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Mächte, die warnen oder ungewöhnlich Vergeltung üben, Wiedergänger, eine junge Frau, die auf einer Reise geisterhafte Erscheinungen hat, männerverschlingende Gulen, Roggenmuhme und Abendmutter, die Kinder holen – die hier gesammelten Geschichten, die teils auf wahren Begebenheiten beruhen, sorgen für schön-schaurige Gefühle. Aber sie sind auch mehr als Gespenster- und Gruselgeschichten: sie trösten mit dem Ausblick auf eine eigenartige Gerechtigkeit und sind von feiner Ironie durchzogen.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2024
Veronika Beci
Gulen, Klopfer, Roggenmuhme
Unheimliche Begebenheiten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der Machandelboom
Regen
Die unerwartete Hilfe
Kinderhände
Das Haus der Schneiderin
Gesichte
Die Roggenmuhme
Die alte Geschichte der Roggenmuhme
In Kürze
Nicht nachts…
Von der alten Lehrerin
Abendmutter
Die Friedhofshütte
Böser Ort
Die Klopfer
Margret
Gulen
Die Rose
Zur Autorin
Impressum neobooks
Es ist nicht wahr, was uns in vielen Gruselfilmen und -geschichten aufgetischt wird, nämlich dass unschuldige, gute Menschen von den übernatürlichen Wesen heimgesucht werden. Genauso wenig stimmt es, dass das Übernatürliche böse ist, dass es Unschuldige verfolgt, weil es selbst erlöst werden will oder einem dämonischen oder sadistischen Trieb folgt.
Es ist vielmehr so, dass gute Menschen Erscheinungen haben können, jedenfalls werden sie von den jenseitigen Mächten beschützt. Wenn ihnen Unrecht widerfährt, dann wird dieses Unrecht von den Mächten wieder ausgeglichen, dessen können die Guten ganz getrost sein.
Heimgesucht werden nur diejenigen Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, die boshaft, gemein, schmutzig oder verderbt gehandelt haben, die sich gegen den einzigen gültigen moralischen Satz vergangen haben: niemand anderem etwas Böses anzutun oder nachzusagen.
Und auch hier gleichen die Jenseitigen nur die Rechnungen aus, die im Hier und Jetzt angefallen sind – der Mensch, der boshaft handelt, muss in jedem Fall früher oder später in seinem Leben mit Konsequenzen rechnen, die wir dem Paranormalen zuzählen.
Gläubige Menschen sprechen bei solchen Vorfällen ausgleichender Gerechtigkeit von der ‚Hand Gottes‘, die eingreift und zitieren den Spruch: „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber vortrefflich gut“, was nichts anderes bedeutet, als dass jede böse Tat eines Menschen gerächt werden wird und sein Schicksal diesem Menschen vorkommt, als würde er zwischen Mühlsteinen zermahlen.
Diese Vorstellung wirkt nur auf den ersten Blick grausam; auf den zweiten Blick ist sie eine Wohltat: in unserem Dasein gibt es Gerechtigkeit und sie wird immer wieder hergestellt werden, auch wenn es uns Menschen nicht bewusst ist.
Wie dem auch sei, ich komme darauf, weil mich als Kind kein Märchen mehr fasziniert hat als das der Gebrüder Grimm vom ‚Machandelboom‘: ein kleiner Junge wird darin von seiner kaltherzigen Stiefmutter auf grausame Weise misshandelt und ermordet, doch damit nicht genug, hängt sie die Untat ihrem Töchterchen an; tückisch bietet sie dem Mädchen ihre Hilfe an, die Leiche verschwinden zu lassen und das tut sie, indem sie aus dem Sohn eine Fleischsuppe kocht, die sie – äußerst pervers - ihrem Mann, dem Vater des Kindes zum Essen vorsetzt. Die Schwester sammelt allerdings die Knochen ihres Halbbruders in ein Tüchlein zusammen und begräbt sie andächtig unter einem Wacholderbäumchen, dem Machandelboom. Darauf entfliegt ein Vogel dem Baum, der vor den Türen eines Goldschmieds, eines Schusters und eines Müllers ein so seltsames wie wunderschönes Lied singt
„Mein Mutter, die mich schlacht’,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester, das Marlenichen,
sucht alle meine Benichen,
bind’t sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Machandelbaum.
Kywitt, kywitt, wat vör’n schöner Vogel bin ich!“
und dafür eine goldene Kette, rote Schuhe und einen Mühlstein als Dank erhält. Mit den Gaben fliegt er zurück zum Wacholderbaum und als die Familie heraustritt, dem bizarren Vogelgesang zu lauschen (die Stiefmutter voller Angst), da wirft er dem Vater die Kette, der Schwester die Schuhe zu, der bösen Frau aber den Mühlstein auf den Kopf, so dass sie unter ihm zu Tode zerquetscht wird.
Das Märchen zeigt, dass die jenseitigen Mächte nur der Gerechtigkeit dienen, sei es auch, dass die Gerechtigkeit manchmal auf bittere Weise wiederhergestellt werden muss, aber wiederhergestellt werden muss sie und wird sie, darauf ist Verlass.
Immer.
Für jeden und in jedem Fall.
Es war am vierten April, einem verregneten Donnerstag.
Da ihr der unaufhörlich niederprasselnde Regen nichts ausmachte, denn für sie war Regen immer schon ein Segen gewesen, machte sich Frau Lübcke auf den Weg, um ihre Hausärztin aufzusuchen. Sie schleppte sich mühsam auf dem Bürgersteig hin, denn es ging der lieben alten Dame wahrhaftig nicht gut. Ganz elend war ihr zumute; sie war schwer krank.
In Höhe des Friedhofs hatte sich auf der Straße eine große Pfütze gebildet, fast schon ein kleiner See. Gerade, als Frau Lübcke an dieser Stelle vorbeikam, lenkte ein rücksichtloser Autofahrer seinen Wagen mit hohem Tempo mitten durch die Pfütze. Das Schmutzwasser spritze zu allen Seiten hoch auf und durchnässte die erschrockene alte Frau von Kopf bis Fuß.
Der Autofahrer beobachtete sie im Rückspiegel und lächelte gehässig über seinen Streich.
Doch es wachten Mächte über die gute alte Dame.
Am vierten Mai setzte nach langer Trockenheit ein dünner Nieselregen ein. An diesem Tag erhielt der Autofahrer seinen alljährlichen Steuerbescheid, in dem er zu einer saftigen Nachzahlung aufgefordert wurde, was ihn verständlicherweise sehr ärgerte. Aber es half nichts. Er musste zahlen.
Am vierten Juni regnete es ununterbrochen. Irgendwo auf dem Dach mussten die Ziegel beschädigt sein, denn im Obergeschoß des Hauses des Autofahrers bildete sich ein riesiger Wasserfleck. Die schleunigst beauftragten Dachdecker konnten keine Beschädigung feststellen. Niemand fand heraus, woher das Wasser seinen Weg nahm. Trocknungsmaßnahmen, die den Autofahrer Geld und Nerven kosteten, blieben erfolglos. Im Obergeschoß seines Hauses bildete sich ein hartnäckiger Schimmelpilz.
Ein sommerlicher Landregen tauchte den vierten Juli in klare Luft.
Der Autofahrer wurde zu seiner Chefin zitiert. Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen waren aufgetreten, für die der Autofahrer keine Erklärung fand, obwohl er für die ordnungsgemäße Buchführung verantwortlich war. Untersuchungen begannen. Das Getuschel der Kollegen hinter seinem Rücken wurde unerträglich.
Nach einigen schwül-heißen Sommertagen brach am vierten August ein Gewitter los. An diesem Tag, kurz vor Antritt seines Jahresurlaubs erhielt der Autofahrer seine Kündigung; das Vertrauen seiner Vorgesetzten war nachhaltig erschüttert. Der Familienurlaub im Süden war verregnet, der Autofahrer gereizt und gekränkt – man ging sich auf die Nerven.
Am vierten September feierte Frau Lübcke, wieder genesen, ihren neunzigsten Geburtstag im Kreise ihrer Liebsten. Es fiel ein sachter Regen, über den sich das Geburtstagskind sehr freute. „Das hatte der Garten gerade bitter nötig, wie schön,“ sagte es lächelnd.
Ganz unerwartet kam es am vierten Oktober zu mehreren Starkregenfällen. An diesem Tag kam der Autofahrer früher vom Arbeitsamt zurück als gewöhnlich. Er fand seine über alles geliebte Frau in perversem Liebesspiel mit seinem besten Freund auf dem Sofa seines Hauses vor. Er setzte beide sofort vor die Tür und lief zum Scheidungsanwalt. Er begann zu trinken.
Am vierten November geriet seine Tochter, die sich den Wagen ihres Vaters ausgeliehen hatte, auf regennasser Autobahn ins Schleudern. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab, drehte sich bis in die Leitplanken und kollidierte mit einem anderen Fahrzeug. Die Tochter wurde schwerverletzt ins nächste Krankenhaus gebracht – Splitter des Rückspiegels waren ihr in den Schädel gedrungen -, der Wagen, den sie gefahren hatte, war ein Totalschaden. Das andere Fahrzeug war seltsamerweise unbeschädigt und seine Fahrerin gottlob unverletzt geblieben.
Der Autofahrer war schockiert über den Unfall, sehr besorgt um sein einziges Kind, das lange zwischen Leben und Tod schwebte, und aufgebracht, weil sein schöner Wagen verschrottet werden musste. Um sich einen neuen zu kaufen, hatte er kein Geld übrig.
Anfang Dezember ging die novemberliche Eisesstarre vorüber und Schneeregen setzte ein. Am vierten des Monats willigte seine Frau in die Scheidung ein. Am vierten des Monats fiel sein Kind zurück ins Koma. Am selben Tag stürzte der betrunkene Autofahrer mit seinem Fahrrad auf der matschigen Straße in Höhe des Friedhofs, dort, wo sich der Asphalt abgesenkt hatte und sich regelmäßig bei Regen riesige Pfützen zu bilden pflegten. Der Autofahrer brach sich dabei einige Rippen. Bei den Untersuchungen im Krankenhaus, in das ihn die herbeigerufene Notärztin transportieren ließ, wurde zufällig ein Lungenkarzinom festgestellt.
Der Autofahrer verzweifelte.
Am vierten Januar brach urplötzlich und entgegen allen Naturgesetzen ein Orkanregen los. Der Autofahrer erhängte sich im Obergeschoss seines Hauses.
Ja, ich habe eine übernatürliche Begegnung gehabt. Jedenfalls denke ich, dass ich einem Geist begegnet bin, und meine Geschichte erzähle ich euch gerne, denn sie ist wahr, ich habe sie selbst erlebt.
Ich fuhr als Studentin nach Wien, um dort ein Jahresstipendium anzutreten. Österreich zählte damals noch nicht zur EU, es kam mir also wie ein völlig fremdes Land vor, in das ich reiste und dazu zum ersten Mal in meinem Leben allein reiste, was mich natürlich in einige Aufregung versetzte.
Die Reise im Nachtzug war beschwerlich, ebenso der Umstieg in den nächsten Zug mit reichlich Gepäck, das ich mitgeschleppt hatte. Zu allem Unglück war ich durch ein Missverständnis zwei Tage zu früh im Studentenwohnheim in Baden bei Wien, in dem ich ein Zimmer erhalten sollte. Das Wohnheim stand zwar offen, aber keine Menschenseele, außer einer Putzfrau, die mir aber nicht weiterhelfen konnte und bald fortging, war da. Ich setzte mich also, völlig erschöpft von der Reise, übernächtigt, überwältigt von plötzlichem Heimweh in die riesige Eingangshalle, in der ein paar Sessel rund um einen Glastisch standen. Ich wusste vor Müdigkeit nicht mehr, was ich tun sollte. Zur Not würde ich einfach zwei Tage hier übernachten, dachte ich verzweifelt.
Es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, aber niemand kam, keiner konnte mir weiterhelfen und ich war todmüde, ich wollte nur noch meine Koffer irgendwo sicher abstellen und schlafen. Ich begann zu weinen und zu zweifeln und wäre am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren.
Als ich am frühen Abend mit rotgeweinten Augen immer noch dort saß, unbeweglich in dem Sessel, auf dem ich wohl die ganze Nacht zubringen würde, trat plötzlich ein älterer Herr – ich schätzte ihn auf Mitte sechzig – in die Eingangshalle. Er war sehr fein gekleidet, trug einen hellen Sommeranzug und einen Strohhut und hatte ein freundliches Gesicht. Er sah aus, wie ein vornehmer Herr aus einem Film der fünfziger Jahre. Er ging geschäftig eine der Treppen hinauf und kam nach einiger Zeit zurück. Er hatte mich schon beim Hereinkommen kurz stutzig angesehen, doch nun blieb er bei meinem hilflosen, verzweifelten Anblick stehen und fragte, ob er was ich hätte, warum ich geweint hätte, und er setzte sich teilnehmend mir gegenüber in einen der Sessel. Ich erzählte ihm daraufhin meine ganze Geschichte, die Misere mit der viel zu frühen Anreise und gestand, dass ich nun gar nicht recht wisse, was ich tun sollte.
„Na, schaun’s, aber das ist doch kein Problem“, lächelte der Herr: „Ich hab‘ hier geschäftlich zu tun und da steig‘ ich immer in einer Pension ab, die sehr günstig ist und sauber. Die Wirtin ist eine nette Dame und hat noch Zimmer frei, soviel ich weiß. Ich nehm‘ Sie gleich mit hin, da bleiben’s die zwei Nächte, bis das jemand vom Wohnheim kommt und Ihna ihr Studentenzimmer anweist. Derweil schaun’s sich Baden an, wo a der Beethoven Urlaub g’macht hat.“
So einfach war die Lösung!
Ich war erleichtert. Geld hatte ich zum Glück genug dabei. Und ich war zu müde, zu jung und zu verzweifelt, um zu bedenken, dass ich mich gerade einem wildfremden Mann anvertraute.
Er half mir, meine Koffer in seinem schmucken, aber etwas altmodischen Sportwagen zu verstauen.
„Seien’s nur vorsichtig, das Auto ist mir viel wert“, ermahnte er mich beim Einsteigen. Dann fuhr er los und wir begannen eine Unterhaltung.
„Das ist ein sehr schönes Auto“, bemerkte ich.
„Ja, das ist das Auto meiner Frau. – Sie ist vor einigen Jahren verstorben.“
„O, das tut mir leid. - Sie mochte den Wagen wohl sehr.“
„Ja, sie ist sehr gerne gefahren. Ich mag mi nicht von dem Wagen trennen. – Schaun’s, da sammer im Zentrum, da sa’n die Heilquellen. – Den Kurpark müssen Sie sich anschau’n mit dem Undinenbrunnen.“
Ich nickte und schaute.
„Jetzt sind wer gleich da“, sagte er und lenkte den Wagen eine Anhöhe hinauf.
„Ja, ich fahr‘ nicht mehr so oft, nur, wenn ich geschäftlich zum Tun habe“, erzählte der Herr weiter: „Seit meinem Herzinfarkt mag ich nicht mehr oft fahr’n.“
„Oje“, machte ich bedauernd.
„Ist schon gut. Ist ja überstanden“, lachte mein Begleiter: „Na, da san mer!“ Er hielt den Wagen vor einer sehr schmucken Fachwerk-Pension, die einen ländlich-gemütlichen Charme verströmte.
Gemeinsam luden wir mein Gepäck aus und schleppten alles zur Rezeption, wo mich eine sehr liebenswürdige Pensionswirtin geradezu mütterlich empfing.
Ich bedankte mich bei dem vornehmen Herrn für seine Hilfe. Aber ich wollte nun, in der Nähe eines ruhigen Zimmers, eines Bettes, nichts anderes mehr als schlafen, schlafen, schlafen, all die Strapazen der Reise, der Übernächtigung, der Aufregung und des Schreckens der verfrühten Ankunft wegschlafen.
Die Pensionswirtin zeigte mir mein Zimmer. Ich stellte mein Sammelsurium an Gepäck in eine Ecke und fiel, wie ich war, auf das duftende weiche Bett, wo ich sogleich einschlief.
Ich erwachte am nächsten Morgen gegen halb neun, ausgeruht und wieder taufrisch. Ich sprang unter die Dusche, die ich richtig genoss, und fand mich, heißhungrig, im Frühstücksraum ein. Nach der ersten Tasse Kaffee konnte ich wieder klar denken. Ich hielt nach dem Herrn Ausschau, der mir gestern so wunderbar und selbstlos geholfen hatte, aber ich entdeckte ihn nicht unter den anderen Pensionsgästen. Es brannte mir auf der Seele, mich nochmals bei ihm zu bedanken; der Dank am letzten Abend schien mir etwas karg gewesen zu sein, da ich nur noch hatte schlafen wollen.
Als ich etwa eine Stunde bei einem reichhaltigen Frühstück auf meinen Helfer gewartet hatte, der nicht erschien, fragte ich die Pensionswirtin, ob sie wüsste, wo der nette Herr wäre, der mich gestern hergefahren habe.
Sie sah mich konsterniert an.
„Welcher nette Herr denn“, fragte sie verwundert: „San‘s Sie nit allein angereist?“
Der kleine Mats hatte es nicht gut.
Er war erst vier Jahre alt, aber er hatte das Böse in den Menschen schon zu Genüge gesehen.
Seine Mutter liebte den kleinen Mats, das kann nicht anders gesagt werden, aber sie wusste nicht, wie ein junger Mensch zu behandeln war, was er brauchte, was er nötig hatte. Sie hatte manchmal vergessen, ihm Essen und Trinken zu geben und als er noch ein Baby gewesen war, hatte sie sogar häufig vergessen, ihn frisch zu wickeln, ihn zu waschen und zu bürsten und ins Bettchen zu legen, wenn er müde war, oder aus dem Bettchen zu befreien, wenn er zum Spielen aufgelegt war. Die Mutter kuschelte mit Mats, kitzelte ihn am Kinn und pustete ihm sanft übers Haar, wenn sie sich an ihn erinnerte. Und dann vergaß sie ihn wieder. Einen Tag, zwei Tage… Wenn seine Oma nicht gewesen wäre, wer weiß, ob Mats die ersten Jahre seines Lebens überlebt hätte. Die Großmutter, wenn sie kam, wusch ihn, pflegte seinen wunden Windelbereich, gab ihm zu essen und zu trinken, spielte mit ihm und legte ihn zu Bett und ermahnte ihre Tochter, sich sorgsamer um das Kind zu kümmern. Und dann folgte die Tochter ihr auch und zwei oder drei Tage ging es gut, ehe sie ihr Kind wieder vergaß. Aber die Großmutter konnte nicht oft kommen, denn sie war krank.
Mit zwei Jahren hatte Mats gelernt, sich selbst etwas zu Essen aus den Schränken und dem Kühlschrank zu holen oder Wasser vom Wasserhahn zu schöpfen, wenn er durstig war. Er musste dazu nur einen Stuhl dahin schieben, wo er ihn brauchte.
Einige Male war er empfindlich gefallen, ehe er es gelernt hatte, aber als er es gelernt hatte, musste er weniger Hunger und Durst leiden.
Mats hatte allein gelernt, sich aus- und anzuziehen. Und wenn ihn die Windel störte, weil er sie beschmutzt hatte, dann konnte er sie sich nun allein ausziehen.
Als er fast drei Jahre alt war, wurde sein Leben etwas besser, denn nun brachte seine Mutter ihn in den Kindergarten. Hier waren Erwachsene, die ihm beibrachten, allein zu Toilette zu gehen, die ihn manchmal wuschen und die ihm zu essen gaben. Er bekam sogar jeden Tag ein warmes Essen, das hatte er zuvor nur erlebt, wenn die Großmutter gekocht hatte. Manchmal verspätete sich die Mutter, wenn sie ihn abholen sollte, aber die Erwachsenen im Kindergarten sorgten dafür, dass sie ihn nicht ganz vergaß. Und seine Mutter erinnerte sich darum mehr an sie, kuschelte mehr mit ihm, kitzelte ihn und pustete ihm dann und wann sanft übers Haar.
Nur die Wochenenden waren manchmal noch schwer – die Mutter verschwand freitags irgendwann und sonntags lag sie meistens nur auf dem Sofa und es ging ihr nicht gut - doch Mats überstand die Wochenenden allein. Er war es gewöhnt. Und außerdem freute er sich wieder auf die Woche, das warme Essen und das Spielen, denn im Kindergarten wurde gespielt.
Doch nicht lange darauf wurde sein Leben ein Alptraum.
Der Großmutter ging es schlechter und sie konnte nicht mehr zu Besuch kommen. Ein paar Mal begleitete Mats seine Mutter ins Pflegeheim, um die Großmutter zu besuchen, die blass und seltsam dreinschauend in einem Bett in einem muffigen kleinen Zimmer lag. Mats war dort nicht gern. Und seine Mutter hatte die Großmutter bald vergessen und besuchte sie nicht mehr oft.
Mats war traurig.
Die Erwachsenen im Kindergarten fragten nach, warum er traurig war, aber seine Mutter gab lächelnde Antworten und er selbst schwieg.
Dann kam die Mama plötzlich mit einem Mann nach Hause.
Der Mann mochte Mats nicht. Mats war ihm lästig. Mats sprach nicht viel und das ärgerte den Mann. Mats kleckerte beim Essen und das ärgerte den Mann. Mats machte sich mitunter in die Hosen oder ins Bett und das ärgerte den Mann.
Eigentlich ärgerte alles, was Mats tat, den Mann.
Mats störte.
Mats ahnte: der Mann fühlte sich klein, obwohl er sehr groß aussah. Und weil Mats viel größer war, als er aussah, störte er den Mann. Aber der Mann war stärker als er, der Mann war ein Mann und Mats nur ein kleiner Junge. Das gefiel dem Mann, denn er konnte Mats nun zeigen, dass er viel stärker war.
Er befahl Mats dies und das und Mats musste gehorchen, denn wenn er nicht gehorchte, dann schlug ihn der Mann.
Der Mann war auch stärker als Mats Mutter und darum musste auch Mats Mutter ihm gehorchen. Wenn sie ihm nicht gehorchte, dann erging es ihr nicht besser als Mats.
Im Kindergarten wurde nachgefragt, aber die Mutter gab lächelnde Antworten, Mats schwieg und der Mann schlug, kniff und trat dahin, wo es niemand sah und wenn es nicht anders ging, dann war Mats gefallen, weil er ungeschickt war, oder Mats besuchte den Kindergarten eine Weile nicht, weil er eine schwere Grippe hatte.
Mats reckte dem Mann bittend seine kleinen, blassen Kinderhände entgegen, er weinte und flehte, er möge ihn nicht hauen, seine Mutter nicht hauen, aber der Mann übersah die Hände, oder stieß sie, verächtlich lachend fort, oder er packte sie und klemmte sie zwischen Türrahmen und Tür.
Und immer bat Mats und streckte ihm die Hände entgegen.
Mats suchte Hilfe bei seiner Mutter, flehte sie an, aber die Mutter weinte nur; sie hatte Angst und hätte Mats am liebsten vergessen.
Und immer bat Mats und streckt ihr die Hände entgegen.
Als er vier Jahre alt war, hatte Mats alles Böse, was Menschen auf dieser Welt tun können, gesehen und erlebt.
Als er vier Jahre alt war, starb Mats.
Er war unglücklich gestürzt.
Der Mann und die Mutter sagten, er wäre unglücklich gestürzt.
Alle meinten, er wäre unglücklich gestürzt.
Mats wurde begraben. Die Mutter, die ihn liebgehabt hatte, stellte einen kleinen Kunstharzengel auf den frisch aufgeworfenen Grabhügel.
In der dritten Nacht nach seinem Tode wachte die Mutter mitten in der Nacht auf. Sie hatte ein seltsames Geräusch gehört. Es war, als klappte die Kühlschranktür auf und zu. Sie ging in die Küche, um nachzusehen. Die Kühlschranktür stand weit auf. Sie dachte, sie hätte vergessen, sie zu schließen. Sie schloss die Tür. Kaum wendete sie den Rücken, sprang die Kühlschranktüre wieder auf.
Die Mutter schrie vor Angst und der Mann kam. Er war wütend, weil sie ihn aufgeweckt hatte und schüttelte sie. Er schlug die Kühlschranktür zu. Sie folgte ihm zurück ins Bett.
Als sie am nächsten Morgen in die Küche kamen, stand die Kühlschranktür wieder offen.
Der Mutter fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der Mann nannte sie ‚hysterische Kuh‘ und schmetterte die Kühlschranktür zu. Sie ging nicht wieder auf. „Siehst du“, triumphierte der Mann.
Sie öffnete sich erst wieder in der nächsten Nacht. Und von da an in jeder Nacht. Die Mutter begann, viel zu weinen und sich zu fürchten.
Als sie ein wenig Geld übrighatte, kaufte sie ein kleines Spielzeug für Mats und trug es auf den Friedhof. Mit verweinten Augen stand sie vor dem Grab. Da wurde ihr auf einmal unheimlich zumute. Es war, als striche ein kalter Wind über ihre Haare.
Schnell verließ sie den Friedhof wieder.
In der folgenden Nacht rumpelte es in der Küche
Die Mutter stand auf und ging nachsehen. Ängstlich blickte sie um die Ecke. Die Kühlschranktür war geschlossen. Schon wollte sie erleichtert aufatmen, da prallte sie erschrocken zurück. Vor dem Waschbecken stand plötzlich ein Stuhl. Sie traute ihren Augen nicht. Sie trat vorsichtig ein paar Schritte näher, da tropfte es auf einmal aus dem Wasserhahn. Sie schrie leise auf, nur leise, denn sie hatte Angst, den Mann zu wecken. Sie fuhr zurück, gegen die Wand, an der sie sich heruntergleiten ließ. Dann saß sie auf dem Küchenboden und starrte den Stuhl an. Das Tröpfeln aus dem Wasserhahn wurde ihr unerträglich. Sie hielt sich die Ohren zu und brach in Tränen aus.
„Ich weiß nicht, was du hast, du dumme Pute“, schimpfte der Mann: „Mit dir kann man keinen Spaß mehr haben, nur diese Heulerei immerzu!“
„Ich habe Angst“, weinte die Mutter: „Das ist doch nicht normal!“
„Da hast du allerdings recht“, höhnte der Mann: „Du bist nicht mehr normal! Du bist vollkommen bekloppt! Ich hau‘ ab!“
Er verließ die Wohnung. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.
Sie ging am nächsten Tag wieder zum Friedhof. Sie hatte Mats doch liebgehabt! Er musste doch sehen, dass es ihr leidtat, dass sie ihn oft vergessen hatte. Sie würde ihn gewiss nicht mehr vergessen!
Als sie den Friedhof betrat, war es wieder, als führe ein kühler Windhauch über ihr Haar. Sie schauerte zusammen. Zögerlich ging sie näher an das Grab heran. Huschte da nicht etwas zwischen den Grabsteinen her? Hauchte dort nicht etwas ihren Namen? Sie zuckte zusammen. Nun stand sie vor dem Grab. Sie wagte kaum, den Blick zu heben und auf das Grab herabzusehen. Sie brach in Tränen aus. Da hörte sie erneut ein Flüstern. Sie hob die Augen - und sah durch den Tränenschleier hindurch, wie sich etwas auf dem Grabhügel bewegte und als sie genauer hinsah, da waren es - zwei Kinderhände, die sich aus dem Grab gruben und sich ihr entgegenstreckten!
*
Der Mann war in einer anderen Wohnung, doch jede Nacht öffnete sich seine Kühlschranktür und jeder Wasserhahn begann in seiner Nähe zu tröpfeln.