön gemein, so etwas zu seinem Kind zu sagen: Eigentlich wollte ich dich überhaupt nicht.«
»Ja, aber es passt. Rosalina bekam Ana Maria erst mit sechsunddreißig. Spät für die Zeit damals. Als gute Katholikin hat Rosalina wenigstens davon abgesehen, etwas dagegen zu unternehmen, nachdem sie dann doch schwanger geworden war.«
»Gott sei Dank«, fiel ihr David ins Wort. »Sonst wärst du nicht hier.«
Violet schluckte. Die Worte taten ihr weh, aber David konnte nichts dafür. Die nach ihr hätten geboren werden können, würden nicht hier sein. Ihretwegen.
Es war fast so, als könnte sie ihre Nachfahrinnen vor sich sehen, wie die Bilder ihrer Ahninnen, die ihre Mutter ihr geschickt hatte. Nur hatten sie keine Gesichter. Sie blieben konturlos, wie Geister. Bloß, dass Geister die Relikte dessen waren, was einmal existiert hatte. Was sie betraf, gäbe es keine Nachfahrinnen, sondern nur ein Nichts.
»Violet?«, riss David sie aus ihren Gedanken. »Alles in Ordnung?«
Violet schüttelte sich. »Äh, ja … also, die Sache ist die, warum ich anrufe, was mich einfach nicht loslässt …«
»Ja?«
»In dem Brief verwendet Rosalina das gleiche Wort, das der Großvater bei unserem Skype-Telefonat gesagt hat. Erinnerst du dich? Maldición.«
»Ich weiß es noch, klar. Er hat sich da in etwas hineingesteigert … Aber warte, du nimmst das doch nicht ernst, oder? Verónica hat doch auch gesagt, dass es nichts zu bedeuten hat. Du glaubst nicht wirklich, dass auf den weiblichen Mitgliedern deiner Familie ein Fluch lastet!«
Violet antwortete nicht.
»Violet … Hast du nicht gerade in Irland genau solch einen angeblichen Fluch als übles Gerede entlarvt?«
»Ja, aber wenn Rosalina es auch glaubte, dann hatte sich Großvater das nicht nur ausgedacht, verstehst du? Es ist nicht auf seinen Mist gewachsen … es war kein unsinniges Gerede, als das Verónica es abgetan hat.«
»Nein, aber es kann sehr gut sein, dass die Idee einfach von Rosalina kommt«, versuchte David zu erklären. »Ana Maria wird ihrem Mann den Brief wahrscheinlich gezeigt haben.«
»Ja, und meine Großmutter brach danach wohl auch den Kontakt mit Rosalina ab. Sicher haben sie darüber gesprochen.«
»Ganz genau. Da hat dein Großvater den Begriff her. Und es ist doch nichts Ungewöhnliches für Demente, sich an so etwas aus der Vergangenheit zu erinnern, sich sogar darauf zu versteifen.«
»Schon. Aber was, wenn es wirklich …«
»Violet, was deiner Mutter passiert ist, war kein Fluch«, sagte David sanft. »Es war ein Unfall. Klar, wenn dein Großvater diesen Privatdetektiv nicht angeheuert hätte, wenn der euch nicht verfolgt hätte, wenn dein Vater nicht deshalb auf die schlechte Straße ausgewichen wäre … dann wäre der Unfall vielleicht nicht passiert. Aber du darfst nicht glauben, dass ein Fluch dafür verantwortlich ist. Wenn überhaupt, dann demonstriert es wieder einmal, wie auch bei den Brodericks in Irland, wie ein Irrglaube an solchen Blödsinn genau das zur Folge haben kann, vor dem man solch panische Angst hat.«
»Meinst du, mein Großvater hat Maribel zurück nach Spanien holen wollen, weil er an einen Fluch glaubte?«
»Er wollte seine Tochter zumindest auf jeden Fall vor etwas beschützen.«
»Ich glaube, dass er ihre psychische Krankheit als Fluch gesehen hat«, überlegte Violet laut. »Möglicherweise ist das sogar der Fluch, vor dem Rosalina ihre Tochter warnt.«
»Aber Verónica meinte doch, dass sonst niemand in der Familie unter einer solchen Krankheit gelitten hätte.«
»Nicht, dass sie wüsste. Aber du erinnerst dich doch sicherlich aufgrund meiner Recherchen am Loch Laggandhu, wie es sich damals mit psychischen Krankheiten verhielt. Erstens wurde oft nicht darüber geredet. Es ist sehr gut möglich, dass es nicht zu Verónica durchgedrungen ist. Und es gibt eine starke genetische Komponente. Zu Rosalinas Zeit glaubte man tatsächlich, dass Frauen besonders anfällig wären, woraus vielleicht die Annahme entstand, dass der ›Fluch‹ von der Mutter an die Tochter weitergegeben wurde.«
