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Gruselgeschichten gibt es, seit der Mensch Geschichten erzählt. Seit dem Buchdruck werden sie selten mündlich weitergegeben. Um die Tradition der Gruselgeschichten aufrecht zu erhalten, finden sich in diesem e-book Geschichten von 1796 bis 1916. Das Besondere an diesen Erzählungen ist nicht das Alter der Erzählungen, sondern die Art und Weise wie sie damals erzählt wurden und heute in dieser Form nicht mehr erzählt werden.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2025
Herausgeber
Erik Schreiber
Gruselgeschichten
e-book 3
Gruselgeschichten
Erscheinungstermin 01.10.2025
© Erik Schreiber
An der Laut 14
64404 Bickenbach
Titelbild: Archiv Andromeda
Vertrieb neobook
Herausgeber
Erik Schreiber
Gruselgeschichten
Inhaltsverzeichnis
Christian Heinrich Spieß Der Geisterseher des fünfzehnten Jahrhunderts 1797
Paul Leppin Severins Gang in die Finsternis 1914
Gottfried Benn Gehirne 1916
Max Brod Eine Gespenstergeschichte 1916
Gottfried Benn Die Eroberung 1916
Heinrich Zschocke Fahrt nach Brczwezmcisl 1796
Gottfried Benn Die Reise 1916
Chinesische Gespenstergeschichte Der erfolgreiche Liebhaber o. J.
Gottfried Benn Der Geburtstag 1916
Paul Leppin Die Spinne 1914
Christian Heinrich Spieß Der Geisterseher des fünfzehnten Jahrhunderts oder Idee von der Gewalt über die Geister
Im letztern Viertheile des fünfzehnten Jahrhunderts lebte zu Nürnberg ein Mann mit Namen Simon Ottmair. Dieser Mann verband mit einer heftigen Neugierde, die er für Vaterlandsliebe hielt, einen entschiedenen Hang zum Sonderbaren und Außerordentlichen. Reiner Natursinn für das wahre und gute – sonst ein Grundzug des deutschen Charakters – verschmolz bei ihm in einer mehr als warmen Theilnahme an den Schicksalen seiner Nation, und ging alsdann nicht selten zum Abentheuerlichen über. Er war seinem Gewerbe nach ein Goldschmied und gehörte zu den wohlhabenden Bürgern der Stadt. Da er kinderlos war, und ihn keine häuslichen Sorgen drückten, so sah er sich im Stande, seiner Lieblingsneigung nicht leicht eine der Befriedigungen zu versagen, die für eine gespannte Einbildungskraft so viele Reize haben. Der menschliche Geist, durch Schmachten und Sehnen hervorgehoben, hat nicht selten auf entfernte Zeiten und Örter gewirkt, oder vielmehr der Zusammenfluß mitwirkender Ursachen hat in der Folge realißirt, was die Begeisterung im lieblichen Gewebe ihrer Bilder voraussah. Vielleicht hat es wenige große Auftritte in der Welt gegeben, welche nicht lange vor ihrer Erscheinung dunkel geahndet, und durch die verschiedenen Äußerungen der Dichtungskraft geoffenbaret worden wären. In dieser Bemerkung fließt alles zusammen, was an den Orakeln und Vorherverkündigungen Wahres seyn mag. Den Nimbus der Göttlichkeit gab ihnen meist die vergrößernde Volkssage, der Hang zum Wunderbaren und die Leichtgläubigkeit der Nachkommen. Ob die folgende Erzählung zu dieser art von Erscheinungen gehört, oder worin sonst ihr Wunderbares bestehe? bleibt für jetzt unentschieden. Die Chronikenschreiber, wenn sie derselben darthun sollten, würden nicht mehr verlegen seyn, als bey manchen Wundergeschichten, die man ihnen auf Treue und Glauben nacherzählt hat. Simon Ottmair war keiner der organisirten Menschen, in deren Vorstellungen Klarheit und Lebhaftigkeit einander begegnen; aber eine ungeduldige Neugierde ersetzte bey ihm, was seinen Ahndungen an Deutlichkeit gebrach; und um diese zu füllen, war kein Weg so ausserordentlich, den er nicht betrat. Einen Manne dieser Sinnesart konnte der Ruf des als Geisterseher allgemein bekannten Doktor Fausts nicht lange verborgen bleiben, und nichts war seiner Freude zu vergleichen, als dieser Apollonius seines Zeitalters bald darauf nach Nürnberg kam. Er hofte nicht nur seinen Durst in die Geheimnisse der Zukunft zu dringen, durch die Vermittelung des Thaumaturgen zu stillen, sondern auch selbst in seinen Künsten eingeweiht zu werden. In den Wirkungskreis eines außerordentlichen Mannes versetzt, nimmt die durch Neugierde gespannte Eigenliebe Theil an seinem Geiste; die Begriffe von Handeln, und bey einer Handlung gegenwärtig seyn, verschmelzen in ein dunkles Gefühl von unsrer eigen Wichtigkeit, und nähren den Stolz. Doktor Fauts Ankunft war nicht sobald ruchbar geworden, als ihn Ottmair besuchte, und sein Verlangen zu erkennen gab, die bekannte Erfahrung, daß ähnliche Characktere einander anziehen, erhält erst durch eine feinere Modifikation das Gepräge einer psychologischen Wahrheit. Ähnlichkeit wird nur durch eine Beymischung von Verschiedenheit reizend, und dies war der Fall bey unsern Männern. Beyde Seelen hatten einen mächtigen Hang zum Wunderbaren und strebten also nach einem gemeinschaftlichen Ziele: Allein sie trennten sich wieder auf dem Wege, dieses Ziel zu verfolgen. Ottmair bezog alle äußerlichen Eindrücke und die dadurch erzeugten Ideen auf sich selbst; seine Empfindungen gingen aus dem feurigen Reichthum seiner Phantasie hervor, und verschmolzen in der Behaglichkeit an einen selbst geschaffenen Ideale. Faust hingegen, ob er gleich nicht minder lebhaft empfand, hatte in allem das Wirken auf andre zur Absicht. Seinen Zeitgenossen vielleicht auch der Nachwelt, keinen Zweifel übrig zu lassen, daß er ein wahrer Magus sey, dahin zweckten, alle seine Gedanken und Handlungen. Die Geheimnisse, die er besaß, erleichterten ihm die Erreichung dieser Absicht sehr, und selbst der Geist des Jahrhunderts begünstigte seine Unternehmungen. Es war also nicht zu verwundern, daß zwey Characktere, deren jeder in dem andern ein Bedürniß zu befriedigen hatte,bey der ersten Bekanntschaft ineinander floßen. Faust wurde bald inne, daß er seinen Mann gefunden habe, und nahm in der Stille Maßregeln, seinen Ruhm zu befestigen, und das Publikum in der hohen Idee seiner Gewalt über die Geister zu bestärken. Ottmair aber glaubte schon am Ziel aller seiner Wünsche zu seyn: Er trug sein Anliegen mit einer Umständlichkeit vor, die sattsam zu erkennen gab, daß er alles von den Künsten des Sehers erwartete. Ihr verlangt viel von mir, mein Freund, „sprach endlich der Doktor mit einer sehr geheimnisvollen Miene, denn nur die Geister der ersten Ordnung vermögen in das Dunkel der Zukunft einzudringen, und über dieses hat die Magie keine Gewalt, es sey denn im höchst seltenen Fällen. Aber mein Herz will euch wohl, und so groß die Gefahr ist, der ich mich durch Anrufung eines olympischen Fürstens aussetzen werde, so ist doch eure Wißbegierde zu rühmlich, als daß ich sie nicht befriedigen sollte. Zwey Tage Vorbereitung sind zu diesem wichtigen Geschäfte nöthig; nach Verlauf derselben wird euch einer meiner Dienstbaren den Ort bezeichnen, wo ich euch zur Mitternachtsstunde erwarte. Bis dahin lebet wohl!„ Mit diesen Worten zog Faust seinen magischen Ring vom Finger und drückte ihn Ottmairn auf den Mund. Beyde schieden, ohne weiter ein Wort zu sagen, mit einem herzlichen Händedruck voneinander. Schwerlich hatte Ottmair in vierzig Jahren seines Lebenslaufs zwey Tage gezählt, die ihm so lang und doch so zurückschreckend schienen, als diejenigen, nach deren Verlauf er mit den Geheimnissen des berühmten Geistersehers seiner Zeit vertraut werden sollte. Endlich erschien der lang ersehnte Zeitpunkt.
Erste Nacht
Es war dunkler als gewöhnlich. Todesstille brütete bereits auf der Stadt, nur der ächzende Laut schnell aufgeregter Winde unterbrach das Schweigen einer grauenvollen Finsternis. Alles dies wirkte mit vereinter macht auf die Seele des bänglich harrenden Ottmairs. Kurz waren die Zwischenräume, welche seine gespannte Erwartung der wachsenden Furcht gönnte. Er ging unruhig im Zimmer auf und ab; jeder Laut, jeder Lichtschein erschreckte ihn. Es schlug zwölfe. Plötzlich flog die Thür seines Zimmers auf, eine weiße Gestalt mit vergoldeter Maske vor dem Angesicht trat herein. Ihr unhörbarer Tritt und eine schwefelblau brennende Fackel gaben sogleich den unter dem Namen Mephistophiles bekannte Boten des Geistersehers zu erkennen. Ottmair zitterte am ganze Leibe, faßte aber all seine Kräfte zusammen, und folgte, nachdem er einen Mantel umgeworfen hatte, dem Winke seines Führers.
Durch mancherley Krümmungen und Schlupfwege gelangten sie zur Wohnung des Thaumaturgen. Ein kalter Schauder befiel unsern Mann aufs Neue; als er ins Zimmer trat, und die Anstalten zur Geisterbeschwörung erblickte. Ein hohes geräumiges Gemach war durch eine Lampe, die an einer silbernen Kordel herabhieng schwach erleuchtet. Unmittelbar unter derselben stand ein runder schwarz bedeckter Tisch, auf dem eine Himmelskugel, ein Buch, und ein weißes Stäbchen zu sehen war. Faust empfing seinen Gast mit einem freundlichen Lächeln, gebet ihm aber durch Winke ein pythagoräisches Schweigen. Er nahte sich dem Tische und schlug das Buch auf, welches aus rothen Blättern mit schwarzen Characktern bestand. Nachdem er das weiße Stäbchen auf mehrere derselben gelegt hatte, ging er hinter einen gelben seidenen Vorhang, der das Innere eines Alkovens zu verbergen schien, und eine Art von Tabernakel vorstellte. Bald darauf wurde die Todesstille durch ein gelindes Knistern unterbrochen, das dem Säuseln des Windes in dürrem Laube glich. Der Geisterseher trat wieder hervor, und augenblicklich wurde das ganze Gemach durch einen Schein erhellt, der sich dem Vorhang gegenüber an der Wand in Form einer sehr großen Lichtscheibe abbildete. Der Glanz war heiter, ohne blendend zu seyn; es schien, als ob man in einen großen Spiegel sähe. Bald aber sammelte sich auf der reinen Fläche dieser Lichtscheibe eine Menge Wolcken, die sich endlich in einen blitz öffneten. Ein wohlgebauter Mann von außerordentlicher Größe, in eine schwarzbraune Thierhaut gehüllt und mit einer Keule bewaffnet trat aus dem Dunckel hervor. Sein Schritt war fest, der Blick feurig und drohend, sein ganzes Ansehen schrecklich. Eine geraume Zeit staunte Ottmair den furchtbaren Koloß an, als er mit Verwunderung bemerkte, wie der Halbwilde sich allmählich zum wohlgerüsteten Ritter wandelte. Die Gesichtszüge wurden menschlicher, die Thierhaut verlor sich in einen sschimmernden Panzer, die Keule schoß zur Picke empor, das straubige Haar blieb als ein wehender Federbusch auf dem Helme hängen. Die lebhafte Einbildungskraft kann, wie Ottmair nachher oft sich gegen seine Freunde äußerte, nichts ersinnen, das dem schrecklichen und doch männlich schönen Anstande dieses Ritters gleich käme. Er sah scharf und mit unverwandtem Blick nach der einen noch halb bewölkten Seite des Lichtkreises, aus welcher von Zeit zu Zeit ein ungeheurer Adler wüthend auf ihn zuschoß, dessen Anfälle er mit Schild und Lanze abwehrte. Die Kräfte des Ritters schienen im Kampfe zu wachsen, Stärke und zunehmende Gewandtheit gaben ihm ein entschiedenes Übergewicht. Der Adler verschwand endlich: aber sein Bild schwebte mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Helme des Ritters. Zu gleicher Zeit trat eine weibliche Gestalt hervor, und reichte dem Ritter friedlich die Hand. Sie war in ein langes weißés Gewand gehüllt, auf dem der Gürtel mit einem vom Halse herabfließenden Bandstreif ein schwarzes Kreuz bildete. Dicht an den Ritter gedrängt, umfing sie ihn mit den Armen der Liebe: aber ihr Blick war gebietender Stolz, und indem sie mit einer Hand dem Ritter einen Kelch darbot, suchte sie mit der andern ihm das Schwerdt aus den Händen zu winden. Fast wär' es ihr geglückt, als die Scene sich plötzlich änderte. eine andere weibliche Figur, deren majestätischen und doch freyrichtigen Gliederbau ein leichtes Purpurkleid angenehm umwallte, schien auf einer lichten Wolke herabzugleiten. Ihr Blick war Feuer, und zog, indem er zugleich Ehrfurchte einflößte, mit unwiderstehlicher Gewalt an sich. Hochgefühl und Eifer für Menschenglück sprach aus allen ihren Mienen. Ein stilles, von ihr ausgehendes Licht zertheilte die Wolken rings umher. Freundlich bot sie erst der erwähnten Gestalt im weißen Kleide, und dann dem Ritter die Hand; beyde schienen sich in ihrem Lichte zu verklären. Die gebieterische Despotenmiene der Dame ward allmählig zu wohltätigem Ernst herabgemildert; der Ritter aber stand wieder in seiner furchtbaren Größe da, sein rollendes Auge verrieth Bewußtseyn und innere Stärke. Ottmair erwartete neue glänzende Auftritt, als die weißgekleidete Dame plötzlich nach dem Diadem ihrer neuen Freundin griff. Ein trüber Duft, der sich allmählig verdickte, füllte den Luftkreis; die Gestalten wurden verdunkelt, daß sie zuletzt kaum noch sichtbar waren. Statt ihrer erschien eine Furie und schwang die rotglühende Fackel. Bisweien zertheilte sich der Nebel ein wenig; die Göttin im Purpurgewande schien alsdann der Unholdin die Fackel entwinden zuj wollen, allein die Dame mit dem schwarzen Kreuze stellte sich ihr drohend entgegen, und wiederholte Schwerdtschläge des Ritters auf die Fackel, gaben der Flamme immer neue Stärke. Während dieses Kampfs erschienen seitwärts mehrere Schreckbilder in vorübergleitenden Gestalten blad todtenbleiche Schatten, bald Larven, welche schnell die verborgenen Dolche zuckten, bald wahre Harpyen. Der Anblick war so grausend, daß Ottmair mehr las einmal die Augen wegwenden mußte. Jetzt krähte der Hahn. Das Knistern ließ sich von neuem hören, und mit einemmal war der Lichtkries hinweg. - Ottmair trocknete sich den Schweiß vom Angesicht, als Faust zu ihm trat, und ihm freundlich die Hand reichte. „Mein Freund“, sprach er „ist euch das, was ihr jetzt gesehen habt, verständlich?“ Ottmair, noch unfähig ein Wort hervorzubringen, bejahte die Frage bloß durch Zeichen. „Nun wohlann denn“, fuhr der Geisterseher fort, „ihr habt nicht nur den Ursprung und die Hauptepochen eures Volkes gesehen, sondern auch die nahe bevorstehende Katastrophe, wo es nach einer schrecklichen Zerrüttung sich in sich selbst formen, und seiner künftigen Größe entgegenreisen wird. Aber noch hat es manchen schweren Kampf zu bestehen. Was wir von der Zukunft zu enthüllen erlaubt ist, soll euchin einer zweyten und dritten Erscheinung gezeigt werden. Kommt nach zwey Tagen um die Mitternachtsstunde wieder; jetzt aber begebt euch zur Ruhe.“ Mit namenloser Gemüthsstimmung, die sich in ein Schweben zwischen Staunen und halb befriedigter Erwartung verlor, ging Ottmair seines Wegs, und wurde durch den Boten des Geistersehers nach Hause begleitet. Er warf sich aufs Ruhebett; aber schlaflos fand ihn der anbrechende Tag. Verloren in seinem Gesichte sschien er von jetzt an in eine andere Welt geworfen zu seyn. Mürrisch gegen seine Hausgenossen, verschlossen gegen jedermann - selbst gegen seine einigsten Freunde - verfolgte er unaufhörlich das Lieblingsbild seiner gespannten Erwartung. Jahre schienen ihm die bestimmten zwey Tage, und doch befiehl ihn kalter Schrecken, wenn er an die nächste Zusammenkunft mit dem Thaumaturgen dachte.
Zweyte Nacht
Nach Verlauf der bestimmten Frist wurde Ottmair, wie das vorigemal, gegen Mitternacht abgeholt, und in das Konklave des Geistersehers geführt. Dieser erschien in einer langen Dalmatika von violetten seidenem Zeuge gekleidet, worüber er ein kurzes weißes Oberkleid trug. Ein breiter goldner Gürtel mit schwarzen Charakteren umgabhg seine Lenden. Ausser der Weltkugel und dem Buche erblickte man auf dem Tische einen stählernen Spiegel, der mit einem Flor bedeckt war. Ein vom Fußgestelle des Spiegels ausgehender Arm trug eine kleine goldene Lampe, die aber nicht brannte. Alles war feyerlich und darauf angelegt, die Erwartung auf höchste zu spannen. Unaufhörlich mit den Zubereitungen zur bevorstehenden Erscheinung beschäftigt, schien Faust seinen Gast nicht zu bemerken; kaum daß ein Blick seitwärts auf ihn fiel. Er legte das weiße Stäbchen auf verschiedene Charaktere des Buchs und ging abwechselnd hinter den Vorhang. Ottmair sah indeß starr nach der Wand und erwartete mit jedem Augenblick die Erscheinung des Lichtkreises. Aber er kam nicht. Der Geisterseher, als er zum drittenmale aus dem Tabernakel heraus kam, verrieth Unruhe und Furcht in den Mienen. Er nahm den Flor vom Spiegel hinweg, und berührte darauf mit dem weißen Stäbchen den Tacht der Lampe, der augenblicklich sehr lebhaft zu brennen begann. Faust sah in den Spiegel: Das Knistern in der Luft ließ sich hören, und ward immer stärker. Ottmair, der mit banger Sehnsucht seinen Lichtkreis suchte, bemerkte stat dessen an der Wand einen senkrechten feurigen Strahl, der so plötzlich erschien, daß man nicht sagen konnte, ob er von oben oder von unten käme. Das Licht ward breiter, und die getrennten Wandtheile wurden, wie es schien, nachbeyden Seiten auseinander geschoben. Alles, was Erstaunen erregen konnte, sammelte sich in diesem weitoffenen Raume. Das Auge ruhte auf einer unabsehbaren Landschaft, die ein stiller, aber noch etwas trüber Himmel deckte. Eine wohlthätige Dämmerung verkündete den anbrechenden Tag. Auf dem Vorgrunde rauchten die Ruinen eines verödeten Schhlosses, aus denen bald eine weibliche Gestalt langsam hervorging, und sich an das Fußgestell einer umgestürzten Säule lehnte. Ein langes Purpurkleid umfloß ihren majestätischen Gliederbau, und auf dem Haupte trug sie eine Mauerkrone. Ihr Anstand war edel, aber das Angesicht blaß, und der Blick schmachtend. Sie schien im Zustande der Genesung nach einer langen Krankheit; man konnte sie mit einer Schönheit vergleichen, deren Reitze durch eine Beymischung von Kummer und Kränklichkeit nur desto anziehender werden. Ganz bezaubert von dieser Gestalt, bemerkte Ottmair kaum die Veränderung, die mit ihr vorging. Allmählich heiterte und stärkte ihr ganzes Wesen, wiederkehrende Kraft gab ihren Gliedern mehr Spannung und Gelengigkeit; Gesundheit röthete ihre Wangen, der Blick wurde feurig und gebietend. Sie richtete sich endlich auf, schön und erquickend wie die Hofnung. So stand sie voll innerer Würde und blickte ruhig umher, als eine andere weibliche Gestalt, von einem weißgrauen Gewand umflattert, mit gezücktem Dolche wütend auf sie zuging. Vergeblich bemühte sich die Göttin mit der Mauerkrone, ihrer Feindin den Dolch zu entwinden. Wiewohl die Stöße bey wiederholten Anfällen immer abglitten, so schien doch die wiederkehrende Stärke der Königin durch die neuen Kämpfe gehemmt zu werden; ihr Angesicht bläßte verschiednemal, sie war der Ohnmacht nahe. Bisweilen war der Dolch in der Hand der Wüthenden zum Lilienstengel; beyde Personen umarmen sich alsdann, und die Angreifende verbarg alle Äußerungen ihrer Wuth unter dem üppigen Gebärdenspiel morenländischer Wollust. Schwebendes Erheben des Körpers, ausgebreitete Arme, schmachtend hinsterbende Blicke - kurz, alle Künste der Verführung wurden in Bewegung gesetzt, und Ottmair bemerkte mit Erstaunen, daß die Gesichtszüge der Göttin sich der Pysignomie ihrer scheinbaren Freundin näherten, und zwar nicht zu ihrem Vortheile. Die Unbezwingliche, welche bisher immer die Angriffe ihrer Feindin vereitelt hatte, schien sich unter die Gewalt einer Panthomime zu schmiegen, deren süßes Gift sich elektrisch ihrem ganzen Wesen mittheilte. Sie verlor allmählich den majestätischen anstand und die Würde, die vorher aus ihren Mienen sprach, Ihre Bewegungen wurden wieder natürlich; die frische Röthe ihres Angesichts erstarb in einem widerlichen Gelb; selbst ihr Gewand änderte seine hohe Purpurfarbe und verbarg durch einen oft veränderten Faltenwurf den schönen Gliederbau. Die Umarmungen waren gleichwohl von keiner langer Dauer. Oft ward der Lilienstengel plötzlich wieder zum Dolch. Der Kampf wurde alsdann unter mehr oder minder veränderten Umständen, aber fast immer mit gleichem Ausgang, erneuert, bis endlich die Göttin ihre Kräfte sammelte, und mit einem Blick, in dem sich Unwille und wiederkehrende Größe malten, ihre Feindin zu Boden warf, die in ihren eigenen Dolch stürzte. Hier machte das Hahnengeschrey dem schrecklich prächtigen Schauspiel eine Ende. Ottmair, der diesmal mehr Muth zeigte, besprach sich mit dem Geisterseher über die Erscheinungen und ihre Bedeutung. „Vieles, mein Freund“, sagte Faust, „ist mir selbst zu durchschauen nicht vergönnt. Ihr habt jetzt den ersten Theil von der Periode beginnender Größe eures und meines Vaterlandes erblickt; der zweyte und bey weitem wichtigere ist noch übrig. Auch diesen sollt ihr nach anderen zwey Tagen enthüllt sehen, so weit die Geister ihn Sterblichen enthüllen dürfen. Theodosia - dieses ist der Name der Göttin mit der Mauerkrone - wird zum andernmale erscheinen; denn sie muß mit ihrer Feindin Franziska noch manchen Kampf bestehen, ehe sie ganz sie selbst ist.“ Mit diesen Worten verließ er seinen Gast, der sich sodann nach Hause begab. Ottmair brachte den Rest der nacht, so wie das vorigemal, schlaflos zu. Der darauf folgende Tag war nicht ruhiger; die rege Einbildung rief unaufhörlich die furchtbar schönen Erscheinungen zurück, die verworrenen Vorstellungen ordneten sich zu neuen erschütternden Gruppen. Indessen war es nicht ganz mehr jene betäubende Unruhe, die er nach der ersten nächtlichen Zusammenkunft mit dem Geisterseher empfunden hatte; das finstere in sich gekehrte Wesen verlor sich im Staunen eines Visionairs, der überwiegende Hang zum Wunderbaren milderte das Schreckliche der Geschichte zum Majestätischen herab. So wurde sein Gefühl allmählig mit dem Schauderhaften vertraut, sein Muth stählte sich, und seine aufgeregte Neugierde ließ ihn Reitze da finden, wo die kalte Vernunft zurückbebte.
Mit mehr Fassung, aber nicht minder großen Erwartungen, sah er jetzt dem dritten Abend entgegen, der das Werck krönen, und wie er glaubte, die Räthsel der Zukunft enthüllen sollte. Er bereitete sich frühzeitig und blätterte eben in den Schriften des Albertus Magnus, als der dumpfe Glockenschlag der zwölften Stunde ihn abrief.
Dritte Nacht
Die Thür des einsamen Zimmers ging leise auf, Mephistopheles trat herein. Die Maske, die er vor dem Angesichte trug, schien diesmal ganz flammend, und sein fliegendes Gewand übertraf sich an blendender Weise. Schon dieser Umstand war dem aufmerksamen Ottmair ein Wink von der Feyerlichkeit der bevorstehenden Erscheinung. Geheimer Schauder ergriff ihn, trotz aller Geistesgegenwart; doch folgte er seinem Führer mit angenommener Gleichgültigkeit. Beyde gelangten zum Zimmer des Thaumaturgen: Die Thürflügel sprangen von selbst auf, und nichts glich der Bestürzung Ottmairs, als er sich an einem ganz fremden oder ungeschaffenen Orte sah, von den vorigen Zurüttungen war nirgends eine Spur; kaum daß der gelbe seidne Vorhang den nemlichen Ort vermuthen liefs. Faust selbst kam nicht zum Vorschein, und der Bote war vor dem Eintritt in das Gemach verschwunden. Schon glaubte sich Ottmairverrathen, da er an einem so unzuverlässigen Orte ohne jeder Mißhandlung hülflos ausgesetzt war. Mit dumpfer Angst erwartete er sein Schicksal, als sich das bedeutungsvolle Knistern hören ließ. Die Fenster begannen zu zittern, wie im Sturmwinde; wiederholte Blitze verbreiteten ihr schreckliches Licht. Ottmair lauschte bebend auf die neue Erscheinung, als zu seinem größten Erstauenen die Wände und die Decke des Zimmers verschwanden, und er sich in einer unermeßlichen mit Wäldern und Strömen durchschnittenen Ebene befand. In neblichter Ferne ragten die Thürme prächtiger Städte und Vesten empor; eine neue Schöpfung begann rings umher, alles regte sich und schien im Zuge einer allgemeinen Veredlung zu seyn. Forschend flogen Ottmairs Blicke umher, und labten sich an den mannichfaltigen Reizen dieser weit ausgedehnten Fläche, als der Wind sich plötzlich erhob, und eine dunkle Wolcke herauftrieb. Ein zweyter Windstoß folgte; der Nebel trennte sich in einen neuen Blitz und Theodosia, wie Faust die Göttin mit der Mauerkrone nannte, erschien - aber in sichtbar veränderter Gestalt. Es war nicht mehr die gebiedende Königin voll innrer Kraft und Würde, ihr Angesicht schien geschminckt, der Blick matt und antheilnehmend, den Gliederbewegungen gebrach die innere Selbständigkeit und die damit verknüpfte Harmonie. Bey alle dem aber war in ihrem Anstande etwas furchtbar Großes, das unwiederstehlich fesselte. Sie war im Zustande wachsender Größe und Stärcke, ohne sich dessen bewußt zu seyn. Es währte nicht lange, so ließ sich Franziska; die Feindin mit dem dolche, wieder blicken. Ihr Ansehen war minder drohend, als das vorigemal, aber tückisch und auf verderbende List sinnend. Sie wagte keinen unmittelbaren Angriff, vielmehr suchte sie mittelst Darreichung ihrer Hand Theodosiens Freundschaft, obgleich in beyder Physignomie etwas war, das eine dauernde Vereinigung zwischen ihnen unmöglichzu machen schien. Mit einemmal entstand ein funkelnder Stern in der Mauerkrone der Göttin, ihr ganzes Wesen begann sich in diesem Augenblick zu verändern. Ihr großes rollendes Auge verrieth Mißtruen. Ihre Bewegungen wurden unbestimmt und widersprechend. Sie nahm sogar den Dolch aus der Hand ihre vermeinten Freundin Franziska und wandt' ihn gegen ihre eigene Brust. Doch schien in diesem Augenblick ein geheimer Widerwille sich ihrer zu bemeistern; sie ermannte sich und warf das tödliche Werckzeug fremder Arglist hinweg. Jetzt veredelte sich ihr Anstand im Gefühl von innrer Stärke und Überlegenheit; mit der furchtbaren Stille, die über große Entwürfen brütete, heftete sie eine geraume Zeit den Flammenblick an den Boden. Mehrere weibliche Gestalten, die sich durch ihre Attribute kennbar machten, schwebten vorüber, und betrachteten die Erhabene mit Blicken voll Ehrerbietung und Bewunderung. Unter ihnen zeichnete sich besonders eine aus, die einen Anker trrug, und von deren Schultern ein blauer Wimpel flatterte. Selbst Franziska sah unverwandt nach dem funkelnden Sterne, indem sie noch immer eine von Theodosiens Händen hielt. Diese räthselhafte Erscheinung löste sich bald in einer neuen Katastrophe, Franziska nahm plötzlich die Maske vom Angesichte, welche bisher Großmuth und Freundlichkeit log. Ottmair erblickte mit Entsetzen in ihren Zügen das Bild des Neides und der Verzweiflung. In ihrer rechten zuckte ein bluttriefender Dolch, gegen den Stern in Theodosiens Mauerkrone. Indeß hiel sie noch immer die Hand der Göttin in der ihrigen. Ein Blitz, der aus dem Sterne herausfuhr, zersplitterte den Dolch der Wüthenden wie Glas. Sie wiederholte gleichwohl die Angriffe mittelst eines neuen Dolchs, den sie aud den Busen hervorzog; allein der Stern, statt sein Licht zu verlieren, flammte nur um so lebhafter, und seine Blitze zuckten nach allen Seiten. Endlich gebrachen der Angreifenden die Kräfte, sie ließ den Dolch fallen, und zog sich zurück. Theodosia sammelte sich mit Würde; die Blitze des Sterns erstarrten in weit ausströmende Strahlen, und nichts glich dem majestätischen Anblick der unbesiegten Göttin. nach einer ziemlich langen Pause trat Franziska wieder hervor - bleich und kraftlos, wie der Mangel, aber mit dem gierigen Blick des dürftigen Stolzes. Ihr Anstand und ihre Bewegungen verriethen innere Zerrütung; ihr Athem war kurz und gebrochen, das Auge stier, ihr ganzes Wasen stille Wuth, die im Kampfe mit Ohnmacht einen furchtbaren Ausbruch drohte. Mit gelöstem Gürtel, fliegenden Haare, Dolch und Giftbecher in der Hand, stand sie da, und Ottmair vermuthete augenblicklich neuen Angriff. Er erfolgte, aber auf eine bisher ungewöhnliche Art. Eine dritte weibliche Gestalt in fuchsrothem Gewande, mit einem Affen unter dem Arme, stahl sich herbey und bekränzte den Becher der neuen Furie mit Rosen. Sie warf alsdann einen bedeutenden Blick auf Theodosiens reiches Gewand, ergriff Franziska's Rechte und zerfloß in einem erstickenden Schwefeldampfe. Gleich einer rasenden Bachantin trat Franziska mit gezücktem Dolche hervor, und hielt Theodosien den gekränzten Becher an die Lippen. Diese schien ihn zu kosten, und gerieth einen augenblick in konvulsivsche Bewegungen. Schon streckte die Wüthende ihr verwegen Hand nach der Mauerkrone der Göttin aus, als plötzlich ein Genius erschien, und Theodosien ein Flammenschwerdt reichte, daß diese mit schneller Fassung über dem Haupte schwang. Franziska bebte zurück, der Giftbecher entfiel ihren Händen und zerbrach. Ihr Körper zuckte in konvulsivischen Bewegungen, sie sammelte die letzten Kräfte der Verzweiflung, als der Genius ihr friedlich die Hand bot, und Ottmair eine Umwandlung ihrer Gestalt in eine jüngere viel schönere Form zu bemerken glaubte. Eine dunkle Wolcke entzog sie bald darauf seinen Blicken. Jetzt stand Theodosia wider sie selbst und ohne Flittern da. Ihr Blick heiterte sich, und wurde lockend, in dem er gebot. Noch nie war ihr Antlitz so majestätisch, das Ebenmaaß ihrer Glieder so auffallend, ihr Anstand so reitzend und frey gewesen. Die vollendete Schöpfung der Stärke und vernunft war in ihrem Bilde vereint. Uraniens Sternenkranz umgab ihr Haupt; die Genien der Künste und Wissenschaften streuten ihre Blumen. Die ganze Gegend umher verschönerte und erweiterte sich, die außerordentlichen Erzeugnissen des menschlichen Kunstfleißes wurden sichtbar; ein frohes Gewühl schien der Natur neue Kräften verleihen zu wollen. Ottmair verlor sich ganz im Anschauen der reizende Scene, als der Hahn krähte. Mit einemmal war die Erscheinung, aber nicht sein Erstaunen hinweg. Er sah sich wieder in dem Konklave des Thaumaturgen. Ein heftiger Donnerschlag unterbrach die bisherige Stille, die Blitze durchkreuzten sich, heulende Winde peitschen den Platzregen gegen die Fenster. Der seidene Vorhang flog wie brennendeer Zunder auf, daß ganze Gemach stand in Flammen. Ottmair sammelte die letzten Kräfte und suchte den Geisterseher mit den furchtbaren Blicken des Entsetzens. Er fand ihn, aber mit ausgebreiteten Armen, blauen Lefzen und verdrehten augen am Boden liegend. Hier verließ den Kühnen sein bisheriger Muth; er verlor das Bewußtseyn und taumelte nieder.
Es war hoch am Mittag, als er sin in seinen eigenen Bette wiederfand, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen wäre. Sein erster Gedancke war der Geisterseher und dessen Schicksal. „Ich muß“, sprach er zu sich selbst, „ihn aufsuchen: er allein kan mir über die Bedeutung der letzten Erscheinung Aufschluss geben.“ Er warf sich in seine Kleider, und flog in die Wohnung des Thaumaturgen. Aber Faust war verschwunden! Der Eigenthümer des Hauses sagte, daß er früh am Tage abgereist sey, man wisse nicht, wohin. Ottmair kehrte zurück, und mußte sich mit dem prophetischen Dunkelklar des Gesehenen begnügen.
Gottfried Benn Gehirne
Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft.
Jetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch Weinland, besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, feucht und aufgeweht von Ufern; an Rosen ist jedes Haus gelehnt, und manches ganz versunken. Ich will mir ein Buch kaufen und einen Stift; ich will mir jetzt möglichst vieles aufschreiben, damit nicht alles so herunterfließt. So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.
Dann lagen in vielen Tunneln die Augen auf dem Sprung, das Licht wieder aufzufangen; Männer arbeiteten im Heu, Brücken aus Holz, Brücken aus Stein; eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus.
Veranden, Hallen und Remisen, auf der Höhe eines Gebirges, in einen Wald gebaut — hier wollte Rönne den Chefarzt ein paar Wochen vertreten. Das Leben ist so allmächtig, dachte er, diese Hand wird es nicht unterwühlen können, und sah seine Rechte an.
Im Gelände war niemand außer Angestellten und Kranken; die Anstalt lag hoch; Rönne war feierlich zu Mute; umleuchtet von seiner Einsamkeit besprach er mit den Schwestern die dienstlichen Angelegenheiten fern und kühl.
Er überließ ihnen alles zu tun: das Herumdrehen der Hebel, das Befestigen der Lampen, den Antrieb der Motore, mit einem Spiegel dies und jenes zu beleuchten — es tat ihm wohl, die Wissenschaft in eine Reihe von Handgriffen aufgelöst zu sehen, die gröberen eines Schmiedes, die feineren eines Uhrmachers wert. Dann nahm er selber seine Hände, führte sie über die Röntgenröhre, verschob das Quecksilber der Quarzlampe, erweiterte oder verengte einen Spalt, durch den Licht auf einen Rücken fiel, schob einen Trichter in ein Ohr, nahm Watte und ließ sie im Gehörgang liegen und vertiefte sich in die Folgen dieser Verrichtung bei dem Inhaber des Ohrs: wie sich Vorstellungen bildeten von Helfer, Heilung, guter Arzt von allgemeinem Zutrauen und Weltfreude, und wie sich die Entfernung von Flüssigkeiten in das Seelische verwob. Dann kam ein Unfall und er nahm ein Holzbrettchen mit Watte gepolstert, schob es unter den verletzten Finger, wickelte eine Stärkebinde herum und überdachte, wie dieser Finger durch den Sprung über einen Graben oder eine übersehene Wurzel, durch einen Übermut oder einen Leichtsinn, kurz, in wie tiefem Zusammenhange mit dem Lauf und dem Schicksal dieses Lebens er gebrochen schien, während er ihn jetzt versorgen mußte wie einen Fernen und Entlaufenen, und er horchte in die Tiefe, wie in dem Augenblick, wo der Schmerz einsetzte, eine fernere Stimme sich vernehmen ließe.
Es war in der Anstalt üblich, die Aussichtslosen unter Verschleierung dieses Tatbestandes in ihre Familien zu entlassen wegen der Schreibereien und des Schmutzes, den der Tod mit sich bringt. Auf einen solchen trat Rönne zu, besah ihn sich: die künstliche Öffnung auf der Vorderseite, den durchgelegenen Rücken, dazwischen etwas mürbes Fleisch; beglückwünschte ihn zu der gelungenen Kur und sah ihm nach, wie er von dannen trottete. Er wird nun nach Hause gehen, dachte Rönne, die Schmerzen als eine lästige Begleiterscheinung der Genesung empfinden, unter den Begriff der Erneuerung treten, den Sohn anweisen, die Tochter heranbilden, den Bürger hochhalten, die Allgemeinvorstellung des Nachbars auf sich nehmen, bis die Nacht kommt mit dem Blut im Hals. Wer glaubt, daß man mit Worten lügen könne, könnte meinen, daß es hier geschähe. Aber wenn ich mit Worten lügen könnte, wäre ich wohl nicht hier. Überall wohin ich sehe, bedarf es eines Wortes, um zu leben. Hätte ich doch gelogen, als ich zu diesem sagte: Glück auf!
Erschüttert saß er eines Morgens vor seinem Frühstückstisch; er fühlte so tief: der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser Stunde aus diesem Bette steigen und das Brötchen nehmen: man denkt, man ißt, und das Frühstück arbeitet an einem herum. Trotzdem verrichtete er weiter, was an Fragen und Befehlen zu verrichten war; klopfte mit einem Finger der rechten Hand auf einen der linken, dann stand eine Lunge darunter; trat an Betten: guten Morgen, was macht Ihr Leib? Aber es konnte jetzt hin und wieder vorkommen, daß er durch die Hallen ging, ohne jeden einzelnen ordnungsgemäß zu befragen, sei es nach der Zahl seiner Hustenstöße, sei es nach der Wärme seines Darms. Wenn ich durch die Liegehallen gehe — dies beschäftigte ihn zu tief — in je zwei Augen falle ich, werde wahrgenommen und bedacht. Mit freundlichen und ernsten Gegenständen werde ich verbunden, vielleicht nimmt ein Haus mich auf, in das sie sich sehnen, vielleicht ein Stück Gerbholz, das sie einmal schmeckten. Und ich hatte auch einmal zwei Augen, die liefen rückwärts mit ihren Blicken; jawohl, ich war vorhanden: fraglos und gesammelt. Wo bin ich hingekommen? Wo bin ich? Ein kleines Flattern, ein Verwehn.
Er sann nach, wann es begonnen hätte, aber er wußte es nicht mehr: ich gehe durch eine Straße und sehe ein Haus und erinnere mich eines Schlosses, das ähnlich war in Florenz, aber sie streifen sich nur mit einem Schein und sind erloschen.
Es schwächt mich etwas von oben. Ich habe keinen Halt mehr hinter den Augen. Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle. Zerfallen ist Rinde, die mich trug.
Oft, wenn er von solchen Gängen in sein Zimmer zurückgekehrt war, drehte er seine Hände hin und her und sah sie an. Und einmal beobachtete eine Schwester, wie er sie beroch oder vielmehr, wie er über sie hinging, als prüfe er ihre Luft, und wie er dann die leicht gebeugten Handflächen, nach oben offen, an den kleinen Fingern zusammenlegte, um sie dann einander zu und ab zu bewegen, als bräche er eine große, weiche Frucht auf oder als böge er etwas auseinander. Sie erzählte es den anderen Schwestern, aber niemand wußte, was es zu bedeuten habe. Bis es sich ereignete, daß in der Anstalt ein größeres Tier geschlachtet wurde. Rönne kam scheinbar zufällig herbei, als der Kopf aufgeschlagen wurde, nahm den Inhalt in die Hände und bog die beiden Hälften auseinander. Da durchfuhr es die Schwester, daß dies die Bewegung gewesen sei, die sie auf dem Gang beobachtet hatte. Aber sie wußte keinen Zusammenhang herzustellen und vergaß es bald.
Rönne aber ging durch die Gärten. Es war Sommer; Otternzungen schaukelten das Himmelsblau, die Rosen blühten, süß geköpft. Er spürte den Drang der Erde: bis vor seine Sohlen, und das Schwellen der Gewalten: nicht mehr durch sein Blut. Vornehmlich aber ging er Wege, die im Schatten lagen und solche mit vielen Bänken; häufig mußte er ruhen vor der Hemmungslosigkeit des Lichtes, und preisgegeben fühlte er sich einem atemlosen Himmel.
Allmählich fing er an, seinen Dienst nur noch unregelmäßig zu versehen; namentlich aber, wenn er sich gesprächsweise zu dem Verwalter oder der Oberin über irgendeinen Gegenstand äußern sollte, wenn er fühlte, jetzt sei es daran, eine Äußerung seinerseits dem in Frage stehenden Gegenstand zukommen zu lassen, brach er förmlich zusammen. Was solle man denn zu einem Geschehen sagen? Geschähe es nicht so, geschähe es ein wenig anders. Leer würde die Stelle nicht bleiben. Er aber möchte nur leise vor sich hinsehn und in seinem Zimmer ruhn.