Grusel-Thriller 06: Die Seltsamen - Jan Gardemann - E-Book

Grusel-Thriller 06: Die Seltsamen E-Book

Jan Gardemann

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Beschreibung

Menschenähnliche Kreaturen mit übernatürlichen Fähigkeiten treiben in Russland seit Jahrhunderten verdeckt ihr Unwesen. Sie haben sich im Schutz der Intoleranz, die in der Zeit der Sowjetrepublik gegenüber Religion herrschte, im gesamten Land ausgebreitet. Über ihre Vergangenheit und Herkunft ist bisher nur wenig bekannt. Lesen Sie die unglaublichen Abenteuer des deutschen Europol-Ermittlers Felix Pechstein. Er kämpft unermüdlich gegen die Seltsamen Geschöpfe. Die Printausgabe des Buches umfasst 222 Seiten. Die Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch ist nur auf derVerlagsseite des Blitz-Verlages erhältlich!!!

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Jan GardemannDIE SELTSAMEN

In dieser Reihe bisher erschienen:

3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave

3402 Ina Elbracht Der Todesengel

3403 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Der Fluch des blinden Königs

3404 Thomas Tippner Heimkehr

3405 Melanie Vogltanz Die letzte Erscheinung

3406 Jan Gardemann Die Seltsamen

3407 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Höllische Klassenfahrt

Jan Gardemann

Die Seltsamen

Ein Grusel-Thriller

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Eric HantschLektorat: Uwe Helmut GraveTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerVignette: iStock.com/Hein NouwensSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-959-1Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Teil 1 – Madame Chikolewa

Manche Stadteile in Moskau wirkten so heruntergekommen und verwahrlost, dass man Lust bekam, die Häuser mit einer Planierraupe in Schutt und Asche zu legen, um Platz für Neubauten zu schaffen – so jedenfalls sah Boris Karmanow die Sache. Er selbst wohnte in einem Palast auf dem Kutusowski-Prospekt, nicht weit vom Kreml entfernt, und empfand eine tiefe Abscheu für alles, was mit Armut, Elend und Schwäche zu tun hatte.

All diese unnützen Attribute wurden nach seinem Dafürhalten in dem Stadtteil vereint, den aufzusuchen er sich in dieser Nacht auferlegt hatte.

Die Häuser im nördlichen Gebiet von Krasnosel’skyi waren über hundert Jahre alte Arbeiterbehausungen. Ihrem Äußeren nach zu urteilen hatte man sie das letzte Mal wohl vor fünfzig Jahren notdürftig saniert. Putz und Farbe blätterten von den Fassaden. Die einglasigen Fenster waren staubblind und wiesen nicht selten Risse und Sprünge auf. Wären die am Straßenrand parkenden Kleinwagen mit ihrer modernen Ausstattung nicht gewesen, man hätte sich leicht ins vergangene Jahrhundert zurückversetzt fühlen können, in eine Zeit, da Moskau noch die Hauptstadt der Sowjetunion gewesen war.

Boris hielt sich gern in der Gesellschaft der Reichen und Wohlhabenden auf, denn dort gehörte er seiner Meinung nach hin. Er liebte die pompösen Bälle, die in den Villen und Palästen Moskaus abgehalten wurden, und er redete bei diesen Anlässen mit Vorliebe über die Kultur seines Landes, über die Komponisten, die Russland hervorgebracht hatte, über russische Dichter und Philosophen und insbesondere über die Maler.

Umso unbehaglicher fühlte er sich jetzt, im Schatten eines baufälligen Erkers, der über ihm aus der bröckeligen Fassade einer Mietskaserne ragte.

Die Straße, in der er sich aufhielt, wurde auf beiden Seiten von Wohnblocks gesäumt. Sie sahen so schäbig und heruntergekommen aus, dass es Boris nicht gewundert hätte, wäre eines der Gebäude plötzlich unter lautem Getöse in sich zusammengestürzt, um all die armen Schlucker, die darin hausten, unter einem Berg aus Trümmern und Schutt gnädig zu begraben.

Boris schüttelte sich. Aber nicht etwa, weil er unter seinem langen Cashmermantel fror oder weil er sich wegen der Einsturzgefahr der baufälligen Häuser um die Bewohner sorgte. Vielmehr bereitete ihm die Vorstellung Unbehagen, durch einen dummen Zufall in dieser finsteren Gasse erkannt zu werden. Auf der nächsten Lust­barkeit würde man sich über ihn das Maul zerreißen, weil er in einem Stadtteil gesehen worden war, der hauptsächlich von Prostituierten, Drogenabhängigen und Asozialen bevölkert wurde.

„Was hat Karmanow dort wohl zu suchen gehabt?“, würden sich die Leute hinter vorgehaltener Hand zu Recht fragen. „Ob er über eines dieser billigen ­Mädchen gestiegen ist? Oder hat er sich Drogen beschafft?“

Boris schnaufte verächtlich, um den fiktiven Klang des Lachens aus seinem Kopf zu vertreiben, das die ­Kostgänger ihren idiotischen Lästereien folgen lassen würden. Natürlich wäre keiner dieser Dummschwätzer mit seinem beschränkten Vorstellungsvermögen in der Lage gewesen, sich auch nur annähernd auszumalen, was Boris wirklich in diesem Stadtteil wollte.

Das hätte er an deren Stelle auch nicht vermocht, musste er unumwunden zugeben. Der Grund seines Aufenthalts in der Srednayaya Pereyaslavskaya ulitsa war so haarsträubend, dass er selbst kaum glauben konnte, den Fuß unter diesen Voraussetzungen in den verhassten Stadtteil gesetzt zu haben.

Und doch war er hier.

Boris vergrub seine rechte Hand in der Manteltasche und zog einen Notizzettel hervor, stark verknittert, da er ihn schon oft mit der Faust umschlossen hatte.

Eine Adresse war darauf notiert. Obwohl Boris die Notiz auswendig kannte, verglich er die Zahl auf dem Zettel akribisch mit der Nummer auf dem Emailleschild, das auf der anderen Straßenseite an der Fassade eines Wohnhauses angebracht war. Das verwitterte Schild hing neben einer schmutzigschwarz lackierten Tür im Souterrain. Ein paar ausgetretene Stufen endeten direkt vor der Schwelle.

Die Nummer auf dem Zettel und die auf dem Schild stimmten überein. Auch der Straßenname war identisch.

Boris Karmanow schüttelte grimmig den Kopf und fragte sich zum wiederholten Mal, warum keiner seiner Männer dieses Haus hatte finden können. Stattdessen waren sie, Stunden nachdem Boris sie losgeschickt hatte, in seinem Büro erschienen und hatten ihm mit niedergeschlagener Miene mitgeteilt, sie könnten das Haus mit der angegebenen Nummer in der Srednayaya Pereyaslavskaya ulitsa nirgends entdecken.

Wütend presste Boris die Kiefer aufeinander und zerknüllte den Zettel abermals in seiner Faust.

Er hatte drei seiner besten Leute losgeschickt, und keiner hatte dieses verlotterte Haus angeblich entdecken können – vor dem er nun stand! Wenn es ihm, Boris Karmanow, auf Anhieb gelungen war, das Haus ausfindig zu machen, warum war es dann den dreien nicht geglückt?

Hatten sie sich etwa gegen ihn verschworen? Bahnte sich in seiner Organisation eine Revolte an, ein Machtwechsel an der Spitze des Kunstraub-Syndikats, das er vor fünfzehn Jahren von seinem inzwischen verstorbenen Vater übernommen hatte?

Boris hielt alles für möglich. Trotzdem würde er wohl auf eine Bestrafung der drei Männer verzichten, nicht, weil er ein Nachsehen mit ihnen hätte oder gar befürchtete, durch eine Strafaktion den Unmut seiner Leute hervorzurufen. Nein, es hing mit den Worten zusammen, die Thomas Lewkos während des letzten Arbeitstreffens geäußert hatte …

„Du musst Madame Chikolewa schon persönlich aufsuchen, wenn du ihre Dienste in Anspruch nehmen willst, Boris“, hatte er erklärt und geheimnisvoll dabei gegrinst. „Andernfalls wird ein Kontakt niemals zustande kommen. Sie gehört zu den Seltsamen Geschöpfen, die sich, im Schatten des von den Sowjets verordneten Atheismus, im Gebiet der ehemaligen Sowjetrepubliken ungestört haben ausbreiten können – und die nicht selten übernatürliche Kräfte besitzen.“

Boris hatte den Mann verständnislos angestarrt und sich gefragt, ob ihn dieser fette Kerl, dessen sündhaft teurer Anzug wie die Hülle einer kurz vor der Häutung stehenden Schlange über seinem Bauch und an den Oberarmen spannte, nur mal kräftig veralbern wollte.

Doch Boris kannte Thomas Lewkos seit vielen Jahren und wusste, dieser würde sich niemals über seine Geschäftspartner lustig machen. Lewkos musste tatsächlich von der Existenz der Seltsamen Geschöpfe überzeugt sein, von denen Boris auch schon aus anderem Munde erfahren hatte. Bisher hatte er das Gerede über die übernatürlichen Wesen, die sich zu Sowjetzeiten angeblich in den Republiken etablieren konnten, allerdings für baren Unsinn gehalten.

Dass nun ausgerechnet Thomas Lewkos von diesen mystischen Wesen sprach, gab Boris zu denken. Und der Dicke hatte nicht nur über diese Kreaturen geredet – er hatte ihm, Boris, sogar empfohlen, eines dieser Seltsamen aufzusuchen und anzuheuern!

Thomas Lewkos war ein Mann, an den man sich wandte, wenn man mit bestimmten Leuten bestimmte Probleme hatte. Diese Probleme lösten sich dann ziemlich rasch, weil derjenige, der sie heraufbeschworen hatte, zumeist plötzlich spurlos verschwand.

Manchmal, wenn der Kunde dies so wünschte, wurde die Leiche des Querulanten aber auch irgendwo in ­Moskau entdeckt, zugerichtet auf eine Art und Weise, die unmissverständlich darauf hindeutete, dass der Tote vor seinem Ableben höllische Qualen durchlitten hatte – damit alle, die sich mit diesem Burschen eingelassen hatten, die Warnung verstanden.

Von einem soliden zuverlässigen Geschäftsmann wie Thomas Lewkos, das wusste Boris mit unumstößlicher Sicherheit, waren keine halbgaren Behauptungen oder Scherze zu erwarten. Wenn Lewkos sagte, Boris solle wegen seines Problems Madame Chikolewa persönlich aufsuchen, war es, wie er jetzt erkennen musste, sinnlos, seine engsten Vertrauten loszuschicken anstatt selbst mit der Frau Kontakt aufzunehmen.

Boris’ Widerwille, diesen schäbigen Stadtteil zu betreten, war so groß gewesen, dass er sie lieber zu sich in den Palast bestellt hätte – mochte sie nun ein Geschöpf sein oder nicht. Doch das hatte sich als unmöglich heraus­gestellt. Dass seine Leute in der Srednayaya Pereyaslavskaya ulitsa nicht hatten fündig werden können, und dass Madame Chikolewa keinen Telefonanschluss besaß und auch im Internet nicht erwähnt wurde, hätte jeden anderen von ihrer Nichtexistenz überzeugt. Nicht aber Boris Karmanow, denn für ihn war eine Falschinformation aus Lewkos’ Mund undenkbar. Wenn dieser Berufsmörder behauptete, bei Madame Chikolewa würde es sich um ein Seltsames Geschöpf handeln, das man persönlich aufsuchen müsse, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen – dann entsprach das auch der Wahrheit! Basta!

Oder es zeugte davon, dass dieser Fettsack langsam anfing, den Verstand zu verlieren.

Wie sich nun herausstellte, gab es die von dem Killer erwähnte Adresse tatsächlich.

Die Seltsamen Geschöpfe verstanden es offenbar, sich vor den Sowjets zu verbergen. Und anscheinend bereitete es ihnen auch keine Schwierigkeiten, die Handlanger eines Gangsterbosses an der Nase herumzuführen. Dass seine Leute versagt hatten, war demnach sein Entscheidungsfehler gewesen, und darum durfte er sie nicht bestrafen. Das verbot ihm seine Ganovenehre.

In der Gasse gab es nur wenige funktionierende Straßenlaternen; ihre Lichtinseln waren weit gestreut und sorgten kaum für Helligkeit. Von oben sickerte ein fahles Schimmern in die Straßenzeile. Es rührte von der tief hängenden Wolkendecke her, die von den Lichtern der Stadt erhellt wurde und wie flüssiges Blei aussah, das zäh über den Himmel hinwegfloss.

Das Licht spiegelte sich auf dem Blech der am Straßenrand parkenden Fahrzeuge und ließ die Müllsäcke neben den Eingängen der Mietshäuser matt aufschimmern. In den Schatten huschten Ratten, die sich am Unrat gütlich taten.

Verdrossen ließ Boris den Blick schweifen. Nur wenige der ihn umgebenden Fenster waren erleuchtet – sie stierten wie die Augen von unter Gelbsucht leidenden Patienten stumpf und nichtssagend aus den Fassaden. Von irgendwoher drang der Lärm einer Musikanlage herüber: vermutlich der Song einer russischen Punkband, der sich aber eher wie Baulärm anhörte. Ein Betrunkener brüllte und eine Frau kreischte. In der Ferne bellte ein Hund.

Dies alles wurde untermalt von den allgegenwärtigen Geräuschen des Stadtverkehrs, der in Moskau auch um diese nachtschlafende Zeit nicht ruhte. In der Luft hing der Gestank von Müll und Schimmel, der Boris fast den Atem raubte.

Der Gangster spürte, dass er nicht mehr zögern durfte. Wenn er noch eine Minute länger unschlüssig in dieser Gasse herumstand, würden sein Ekel und sein Abscheu so übermächtig werden, dass er auf dem Absatz umkehren und sich eilig davonmachen würde. Ob er sich später noch einmal dazu überwinden könnte, den Stadtteil aufzusuchen? Das bezweifelte er stark. Dann würde er wohl eine andere Problemlösung finden müssen…

… falls das überhaupt möglich war.

Boris hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um der ärgerlichen Angelegenheit Herr zu werden – und es war ihm nicht gelungen. Umso wichtiger war es, dass er nun endlich in Aktion trat!

Er gab sich einen Ruck und überquerte die Straße. Mit trippelnden Schritten eilte er die drei ausgetretenen Stufen zur Souterrainwohnung hinab und stand schließlich vor der Tür mit der Hausnummer sieben.

Die Fenster, die zu Madame Chikolewas Wohnung gehörten, waren von innen mit schwarzer Lackfarbe angemalt, doch der Anstrich war fahrig ausgeführt worden. Der Pinsel hatte Streifen in der Lackschicht hinterlassen, durch die ein rötlicher Schimmer nach außen drang.

Vergeblich suchte Boris nach einer Klingel. Schließlich ballte er die Faust und schickte sich an, gegen das Türblatt zu trommeln.

In diesem Moment schwang die Tür mit lautem Knarren auf, und ein kleinwüchsiger, krummbeiniger Mann stand vor ihm.

Ein Grinsen umspielte die Lippen des Gnoms. Er trug einen braunen Cordanzug und darunter einen schwarzen Rollkragenpullover. Das halblange Haar hatte er sich hinter die Ohren gestreift, die fast rechtwinklig von seinem Kopf abstanden und sogar am Schädel eines Zweimeter-­Hünen noch zu groß gewirkt hätten.

„Haben Sie sich endlich dazu durchgerungen, uns mit Ihrem Besuch zu beehren?“, fragte er respektlos, wobei er das Kunststück vollbrachte, beim Reden das Grinsen beizubehalten. „Sie wären nicht der Erste, der den Mut nicht aufbringt und unverrichteter Dinge wieder abzieht.“

Boris starrte den Gnom finster an. Anscheinend hatte dieser Bursche ihn beobachtet, während er im Schatten auf der anderen Straßenseite gestanden hatte und seinen Gedanken nachgehangen war.

„Ich möchte Madame Chikolewa sprechen“, sagte Karmanow barsch.

Das Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers vertiefte sich noch. „Dass Sie keine Unterredung mit mir zu führen wünschen, hätte ich mir fast denken können.“

Boris wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, doch der Zwerg trat nun einen Schritt beiseite und winkte ihn herein – wobei Karmanow befremdet feststellte, dass dessen „Wink-Arm“ viel länger als der andere war.

„Kommen Sie, Madame Chikolewa erwartet Sie bereits.“

Zögernd kam Boris der Aufforderung nach. Er bereute es, seinem Chauffeur und Leibwächter Jewgenij aufgetragen zu haben, mit der Limousine beim Mira-Prospekt auf ihn zu warten. Wenn er hier und jetzt in einen Hinterhalt geriet, war er ganz auf sich allein gestellt.

Unwillkürlich ließ er die rechte Handfläche über seinen Mantel gleiten. Als er die Härte der Pistole in seinem Gürtelholster spürte, fühlte er sich besser.

Aufmerksam ließ er den Blick durch das Zimmer schweifen. Der vordere Bereich war nahezu leer. Drei mit schwarzen Altarkerzen bestückte Kandelaber standen vor einer Fensterwand. Die unruhig brennenden Flammen ließen Schatten durch den Raum huschen. Hatte diese Wohnung etwa keinen Stromanschluss?

Der Gnom schob sich an Boris vorbei auf einen Schreibtisch zu, der mit der Schmalseite an der Wand stand und so weit in den Raum hineinragte, dass er ihn in zwei Bereiche teilte.

Umständlich zwängte sich der Zwerg in den engen Durchgang, der auf der anderen Seite zwischen Tisch und Wand verblieben war, kletterte hinter dem Schreibtisch auf einen Barhocker und sah Boris mit seinen Glubschaugen erwartungsvoll an.

„Was ist nun?“, blaffte Karmanow ungehalten. „Wollen Sie mich nicht zu Madame Chikolewa führen?“

Der Kleinwüchsige zog ein dickes, in Leder gebundenes Buch aus einer Schublade und wuchtete es auf die Arbeitsplatte. „Wenn Sie sich zuvor hier bitte mit Ihrem Namen verewigen möchten“, sagte er mit übertriebener Höflichkeit und klappte den Wälzer auf.

Boris trat zögernd vor den Schreibtisch und starrte das Buch misstrauisch an. In seinem Gewerbe hinterließ man nicht gern etwas Schriftliches.

Die aufgeschlagenen Seiten waren leer. Die Bögen schienen nicht aus normalem Papier zu sein, sondern stellten eher eine Art Pergament dar, wie Boris leicht verwundert feststellte. Er glaubte sogar eine schwache Maserung, die ihn entfernt an menschliche Hautfältchen erinnerte, auf den gelblichen Seiten zu erkennen. Angewidert betrachtete er die Borsten, die von den Kanten des Ledereinbandes abstanden.

„Sie brauchen keine Angst zu haben“, ließ sich der Gnom vernehmen. „Ihre Daten werden bei uns vertraulich behandelt. Kein Mensch wird je erfahren, dass Sie hier waren.“

Gewaltsam riss sich Boris vom Anblick des Buches los. „Und wozu soll ich dann meinen Namen eintragen?“

„Weil Madame Chikolewa Sie sonst nicht empfangen wird.“

Boris atmete tief durch. Wenn er nicht so arg in Bedrängnis gewesen wäre, hätte er dem unverschämten Burschen jetzt die Faust ins Gesicht gepflanzt und wäre gegangen.

So aber musste er das Spiel, das der Gnom mit ihm trieb, wohl oder übel mitmachen.

Er schickte sich an, seinen Mantel zu öffnen, um seinen goldenen Füller aus der Innentasche hervorzuholen.

„Das ist nicht nötig“, wehrte der Gnom ab, zog eine weitere, kleinere Schublade auf und nahm eine Schreibfeder heraus. An ihrem Kiel war mit einem Bindfaden ein krallenförmiger länglicher Gegenstand festgezurrt, der nach vorn spitz zulief.

„Strecken Sie Ihre Hand aus“, verlangte der Zwerg.

In dem Glauben, der Mann wolle ihm die Schreibfeder reichen, hielt Karmanow arglos seine rechte Hand hin – und schrie auf, als ihm der Gnom die Krallenspitze der Feder tief in den Handballen trieb.

„Haben Sie den Verstand verloren?“, rief Boris erbost und wedelte mit der verletzten Hand herum, als hätte er sich verbrannt. Er war drauf und dran, die russische Armeepistole zu ziehen, um dem Gnom eine Kugel in seinen hässlichen Schädel zu jagen. „Wer weiß, womit Sie mich da gerade infiziert haben!“

Der Gnom grinste nur und hielt Boris die Feder hin, an deren Spitze nun ein dicker Blutstropfen hing. „Schreiben Sie!“

Verärgert riss Boris dem Mann das Schreibutensil aus den Fingern und kritzelte seinen Namen auf die leere Seite. Das Kratzen und Schaben der Feder ließ ihn innerlich erschauern.

Diese ganze Angelegenheit kam ihm immer absurder vor. Wollte der Zwerg ihn einschüchtern? Das würde ihm nicht gelingen! Verächtlich warf Boris die Feder auf die Schreibtischplatte und starrte den Gnom von oben herab an.

„Und jetzt will ich Madame Chikolewa sehen! Sofort!“

Der Kleinwüchsige glitt vom Hocker. Er katzbuckelte und deutete wie ein Zirkusdirektor hinter sich auf eine Tür. „Madame Chikolewa wird Sie gern empfangen.“

Boris schob sich durch den Spalt zwischen Wand und Schreibtisch und folgte dem Gnom, der ihm humpelnd vorauseilte und seine Hand auf die Türklinke legte.

„Sie dürfen Madame Chikolewa aber nicht zu nahe kommen“, mahnte er und hob den verdorrten Zeigefinger. „Halten Sie respektvoll mehrere Schritte Abstand zu ihr!“ Er grinste dreckig. „Diese Maßnahme dient Ihrer eigenen Sicherheit. Hüten Sie sich, Madame Chikolewa zu berühren, denn das wäre Ihr Ende.“

„Quatschen Sie nicht so kariert“, erwiderte Boris, dem die Sache allmählich zu bunt wurde.

Langsam bereute er, hierhergekommen zu sein – und er nahm sich vor, dem Gnom von seinen Leuten eine Abreibung verpassen zu lassen, sollte sich herausstellen, dass der Besuch in dieser verwahrlosten Souterrainwohnung der Mühe nicht wert gewesen war.

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Boris blickte in einen von Kerzenlicht schummerig beleuchteten Raum. Wärme und süßlicher Moschusgeruch strömten ihm entgegen.

Auch in diesem Zimmer standen hohe Kerzenständer. Doch das Licht der schwarzen Altarkerzen breitete sich kaum aus, sodass nur wenige Einzelheiten zu erkennen waren.

Dass er die Schwelle des Zimmers bereits übertreten hatte, bemerkte Boris erst, als die Tür hinter ihm plötzlich ins Schloss fiel.

Ein rascher Blick über die Schulter verriet ihm, dass der Gnom ihm nicht gefolgt war. Umso besser. Es hätte ihm ganz und gar nicht behagt, in Gegenwart dieses kauzigen Burschen von den Problemen zu sprechen, die in seiner Organisation aufgetreten waren.

Boris Karmanow richtete seine Aufmerksamkeit nun wieder nach vorn. Angestrengt versuchte er, das Halbdunkel, das im Zimmer herrschte, mit Blicken zu durchdringen. Schließlich entdeckte er in der Mitte des Raumes ein großes rundes Bett, etwa drei Schritte von ihm entfernt. Jemand lag darin.

Oder doch nicht? Nein, das Bett war leer. Was er anfangs für einen menschlichen Körper gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Dutzend bunter Kissen, die verstreut auf der Decke lagen. Sie waren teilweise mit kleinen runden Spiegeln bestickt, die das trübe Kerzenlicht reflektierten. Was sollte dieser Humbug?

Obwohl sich Boris’ Augen langsam an das schummerige Licht gewöhnten, vermochte er doch nirgendwo eine Gestalt zu erblicken. Das ominöse Bett war offensichtlich der einzige Einrichtungsgegenstand in diesem Zimmer. Von der Decke – die viel höher war als die im nebenan gelegenen Empfangsraum – hing wie ein ­schlaffer ­Fesselballon ein schwarzes sackartiges Stoffgebilde herab.

Boris vermutete, dass es sich dabei um den Stoffhimmel des Bettes handelte. Wahrscheinlich, so überlegt er, ließ sich der Beutel wie ein Baldachin aufspannen, sodass das Bett schließlich komplett von dem nachtschwarzen Stoff überwölbt wurde.

Boris schmunzelte, als er an die ausgefallenen Bett­kreationen dachte, die er manchmal in den Schlafzimmern reicher Damen, welche er hin und wieder mit seiner Aufmerksamkeit beglückte, zu Gesicht bekam. Gegen diese aufwändigen Installationen wirkte der zusammenklappbare Baldachin hier im Raum eher lächerlich.

Unwillkürlich zuckte er zusammen, und die Erinnerungen an die delikaten Schlafzimmereinrichtungen seiner vermögenden Gespielinnen stoben wie aufgeschreckte Krähen davon.

Aus dem unteren Teil des schlaffen Ballons starrte ihn das Antlitz einer Frau an. Das Gesicht stand auf dem Kopf und wirkte im Vergleich zu den auffällig grellrot geschminkten Lippen und dem dunklen Stoff, der es umgab, weiß wie die Fratze eines Toten. Es schälte sich regelrecht aus dem Halbdunkel hervor.

Die Augen der Frau waren unverwandt auf Boris gerichtet und schienen ihn sezieren zu wollen. Die Farbe der Iris war ein sattes Grün, was er trotz der schlechten Lichtverhältnisse erstaunlich gut erkannte, und die Pupillen waren weit geöffnet. Im Blick der Frau lag ein Ausdruck unverhohlener Gier.

Karmanow schluckte und taxierte den von der Decke herabhängenden Stoff genauer.

Da er nun wusste, dass eine Frau kopfüber in dem Stoffgebilde steckte, glaubte er, die weiblichen Konturen, die sich darunter abzeichneten, deutlich zu sehen.

Allem Anschein nach hatte Madame Chikolewa ihre Füße irgendwo an der Decke verhakt und schwebte – die Arme vor dem Körper verschränkt – mit dem Kopf etwa einen halben Meter über dem Bett.

Was der Zweck dieser ungewöhnlichen Turnübung war, vermochte Boris nicht zu sagen. Folgte Madame Chikolewa etwa dem Rat einer abgedrehten Schönheitsberaterin? Vielleicht bildete sie sich ein, ihre fahle Gesichtshaut bliebe länger jung, wenn sie eine Stunde am Tag kopfüber von der Decke hing. Sie hatte wohl eben erst mit dieser Maßnahme begonnen, denn noch war ihr das Blut nicht zu Kopf gestiegen – bei weitem nicht.

Boris’ Frau hatte zu ihren Lebzeiten ähnlich verrückte Dinge unternommen, um sich ihr jugendliches Aussehen zu bewahren. Doch all die schmerzhaften Yogaübungen und Gurken und Avocadoscheiben in ihrem Gesicht hatten Mirka nicht vor dem Krebsleiden bewahren können, das sie kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag schließlich dahingerafft hatte.

„Was führt dich zu mir, Boris Karmanow?“, fragte die Frau in dem Stoffballon. Ihre Stimme klang dünn und leise, trotzdem konnte Boris sie so deutlich verstehen, als wisperte sie ihm die Worte direkt ins Ohr.

„Ich … ich hoffe, ich komme nicht ungelegen“, stammelte er leicht irritiert.

Madame Chikolewa warf den Kopf in den Nacken und lachte meckernd, wobei ihr Körper vor und zurückschwang.

„Kommt ganz darauf an, was du von mir willst.“

Boris sah sich verstohlen um. „Ich … komme in einer heiklen Angelegenheit zu Ihnen“, erklärte er zögernd.

„Das klingt schon mal vielversprechend.“

Boris überlegte, ob dieser Einwurf frivol oder aufmunternd gemeint war. „In meiner Organisation scheint es einen Verräter zu geben“, wurde er deshalb gleich konkreter. „Jemand beraubt mich.“

Die Frau lächelte sardonisch. „Boris Karmanow, ein Ganove, dessen Organisation sich auf Kunstraub und Hehlerei spezialisiert hat, wird selbst bestohlen?“

Boris maß die Frau mit einem prüfenden Blick. Obwohl ihre Worte spöttisch klangen, hatte er nicht das Gefühl, sie wolle sich über ihn lustig machen.

Madame Chikolewa wusste beunruhigend viel über ihn und seine Organisation. Woher? Boris konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass sie dieses Wissen von Thomas Lewkos bezogen hatte. Lewkos galt als verschwiegen und loyal und würde sich selbst von einer so exzentrischen Frau wie Madame Chikolewa nicht zum unbedachten Plaudern verleiten lassen.

„Ich bin mit meinem Latein am Ende“, gestand Boris ihr offen ein. „Mir wurde gesagt, Sie könnten mir bei der Behebung dieses Problems helfen.“

„Was genau soll ich denn tun?“, erkundigte sich die Frau lauernd.

„Finden Sie denjenigen, der mich beklaut – und machen Sie ihm den Garaus!“, erwiderte Boris hart.

Unvermittelt riss Madame Chikolewa den Mund auf und stieß ein schrilles Kreischen aus.

Boris wich entsetzt zurück. Irrte er sich, oder hatte er hinter den rotgeschminkten Lippen tatsächlich zwei Reihen messerscharfer spitzer Stummelzähne erblickt?

Der große dunkle Stoffbeutel bebte und zitterte. Madame Chikolewa warf ihren Oberkörper so heftig hin und her, als hätte sie in ihrem seltsamen Kokon plötzlich Raumangst bekommen. Dabei stieß sie Schreie aus, die in Boris’ Ohren so befremdlich klangen, dass er nicht zu sagen vermochte, ob die Frau damit nun Schmerz oder Lust ausdrückte.

Madame Chikolewa breitete die Arme aus – und das, was Boris für einen Sack gehalten hatte, öffnete sich …

Überrascht stellte er fest, dass die Frau unter dem schwarzen Stoff nackt war. Ihre verkehrt herum herab­hängenden Brüste wirkten auf ihn abstoßend – und gleichzeitig überaus anziehend und reizvoll.

Boris erhielt keine Gelegenheit, den schlanken Leib der jungen Frau länger anzustarren. Im nächsten Moment stürzte Madame Chikolewa mitsamt ihrem schwarzen Cape hinab auf das Bett, in einer sehr elegant anmutenden Bewegung. Der schwarze Stoff rauschte, während sie im Fall einen halben Salto beschrieb und rittlings auf dem nachfedernden Bett landete, den Rücken ihrem Besucher zugekehrt.

Mit einer flinken Bewegung wirbelte Madame Chikolewa auf dem Bett zu Boris herum und schleuderte das schwarze Cape mit ausgestreckten Armen empor, sodass der Eindruck von zwei ausgebreiteten Schwingen entstand. Knatternd flatterte der nachtschwarze Stoff durch die Luft und schmiegte sich im Herabsinken wie ein lebender Mantel um den Körper der Frau.

Boris war so verblüfft, dass er nur dastand und staunte. Ihm erschien es, als sei das Cape an den Handgelenken, dem Rücken und den Fußfesseln seiner Trägerin festgewachsen. Augenscheinlich bestand dieses ungewöhnliche Kleidungsstück aus dünnem geschmeidigem Leder.

„Du willst also, dass ich jemanden für dich töte?“

Madame Chikolewa sprach nun mit ruhiger Stimme. Sie saß im Yogasitz aufrecht auf dem Bett und betrachtete ihren Besucher abschätzend mit schief gelegtem Kopf.

Ihr Haar war rabenschwarz, wie Boris erst jetzt erkannte. Es war zu zwei hohen, seitlich abstehenden Haartörtchen drapiert, die wie Fledermausohren anmuteten.

Boris nickte. „Ja. Sie sollen diesen verfluchten Langfinger für mich ausfindig machen und ihn erledigen.“

„Und es gibt für dich keinen anderen Weg?“, hakte die Frau nach.

„Wäre ich sonst hier?“, erwiderte Boris gereizt.

Er zwang sich zur Ruhe und fügte erklärend hinzu: „Ich bewahre besonders wertvolle Gemälde in einem begehbaren versteckten Safe in meinem Palast auf. Nur ich kenne die Zahlenkombination. Der Tresor ist an einer Stelle verborgen, die ich bisher für unauffindbar gehalten hatte.“

„Und dieser Safe wurde nun entdeckt und geknackt“, konstatierte Madame Chikolewa.

Boris schnaubte verächtlich. „Wenn es so simpel wäre, bräuchte ich Ihre Hilfe nicht. Es ist weitaus komplizierter. Wer immer sich der kostbaren Gemälde bemächtigte, die meine Leute während spektakulärer und sehr kostspieliger Aktionen aus mehreren europäischen Museen organisiert haben, ging bei dem dreisten Diebstahl äußerst raffiniert vor. Der Safe wurde nicht etwa aufgebrochen oder auf andere Art gewaltsam geöffnet.“

Boris ballte die Fäuste.

„Der Dieb hat irgendwie den komplizierten Kode geknackt, mit dem der Schließmechanismus aktiviert wird.

---ENDE DER LESEPROBE---