Grado in Angst - Andrea Nagele - E-Book

Grado in Angst E-Book

Andrea Nagele

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Beschreibung

Ein tiefenpsychologischer Pageturner, der unter die Haut geht. Gianluca Pirandelli, ein charmanter Arzt, der vor drei Jahren eine gynäkologische Praxis nahe Grado eröffnet hat, steht unter Tatverdacht: Mehrere seiner Patientinnen starben, nachdem sie bei ihm in Behandlung waren. Maddalena Degrassi ist durch den Tod einer Freundin persönlich betroffen und stürzt sich in die Ermittlungen, die erschreckende Wahrheiten zutage fördern. Bald überschlagen sich die Ereignisse, und die Commissaria muss mehr als einen Täter stellen.

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Seitenzahl: 332

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Andrea Nagele leitete über ein Jahrzehnt ein psychotherapeutisches Ambulatorium. Heute arbeitet sie als Autorin und betreibt in Klagenfurt eine psychotherapeutische Praxis. Sie pendelt zwischen Klagenfurt am Wörthersee, Grado und Berlin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Rezept.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Snake Xenzia

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-151-5

Ein Adria Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Ich widme diesen Krimi dem echten Kommissar, il vero Comandante di Grado, Mario Bressan, und ich hoffe, diesmal hat Commissaria Maddalena Degrassi perfekt recherchiert.

1

Ich schlurfe in meinen ausgetretenen Latschen über den altmodisch gemusterten Linoleumboden.

Die Sohlen geben bei jedem Schritt ein grauenvolles Quietschen von sich.

Warum trage ich die jahrzehntealten verblichenen Prada-Flip-Flops?

Wohin will ich überhaupt?

Der Weg dehnt sich unendlich lang vor mir aus.

Rechts und links begrenzen kahle Wände, durchbrochen von Zimmertüren, den schmalen Flur.

Halt.

Da war doch eben in einem Kästchen neben der Tür die Zahl Elf zu lesen gewesen, und als hätte man sie vergessen, kam anschließend nicht die Zwölf, sondern die Dreizehn.

Ach! Ich schlage mir auf die Stirn. Die Zwölf ist ja hier in meinem Land, in Italien, genau wie die Siebzehn eine Unglückszahl.

Bin ich in einem Krankenhaus gelandet?

Hatte ich einen Unfall?

Bin ich Patientin oder Besucherin?

Um diese Frage werde ich mich später kümmern.

Zuerst und unabhängig davon muss ich einen bestimmten Raum finden.

Nirgendwo begegnet mir eine Krankenschwester, ein Pfleger oder ein Weißkittel aus der Ärzteschaft. Und das Licht ist so dämmrig, dass ich meine Augen zusammenkneife, in der irrigen Annahme, dadurch besser sehen zu können.

Kein Laut dringt zu mir.

Die Stille nimmt mir den Atem.

Sie vermittelt Gefahr.

Jetzt weiß ich wieder, wohin ich will.

Zimmer siebzehn ist mein Ziel.

Da liegt sie.

Und sie erwartet mich sehnlich.

Also bin ich die Besucherin und sie die Patientin.

»Hallo«, sage ich leise, falls sie vor sich hindämmert, wie so häufig in letzter Zeit. »Ich setze mich neben dich und warte, bis du aufwachst. Ich habe alle Zeit der Welt, und die will ich mit dir verbringen.«

Zum Glück hat sie ein Einzelzimmer. Ihr Mann war immer schon großzügig und hat sie nach der Heirat in seine Privatversicherung mit hineingenommen.

»So ein netter Typ«, flüstere ich aus dem Zusammenhang gerissen, und da wieder keine Antwort von ihr kommt, nehme ich an, dass sie schläft.

Vorsichtig lasse ich mich auf dem Bettrand nieder, um unmittelbar wieder aufzuspringen.

Da ist nur ein Laken, ein weißes, das sich über eine Matratze spannt.

Sonst nichts.

Weder die Kontur eines Körpers noch dessen Abdruck zeichnet sich ab.

Das Bett ist leer.

Die beiden Fensterflügel sind weit geöffnet und gähnen auf einen Parkplatz hinaus.

Schreiend reiße ich die Tür auf, laufe auf den Flur, verheddere mich in meinen Schlappen und begegne einer älteren Schwester mit einer Hornbrille, durch deren dicke Gläser sie mich mit vergrößerten Augen kummervoll betrachtet.

Ruckartig bleibe ich stehen.

»Sie ist von uns gegangen«, murmelt sie, bedacht darauf, die anderen Menschen, die den Flur entlanggehen, nicht zu verschrecken.

»Was heißt das?«, frage ich, obwohl ich bereits Schlimmes ahne. »Ist sie früher abgeholt worden und schon zu Hause?«

»Es tut mir und uns allen hier sehr leid, aber Ihre Freundin ist vor einer Stunde verstorben.«

»Das kann nicht sein!«, herrsche ich sie an und schüttle ihre mageren Schultern. »Sie irren sich. Vor zwei Stunden noch haben wir telefoniert und über einen Film gesprochen, den wir uns demnächst gemeinsam ansehen wollen. Im großen Kino von Monfalcone.«

»Signora, mein Beileid.« Die Schwester entfernt sanft meine rüttelnden Hände von ihren Schultern. »Kommen Sie bitte mit mir in den Besprechungsraum, die Oberärztin wird es Ihnen genauer erklären.«

Mir bleibt die Luft weg, der Atem steckt irgendwo zwischen meiner Kehle und dem Rachen.

Wimmernd sinke ich zu Boden.

Ruckartig wachte Maddalena auf.

Sie war schweißüberströmt.

Ihr Kissen war nass geschwitzt, und die langen Locken hatten sich zu einem verfilzten Zopf zusammengedreht.

Wie spät war es?

Kurz nach vier Uhr morgens, verriet ihr ein schneller Blick auf die Uhr.

Also kein Grund, eine »Aufstehpanik« zu entwickeln.

So nannte sie das Gefühl, wenn sie tief und fest verschlafen hatte und deshalb mit einem Sprung das Bett verließ.

Heute blieb ihr noch ausreichend Zeit für ein weiteres Nickerchen, bevor der Wecker unwiderruflich in schrill anhaltendem Ton ihren Schlaf beenden würde. Das Geräusch erinnerte sie an das akustische Signal, das die Fischer des Nachts warnte, in See zu stechen, sobald zähflüssige Nebelschwaden sich auf das Meer und die Lagune herabsenkten.

Warum aber war sie jetzt hochgeschreckt, mit pochendem Herzen und zitternden Gliedern?

Es konnte nur ein Alptraum gewesen sein. Einer von jenen, die so grauenvoll waren, dass sie jeglichem Schlaf unweigerlich ein Ende setzten.

In ihrem Zimmer roch es stickig, und das lag nicht zuletzt daran, dass sie vor dem Zu-Bett-Gehen noch eine Zigarette am offenen Fenster geraucht hatte.

Eine schlechte, jedoch lieb gewonnene Angewohnheit, die sie so schnell nicht aufgeben würde.

Sie streckte ihre Arme und Beine, drückte den Rücken durch und schwang sich dann, etwas wirr im Kopf, von ihrer Matratze.

Auf dem Boden lagen ihre alten, zerfledderten Flip-Flops, einer mit der Sohle nach oben, der andere einige Zentimeter weiter entfernt.

Orange.

Wieso hatte sie sich damals bloß von Franjo – ihre Brust zog sich beim Gedanken an ihn schmerzhaft zusammen – diese Dinger andrehen lassen?

»Ultramodern, die passen einfach zu deinem Stil«, hatte er gesagt.

Ihre Outfits waren weder besonders modern, noch bevorzugte sie Marken oder auch nur eine eindeutige Richtung, was ihre Kleidung betraf. Wenn man mal von ihrer ewig gleichen Kluft absah, die aus Jeans, Boots, T-Shirt und der abgegriffenen Lederjacke bestand.

Als sie so gedankenverloren auf die brüchigen Flip-Flops starrte, überkam sie ein unangenehmes Gefühl. Es war, als würde sie versuchen, einen Traumfetzen zu erhaschen, der, sobald er in greifbare Nähe rückte, unmittelbar davonsegelte.

Klar, die lächerlichen Latschen mussten Teil ihres nächtlichen Alptraums gewesen sein. Auch das noch. Da gab es wesentlich besseres Schuhwerk für einen unruhigen Schlaf.

Gähnend schlüpfte sie in die Gummisandalen, da sie nun mal gerade da waren, öffnete die Terrassentür und ließ den erfrischenden frühen Morgen herein.

Gierig sog sie die salzige Herbstluft ein. Nach und nach beruhigten sich ihre aufgewühlten Nerven.

Was war da los gewesen?

An der Arbeit lag es nicht, zurzeit gab es keine Höhen und keine Tiefen. Ein Tag verlief wie der andere, und sie hatte endlich mal Zeit, ihre alten Akten durchzuarbeiten.

Ihr Vorgesetzter und Stiefvater, Achille Scaramuzza, war auch nicht schuld. Er weilte mit Maddalenas Mutter Sibilla in Südafrika.

Mit ihren Freundinnen Stella und Bibiana hatte sie sich diese Unternehmung unlängst bei einem gemeinsamen Abendessen bildlich vorgestellt und herzlich gelacht.

»Man stelle sich das mal vor, die schöne Sibilla, durchgestylt von den Füßen bis in die Haarspitzen, auf Großwildjagd.« Bibiana hatte amüsiert gekichert. »Die arme Frau. Zerstochen von allen möglichen Insekten, wird sie lautstark klagen und bereuen, an der Reise teilgenommen zu haben.«

Maddalena hatte sich ihre zartgliedrige, an Luxus gewöhnte Mutter im Kreise von Scaramuzzas eher derben, mit ihrer Beute prahlenden Jagdkumpanen ausgemalt und in sich hineingelächelt.

»So ein paar Insektenstiche wären aber sicherlich nichts gegen Montezumas Rache, die wollen wir ihr wirklich nicht wünschen, die verdient keiner«, erklärte Stella und strich über ihre ewig geröteten, von blondem Haar umrahmten Wangen.

»Was ist das denn schon wieder, Frau Neunmalklug? Ein übler afrikanischer Fluch?« Bibiana wechselte über den Kopf der Freundin hinweg genervt einen Blick mit Maddalena.

Manchmal reagierte Bibiana ein wenig eifersüchtig auf die, wie sie meinte, allzu besserwisserische Stella. Maddalena hingegen fand, dass Stella eher bescheiden auftrat und ihre beachtliche Bildung nicht heraushängen ließ.

»Das sind durch Unreinheiten ausgelöste Durchfallerkrankungen, die man sich in heißen Gegenden häufig einfängt«, erklärte Stella und schob ihre Brille zurück auf die Nase.

»Sie wird doch wohl kein ungewaschenes Obst essen oder an gegrillten Elefantenbeinen knabbern«, entgegnete Bibiana spitz.

Stella sah sie mit einem leicht konsternierten Blick an. »Machen die das dort?«

»Na, meine Liebe, wenn du das nicht weißt … Dann vermutlich nicht.«

»Hoffentlich wird Mama wirklich nicht krank«, warf Maddalena ein, um das beginnende Keppeln ihrer beiden engsten Freundinnen zu unterbinden. »Sie verträgt so vieles nicht, und ich denke, dort im Camp gibt es eher bodenständige Kost«, sinnierte sie.

»Wird schon alles gut gehen, schließlich hat sie Scaramuzza an ihrer Seite.«

»Und dieser Tarzan rettet seine Jane sicher aus jeder noch so unangenehmen Situation.«

Maddalena grinste, als sie sich an diese Unterhaltung erinnerte. Ihre Mutter hatte ihr einige WhatsApp-Nachrichten geschickt, und aus keiner ging hervor, dass sie krank war oder Grund zum Nörgeln fand. Zum Glück.

Ein letztes Mal atmete Maddalena am Fenster stehend tief ein. »So«, ermunterte sie sich laut, »und jetzt ab unter die Bettdecke.«

Sie schlief sofort wieder ein und schlummerte zwei traumlose Stunden lang, bevor der Wecker sie wach rief.

2

Gianna gähnte.

Sie fühlte sich schlapp und ausgelaugt, dabei hatte sie heute nichts anderes getan, als sich um ihren vierjährigen Sohn Vittorio zu kümmern.

Jetzt saß er vor seiner Toniebox und hörte sich zum wohl tausendsten Mal »Peter und der Wolf« von Sergei Prokofjew an. Das Entzücken und die Begeisterung auf seinem lieben Gesicht bei dieser Musik waren nicht zu übersehen.

Gianna kannte das Libretto inzwischen auswendig. Sie lächelte, auch wenn sie von dem ewigen Gedudel etwas genervt war. Für sie war Vittorios Begeisterung die reine Freude an der Musik.

Ihr Mann Gianluca hingegen deutete Vittorios Leidenschaft für Prokofjew als Zeichen einer wunderbaren Begabung. Er sah seinen Sohn schon auf den großen Bühnen der Welt am Klavier sitzen oder die Querflöte blasen.

Es war nicht leicht gewesen, ihn davon abzuhalten, Vittorio in allen möglichen Kursen für musikalische Früherziehung anzumelden. Gianna wusste jedoch zum einen von den anderen Eltern aus der Kindergruppe, die ihr Sohn besuchte, dass sein Verhalten nicht außergewöhnlich war. In ein paar Wochen schon würde er sich wahrscheinlich auf Hörspiele oder Popsongs stürzen und Prokofjew keine Beachtung mehr schenken. Zum anderen wollte sie ihren Jungen nicht überfordern. Jedes der Kinder hatte zu Hause unzählige Tonies, aber stets nur eine Handvoll Lieblings-Tonies, die sie für eine Weile in Dauerschleife hörten und dann rasch durch andere ersetzten.

Klar stimmte es, dass Vittorio sich schon verhältnismäßig lange die Zeit mit dieser einen Erzählung vertrieb, wobei Gianna nicht sagen konnte, ob ihn die Geschichte von Peter oder die begleitenden Klänge so faszinierten. Doch sie war um einiges realistischer als ihr Mann und sah den Jungen nicht als Genie, sondern als normalen kleinen Knirps, der an allem Möglichen interessiert war.

Vielleicht war Gianlucas Enthusiasmus, was die Fähigkeiten seines Sohnes betraf, seiner eigenen mangelnden Kreativität und der zunehmend ermattenden Tätigkeit in seiner Praxis geschuldet.

Die gynäkologische Praxis von »Dottor Pirandelli«, wie ihr Mann für seine Patientinnen und alle anderen, die ihn kannten, hieß, gab es nun seit mehr als drei Jahren.

Zu Beginn, als sie aus Mailand hierhergezogen waren, nach Fossalon, dem »Gemüsegarten« Grados, wo sie in einem hübschen Haus an einem der vielen Kanäle der Lagune lebten, hatte Gianna sich manchmal einsam und verloren gefühlt. So mitten aus dem turbulenten Leben in einer Großstadt in ein dörfliches Ambiente geworfen zu werden war für sie nicht gerade das Gelbe vom Ei gewesen. Aber aus Gründen, die ihr bis heute unbekannt waren, hatte Gianluca seine gut gehende Praxis einem seiner Kollegen in Mailand überlassen und beschlossen, diesen irrwitzigen Ortswechsel vorzunehmen. Irgendetwas – Gianna vermutete, dass es mit der Steuer zusammenhing – war in Mailand wohl schiefgegangen.

Nun lebten sie also hier in diesem landwirtschaftlichen – und zugegeben wunderschönen – Naturschutzgebiet, und sie hatte sich arrangiert. Immer wenn sie ihren Mann auf die wahre Ursache für den überstürzten Umzug angesprochen hatte, war er zornig geworden, und da sie der harmonisierende Teil in ihrer Partnerschaft war, hatte sie sich danach stets in ihr Schneckenhaus zurückgezogen und versucht, seine gute Laune wiederherzustellen, indem sie nicht darauf beharrte, Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.

Vogel-Strauß-Politik?

Möglich, aber allemal besser als diese nervtötenden Streitereien. Stur, wie er war, würde er ihr ohne guten Grund ohnehin nicht verraten, was ihn belastete oder was vorgefallen war.

Nun gut.

Inzwischen hatte sie über Vittorios Kindergruppe und ihren Pilates-Kurs neue Freundschaften geschlossen. Obschon sehr verschieden, war jede der teilnehmenden Frauen auf ihre Art interessant. Klug und lustig waren sie obendrein.

Und so sehnte sie sich regelrecht nach dem Beginn des heutigen Abends. Die sportliche Betätigung tat ihr gut, und ihre anschließenden Plaudereien in der Bar von Francescas Mann Stefano beflügelten sie geradezu.

Gianluca gönnte ihr dieses Vergnügen und kümmerte sich vom Abendessen bis zum Schlafenlegen in diesen Stunden liebevoll um ihren kleinen Sohn.

Wenn es nur nicht diese eine eigenartige Sache gäbe, die heftig an ihr nagte, dann wäre ihr Leben auf einer Scala von »grauenvoll« bis »wunderbar« derzeit angenehm und das Landleben erträglich.

Vielleicht sollte sie sich einer der neuen Freundinnen anvertrauen, ihr erzählen, was ihr so anwachsend Sorgen bereitete?

Möglicherweise würde ihr der Blick eines Außenstehenden Klarheit bringen. Waren es bloß Hirngespinste, die sie quälten? Oder gab es einen realen Grund für ihre Ängste?

Verdrossen biss sie die Haut um ihren Daumennagel ab.

Vittorios helle Stimme riss sie abrupt aus ihren düsteren Überlegungen. »Lass das, Mama, Papa sagt immer, er findet es abscheulich, wenn du dich selbst auffrisst.«

Ertappt steckte sie ihre Hand in die Tasche ihrer Jeans und schwor sich wohl zum hundertsten Mal, mit diesem Tick aufzuhören.

Dennoch ärgerte es sie, dass Gianluca mit Vittorio über ihre schlechten Angewohnheiten sprach. Ihr hätte er es sagen sollen, wenn es ihn so störte, doch nicht dem Kleinen.

Aber so war er nun mal, ihr von allen bewunderter Göttergatte.

3

Der Tag schlich eintönig an Maddalena vorbei, weshalb sie regelrecht aufschreckte, als ihr Handy schrillte.

»Bibiana?«

»Hi, Maddalena, sehe ich dich heute Abend im Kurs?«

»Aber sicher. Ich freue mich schon darauf.«

»Und du wirst dich auch bestimmt nicht drücken?«

»Nein. Ganz im Gegenteil. Ich komme auf jeden Fall pünktlich«, versicherte Maddalena. Bibianas Nachfrage amüsierte sie. Es stimmte, sie ließ so manchen Termin in Vergessenheit geraten. Oft kam die Arbeit dazwischen, und die gewissenhaft auszuführenden Pilates-Übungen stellten für Maddalena trotz ihres wegen des Jobs regelmäßig absolvierten Fitnesstrainings eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Sie waren anstrengend, und den Blicken ihrer sizilianischen Lehrerin, Signorina Zamparutti, entging kaum etwas.

Dennoch tat ihr die Teilnahme am Kurs gut. So kam sie unter Leute, und der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung in den Übungen steigerte ihr Wohlbefinden. Seit sie nach ihrer Auszeit nach Franjos Tod wieder zurück in Grado war, versuchte sie daher, die Termine, so gut es ging, einzuhalten.

»Perfekt. Dann kann ich dir meine neue weiße Bluse vorführen. Bis jetzt hat Simone es noch nicht geschafft, ihr einen Fleck zu verpassen.« Bibiana lachte.

Maddalena stimmte in das Lachen ein. Ihre Freundin war ein richtiger Freak, was weiße Blusen anbelangte. Mit einer fünfjährigen Tochter, die gern malte und mit bunter Knetmasse alles Mögliche fabrizierte, war es allerdings keine leichte Aufgabe, sie sauber zu halten. Ging ein Fleck mal nicht mehr raus, kam Bibiana das aber durchaus gelegen, denn so hatte sie einen Grund, sich ein weiteres Stück zuzulegen.

»Das wird sicher der Höhepunkt meines Tages«, sagte Maddalena und grinste noch immer. Die Freundschaft mit Bibiana, der herzlichen und umtriebigen Immobilienmaklerin, war eine wertvolle Säule in ihrem einsamen Leben.

»Wir gehen viel zu selten aus in letzter Zeit, finde ich. Was ist eigentlich mit Leonardo? Ich weiß kaum noch, was bei dir so los ist.«

»Du übertreibst mal wieder, Bibiana. Du und Stella seid mehr als nur gut im Bilde, was mein Privatleben betrifft. Erst neulich waren wir bei ›Gianni‹ zum Abendessen, und ihr habt mich mit Fragen über den Stand unserer ›Beziehung‹ regelrecht gequält. Um es endgültig auf den Punkt zu bringen: Leonardo Morokutti ist und wird für mich niemals mehr sein als mein unterhaltsamer Kollege und Freund aus Triest.« Sie stockte. »Es stimmt, ich habe versucht, mehr in ihm zu sehen, vielleicht auch, weil ihr beide mich gedrängt habt, mein Schneckenhaus zu verlassen. Aber der Reiz, das gewisse Etwas fehlte einfach, und daran hat sich nichts geändert.«

»Ich wollte dich bloß ein bisschen necken, sei nicht gleich eingeschnappt. Mir ist schon klar, dass es knistern muss, und wenn es das nicht tut, läuft eben nichts.«

»Ich bin nicht beleidigt, keineswegs. Franjo und mich hat ein tiefes, inniges Gefühl verbunden, das weit über die füreinander empfundene Leidenschaft hinausging. Dann und wann gibt es eben einen Knall, und zwei Menschen sehen einander, erkennen sich in den Augen des anderen wieder. Zumindest Teile von sich.«

»Genau so ist es. Fabrizio und ich haben uns unweigerlich ineinander verliebt, auch wenn wir unterschiedlicher nicht sein könnten.«

»Dein Fabrizio und du, ihr gebt zusammen einfach ein tolles Paar ab. Du hattest Glück.«

»Es ist kompliziert. Manchmal könnte ich meinen lieben Ehemann zum Mond schießen, aber ohne ihn zu leben kann ich mir nicht vorstellen.«

Maddalena schluckte.

Denn sie musste das.

Franjo war nicht mehr da.

»Verdammt, ich blöde Gans. Für meine Unbedachtheit geht ein Glas Prosecco auf mich.«

Maddalena, die wusste, wie verrückt Bibiana nach dem prickelnden Getränk war, musste herzlich lachen. »Eines nur? Das ist entschieden zu wenig. Du hast mir einen Dolch ins Herz gestochen.«

»Stimmt. Ich zahle dafür gern zwei Runden.« Auch in Bibianas Stimme schwang das Lachen mit. »Soll ich dich abholen? Und wir trinken vorher zusammen ein Gläschen in unserer Bar am Hafen bei Aurora?«

»Ja, das wäre fein, komm zu mir. Aber Alkohol vor dem Training? Ausgeschlossen. Stell dir bloß mal die Reaktion der Zamparutti vor, wenn sie unsere Fahnen riecht. Nicht auszudenken, was sie dann zur Strafe mit uns macht. Abgesehen davon muss ich mich so schon konzentrieren, und mit Alkohol im Blut würde es mir schlechter denn je gelingen, meine Ungeschicktheit zu verbergen.«

»Schade, du Puritanerin, aber ich gebe mich geschlagen, weil du wie immer recht hast. Ich läute also fünfzehn Minuten vor Beginn an deiner Haustür, und wir nehmen die Drinks wie immer danach bei Stefano.«

»So machen wir es. Und jetzt sollte ich weiterarbeiten. Vor mir liegt ein beträchtlich hoher Stapel Akten.«

»Ich sollte eigentlich noch zwei Ehepaaren aus Deutschland Wohnungen zeigen. Aber irgendwie fühle ich mich heute schlapp, also hab ich’s auf morgen verschoben.«

»Die Übungseinheiten mit der wilden Sizilianerin werden deine Müdigkeit sicher vertreiben«, sagte Maddalena und verabschiedete sich. »Ciao, bis später.«

Bibiana war oft erschöpft in letzter Zeit und klagte über Kopf- und Bauchschmerzen. Kein Wunder bei ihrem Vollzeitjob und der lebhaften Simone, überlegte Maddalena, bevor sie eine weitere Seite des Falles, den sie gerade bearbeitete, aufschlug.

»Warum müssen hier alle ständig Fahrräder klauen oder in die im Herbst leer stehenden Villen einbrechen?«, fragte sie ohne große Begeisterung halblaut in ihr leeres Büro.

Lustlos schob sie den Aktenstapel zur Seite.

Als wäre das ein Zeichen, ging die Verbindungstür auf, und ihr Kollege Piero Zoli betrat erwartungsvoll den Raum. »Haben Sie nach mir gerufen?« Er hielt seine chromfarbene Thermoskanne in der Hand. »Espresso gefällig, Chefin?«

Maddalena grinste. Sie hatte diesen kauzigen Kerl über die Jahre ins Herz geschlossen. Und der Espresso seiner Mutter kam einfach immer zur rechten Zeit.

»Sind Sie etwa unter die Mentalisten gegangen, statt wie ich hart zu arbeiten? Immer diese öden Diebstähle. Wie das nervt.« Maddalena blinzelte, als sie Zolis entgeisterten Ausdruck wahrnahm. Die bläuliche Ader auf seiner Stirn begann zu pochen. Das tat sie stets, wenn er sich aufregte.

»Keineswegs, Chefin. Ich versuche ebenfalls, den ganzen ungelösten Ballast aufzuklären. Meiner Meinung nach sind das Banden, die einige Male zuschlagen und dann wieder verschwinden«, ereiferte er sich.

»War doch bloß ein Scherz. Mir ist doch sonnenklar, wie tief Sie Ihre lange Nase in den Akten versenken. Ein Schluck vom Gebräu Ihrer verehrten Mutter würde meinen Enthusiasmus allerdings beträchtlich heben.«

Piero Zoli freute sich offenkundig und vergab ihr die kleine verbale Entgleisung, für die Maddalena sich schämte.

In Zolis hagerem Gesicht prangte eine auffällige Hakennase, die an einen Raubvogel denken ließ. Dagegen ließ sich nichts machen. Seine Maria liebte ihn trotzdem.

»Inzwischen kenne ich Ihren geschätzten, wenn auch sehr schwarzen Humor ganz gut«, schwindelte er und errötete bis zu den Ohren.

Vorsichtig stellte er die Thermoskanne auf Maddalenas Schreibtisch ab. »Ich hole schnell die Tasse.«

»Sagen Sie mal«, hielt Maddalena ihn zurück, um wieder etwas Leichtigkeit in die Situation zu bringen, »Ihre Gattin, Maria, ist doch auch Sizilianerin? Meine Pilates-Lehrerin kommt aus Palermo. Vielleicht möchte Maria an unserem Kurs teilnehmen? Wir sind eine Gruppe von Frauen, die auch nach dem Kurs noch zusammensitzen und viel Spaß miteinander haben. Stella, Lippis Angetraute, ist ebenfalls mit von der Partie.« Sie sagte das möglichst beiläufig, um Zoli keinen Grund zur Eifersucht zu geben. Er wusste natürlich um ihre enge Freundschaft zur Ehefrau des Kollegen Guido Lippi, doch Zoli war sensibel.

»Ich richte es ihr heute noch aus.« Er zögerte und ergänzte verlegen: »Es wird ihr vermutlich gefallen, mit Ihnen, Commissaria, zu turnen.«

Sichtlich geehrt und noch eine Spur röter, verließ er ihr Büro, und Maddalena spürte, dass er immer noch eine kleine Schwäche für sie hegte.

4

Fabrizio korrigierte augenscheinlich eifrig und mit nicht zu überhörenden Kommentaren die Geschichtsklausuren seiner Schüler.

Bibiana dröhnte der Kopf, und in ihrem Unterleib spürte sie spitze Stiche.

Üblicherweise schwächelte er und nicht sie.

Eine Zeit lang war er so nervös gewesen, so fahrig, dass sie ihn am liebsten eigenhändig zu Dottor Beltrame, ihrem Hausarzt, geschleppt hätte. Zum Glück hatte sich seine bedauernswerte Gemütsverfassung inzwischen gelegt, und er war wieder ganz der Alte. Ein von den Römern und Griechen besessener Typ, der aber seine Familie über alles liebte und ihr stets den Vorzug vor seiner Arbeit als Lehrer gab. Simone, sie und seine anspruchsvolle, fordernde Mutter bildeten seinen ganzen Lebensinhalt.

Auch sein Aussehen hatte sich zu seinem Vorteil verändert. Fabrizio hatte sich lange Zeit keinen Deut darum geschert, dass er immer runder wurde. Erst als Bibiana ein Machtwort gesprochen hatte, war ihm aufgegangen, dass er ihr nicht mehr so gut gefiel wie am Anfang ihrer Beziehung. Sie hatte ihm eine Essensumstellung verordnet, und er bemühte sich sehr, sich daran zu halten.

Bibiana strich ihre schwarzen Haare zurück und drückte mit den Daumen gegen ihre Schläfen, dann presste sie eine Hand auf ihren Unterleib. Das Pochen und Stechen wollte nicht aufhören. Ihr entfuhr ein: »Au!«

Fabrizio hielt mit seinen Korrekturen abrupt inne und drehte sich zu ihr um. »Bibiana, bella mia! Du bist so schrecklich blass. Hast du heute wieder diese Kopfschmerzen? Du arbeitest eindeutig zu viel.«

»Tue ich nicht«, wehrte sie ab. »Ich habe sogar ein paar Besichtigungstermine auf morgen verschoben. Ich bin nur ein wenig müde, aber das legt sich wieder.«

»Triffst du dich heute mit Maddalena und den Mädels?«

»Klar doch, ich hole Maddy ab, und danach kippen wir ein paar Gläschen.«

Fabrizio schüttelte den Kopf. »Übertreibe es nicht. Das wird deine Kopfschmerzen nicht mildern. Im Gegenteil, ein ordentlicher Kater macht dich noch fertiger, als du es ohnehin schon bist.«

»Ich bin nicht fertig. Was quasselst du da?« Sie mochte es nicht, wenn Fabrizio sie belehrte, sie war keine seiner Schülerinnen, und noch weniger konnte sie es annehmen, von ihm auf ihr blasses Aussehen angesprochen zu werden. Es war ihr natürlich nicht entgangen, dass etwas mit ihr nicht stimmte, nichts war so wie sonst. Seit Kurzem hatte sie auch noch diese quälenden Schmerzen im Unterbauch. Wüsste er davon, würde er sie unmittelbar ins Krankenhaus bringen.

»Bibiana, tut mir leid«, sagte er und sah sie mit seinem Dackelblick so herzzerreißend an, dass sie nicht anders konnte, als zu lachen.

»Ist schon gut.«

»Sag mal, bella mia«, setzte er vorsichtig an, stand auf und kam zu ihr. Er fläzte sich neben sie auf die Couch und drückte sie fest an sich.

Sie mochte seinen Geruch, es lagen eine Prise Fichtennadeln und der Duft nach wilden Bergblumen darin. Und das hier am Meer, wo fast alles nach den Pinien, dem Salz, den Fischen, dem Rosmarin, dem Basilikum und den Zitronen roch. Sogar die teuersten Aftershaves.

Sie kicherte und schmiegte sich eng an ihn.

»Machst du dich über mich lustig? Das mag ich nämlich gar nicht so gern. Es reicht, wenn meine Schüler ihre Witzchen über mich reißen.«

»Aber nein, du liegst völlig falsch. Ich dachte nur gerade, dass mich dein Duft an den eines Bergsteigers erinnert, den es von den hohen Bergen und Almwiesen hierher nach Grado verschlagen hat.«

»Was? Ich stinke nach Kuhdung?« Er schüttelte sich.

Sie lachten beide herzlich.

Dann wurde er ernst und holte tief Luft. »Du weißt, dass ich dich nicht unter Druck setzen will, keineswegs. Ich sehe ja, wie erschöpft du bist. Aber ich frage mich, ob wir die Sache mit dem zweiten Kind irgendwie falsch angehen.«

Es war ein ständiges Thema zwischen ihnen.

Meistens, da hatte er schon recht, fühlte Bibiana sich durch seine Nachfragen in Bedrängnis gebracht, denn mit der Schwangerschaft wollte und wollte es einfach nicht klappen. Dabei verstand sie Fabrizios Verlangen besser als jeder andere, es war schließlich ebenso ihr Wunsch.

Sie fragte sich oft, was denn bitte die Schwierigkeit war? Beim ersten Mal war alles ganz schnell gegangen. Dabei hatte sie zu der Zeit gar kein Baby haben wollen, aber als ihre bezaubernde Tochter dann zur Welt gekommen war, änderte sich alles. Sie konnte sich ein Leben ohne ihren süßen Schatz nicht mehr vorstellen. Und sie wünschte sich von Herzen ein Geschwisterchen für sie.

Sie lächelte, doch irgendwie war ihr, als schwebte eine dunkle Wolke bedrohlich über ihnen. »Es will momentan einfach nicht klappen. Noch dazu ist mein Menstruationszyklus völlig durcheinandergeraten. Ständig habe ich Zwischenblutungen. Ich kenne mich schon gar nicht mehr in meinem Kalender aus.«

»Wie bitte? Davon hast du mir nichts erzählt. Solltest du mal zum Arzt gehen und dich durchchecken lassen?« Fabrizio rückte ein Stück von ihr ab und sah sie besorgt an.

»Keine Angst. Da war ich schon. Es scheint alles okay zu sein.« Bibiana klang ruhiger, als sie sich in Wirklichkeit fühlte. »Der Dottore meinte, das sei normal, so etwas komme manchmal vor. Ich müsse geduldiger werden, weniger Stress haben, dann funktioniert das schon mit dem zweiten Kind.«

»Wenn das so ist, versuchen wir es einfach weiter. Egal, ob du nun den berühmten Eisprung hast oder eben nicht. Wir vergessen den Kalender und lassen es auf uns zukommen. Was meinst du?«

»Finde ich klasse. Genau so gehen wir es an. Lockerer und eine Spur ungezwungener. So könnte es vielleicht wirklich funktionieren. Nichts würde mich glücklicher machen.« Sie lächelte Fabrizio gelöst an, küsste ihn auf die Wange und stand auf. »Ich lege mich nur mal kurz aufs Ohr, damit ich für den Kurs nachher fit bin. Könntest du dann bitte Simone aus der Kindergruppe holen?«

»Selbstverständlich. Ich beschäftige unser kleines Monsterchen, damit du ungestört schlafen kannst.«

»Danke, du bist so lieb. Ich stelle mir den Wecker, damit ich rechtzeitig aufwache, um Maddalena abzuholen.«

»Wird das Training nicht zu viel sein, wenn du ohnehin schon geschlaucht bist? Auch deine Kräfte sind begrenzt.«

»Quatsch. Das wird lustig. Darauf freue ich mich schon riesig.«

Bibiana zog sich ins Schlafzimmer zurück.

Sie schloss die Jalousien, um den Tag auszublenden, und kuschelte sich unter ihre leichte Sommerdecke.

Dann stellte sie den Wecker und schlief tief ein.

5

Komisch, dachte Maddalena, es ist gar nicht Bibianas Art, mich einfach so zu versetzen und dann nicht mal ans Handy zu gehen, wenn ich versuche, sie zu erreichen. Eigenartig, vielleicht war ihr Telefon auf lautlos gestellt.

Sie wartete nun schon über zwanzig Minuten, und wollte sie den heutigen Kurs nicht versäumen, musste sie wirklich langsam los.

Nach einem weiteren erfolglosen Versuch, schon im Gehen begriffen, eilte sie hinaus und kam keuchend gerade noch rechtzeitig vor Beginn der ersten Lektion an.

Außer ihr waren schon fast alle Teilnehmerinnen anwesend.

Maddalena lächelte in die Runde, wischte den Schweiß von ihrer Stirn und wurde von den anderen mit einem überraschend ernsten Kopfnicken begrüßt.

Bibiana fehlte.

Und noch eine weitere der Frauen war nicht da.

Maddalena, die nie alle Namen im Kopf behielt, suchte in ihrer Erinnerung nach ihrem Namen.

Inzwischen war die Gruppe größer geworden; sie hatte Stella, die Ehefrau ihres Mitarbeiters Guido Lippi und inzwischen eine ihrer engsten Freundinnen, zum Mitmachen überredet, und Gianna, die Frau von Gianluca Pirandelli, einem beliebten Gynäkologen, der seit einiger Zeit in Fossalon praktizierte, hatte sich während Maddalenas Abwesenheit ebenfalls dazugesellt. Die lebhafte, mollige Mailänderin war Maddalena auf den ersten Blick sympathisch gewesen, und mit ihren Erzählungen über die neuesten Abenteuer ihres kleinen Sohnes Vittorio brachte sie alle stets zum Lachen.

Jetzt fiel ihr der Name wieder ein.

Cinzia. Cinzia Bocelli.

Die war ebenfalls nicht da.

Zwar waren fast nie sämtliche Teilnehmerinnen anwesend. Maddalena selbst fehlte regelmäßig, aber über dem Trainingsraum lag diesmal eine eigenartig gedrückte Stimmung.

Sie warf Stella einen fragenden Blick zu.

»Weißt du, wo Bibiana abgeblieben ist?«, flüsterte sie, während sie ihre Trainingsmatte neben der Freundin auf dem Boden ausbreitete. »Sie wollte mich eigentlich abholen.«

Stella schüttelte bloß den Kopf und sah betreten auf ihre Matte.

»Was ist denn heute los? Ist irgendetwas passiert, das mir entgangen ist?«, fragte Maddalena nun weniger gedämpft.

»Es ist schrecklich. Unfassbar. Nicht zu glauben«, flüsterte Stella. »Stell dir das mal bitte vor, Maddalena. Cinzia ist gestern Abend gestorben.« Ihre Stimme schwankte.

»Was? Unsere Cinzia? Die aus dem Kurs? Wie ist das geschehen? Gab es einen Unfall? Das wäre mir doch gemeldet worden.« Beklommen setzte Maddalena sich in Position.

»Ich weiß es nicht. Sie lag wohl einige Zeit im Krankenhaus von Monfalcone und ist dann unerwartet und plötzlich verstorben. Die Zamparutti hat uns eben darüber informiert. Ich nehme an, sie weiß es von Lara. Sie und Cinzia kannten einander doch schon seit der Kindheit.«

Vorsichtig musterte Maddalena Lara von der Seite und bemerkte erst jetzt deren rote, geschwollene Augen. Betreten wandte sie sich ab. Sie schämte sich, den Kummer einer der anderen Frauen zu beobachten. So gut kannte sie Lara und Cinzia nicht, ihre Begegnungen waren auf die Turnübungen hier im Saal und gelegentliche Drinks danach beschränkt gewesen. Zu privaten Treffen war es nie gekommen.

Niemand konnte sich heute so richtig konzentrieren.

Immer wieder wurden befangene Blicke ausgetauscht. Und so manche Träne wurde verstohlen von kalkweißen Wangen gewischt.

Endlich war das Training vorüber, und nach einer kurzen Dusche schlüpfte Maddalena in ihre Jeans und das Shirt mit den langen Ärmeln und zog einen dunklen Hoodie über ihren Kopf. Die langen Locken drehte sie zu einem Zopf, den sie mit ihrem eigenen Haar zusammenband. Dann stieg sie in ihre unvermeidlichen Boots und warf den in die Jahre gekommenen Rucksack mit den Trainingsklamotten über ihre Schultern.

Stella wartete bereits. »Was von Bibiana gehört?«

»Nichts. Gar nichts. Ich versuche es später noch mal, und wenn sie wieder nicht rangeht, rufe ich Fabrizio an und frage ihn, warum sie nicht ans Handy geht.«

Gemeinsam machten sie sich Arm in Arm, bestürzt über den Tod ihrer Pilates-Kollegin, auf den Weg zu Stefanos Bar.

Francesca war schon vor Ort und hielt einen der Tische im hinteren, ruhigeren Teil für sie besetzt.

»Ich habe eine Runde Cynar caldo bestellt, der tut uns jetzt gut.«

Maddalena mochte dieses Getränk, das so intensiv nach Artischocken und Orangen schmeckte. Sie fühlte sich außerdem verspannt wie selten nach den Pilates-Übungen, und der Alkohol würde ihre Muskeln lockern.

Bibianas flapsige Versprechungen, einige Runden Prosecco auszugeben, fielen ihr ein.

Hastig kramte sie das Handy aus dem Seitenfach ihres Rucksacks und überprüfte die eingegangenen Nachrichten.

Außer ein paar Fotos von der Safari ihrer Mutter gab es keine neuen Nachrichten oder Anrufe.

»Komisch«, meinte Stella, »das passt ganz und gar nicht zu unserer Quasselstrippe. Vielleicht ist Simone krank? Das wäre eine Erklärung.«

Bevor Maddalena Fabrizio anrufen konnte – Bibianas Handy war inzwischen ausgeschaltet –, trafen die anderen aus dem Kurs ein und setzten sich zu ihnen. Stefano brachte die Getränke und stellte eine Schale Pistazien in die Mitte des Tisches.

Er wusste, dass sie alle diese gerösteten Nüsse hoch schätzten und eine nach der anderen mit Genuss verschlangen. Francesca lachte jedes Mal, wenn er das Knacken der Schalen hörte und ihr zuzwinkerte.

»Falls ihr Chips oder Grissini mit Prosciutto wollt, meldet euch.« Er strich seiner Frau liebevoll übers Haar, und Francesca lächelte ihn glückselig an.

Da die strenge Sizilianerin nicht mitgekommen war, konnten sie sich ungezwungen austauschen.

Lara schniefte unentwegt in ihr Taschentuch und schien sich in einer anderen Welt, fern der ihren, aufzuhalten.

Sie mussten sie da herausholen.

Annamaria, eine der Älteren in der Pilates-Gruppe, legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern. »Was ist denn nur passiert? Hatte Cinzia einen Autounfall? Warum hast du dich nicht bei uns gemeldet?«

Lara schüttelte Annamarias Arm brüsk ab, und Maddalena dachte, dass es keine allzu gute Idee war, Lara auch noch Schuldgefühle zu bereiten. Aber Annamaria handelte, ohne groß nachzudenken. Ein wenig erinnerte die Köchin sie an ihren Franjo, der auch sehr spontan und unüberlegt hatte sein können.

»Es war doch kein Unfall, Mensch. Wie kommt ihr darauf? Sie hatte Krebs im Unterleib«, brachte Lara schließlich unter Tränen hervor.

Claire sog erschrocken die Luft ein.

»Sie haben es zu spät entdeckt, die Krankheit war schon zu weit fortgeschritten. Überall hatte sie Metastasen. Die haben sie dann in kürzester Zeit gekillt.«

»Sie war doch vor gar nicht allzu langer Zeit noch im Kurs, und da wirkte sie fröhlich. Gar nicht belastet, so als wäre sie schwer krank«, warf Francesca überrascht ein.

»Da wusste sie es ja selbst noch nicht. Es kam völlig überraschend, auch für sie.«

Maddalena bemerkte aus den Augenwinkeln, dass Gianna sich zu Stella hinüberbeugte. »Kannst du bitte einen Moment mit mir hinausgehen? Ich muss mit jemandem reden. Mir platzt sonst der Kopf«, hörte sie sie flüstern und war erstaunt über das Zittern in ihrer Stimme. Sonst unterhielt die Mailänderin alle nur zu gern mit lustigen Geschichten.

Stella warf Maddalena einen ebenso verwunderten Blick zu, folgte aber der Aufforderung. Sie stand umständlich auf und sagte leise: »Ruf du bitte in der Zwischenzeit Fabrizio an. Ich bin beunruhigt, weil Bibiana sich nicht meldet.«

Während die beiden die Bar verließen, erhob Maddalena sich und stellte sich in eine ruhige Ecke. Sie tippte auf Fabrizios Nummer in ihrer Favoritenliste.

Er hob nach dem ersten Läuten ab.

»Maddy«, seine Stimme war kaum zu verstehen, »ich hätte dich später selbst angerufen.«

»Wann später?« Maddalena war im höchsten Grad alarmiert. »Geht es um Simone, ist sie krank?«

»Nein, mit Bibiana stimmt etwas nicht. Ich konnte sie nicht wach bekommen, und den alten Wecker, den sie sich für den Kurs gestellt hatte, hat sie komplett verschlafen, obwohl ich ihn selbst im Wohnzimmer hören konnte. Wir warten jetzt auf Dottor Beltrame. Bibi sitzt hier neben mir, aber sie wirkt apathisch und schläft ständig zwischen zwei Wörtern ein.«

»Soll ich bei euch vorbeischauen?«, brachte Maddalena wie betäubt hervor. »Ich kann in ein paar Minuten da sein.«

»Bitte mach das. Ich bin der Situation allein absolut nicht gewachsen. Bibiana hält sonst das Zepter in der Hand. Und so habe ich meinen Schatz noch niemals zuvor erlebt.«

»Bin gleich bei euch«, erwiderte Maddalena, die spürte, dass sie jetzt Bibianas Rolle zu übernehmen hatte. Fabrizio klang, als wäre er völlig durch den Wind. Sie zwängte sich an den anderen Gästen vorbei nach draußen, ohne noch einmal zum Tisch zurückzukehren und den Freundinnen einen Grund für ihr plötzliches Verschwinden zu nennen. Stefano warf ihr einen fragenden Blick zu.

Maddalena zuckte nur hilflos mit den Schultern, schob ihr Handy in die Hosentasche und verließ das Lokal. Ein angenehmer frischer Wind blies ihr entgegen und trug den salzigen Geruch vom Hafen herüber.

Stella stand mit Gianna nahe bei der Tür und hörte ihr aufmerksam zu.

Erst als Maddalena sie anstupste, wurde sie von Stella bemerkt.

»Was?«

»Ich muss weg. Fabrizio steht total neben sich. Bibiana ist krank, so scheint es. Sie schläft immer wieder ein, ist kaum ansprechbar. Er wartet mit ihr auf Dottor Beltrame. Ich laufe schnell hinüber und hoffe, ihn unterstützen zu können.«

Gianna trat einen Schritt zurück. »Stella, wenn du Maddalena begleiten möchtest, bitte, nur zu. Das hier hat Zeit. Wir reden später weiter, vielleicht die Woche bei einem Cappuccino?«

»Nein«, wehrte Maddalena ab, »Stella, bleib da und zahl mein Getränk. Ich rufe dich an, sobald ich Genaueres weiß.«

Stella nickte betroffen und wandte sich wieder Gianna zu.

6

Gianna schämte sich.

War sie zu weit gegangen, sich einer Frau anzuvertrauen, die sie nicht wirklich gut und lange kannte? Ihr dieses Geheimnis zuzuflüstern?

Nicht zuletzt angesichts der tragischen Ereignisse war das wohl ein Verstoß gegen die guten Sitten. Eine Kollegin aus dem Kurs war verstorben, und sie wusste nichts Besseres, als über ihre inneren Ängste und Zweifel zu sprechen.

Ungeachtet dessen zeigte Stella sich verständnisvoll und hatte nicht im Geringsten vorwurfsvoll reagiert.

»Bist du dir sicher, oder liegt das alles im Bereich bloßer Vermutungen?«, fragte sie jetzt.

Gianna wickelte den Schal mit dem bunten Paisleymuster enger um ihren Hals. So kaschierte sie hoffentlich die aufkommenden hektischen Flecken, die sich bereits durch unerträgliches Jucken bemerkbar machten. Das passierte immer, wenn sie sich aufregte.

Sie zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern und wandte den Blick von der Freundin ab. Stella nahm zweifelsohne an, dass hinter dem, was Gianna ihr erzählt hatte, nicht mehr als die überreizte Phantasie einer Großstädterin steckte, der es in dem kleinen Dorf auf dem Land langweilig geworden war.

Stellas nächste Frage deutete jedoch auf das Gegenteil hin, sie klang abwägend.

»Sag mal, wann hast du eigentlich aufgehört, in der Praxis deines Mannes mitzuarbeiten?«

Gianna musste nicht lange grübeln. »Eigentlich schon in Mailand. Vor Vittorios Geburt habe ich vom Empfang über die Terminvergabe und kleinere Assistenzarbeiten bis hin zum Abschicken der Proben an die unterschiedlichen Labors und zur Buchhaltung alles gemacht. Gianluca meinte oft, ich sei nicht mehr wegzudenken aus seiner Praxis. Dann kam Vittorio zur Welt, und ich war nur noch für bestimmte Tätigkeiten verantwortlich, die nicht meine Anwesenheit erforderten.«

»Hm«, machte Stella. »Du warst aber weiterhin in seiner Praxis angestellt?«

»Nun, zuerst schon, keine Frage. Auch dann noch, als wir nach Fossalon gezogen waren, doch als … Mariella zu uns stieß, sagte er, er könne mich nur noch halbtags anmelden.«

»Und was genau führt dich nun zu der Annahme, dass dein Mann eine Affäre mit dieser Mariella hat?«

»Zum einen bleibt sie immer viel zu lange mit Gianluca in der Praxis. Das könnte man natürlich als Arbeitseifer interpretieren. Aber es steckt mit Sicherheit mehr dahinter, denn die Tür zum Flur, der unseren Wohnbereich mit der Praxis verbindet, bleibt verschlossen, auch wenn die Patientinnen längst weg sind. Das war am Beginn ihrer Zusammenarbeit nicht so. Dann spricht er häufig abfällig über ihr Aussehen. Ein Umstand, den ich höchst bedenklich finde, denn Mariella ist eine auffallend hübsche junge Frau.«

»Wie sieht sie denn aus?«

»Langes schwarzes Haar, das sie immer ordentlich hochgesteckt trägt, dazu himmelblaue Augen, und sie hat den Körper einer Göttin«, erklärte Gianna verdrossen.

»Du bist doch aber selbst nicht von schlechten Eltern.« Stella betrachtete sie von oben bis unten und blinzelte ihr zu.

»Ach, ein bisschen Make-up und teure Klamotten können so einiges verbergen.«

»Denkst du das wirklich? Oder ist das bloß ›Fishing for Compliments‹?«

»Nein. Darum geht es mir nicht. Ich bin mir meiner Vorzüge wie auch meiner Nachteile durchaus bewusst. Und so einer Frau wie Mariella, der kann ich rein äußerlich nicht das Wasser reichen.«

»Geht es denn wirklich nur noch um äußere Schönheit? Das ist unter allen Umständen lächerlich.« Feine Röte stieg in Stellas Gesicht.

»Da hast du natürlich recht. Aber gleichzeitig muss ich dir auch widersprechen. Natürlich ist das Aussehen eines Menschen neben anderen Dingen ausschlaggebend dafür, ob sich ein anderer von ihm angezogen fühlt oder eben nicht. Das wirst du sicher nicht in Abrede stellen, oder?«

»Nein, schon klar. Das sehe ich auch so.«

»Weißt du, die sogenannten inneren Werte klingen zwar toll, aber wenn es darauf ankommt, vergessen viele, vor allem Männer, dass es sie gibt.«